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Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez
Manage episode 461266716 series 2808962
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Nach Cuba und Nicaragua ist Venezuela ein weiteres trauriges Beispiel dafür, wie ein Hoffnungsmodell durch die Egozentrik von Einzelpersonen und die Korruption einer kleinen Machtelite zugrunde gerichtet wird. Zwar sind die Ursachen und äußeren Einwirkungen sehr verschieden, aber Grundmuster und Resultat sind in den drei Fällen die gleichen. Das lässt sich aus der hervorragenden Studie von Tobias Lambert folgern. Er hat sich darin – aus seiner linken Sicht – die Aufgabe gestellt, die Utopie des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ von Hugo Chávez ohne die üblichen Vorurteile und Scheuklappen ausführlich zu beschreiben. Das heißt, ihn ernst zu nehmen und seine sozialen Leistungen für jenen Teil der Bevölkerung herauszuarbeiten, der von den meisten venezolanischen Regierungen vernachlässigt wurde. Er zeigt jedoch auch dessen Schwächen und Grenzen.
…
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Die Vorgeschichte der Vision von Hugo Chávez
Ein großer Gewinn dieses Buches besteht darin, dass Tobias Lambert sein zentrales Thema, den „Chavismus“, in den historischen Kontext einordnet: in die häufigen Wechsel von schwachen demokratischen Regierungen; die Zweiparteien-Herrschaft von Christ- und Sozialdemokraten, die vor allem der Mittel- und Oberschicht zugute kam; die Aufstände der Menschen aus den ärmeren Vierteln, die ihr Recht an der Ölbonanza einforderten; und die Wahl von Hugo Chávez 1999 zum Präsidenten.Dieser vereinte und kombinierte verschiedene Strömungen der venezolanischen Linken und integrierte revolutionäre, progressive und auch konservative sowie autoritäre Elemente.Quelle: Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez
Eine charismatische Führungsperson
Die divergierenden Richtungen wurden lange Zeit durch sein Charisma und die anfänglichen positiven Resultate seiner Politik zusammengehalten. Als jedoch sein Modell des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ökonomisch und politisch immer mehr unter Druck geriet, reagierte auch er mit autoritären und sogar repressiven Praktiken. Lambert zeigt weiter, wie sehr dieses anspruchsvolle Projekt vom Schicksal der Einzelpersönlichkeit Chávez abhing und wie es nach dessen frühem Tod durch den von ihm selbst erwählten Nachfolger Nicolás Maduro zugrunde gerichtet wurde.Die Abhängigkeit von der Entwicklung des Erdölpreises
Ein wichtiges Thema des Buches ist die völlige Abhängigkeit des Landes von der Entwicklung des Ölpreises. Sie sorgte für Reichtum und Wohlstand, aber auch für immer wiederkehrende wirtschaftliche Einbrüche. Ein erschreckendes Beispiel für die Ineffizienz staatlicher Wirtschaftspolitik führt Tobias Lambert an.Im Mai 2010 wurde entdeckt, dass über 1.000 Container mit mehr als 130.000 Tonnen Lebensmittel im Hafen von Puerto Cabello vor sich hin rotteten. Die betroffenen Importe waren über den staatlichen Lebensmittelkonzern PDVAL mit bewilligten US-Dollar zum Präferenzpreis abgewickelt, aber niemals ins Land gebracht worden.Quelle: Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez
Die Rolle der Opposition
Ausführlich analysiert der Autor die Rolle der Opposition und ihren Kampf um die Macht. Sie wird oft in den Medien als rechtsextrem verteufelt, aber von Lambert als die konservative, allerdings auch schwache Alternative dargestellt. Sie war zwar an Putschversuchen beteiligt, ihr wurde jedoch vor allem in der Regierungszeit Maduros der demokratische Weg schwer gemacht. Denn dieser hat allmählich die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung weitgehend außer Kraft gesetzt. Und so konnte er sich bei den Präsidentschaftswahlen 2024 zum Wahlsieger erklären, ohne einen Nachweis dafür vorzulegen. Tobias Lambert entwirft eine „düstere Perspektive“: Maduro hat die chavistische Utopie durch ein diktatorisches, auf Klientilismus, Korruption und Militär gestütztes Machtsystem ersetzt, an das er sich eisern klammert, denn es ist seine einzige Option. Wer sich heute mit Venezuela beschäftigen will, kommt an dieser vorzüglichen, erkenntnisreichen Publikation nicht vorbei.970 حلقات
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Die Vorgeschichte der Vision von Hugo Chávez
Ein großer Gewinn dieses Buches besteht darin, dass Tobias Lambert sein zentrales Thema, den „Chavismus“, in den historischen Kontext einordnet: in die häufigen Wechsel von schwachen demokratischen Regierungen; die Zweiparteien-Herrschaft von Christ- und Sozialdemokraten, die vor allem der Mittel- und Oberschicht zugute kam; die Aufstände der Menschen aus den ärmeren Vierteln, die ihr Recht an der Ölbonanza einforderten; und die Wahl von Hugo Chávez 1999 zum Präsidenten.Dieser vereinte und kombinierte verschiedene Strömungen der venezolanischen Linken und integrierte revolutionäre, progressive und auch konservative sowie autoritäre Elemente.Quelle: Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez
Eine charismatische Führungsperson
Die divergierenden Richtungen wurden lange Zeit durch sein Charisma und die anfänglichen positiven Resultate seiner Politik zusammengehalten. Als jedoch sein Modell des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ökonomisch und politisch immer mehr unter Druck geriet, reagierte auch er mit autoritären und sogar repressiven Praktiken. Lambert zeigt weiter, wie sehr dieses anspruchsvolle Projekt vom Schicksal der Einzelpersönlichkeit Chávez abhing und wie es nach dessen frühem Tod durch den von ihm selbst erwählten Nachfolger Nicolás Maduro zugrunde gerichtet wurde.Die Abhängigkeit von der Entwicklung des Erdölpreises
Ein wichtiges Thema des Buches ist die völlige Abhängigkeit des Landes von der Entwicklung des Ölpreises. Sie sorgte für Reichtum und Wohlstand, aber auch für immer wiederkehrende wirtschaftliche Einbrüche. Ein erschreckendes Beispiel für die Ineffizienz staatlicher Wirtschaftspolitik führt Tobias Lambert an.Im Mai 2010 wurde entdeckt, dass über 1.000 Container mit mehr als 130.000 Tonnen Lebensmittel im Hafen von Puerto Cabello vor sich hin rotteten. Die betroffenen Importe waren über den staatlichen Lebensmittelkonzern PDVAL mit bewilligten US-Dollar zum Präferenzpreis abgewickelt, aber niemals ins Land gebracht worden.Quelle: Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez
Die Rolle der Opposition
Ausführlich analysiert der Autor die Rolle der Opposition und ihren Kampf um die Macht. Sie wird oft in den Medien als rechtsextrem verteufelt, aber von Lambert als die konservative, allerdings auch schwache Alternative dargestellt. Sie war zwar an Putschversuchen beteiligt, ihr wurde jedoch vor allem in der Regierungszeit Maduros der demokratische Weg schwer gemacht. Denn dieser hat allmählich die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung weitgehend außer Kraft gesetzt. Und so konnte er sich bei den Präsidentschaftswahlen 2024 zum Wahlsieger erklären, ohne einen Nachweis dafür vorzulegen. Tobias Lambert entwirft eine „düstere Perspektive“: Maduro hat die chavistische Utopie durch ein diktatorisches, auf Klientilismus, Korruption und Militär gestütztes Machtsystem ersetzt, an das er sich eisern klammert, denn es ist seine einzige Option. Wer sich heute mit Venezuela beschäftigen will, kommt an dieser vorzüglichen, erkenntnisreichen Publikation nicht vorbei.970 حلقات
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
1 Jennifer Down – Körper aus Licht | Buchkritik 4:09
4:09
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4:09Eine Reise ans Ende der Nacht – davor warnt die Anmerkung am Anfang von Jennifer Downs Roman „Körper aus Licht“. Vernachlässigung, Verlust, sexualisierte Gewalt, Drogen- und Medikamentenmissbrauch werden als triggernde Inhalte benannt. Nein, dieses Buch ist keine leichte Unterhaltung. Über mehr als vier Jahrzehnte – von 1975 bis 2018 – folgt die junge australische Schriftstellerin Jennifer Down ihrer Protagonistin Maggie bei deren Versuch, Stabilität in einem Leben zu gewinnen, das seit Kindertagen durch Brüche und Unsicherheit geprägt ist. Als vierjährige Halbwaise ist Maggie, die Tochter drogenabhängiger Eltern, nach der Inhaftierung ihres Vaters einer quälenden Odyssee durch Heime, Wohngruppen und Pflegefamilien ausgesetzt. Frühe Traumatisierung Knappe Dialoge in einer authentisch nachempfundenen Jugendsprache geben den Blick auf Abgründe frei. Im Kinderheim trainiert der Heimleiter die elfjährige Maggie und ihre Freundin Jodie im Tennis. Jodie trennt ihr Zimmer mit einem Perlenvorhang vom Flur ab. Maggie versteht nicht, warum Jodie das Geräusch der Perlen hasst. Warum nimmst du sie nicht ab? Darum. Sag. Damit ich weiß, wann er kommt. Warum musst du wissen, wann er kommt?, fragte ich. Du solltest dir auch so was besorgen, sagte sie. Und so wusste ich, was mich erwartete, noch bevor das Training in mein Zimmer wechselte. Und wenn ich Jodies Perlenvorhang klackern und zittern hörte, kam mir reflexartig ein Gedanke: wenigstens nicht ich. Ich hängte mir ein Windspiel an die Tür. Quelle: Jennifer Down – Körper aus Licht Erzählt wird Maggies Geschichte aus der Ich-Perspektive in einem Wechsel aus Rückblende und Gegenwart. Maggie ist Mitte vierzig und lebt unter neuem Namen in den USA, als die Facebook-Nachricht eines Mannes sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Die Stationen ihrer Kindheit und Jugend sind nach Orten und Jahreszahlen geordnet. Wobei Ordnung hier eher als staatlich legitimiertes Chaos zu begreifen ist. Maggie lernt früh, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren. „Ich war still und gewieft, und man bemerkte mich kaum“, erinnert sich die Erzählerin an ihre Rolle bei kindlichen Versteckspielen. Mit dieser Taktik überlebt sie das Trauma der Fürsorgejahre. Spätfolgen der staatlichen Fürsorge Der Start in ein bürgerliches Leben mit Ehemann und Kind scheitert, als Maggie sich nach dem plötzlichen Tod ihrer Babys mit der Anklage der Kindstötung konfrontiert sieht. Ihre unklare Vergangenheit macht sie verdächtig. Maggie taucht ab. Sie jobbt unter neuem Namen in Neuseeland, zieht nach Amerika und bewahrt das Geheimnis ihrer Herkunft. Die vertrauensvollen Beziehungen, nach denen sie sich sehnt, verhindert sie selbst immer wieder. Jennifer Downs präzise Sprache richtet den Blick auf retraumatisierende Details wie Gerüche oder Landschaften, die Maggie bei unterschiedlichen Anlässen immer wieder überwältigen. Zwei Kritikpunkte mag man bei diesem insgesamt beeindruckenden Roman anführen. Die endlose Serie gescheiterter Beziehungen, Maggies Drogensucht und Obdachlosigkeit erwecken den Eindruck, als wolle die Autorin wie in einer Anklageschrift alle denkbaren Folgen einer verfehlten staatlichen Fürsorge abarbeiten. Hier hat der 540-Seiten-Roman durchaus Längen. Wenig glaubwürdig ist auch, dass die in Existenzkämpfen gefangene Maggie sich bildungshungrig in öffentlichen Bibliotheken durch die Klassiker liest. Da verlässt die ansonsten so einfühlsam erzählende Jennifer Down die Augenhöhe mit ihrer Protagonistin, um ein höheres Sprachniveau der Hauptfigur zu rechtfertigen. Hoffnung vermittelt der Roman durch Maggies unglaubliche Resilienz. Und durch den Umstand, dass sich Menschen finden, die ihr die Fürsorge geben, die der Staat ihr in Kindheit und Jugend nicht zuteil werden ließ. Gute Literatur darf ihren Leserinnen und Lesern etwas zumuten. Von Triggerwarnungen sollte man sich hier also nicht abschrecken lassen.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
1 Richard Sennett – Der darstellende Mensch | Buchkritik 4:09
4:09
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4:09„Die ganze Welt ist Bühne und alle Fraun und Männer bloße Spieler.“ So heißt es bei Shakespeare und so steht es gleich auf den ersten Seiten von Richard Sennetts neuem Buch mit dem Titel „Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik“. Das klingt nach einer systematischen Studie zum Thema Rollenspiel und Präsentation, doch über solche Erwartungen setzt sich der betagte Autor souverän und ziemlich unbesorgt hinweg. Schauspiel und Ritual In lockerer Folge lässt Sennett zunächst vor allem eigene Bühnen- und Kunsterfahrungen seit den 1960er Jahre Revue passieren. Er erinnert sich an New Yorker Tanzexperimente in Parks und auf Gebäudedächern oder an eine Shakespeare-Inszenierung von todgeweihten AIDS-Patienten, an der er die Differenz zwischen Bühnenperformance und religiösem Ritual festmacht. In der Aufführung lag eine kreative Trotzhaltung gegenüber dem Tod, in dem vom Priester angebotenen Ritual dagegen eine tröstliche Hinnahme des Todes. In mir selbst bestand ein unbehagliches Nebeneinander dieser beiden Wege, dem Tod zu begegnen. Quelle: Richard Sennett – Der darstellende Mensch Sennetts essayistisch-erzählerischer Stil kennt keinen Soziologenjargon, und das ist gut so. Weniger schön ist es, dass seine Schlussfolgerungen in diesem Buch oft so nebulös wie hier ausfallen. Theatergeschichte und andere Themen Sennett umkreist sein Thema des menschlichen Darstellungswillens anhand von zahlreichen Anekdoten, Beispielen und Überlegungen, die meist mit theatralen Bühnenereignissen zu tun haben. Daneben referiert er Ideen von Hannah Arendt , bei der er studiert hat, von Roland Barthes, mit dem er befreundet war oder Norbert Elias, mit dem er durch New Yorker Straßen spazierte. Zweifellos beweist der Autor bei all dem große Belesenheit, wenn er etwa die allmähliche Verlagerung der öffentlichen Schauspiele von den Plätzen und Straßen der Antike in feste Spielorte wie das Teatro Olimpico im Vicenza der Renaissance nachzeichnet. Aber vieles von dem, was er hier ausbreitet, ist geläufiger Wissensstoff der Theatergeschichte, der keine neuen Erkenntnisse mit sich bringt. Die „bösartigen Darbietungen“ der Politik Im Vorwort verweist Sennett auf zwei prominente Demagogen, die gerade die „Bühne der Öffentlichkeit“ beherrschten, als er mit der Arbeit an diesem Essay begann. Er schreibt: Donald Trump in den USA und Boris Johnson in Großbritannien sind geschickte Darsteller. Bei bösartigen Darbietungen dieser Art werden allerdings dieselben Ausdrucksmittel eingesetzt wie bei anderen Ausdrucksformen. Quelle: Richard Sennett – Der darstellende Mensch Das ist kurz und ungenau und da es nirgendwo weiter ausdifferenziert wird, schlichtweg nichtssagend. Andere historische Großdarsteller wie Lenin, Hitler oder Mao kommen überhaupt nicht vor, genauso wenig wie der Kurzschluss zwischen Führern und ihrer Gefolgschaft im Populismus. Das heißt, die Politik wird nur im Buchtitel genannt, ist aber im übrigen praktisch ein Totalausfall. Kurzum, der Fehler dieses Buches liegt in seiner Konstruktion. Die Ausgangsfrage des Essays, „wie hohe Kunst Bedeutung für das alltägliche Leben erlangen könnte“, gerät bald aus dem Blick. Greifbare Antworten darauf finden sich jedenfalls in diesen sprunghaft aneinandergereihten Reminiszenzen und Reflexionen eines Soziologen nicht. Richard Sennett hat schon großartige Bücher geschrieben, dieses gehört leider nicht dazu.…
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Noburo denkt groß. Er hat gewaltige Pläne. Will ein Held werden. Mit seinen 13 Jahren geht er ganz in existentialistischem Pathos auf. Mit gleichgesinnten Freunden träumt der kleine Romantiker von einer anderen Welt, in der alles Verweichlichte ausgemerzt ist. Nietzsche hat hier im japanischen Yokohama einen glühenden Verehrer gefunden. Diese Jungs wollen eine Gesellschaft mit eigener Moral, in der das Recht des Stärkeren und des Unbedingten gilt. Nur Verachtung haben sie übrig für die schwächliche Vätergeneration. Fremde Werte und Ästhetik lehnen sie ab. Zwischen Tradition und Moderne Noburus Mutter Fusako, die sich nach dem Tod ihres Mannes alleine um ihren Sohn kümmert, scheint all das von den Jugendlichen Abgelehnte zu repräsentieren: Sie führt ein Geschäft, in dem westliche Mode angeboten wird. Das Japan der Nachkriegszeit, in dem Yukio Mishimas Roman „Der Held der See“ spielt, scheint hin- und hergerissen zwischen Tradition und Moderne. Da taucht Ryuchi auf, ein Seemann, der zum Geliebten der Mutter wird. Noburu ist zunächst fasziniert von diesem Mann. Ryuchi scheint all das zu verkörpern, wonach er selbst strebt: Freiheit, Abenteuerlust und Todesverachtung. Und all diese Sehnsüchte bündeln sich im Meer. Als der Junge seine Mutter und ihren Verehrer durch ein kleines Guckloch beim Liebesakt beobachtet und im Hintergrund das Horn eines Schiffes ertönt, hat er ein fast epiphanisches Erlebnis: Der Mond, die Meeresbrise, der Schweiß, das Parfüm, das nackte Fleisch des reifen Mannes und der reifen Frau, die Spuren der Fahrten auf See, die Reste der Erinnerung an die Häfen der Welt. Erst durch das Horn waren sie eine kosmische Verbindung eingegangen und hatten Einblick in den unentrinnbaren Kreislauf des Daseins gewährt. Quelle: Yukio Mishima – Der Held der See Rache am Verräter Mit Ryuchi, der selbst von einem ruhmreichen Leben träumt, sich aber gegen das Meer und für die Ehe mit Fusako entscheidet, erlebt der Junge eine abgrundtiefe Enttäuschung: Fast wie eine Schmähung und Beleidigung nimmt er dessen Verrat an Männlichkeit und Wagemut wahr. Er erzählt seinen Freunden davon, und sie beschließen, diesen Verrat zu rächen. Wir brauchen Blut! Menschliches Blut! Sonst wird unsere leere Welt verwelken und verdorren. Wir müssen das lebendige Blut aus diesem Mann herauspressen und es wie eine lebensspendende Transfusion dem sterbenden Universum, dem sterbenden Himmel, den sterbenden Wäldern und der sterbenden Erde zuführen. Quelle: Yukio Mishima – Der Held der See Yukio Mishima war eine der schillerndsten und zwiespältigsten Figuren der Literaturgeschichte: Mit seinen avancierten Romanen – gerade auch mit „Der Held der See“ – hat er Klassikerstatus erlangt. Zugleich war er ein glühender Nationalist und wird bis heute von Rechtsradikalen verehrt. Sein „Held der See“, übrigens in angemessener poetischer Kühle übersetzt von Ursula Gräfe, ist ein mit scharfen Kontrasten spielendes Werk: Meer und Land, Idealismus und Realismus, Glaube und Entfremdung, Dekadenz und Einfachheit, Oben und Unten. Bedrohlich und gegenwärtig Die adoleszente Suche nach etwas Wahrhaftigem und Absolutem, so sehr sie auch in der japanischen Nachkriegszeit verortet ist, bekommt hier universellen Charakter. Die Verzweiflung, die durch eine verstörende Tat aufgehoben werden soll, war, als das Buch erschien, anschlussfähig: Eine amerikanische Verfilmung des Stoffes spricht ebenso dafür wie die auf dem Buch basierende Oper „Das verratene Meer“ von Hans Werner Henze. Liest man den Roman heute, fasziniert durchaus die konsequent mit Bedeutung aufgeladene, aber doch sehr nüchterne Sprache; die Schilderung von Gleichgültigkeit und Pathos und der zunehmenden Verrohung der Jugendlichen, die sich auf eine höhere Moral berufen. Zugleich aber ist der essentialistische Unterstrom dieses Buches, auch wenn man um die Ansichten Mishimas weiß, bedrohlich und trostlos – und nicht zuletzt kompatibel mit den Backlashs unserer Gegenwart.…
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Wem ein lukullisches Mal serviert wird, der bekommt in der Regel raffiniert zubereitete Speisen und edle Getränke. Man erhebt sein Glas auf „Lucullus“ – den König aller Schlemmer. Doch der Römer Lucius Licinius Lucullus war weitaus mehr als ein antiker Gourmet. Das beweist der deutsche Althistoriker Peter Scholz in seinem neuen Buch. Dessen Lebensgang – vom erfolgreichen Militär zum resignierten, zurückgezogen lebenden Gourmet und Genussmenschen – wurde zum anschaulichen Beleg für den Verfall und für die These vom längst überfälligen Ende der Republik und ihrer uneinsichtigen Verteidiger. Quelle: Peter Scholz – Lucullus Lucullus und die Römische Republik Lucullus stammte aus einer wohlhabenden politisch agierenden Familie. Bereits sein Großvater hatte die Senatorenwürde erlangt. Lucullus gehörte der Partei der „Optimaten“ an, das heißt, er vertrat die eher konservative Aristokratie und war daher ein strikter Verfechter der Vorherrschaft des Senats. Peter Scholz schildert kenntnisreich und detailliert die Problematik der römischen Republik im letzten Jahrhundert vor Christi Geburt. Neben dem klassischen, aristokratisch geprägten Senat gab es zu Zeiten des Lucullus auch plebeische Magistrate und Volksversammlungen mit ihren Volkstribunen. Als „conscripti“, als „Hinzugeschriebene“ gelang es alsbald reichen Plebejern, in den Senat aufgenommen zu werden. Gleichzeitig dehnte sich das römische Reich permanent aus. Nur mit großer Mühe regelten die verschiedenen Entscheidungsgremien – die schon lange nicht mehr mit einer Stimme sprachen – die Staatsgeschäfte der res publica. Lucullus als Politiker und Feldherr Im Jahr 74 v. Chr. wurde Lucullus zum Konsul gewählt. Seine militärischen Erfolge beruhten hauptsächlich auf der Befriedung der Provinz Asia. Dabei ging er diplomatisch vor, indem er selbst widerspenstigen Städten den Status „civitates liberae“ verlieh, ihnen also weitgehende Autonomie zusagte. Die Popularität des Lucullus in Kleinasien fand ihren sichtbaren Ausdruck in den Statuen, mit denen ihn verschiedene Bürgerschaften der Provinz Asia in den Folgejahren ehrten. Quelle: Peter Scholz – Lucullus Doch Lucullus konnte seinen Ruhm nicht festigen. Der Mann der Stunde hieß Gnaeus Pompeius Magnus. Mit teils diktatorischen Mitteln zügelte er den Senat und stärkte seine Position durch enorme militärische Erfolge. Sein späteres Geheimbündnis mit Gaius Julius Caesar weist schon den Weg in die Zukunft: das Ende der römischen Republik. Peter Scholz weist aber nach, dass sich Lucullus nicht rein ins Privatleben zurückzog. Seine aktive Teilnahme an Senatssitzungen ist bezeugt. Lucullus als Ästhet und Genießer Doch tatsächlich berühmt wurde er durch seinen erlesenen Geschmack – sei es in der Kunst, in der Ausstattung seiner Villen oder eben durch die erlesenen Speisen, die er seinen Gästen servierte. Doch genau aus diesem Verhalten kreierten seine Gegner das Bild eines Mannes, der hemmungslos seiner Genusssucht frönt. In dieser Schwundstufe ging er in die allgemeine Erinnerung ein: Als Mann, der die Süßkirsche aus Kerasos nach Italien und Westeuropa gebracht hatte, und nicht als erfolgreicher Feldherr und Politiker, der um die Freiheit der Republik gekämpft hatte. Quelle: Peter Scholz – Lucullus In seinem Buch „Lucullus. Herrschen und Genießen in der späten römischen Republik“ gelingt es Peter Scholz auf vorzügliche Weise, das bis heute geltende Bild von Lucullus als Genießer und Schlemmer zu revidieren. Mit dessen Lebensbild öffnet sich auch die historische Bühne der römischen Republik in ihrer Endzeit. Lucullus war jemand, der die Senatsdemokratie mit allen Mitteln verteidigte und mitansehen musste, wie diktatorisches Regieren an Macht gewann. Der Bürgerkrieg war die Folge, aus dem Julius Caesar als Sieger hervorgehen sollte. Damit bietet Peter Scholz nicht nur ein äußerst interessantes Sittenbild Roms, sondern auch eine Parabel auf heutige politische Gegebenheiten.…
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„Es gibt drei große Männer in Deutschland. Thomas Mann, Heinrich Mann, Henselmann.“ Der Mann, der das sagte, hatte Humor. Aber auch ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein: Es war der Architekt Hermann Henselmann. Der wohl bedeutendste Baukünstler der DDR war im Herzen immer ein Anhänger der Moderne. Als er 1949 aber an der Planung der Berliner Stalinallee, der heutigen Karl-Marx-Allee, beteiligt war, musste er Kompromisse eingehen. Entsprechend des „Nationalen Aufbauprogramms“ war das klassizistische Erbe Doktrin. Henselmann entwarf die vier markanten Türme am Frankfurter Tor und am Strausberger Platz: dem östlichen und westlichen Ende der Allee. Bis heute aber ist sein Name Synonym für den gesamten Prachtboulevard mit historisierendem Antlitz. Florentine Anders meint: „Das ist auch ein bisschen Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet damit immer sein Name verbunden bleibt und Viele gar nicht wissen, dass er eigentlich viel mehr aus der Moderne kam und das dann auch durchgesetzt hat mit in der DDR, was man dann sieht am Haus des Lehrers und der Kongresshalle zum Beispiel." Oder dem weithin sichtbaren, unverwechselbaren Berliner Fernsehturm, der die Silhouette der Stadt bis heute prägt. – All diese Bauwerke sind Ikonen der Ostmoderne. Ihr Buch über den berühmten Großvater nennt Florentine Anders trotzdem „Die Allee“ – vielleicht hat sie da auch an den französischen Wortursprung „aller“ für „spazieren“ oder „gehen“ gedacht. Und so ist ihr Roman eine aufschlussreiche Wanderung: nicht nur durch das Leben des bekannten Architekten und seiner großen Familie, sondern auch entlang 100-jähriger Baugeschichte. Ein Roman nah an der Realität, der aus vielen Perspektiven berichtet Das Besondere daran: der persönliche Blick auf die Häuser und Menschen. Ein Blick zumal, der den realen Geschehnissen ganz nah auf den Fersen bleibt, selten in die Fiktion abschweift, viele Perspektiven einnimmt. Neben der Hermann Henselmanns auch die seiner Frau Irene, genannt Isi, die immer wieder versucht, in der Baukunst Fuß zu fassen. Isi will sich nicht länger der Herausforderung entziehen Und sich über entgangene Möglichkeiten ärgern. In der DDR kann auch eine Frau mit acht Kindern eine erfolgreiche Architektin sein. Den Beweis gilt es anzutreten. Für das Hochhaus in der Weber Wiese hat sie ihre ersten eigenen Entwürfe für funktionale Einbauküchen gemacht. Quelle: Florentine Anders – Die Allee Sie orientiert sich dabei an der berühmten Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky. Bezeichnend: keine Häuser oder Wohngebiete, eine Küche entwirft Isi Henselmann. Mehr ist nicht drin, auch nicht in der jungen DDR. Das Haus an der Weberwiese, in das diese Küchen eingebaut werden, hat ihr Mann Hermann entworfen. Allerdings nur mit Mühe und Trotz hat er sein modernes Punkthochhaus gegen den Willen der Partei durchsetzen können. Und mit dem Zuspruch seines Freundes Bertolt Brecht, der ihm Mut machte. Hermann ist aufgebracht bringt laut und übersprudelnd all seine Argumente hervor. Brecht hört zu und reagiert dann reagiert ruhig und besänftigend. Die Arbeit der Klasse sei eben noch nicht reif für die Moderne. Der Künstler dürfe sich nicht über das Volk erheben, sondern müsse den Menschen kleinere Schritte zumuten und sie behutsam in die richtige Richtung bewegen. Erst wenn sich das Bewusstsein verändert habe, werde auch die neue Form populär werden. Quelle: Florentine Anders – Die Allee Hermann Henselmann – eine komplexe Persönlichkeit Tochter Isa erlebte Brecht noch im Hause Henselmann. Sie ist die Mutter der Autorin. Auch sie ist eine Protagonistin des Romans. Isa hatte es als Kind nicht leicht in der Familie. Der zu Jähzorn und Wutausbrüchen neigende Vater hat sie oft verprügelt. Das Gesicht des Kindes auf den Fliesenboden geschlagen. Darüber zu schreiben, gehört dazu, sagt Florentine Anders. Sie selbst hat ihren Großvater vor allem als liebevollen Anreger kennengelernt. Hermann gab mir jedes Mal ein Buch, bis zum nächsten Treffen sollte ich es gelesen haben, damit wir gemeinsam darüber reden können. Er gab mir selbstverständlich keine Kinderbücher, sondern Bücher von Thomas Mann oder Bertolt Brecht. Jedes Mal lag eine kleine Auswahl, die er sich für mich überlegt hatte, auf seinem Schreibtisch und ich durfte mir ein Werk daraus auswählen. Quelle: Florentine Anders – Die Allee Die komplexe Persönlichkeit Henselmanns auf den Punkt gebracht hat die Schriftstellerin Brigitte Reimann, eine sehr enge Freundin der Familie, weiß Anders: „Brigitte Reimann hat einmal gesagt, wenn man Henselmann beschreiben will, dann muss man einfach alle Gegensätze die einem einfallen, aufzählen und dann liegt man so ganz richtig." Der Roman erzählt chronologisch und schaut dabei immer wieder auf die unterschiedlichen Lebensphasen und -entwürfe seiner drei Hauptpersonen Herrmann, seiner Frau Isi und Tochter Isa (eines der insgesamt acht Kinder!), blickt auf ihre Arbeitsweisen, Erfolge und Niederlagen, entwirft ein lebenspralles Bild dieser berühmten DDR-Familie. Ikonen der Ostmoderne – Vom Fernsehturm bis zum Haus des Lehrers Zugleich sieht man vor dem geistigen Auge die imposanten Türme am Strausberger Platz wachsen und die ersten Mieter in die großzügigen Wohnungen einziehen, darunter zahlreiche Trümmerfrauen und Arbeiterfamilien, erblickt den Fernsehturm mit seiner unverwechselbaren Kugel, um deren Urheberschaft zäh gestritten wurde und die Kongresshalle mit dem Haus des Lehrers am Alexanderplatz. „Die Allee“ ist nicht das erste Buch über Hermann Henselmann. Aber es eröffnet neue Perspektiven auf den Architekten, seine Bauten und die Menschen an seiner Seite.…
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1 Von Herzen, durch Zeiten, zwischen Welten: Neue Bücher u.a. von Jonas Lüscher und Zach Williams 54:57
54:57
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54:57Ob Lyrik als Heilmittel, das architektonische Erbe der Ostmoderne, oder die kritische Analyse eines Social-Media-Trends: Die Literatur eröffnet neue Perspektiven.
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
1 Laura Wiesböck – Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend 5:59
5:59
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5:59Immer mehr Celebrities und Personen des öffentlichen Lebens sprechen in den Sozialen Medien über ihre Krisenerfahrungen und psychischen Belastungen – und das oftmals in ästhetisch ansprechenden Videos. Ambivalente Auswirkungen der Debatte Dass dies häufig auch Druck bei klinisch betroffenen Menschen auslösen kann und darüber, ob psychische Erkrankungen mittlerweile gar zu einem Trend geworden sind, spricht Soziologin und Autorin Laura Wiesböck. Sie analysiert in ihrem Buch „Digitale Diagnosen“, warum psychologische Konzepte inflationär verwendet werden und welche gesellschaftlichen Folgen das hat. Ein Gespräch über den schmalen Grat zwischen Enttabuisierung und Selbstdarstellung.…
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Mara hat prophetische Träume. Sie träumt etwas und kurze Zeit später passiert dies wirklich. Diese Gabe ist mehr Fluch als Segen, denn eines Tages träumt sie sogar den tödlichen Unfall ihrer Eltern, der dann tatsächlich eintritt. Ich hatte schon immer sehr lebendige Träume gehabt, wie wohl die meisten Kinder, aber irgendwann geschahen Dinge, die eben nicht normal waren. Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf Das ist schon lange her. Inzwischen ist Mara Lux eine bekannte Schlafforscherin und lebt in London. Obwohl sie auf neurowissenschaftlicher Ebene sehr viel über das Phänomen Schlaf weiß, schläft sie selbst schlecht. Beunruhigend realistische Träume Und dann sind auch die Träume wieder da. Mara träumt von ihrer Nachbarin, die plötzlich fliegen kann. Zunächst ist sie amüsiert, doch als sie am nächsten Morgen ihre Wohnung verlässt, sind unten auf der Straße viele Menschen versammelt. Vor dem Eingang flackert Blaulicht und jetzt sehe ich auch die Polizisten, die auf dem Gehweg stehen. Ich habe ein schlechtes Gefühl. Ein ganz, ganz schlechtes, dunkles, zähes, klebriges Gefühl. Die hübsche junge Frau aus dem ersten Stock wird auf mich aufmerksam und kommt zu mir. „Es ist Mrs. Jones“, sagt sie mit belegter Stimme. „Sie ist aus dem Fenster gesprungen, heute Nacht. Oder besser in den frühen Morgenstunden. Ist das nicht schrecklich?“ Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf Ein merkwürdiges Angebot Mara ist schockiert. Am Abend wird sie sich einen gehörigen Rausch verpassen, weil sie weiß, dass Alkohol die Traumschlafphasen, den so genannten REM-Schlaf, unterdrückt. Gesund ist das nicht, auch das weiß sie. Aber es ist gerade zu viel los. Denn da ist noch diese merkwürdige E-Mail von einem Notar: Ein ihr unbekannter alter Mann möchte ihr ein Herrenhaus in Deutschland schenken. Keine Verpflichtungen, nur ein riesiges Haus in sogar annehmbaren Zustand. Mara zögert, macht sich dann aber doch auf den Weg, um es sich wenigstens einmal anzusehen. Als sie in dem kleinen Ort namens Limmerfeld ankommt, erkennt sie die Gassen wieder – aus einem Traum. Parallel zu Mara und ihren Abenteuern erzählt Autorin Melanie Raabe noch eine zweite Geschichte: Ich erinnere mich an das Gefühl des Laufens, so leicht, so frei. Ich erinnere mich, wie ich einen Blick über meine Schulter warf und sah, dass Kai mir dicht auf den Fersen war. Ich erinnere mich, dass ich dachte, dass ich nicht vergessen durfte, ihm zu sagen, dass er später beim Abendbrot auf keinen Fall erzählen sollte, dass wir im Wald gewesen waren, denn der Wald war verboten. Im Wald gab es einen alten Steinbruch und alte Schächte und all diese Dinge, vor denen Mama uns gewarnt hatte, seit wir klein waren. Ich erinnere mich, wie ich den Blick wieder nach vorne richtete, früh genug, um die morschen Planken vor mir zu sehen, nicht früh genug, um rechtzeitig innezuhalten. Und dann der Fall. Und dann die Hoffnung, Kai möge es geschafft haben, möge nicht ebenfalls in den alten Brunnen gestürzt sein. Und dann die Erkenntnis, dass wir beide hier gefangen waren. Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf Chantal Busse gehört zu jenen Schauspielerinnen, die ihre junge Stimme problemlos einem zehnjährigen Mädchen geben können und natürlich dennoch über das ganze gestalterische Repertoire verfügen, um ihrer Lesung die nötige Tiefe zu geben, Emotionen zu transportieren und Atmosphäre zu erzeugen. Hier ist offenbar ein großes Unglück geschehen. Erwachende Erinnerungen an ein Unglück in Kindheitstagen Das Mädchen wird es schaffen, aus dem Brunnenschacht zu klettern, um Hilfe für seinen bewusstlosen Bruder zu holen. Wie aber hängt diese Geschichte mit der von Mara zusammen? Diese hat sich inzwischen entschieden, die Schenkung anzunehmen und verbringt eine angemessen gruselige Nacht in dem verlassenen, aber komplett eingerichteten Haus, das ein seltsames Eigenleben entwickelt. Immer wieder geht das Licht an und Mara wird das Gefühl nicht los, nicht allein zu sein. Am nächsten Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus, oder? Jetzt noch eine lange Dusche und ein ordentliches Frühstück und ich bin schon wieder ganz die Alte. Während ich noch das Badezimmer im Obergeschoss betrete, streife ich mir bereits das T-Shirt, in dem ich geschlafen habe, über den Kopf und… Mir entfährt ein kleiner, erstickter Schrei, als ich den Spiegel über dem Waschbecken sehe. Mein roter Lippenstift liegt im Waschbecken, die Verschlusskappe auf dem Boden. Jemand hat mir mit ihm eine Botschaft auf den Badezimmerspiegel geschrieben. Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf „Ich sehe dich“, steht da. „Siehst du mich?“ Nicht gerade beruhigend. Autorin Melanie Raabe versteht ihr Handwerk. Nichts einfacher als einer jungen Frau nachts in einem leerstehenden Haus das Fürchten zu lehren, aber sie schafft es zudem, die Atmosphäre ganz langsam von bedrohlich in freundlich zu drehen, Verfolgte und Verfolger tauschen die Rollen. Schauspielerin Sithembile Menck vollzieht all das stimmlich mit. Gekonnt wechselt sie zwischen der selbstbewussten Forscherin zur verunsicherten jungen Frau und zurück, unterscheidet im Tonfall zwischen Traum und Wirklichkeit und hält die Spannung bis zuletzt. Einzig ein paar kleine grammatikalische Fehler im Text sind etwas ärgerlich, da hätten Lektorat oder Regie besser aufpassen müssen. Dennoch: „Der längste Schlaf“ ist ein gelungenes Hörbuch für alle, die es gerne mit dem Übersinnlichen aufnehmen – zum entspannten Hinübergleiten in die Nachtruhe ist es allerdings nicht zu empfehlen.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
1 Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen 6:04
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6:04Wir leben in Zeiten, in denen das Groteske alltäglich wird. Politik und Tech-Industrie liefern absurde Wendungen, die selbst Horrorfilme alt aussehen lassen. In den letzten Jahrzehnten war es eher umgekehrt: Die Fiktion übersetzte unsere unbewussten Ängste und Fantasien in drastische Erzählungen. Heute kann sie kaum noch mit der Realität Schritt halten. Zach Williams‘ Debüt mit dem euphemistischen Titel „Es werden schöne Tage kommen“ ist ein bemerkenswerter Erzählungsband, zugleich anachronistisch und komplett gegenwärtig. Er knüpft an die Tradition psychologischer Albtraum-Geschichten an, in denen das Vertraute plötzlich unheimlich wird und die Grenze zur Dystopie fließend ist. Autoren wie George Saunders oder Cormac McCarthy kommen einem in den Sinn, wenn man diese zehn, von Bettina Abarbanell und Clemens J. Setz meisterhaft übersetzten Storys liest. Zugleich brodelt in ihnen etwas – ein Echo unserer unsicheren Gegenwart. Ich flog durch die Tür zur Lobby und blickte mich dann keuchend zum Unwetter um. Es war schlimm da draußen. Die Stadt bestand nur noch aus vagen Umrissen und schwebenden Lichtern; der Schnee trieb in Wellen über die Nineteenth Street. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Der Auftakt: ein düsterer Probelauf „Probelauf“ heißt die Auftakterzählung, die 2022 in der Paris Review erstmals erschienen ist. Der Erzähler sucht mitten in einem gewaltigen Schneesturm seinen Arbeitsplatz auf, ein fast verlassenes Bürogebäude. Nur Manny ist da, ein Wachmann mit bizarren Ansichten und einem Hang zur Paranoia. Abgeschirmt von der zugeschneiten Welt draußen, wird es drinnen immer ungemütlicher, klaustrophobischer, bedrohlicher. Ein weiterer Kollege erscheint, der den Erzähler in ein allzu intimes Gespräch verwickelt, das ihn unangenehm berührt. Es ist immer wieder die Rede von mysteriösen Mails, von einer dunklen Macht, aber alles bleibt im Vagen. Sie waren Mitglieder eines eigenartigen Bunds, die einander instinktiv erkannten, Blicke wechselten, sich heimlich auf etwas vorbereiteten, vielleicht nicht mal auf das Gleiche, aber gleich in ihrem Sinnen und Trachten. Und mich hatten sie als einen von ihnen ausgemacht. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Das Unbehagen unserer Zeit Ein Gefühl der Unsicherheit und Unfassbarkeit durchzieht die Geschichten von Williams. Ein Schatten legt sich über die Figuren, kontrolliert sie, ist aber nie recht zu fassen. Es ist da ein zeitgenössisches Unbehagen, spätestens seit der Corona-Pandemie ein sehr konkretes Gefühl. Williams‘ Erzähler sind oft Angeschlagene, leicht aus der Bahn Geworfene, obwohl sie sich vermeintlich feste Strukturen geschaffen haben. So auch in „Das Sauerkleehaus“: eine dreiköpfige Familie erwacht in einer idyllischen, abgelegenen Waldhütte. Weder wissen sie, wie sie dort hingekommen sind, noch von wem sie jeden Tag mit den notwendigsten Lebensmitteln versorgt werden. Es gibt keine anderen Menschen, keine wechselnden Jahreszeiten, keine Möglichkeit, anderswo hinzugelangen. Jacob war der Meinung, am besten käme man der Situation durch Zahlen, Fakten, Aufzeichnungen auf den Grund – kurz, durch alles, was sich irgendwie beobachten und festhalten ließ, denn nur auf diese Weise konnten Rätsel gelöst werden. Ronna dagegen vermutete, dass dieser Ort nicht solchen Regeln folgte. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Noch gespenstischer wird es, als Sohn Max einfach nicht altert, während Jacob und Ronna älter werden und sich mehr und mehr entfremden. In einem der längsten Texte – „Ghost Image“ – verwandelt sich der Sohn des Erzählers insgeheim in dessen früheren Boss Joe Daly, einen Ausbund an Gewöhnlichkeit, der zu einer Art Symbol des Scheiterns wird. Die Geschichte steuert auf einen Ausflug in ein apokalyptisches Disney World zu – dorthin, „wo Träume wahr werden“. Allerdings ist das Schild mit dem Slogan übermalt und lautet nun: „wo Träume absterben“. Choreografie des Absurden In einer anderen Erzählung findet ein Mann seine tote Nachbarin in ihrer Wohnung, im Sessel vor dem Fernseher. Plötzlich bemerkt er einen maskierten Fremden in der Wohnung, es beginnt eine kafkaesk anmutende Verfolgungsjagd. Die absurde Situation scheint sich endlos hinzuziehen. Ich geriet in Panik. Er bewegte sich am Fernseher vorbei, aufs Fenster zu. Unser Kreislauf war ununterbrochen. Die Wiederholung hatte den Charakter eines Albtraums. Ich sagte ihm, er würde verhaftet werden, aber es kam in einem flehentlichen Ton heraus, und ich war mir auch nicht sicher, ob ich es selbst glaubte. Die Polizei, die gleich diese Treppe heraufkommen würde, in diese Situation hinein – das waren zwei unvereinbare Realitäten. (…) Ich wollte zu Boden sinken und den Kopf zwischen die Knie stecken, aber ich hatte den furchtbaren Gedanken, dass er einfach immer weitermachen könnte mit seinem absonderlichen Verhalten und jede neue Runde ihn dann an mir vorbeiführen würde. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Nichts ist sicher, nichts stabil Kleinstädtischen und kleinbürgerlichen Lebenswelten stellt Williams jene Unorte entgegen, in denen eigene oder gar keine Regeln mehr gelten – ein heruntergekommener Freizeitpark, ein verlassener Bürokomplex, eine Wüstenlandschaft. Die Figuren werden davon magisch angezogen, vielleicht weil sie sonst aus ihrem Sackgassendasein keinen anderen Ausweg finden. Oder sie werden durch eine unscheinbare Begegnung auf Abwege geführt. David Lynch lässt grüßen, wenn ein verwachsener Mann – Er war einfach ein kleines, seltsames Ding. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen – aus dem Schrank heraus seiner attraktiven Frau beim Liebesspiel mit dem Erzähler zusieht. Nikolaj Gogol schaut über die Schulter, wenn einem kleinen Kind über Nacht ein weiterer Zeh wächst und sein Vater in einen Strudel irrationaler Gedanken gerät. Williams’ grotesk-fantastische Geschichten spiegeln unsere spätmoderne Welt wider – eine Zeit, in der Künstliche Intelligenz Kreativität simuliert, in der liberale Gewissheiten langsam zerbröckeln und traditionelle Strukturen zerfallen. Mit subtilem Grauen, surrealem Humor und gnadenloser Präzision fängt dieser Erzählband das Gefühl ein, den eigenen Platz in dieser unsicheren Realität zu verlieren. Zach Williams‘ Erzählungen verstören – und bleiben lange im Gedächtnis.…
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1 Jakob Leiner (Hg.) – Ah, ein Herz, verstehe 5:45
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5:45Jakob Leiner, Arzt und Schriftsteller, beweist mit seiner Gedichtsammlung, dass Medizin und Lyrik sehr wohl zusammenpassen. Beginnend mit der Neuzeit wandert er in seiner Anthologie durch 500 Jahre, in denen Gedichte über Krankheit und Heilung verfasst wurden, bis er schließlich in der Gegenwart ankommt. „Alles kommt vor“ in dieser Anthologie Die Gedichte spiegeln, laut Jakob Leiner, alles wider, was zur jeweiligen Zeit stattgefunden hat – seien es Pestzeiten, wissenschaftliche Errungenschaften oder technische Fortschritte innerhalb der Medizin. Ein Gespräch über Dichterärzte, Patientenklagen und den Trost der Sprache.…
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1 Jonas Lüscher schreibt in „Verzauberte Vorbestimmung“ über das angespannte Verhältnis von Mensch und Maschine 7:02
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7:02Der Einstieg in den Roman ist ein literarisches Versprechen, das im Laufe des Textes aber nicht eingelöst wird. Die Geschichte beginnt im Ersten Weltkrieg. Ein junger Mann sieht für sich keine Zukunft mehr im südalgerischen Heimatdorf. Also lässt er sich von der französischen Armee anwerben, um gegen die Deutschen zu kämpfen, über die der Rekrutierungsoffizier sagt, der Feind sei ein „Volk von Unholden“, (…) (…) regiert von einem zwirbelbärtigen, einfältigen Kaiser, brutal, gemein, aber gleichzeitig hasenfüßig, also kein Gegner, vor dem man sich zu fürchten brauche, weshalb auch nur mit einem kurzen Krieg zu rechnen sei und er davon ausgehen könne, spätestens zum Ende des Jahres wieder heimzukehren, als Held mit Orden auf der Brust und Sold in der Tasche. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Einsatz in Frankreich Der Algerier lässt sich auf das zweifelhafte Angebot ein und wird vor dem Einsatz an der Front „für ein paar Wochen in der Kunst des Schießens“ unterrichtet. Aber er hat, was seine Zeit nach dem Krieg betrifft, etwas anderes im Sinn. Orden interessieren ihn nicht, er möchte sein „Glück in Paris versuchen“. Da der Offizier dem Rekruten verspricht, auch das „sei möglich“, landet der Fünfundzwanzigjährige schon kurze Zeit später, nämlich im August 1914, in Frankreich und zieht mit fremden Kameraden in einen Krieg, der nicht der seine ist. Mit dem Zug brachte man sie nach Norden, über Avignon nach Anor an der belgischen Grenze. Von da an mussten sie marschieren, sechzig Kilometer kamen sie weit, bis kurz vor Charleroi, wo das Schlachten und Morden begann. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Soldat, der seinen Eid bricht Dem zunächst namenlose Soldaten würde man in Lüschers Roman „Verzauberte Vorstimmung“ gerne weiter folgen, zumal er seinen Eid bricht, sich an die Vorbestimmung, als Kanonenfutter zu enden, nicht halten will, sondern auf nahezu märchenhafte Weise die eigene Zukunft in die Hand nimmt. Sein Geist sagte: kämpfen, rennen, laufen, flüchten. Sein Leib war ein einziges Zittern. Dann ein einzelner klarer Gedanke: Nicht mit ihm. Nicht Teil dieser Maschinerie sein. Nicht mehr rennen, nicht mehr feuern, nicht mehr töten, nicht mehr kämpfen. Einer musste damit aufhören. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte Die Fahnenflucht scheint gelungen zu sein, die genauen Umstände erfahren wir nicht. Von kriegsbedingen Lungenschäden gequält, wird der ruhmlose Held nach dem Krieg in Frankreich eine Anstellung als Briefträger erhalten. Eine im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende Geschichte, die teilweise wohl auf wahren Begebenheiten beruht und deren Fiktionalisierung nun erst richtig beginnen könnte! Lüscher aber entscheidet sich, diese Neugier nicht zu befriedigen. Eine differenziertere Figurenpsychologie, die Fortführung dieser Geschichte scheint den Autor kaum zu interessieren. Stattdessen führt er sich als Ich-Erzähler ein, der nach einer schweren Covid-Infektion selbst mit gravierenden Atemproblemen zu kämpfen hat und der sich trotzdem auf strapaziöse Recherchereisen begibt. Ich war ein schlechter Reisender geworden, unsicher, gereizt, verletzlich. In nervöser Erwartung, die Mitreisenden könnten sich einer hygienischen Verfehlung schuldig machen, suchte ich nach freigelegten Nasen, nach unter dem Kinn hängen Masken. Die Essenden strafte ich mit strengen Blicken. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Literarisches Spiegelkabinett Lüschers Spurensuche, die mal Züge einer essayhaften Reportage trägt und mal mit Mitteln der historischen Fiktion arbeitet, führt durch unterschiedlichste Epochen und zu den verschiedensten Schauplätzen. Ein literarisches Spiegelkabinett mit vielen Sackgassen und verwirrenden Verfremdungseffekten. Oft gibt es nur lose Verbindungen von einer Erzählinsel zur nächsten; am späteren Arbeitsort des lungenkranken Briefträgers hat beispielsweise auch der Schriftsteller und Maler Peter Weiss gelebt. „Die Maschinen greifen die Menschen an“ – so heißt eines seiner Gemälde, was den Erzähler ins böhmische Varnsdorf führt, was die Leserinnen und Leser kurzerhand in die Zeit der Weberaufstände katapultiert: So wird von einem fleißigen Handwerker berichtet, der zu seinem Ärger durch einen automatisierten Webstuhl ersetzt werden soll. Erzählstränge von Metareflexionen unterbrochen Der Weber raubt einen Hammer und zertrümmert die bedrohliche Maschine. Eine dramatische Szene, die aber keineswegs linear erzählt wird. Immer wenn es interessant werden könnte, sind wir bei Lüscher schon in einem neuen Setting. Als wäre das nicht komplex genug, werden die verschiedenen Erzählstränge regelmäßig von sprachlichen Metareflexionen unterbrochen – da klingt dann ein aufgebrachter Weber aus dem 19. Jahrhundert auch mal wie ein in Erzähltheorie geschulter Romancier der Gegenwart. Aber was war eigentlich sein Punkt? So genau wusste er das auch nicht, war doch der Sinn seines Erzählens weniger der, seinen Kindern und seiner Frau etwas klarzumachen, ihnen irgendein Faktum einzubläuen oder ihnen ein so ist recht und so ist falsch und so und so sollst du handeln vorzukauen. Eigentlich, so musste er sich eingestehen, erzählte er, um selbst zu verstehen, oder besser noch, um sein eigenes Nachdenken zu formen. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Ja, was ist eigentlich der Punkt bzw. worin besteht der inhaltliche und sprachliche Kern dieses Romans, der in so viele Einzelteile zerfällt? Es geht zweifelsohne um das Verhältnis von Mensch und Maschine; es werden politische, technische und ökonomische Zwangläufigkeiten geschildert, die zumindest im Roman außer Kraft gesetzt werden. Menschliche Träume oder Wahnsinn virtueller Maschinen? Lüscher gibt den Sprachzauberer, wirbelt mit Erzählperspektiven, mit recherchiertem und erfundenem Material herum. Doch der Erkenntnisgewinn ist gering, die Ästhetik wirkt vor allem: überambitioniert. Paradoxerweise ist das Werk, das auch ein Lehrstück über die Gegenwart sein soll, über alle Epochen und Szenen hinweg in einer antiquierten, betont elaborierten Sprache gehalten. Am Ende reisen wir mit dem Ich-Erzähler durch die noch im Bau befindliche neue Verwaltungshauptstadt Ägyptens. In der Wüste vor den Toren Kairos stehen bereits leere Hotels und eine Oper, in der seit der Eröffnung keine Musik mehr erklungen ist. Eine unwirkliche Welt, in der schließlich die Schatten der Menschen ein Eigenleben entwickeln. Ist das die böse Zukunft der künstlichen Dummheit? Es ist völlig unklar, ob wir uns noch in menschlichen Träumen oder schon im Wahnsinn der virtuellen Maschinen befinden. Romanruine, die ratlos macht Jonas Lüscher zieht alle literarischen Register und überzeugt gerade deshalb nicht. „Verzauberte Vorbestimmung“ ist eine Romanruine, die ratlos macht. In einem Interview erklärt der Autor, er habe ursprünglich ein anderes Buch schreiben wollen, doch die Pandemie habe auch den Zuschnitt des Textes verändert. Immerhin hätten die medizinischen Maschinen dem Schriftsteller das Leben gerettet. So ist „Verzauberte Vorbestimmung“ möglicherweise als Dokument des literarischen Scheiterns für Germanisten interessant, die eines Tages untersuchen werden, wie sich Corona auf die deutschsprachige Literatur ausgewirkt hat.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
1 John von Düffel – Ich möchte lieber nichts | Buchkritik 4:09
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4:09Es ist einer der berühmtesten Sätze der Weltliteratur: „Ich möchte lieber nicht.“ In der Erzählung „Bartleby“ von Herman Melville hält sich ein Büroangestellter gleichen Namens mit diesen Worten zunächst einzelne Tätigkeiten und schließlich die ganze Welt vom Leib. Der Totalverweigerer landet im sozialen Abseits und stirbt zuletzt. Der Verzicht, den der Schriftsteller John von Düffel im Sinn hat, soll dagegen gerade nicht in die Isolation führen, sondern das Leben reicher machen. „Es geht darum zu erkennen, wie wenig man braucht“, schrieb der Autor in seinem Buch „Das Wenige und das Wesentliche“, an das er nun anknüpft. Diese asketische Lebenshaltung begegnete John von Düffel erstmals während des Studiums in Schottland. Fiona, die nur auf einem Stein sitzen und denken wollte, wurde zu seinem Vorbild. „Ich möchte lieber nichts“ – „I dont’t feel like consuming“, so lautete ihre Standardantwort auf das Angebot, mit in die Mensa oder die Kneipe zu kommen. Nach 35 Jahren trifft er sie in Edinburgh wieder. Er will herausfinden, wie Fiona lebt. Inwieweit gelingt es, so eine Lebenseinstellung auch in Alltag zu übersetzen? Man kann sich ja viele schöne Gedanken beim Kaminfeuer machen. Aber wenn dann der nächste Tag losgeht, wie viel davon kriegt man umgesetzt? Und deswegen war’s für mich wichtig zu gucken: Wie verzahnen sich diese Gedanken mit dem wirklichen Leben? Und wie ist das in Fionas Fall? Was für eine Geschichte hat sie? Quelle: John von Düffel Fragen nach dem richtigen Leben Von der Begegnung erzählt das neue Buch. Zwei Tage bleibt der Ich-Erzähler, der von John von Düffel kaum zu unterscheiden ist, in Edinburgh. Gemeinsam mit Fiona spaziert er durch die Stadt. Den Lehrersohn aus der norddeutschen Provinz und die Tochter aus einer Glasgower Arbeiterfamilie trennen Welten. Während er mit großen Fragen nach dem richtigen Leben angereist ist, hat Fiona wenig Interesse daran, die Diskussionen aus den Philosophieseminaren von einst fortzusetzen. Sie wird viel zu sehr von ihrem fordernden Alltag als Mutter und Streetworkerin vereinnahmt, von dem sie jedoch nur zögerlich berichtet. Umso entschiedener markiert sie die Unterschiede zu ihrem Gegenüber. Deine Krisen und meine Krisen waren schon damals verschieden und sind es vermutlich nach wie vor. Insofern weiß ich nicht, ob ich dir so viel Kluges sagen kann. Anders als im Studium habe ich die letzten Jahrzehnte mehr gelebt als gelesen. Und du? Quelle: John von Düffel – Ich möchte lieber nichts Soziale Prägungen und Beschränkungen Das nur mühsam in Gang kommende Gespräch der beiden ist trotzdem erhellend – und das ist Fionas schroffer Direktheit zu verdanken. Das Idealbild, das der Ich-Erzähler von ihr entworfen hat, ohne sie je wirklich zu sehen, korrigiert sie. Ihr Mut, anders zu sein als die anderen, war gar kein Mut, erklärt sie: „Ich musste von nichts abweichen, ich war nicht mal in Reichweite der Norm.“ Fiona fehlte es schlichtweg an Geld, um mit den anderen essen zu gehen. Die Unterhaltung führt weg vom Nachdenken über Konsumverzicht und Askese hin zu Fragen von Herkunft und Status, von sozialen Prägungen und Beschränkungen, wie sie zuletzt immer häufiger auch in der Literatur verhandelt werden. Fiona ist auch ein Beispiel für ein Ausbrechen aus sozialen Gefängnissen oder Käfigen. Und gleichzeitig ist sie aber auch ein Beispiel dafür, wie soziale Benachteiligung auf eine Art immer weitergeht, auch wenn man es vordergründig auf ein anderes Level schafft. Quelle: John von Düffel Das Buch wirkt auf eigentümliche Weise disparat und unfertig. Verstärkt wird dieser Eindruck durch einen Mittelteil mit mal mehr, mal weniger überzeugenden philosophischen und kulturkritischen Betrachtungen. John von Düffel will davon erzählen, welcher Freiheitsgewinn in der Askese liegt. Doch dazu taugt die Begegnung in Edinburgh nur wenig. Das Treffen macht vielmehr deutlich, in welchem Maß die freie Entscheidung zum Verzicht eine privilegierte Entscheidung ist. Fionas Geschichte, eine Geschichte versperrter Möglichkeiten, skizziert das Buch nur. Gerade über ihr ganz anderes, nicht privilegiertes Leben hätte man jedoch gern mehr gelesen.…
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Der indische Strukturbiologe Venki Ramakrishnan steht den Versprechen ewiger Jugend und Fitness ausgesprochen skeptisch gegenüber. Sie sind, wie er jetzt in seinem Buch „Warum wir sterben“ nachweist, absurd, denn der Alterungsprozess unseres Körpers lässt sich nicht abschaffen. Für Laien wie mich ist „Warum wir sterben“ keine leichte Lektüre, denn der ausgewiesene Genexperte beschreibt in aller Detailfreude, wie die Zellen funktionieren. So allgemeinverständlich Ramakrishnan auf 300 Seiten die genetischen Vorgänge auch erklärt, man muss sich die verschiedenen Funktionen der unterschiedlichen Zellformen immer wieder in Erinnerung rufen. Bisweilen helfen kleine Zeichnungen beim Verständnis. Die Erforschung des Alterns Ramakrishnan geht weit zurück in der Geschichte der Erforschung des Alterns. Er stellt berühmte Forscherinnen und Forscher vor, beschreibt, wie sie oft gegen den Widerstand ihrer Wissenschaftsgemeinschaft auf ihre Entdeckungen gestoßen sind. Spätestens seit der Entdeckung des Doppelstrangs der DNA sind rasante Fortschritte gemacht worden. Sie zeigen deutlich, wie kompliziert das Zusammenspiel der verschiedenen Bestandsteile einer Zelle ist. Entscheidend sind die Gene der DNA, denn sie enthalten die Information, wie Proteine aufgebaut werden. Ohne Proteine kein Leben. Proteine steuern den Körper und befähigen die Zelle, Fette, Kohlehydrate, Vitamine und Hormone herzustellen. Sie produzieren die Antikörper, die Infektionen bekämpfen, speichern sogar Erinnerungen im Gehirn. Die dafür verantwortlichen Gene der DNA werden von der Ribonukleinsäure, der RNA kopiert und dann zur Produktion der Proteine genutzt. So unterschiedlich die Proteine sind, so unterschiedlich ist ihr Aufbau, ihre Funktion und ihre Lebenszeit. Ohne sie gibt es keine neuen Körperzellen, von der Gehirnzelle über die Herzmuskeln bis zur Leber. Die Fehleranfälligkeit der Zellen In elf Kapiteln erläutert Ramakrishnan, wie die Zellen entstehen und wie sie sterben, denn fast alle Zellen im Körper haben eine kurze Lebenszeit, müssen sich beständig vermehren und dabei geschehen Fehler. Normalerweise werden diese alle eliminiert. Doch die Reparaturmechanismen sind nicht perfekt. So sammeln sich im Laufe der Zeit immer mehr beschädigte Zellen an. Reaktion des Körpers: 1. Die fehlerbelastete Zelle dazu zu bringen, sich selbst zu zerstören, quasi Selbstmord zu begehen. 2. Die Zelle stillzulegen, so dass sie keinerlei Funktion mehr ausübt und sich nicht mehr vervielfältigen kann. 3. Sie zu reparieren, also alle Fehler zu beseitigen. Quelle: Venki Ramakrishnan – Warum wir sterben Je mehr Zellen stillgelegt werden, desto schlechter arbeitet das entsprechende Organ, in dem sie sich befinden. Je weniger repariert wird, desto heftiger werden die Funktionen einzelner Organe beeinträchtigt. Das ist der unvermeidbare Alterungsprozess der Organe. Wenn die stillgelegten oder zerstörten Zellen die Überhand gewinnen, stirbt man. Man hofft, mit besserem Verständnis der Reparaturmechanismen die Fehler eindämmen oder sogar beseitigen zu können. Das könnte tatsächlich zu einer Verlängerung des Alters führen. Mehr als 120 Jahre aber sind kaum zu erreichen. Die Unvermeidbarkeit des Alterns Es ist eine fremde Welt, in die man eintaucht. Sie zeigt uns zudem, dass das Altern ein natürlicher und beabsichtigter Vorgang der Evolution ist. Auch wenn sich das Alter heute dank zahlreicher medizinischer und pharmazeutischer Entdeckungen gegenüber früheren Zeiten gut verdoppelt hat, steckt der Prozess des Alterns aber noch immer voller Geheimnisse. Ramakrishnan beweist überzeugend, dass er sich kaum unendlich verlängern lassen wird. Einen Methusalem wird es nicht geben.…
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„Geh Weg“, so wollte der Stuttgarter Journalist Joe Bauer die jüngste Sammlung seiner Kolumnen eigentlich nennen. Glücklicherweise war sein Verleger dagegen. Zwar wäre in „Geh Weg“ die peripatetische Grundeinstellung dieser, wie der Untertitel lautet, „Beobachtungen eines Stadtspaziergängers“ fein angeklungen, zugleich aber die grimmige Abwehrformel „Geh weg!“ kaum überhörbar gewesen. Nun heißt das Buch mit seinen gut 50 Texten „Einstein am Stuttgartstrand“. Mit vollem Recht, denn was Albert Einstein mit Stuttgart beziehungsweise dem eingemeindeten Cannstatt zu tun hat, wird hier ebenso enthüllt wie die Bedeutung von Phil Glass, dem Komponisten des Minimal-Music-Meilensteins „Einstein on the Beach“, für das hiesige Opernhaus. Veteran im mentalen Mäandertal Auf Joe Bauers Laptop, mit dem er sich am Neckarufer oder in einer Kettenbäckerei mit freiem Blick auf die dysfunktionalen Reste des Stuttgarter Hauptbahnhofs niederlässt, kommt alles zusammen, mal auf kürzestem Weg, mal mit überraschenden Umschweifen. Auf denen kann dann noch ganz viel anderes aufgelesen und in Erinnerung gerufen werden, aus den historischen Tiefen des Stadtraumes wie aus einem mittlerweile 70-jährigen Leben. Als Bauer vor einem Vierteljahrhundert erstmals zu seinen Stadtspaziergängen aufbrach, ging es ihm darum, ganz in guter Lokalkolumnisten-Manier auf die beim automobilen Durchrauschen übersehenen Details der „Großstadt zwischen Wald und Reben, zwischen Hängen und Würgen“ aufmerksam zu machen. Jedoch: Als Veteran im mentalen Mäandertal gehe ich heute mehr herum als früher, ohne allerdings noch einmal auf die Idee zu kommen, meine Abwege weiterzuempfehlen. Quelle: Joe Bauer – Einstein am Stuttgartstrand Eine gewisse Melancholie macht sich in dieser an vielen Großen geschulten Formulierungskunst bemerkbar, und das hat Gründe, nicht nur, weil mehrere der hier versammelten Texte Nachrufe oder Grabreden auf Weggefährten sind. Seit 26 Jahren schreibt Joe Bauer seine Kolumnen, unterwegs in den Dreckecken wie den Glanzbildchen der Landeshauptstadt ist er als Journalist schon fast doppelt so lang. In dieser Zeit hat sich das ehedem behäbig-bürgerliche und vorbildlich integrationsbereite Stuttgart stark verändert. Zuletzt nicht zum Guten. Eher Kundschafter als Müßiggänger Die Immobilienspekulation zerstört den öffentlichen Raum, die Pandemiezeit hat ihre Spuren hinterlassen mit der leider von hier ausgehenden Querdenkerei, die Lagerbildung seit Putins Überfalls auf die Ukraine beschäftigt auch den Kolumnisten, der sich im wirklichen Leben seit langem gegen Rechtsextremismus engagiert. Kommt hinzu, dass dem naturgemäß randständigen Typus des „Flaneurs“, auch wenn Bauer ihn eher als „Kundschafter“ denn als privilegierten Müßiggänger definiert, traditionell keine überschäumende Lebensfreude eignet: So wunderte ich mich schon als junger Kerl, dass ich überhaupt noch geboren werden konnte. Dieses an sich schon absurde Ereignis brachte mich dazu, ein Leben als Pessimist zu führen. Nur auf diese Art konnte ich zusehen, wie die Stuttgarter Kickers bis in die fünfte Liga abstürzten. Ich habe ihnen das nie krumm genommen, weil sich für einen Pessimisten ‘Oberliga‘ immer noch verdammt glamourös anhört. Wenn du in einer Stadt lebst, in der sie auf dem Marktplatz einen metallenen Foodtruck mit Blumentrögen einzäunen und ,the ratskellerbar‘ nennen, spielst du ohnehin bar jeder Klasse in der Kreisliga. Quelle: Joe Bauer – Einstein am Stuttgartstrand Bauers Spottlust ist offenkundig ungebrochen, allen alters- und gesamtsituationsbedingten Verfinsterungen zum Trotz. Auch wenn sie es nicht immer leicht zu haben scheint, sich durchzusetzen. Das liegt nicht nur am erwähnten Pessimismus. Joe Bauer will es nicht dabei belassen, glossierende Bemerkungen über Honoratioren-Ignoranz oder zweifelhaftes Stadt-Marketing, um es mit einem Modewort zu sagen, „abzuliefern“. Gerade in der Frage von Krieg und Frieden ringt er offen um Haltung, wehrt sich gegen die Schublade des „Lumpenpazifismus“, liest Clausewitz, sucht Argumente. An denen kann man sich reiben. In unseren Tagen der oft wohlfeilen Eindeutigkeiten ist das schon viel.…
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1 Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik – Die Evolution der Gewalt 4:09
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4:09Der Mensch führt Krieg, immer wieder und weiter, und das trotz der ganz großen Schrecken des vergangenen Jahrhunderts. Dabei muss er gar nicht. Weder seine genetische Veranlagung noch das schlechte Beispiel des Brudermords von Kain an Abel zwingen ihn dazu. Das stellen Harald Meller, Kai Michel und Carel van Schaik gleich am Anfang ihres Buches „Die Evolution der Gewalt“ klar. Darin gehen sie entlang der Menschheitsgeschichte der Frage nach: „Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen“. Und von vornherein machen sie deutlich, dass sie die verbreitete Ansicht, der Mensch sei eben von Natur aus ein kriegerisches Wesen, mit aller Entschiedenheit widerlegen wollen. Kriegerische Schimpansen, friedfertige Urmenschen Zu diesem Zweck stützen sie sich zunächst auf die Erkenntnisse der Evolutionären Anthropologie und Primatologie. Woraus sich für unsere nächsten Vorfahren allerdings ein eher bedenkliches Bild ergibt: Die Schimpansen leben im permanenten Zustand eines latenten Krieges. Zwischen Schimpansen-Gemeinschaften gibt es keinen Frieden. Quelle: Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik – Die Evolution der Gewalt Trotzdem bleiben die Autoren zuversichtlich, denn die Archäologie liefert günstigere Indizien für ihre Kernthese, dass der Krieg kein Menschenschicksal sei. Zwar weisen Schädel, Skelette und Knochen aus urgeschichtlichen Grabstellen oft zahlreiche Spuren von Gewalttaten auf, aber von regelrechten Kriegen kann da noch keine Rede sein. Wandernde Wildbeutergruppen setzten eher auf Kooperation und wenn größere Konflikte hochzukochen drohten, konnte man sich in den dünn besiedelten Landschaften der Steinzeit leicht aus dem Wege gehen. Kriegskunst als Erwerbskunst Das änderte sich dann mit Landwirtschaft, Sesshaftigkeit, Staatenbildung und der Inthronisation von Herrschern, die ihren Ruhm und Reichtum mehren wollten. Der griechische Philosoph Aristoteles brachte es so auf den Punkt: Darum ist auch die Kriegskunst von Natur aus eine Art Erwerbskunst, die man anwenden muss gegen Tiere und gegen Menschen, die von Natur aus zum Sklavendienst bestimmt sind. Quelle: Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik – Die Evolution der Gewalt Krieg als Zivilisationsprodukt Hier kommen nun nach der Anthropologie und der Archäologie die Geschichts- und Religionswissenschaften zur Geltung. Sie erklären die Rolle von Herrschern, Göttern und Staatsdenkern bei der offenbar unaufhaltsamen Herausbildung der „Kriegsmatrix“, wie die Autoren das nennen. Zugleich betonen sie jedoch: Es ist eben nicht der Krieg aller Menschen. Es ist der Krieg von Staaten: Herrscher ziehen in den Krieg, Untertanen werden in den Krieg gezwungen. Der total gewordene Krieg ist ein Zivilisationsprodukt. Quelle: Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik – Die Evolution der Gewalt Als Evolutionsgeschichte der Gewalt ist das Buch, ungeachtet kleinerer Unstimmigkeiten, informativ, lehrreich und spannend zu lesen. Weniger gut steht es um die schöne These von der ursprünglichen Friedfertigkeit der steinzeitlichen Menschen, auch wenn die Autoren mehrfach darauf verweisen, dass die Menschheit während 99 Prozent ihres Erdenwandels ohne Kriege ausgekommen sei. Der Vorschlag, daraus Folgerungen für heute abzuleiten, muss angesichts einer fünftausendjährigen Geschichte von kriegsgeprägten Zivilisationen als ziemlich unhistorisch erscheinen. Trotzdem kann der politische Rat, den die Autoren zum Schluss geben, im Sinne von Aufklärung und Menschlichkeit nützlich sein. Der Krieg, so sagen sie, ist weder naturgegeben noch gottgewollt, sondern meist von einseitigen Interessen geleitet. Und darum sei es wichtig, denen genau auf die Finger zu sehen, die ihn führen wollen.…
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