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If you're interested in getting occasional news, behind the scenes content, and interesting fandom content, sign up to the newsletter ! Head to: https://www.thewesterosiprimer.com/newsletter What if one strategic marriage could end a war and change the course of Westeros? Join Liz on the Westerosi Primer as she explores the reign of Daeron II Targaryen. This king would later be remembered as Daeron the Good. This episode kicks off with an some listener feedback on the best and worst Targaryen kings. Liz starts with Daeron's formative years. She discusses his education and the union with Myriah Martell. This marriage brought peace with Dorne and paved the way for a new generation of Targaryens. The tension that marked Daeron's relationship with his father, Aegon IV, are explored. Daeron demonstrates his intelligence as he sidestep his father’s reckless actions. The episode also includes first Blackfyre Rebellion. Liz delves into the intricacies of loyalty, legitimacy, and power. Daemon Blackfyre had privileges he wouldn't have gotten if not for his parentage. Despite a thriving family life, Daemon becomes a challenger to his brother Daeron II. The Blackfyre Rebellion was fueled by discontent among the nobility and questions about Daeron's legitimacy. Daemon adopts the reversed Targaryen sigil and instigates the first of many rebellions. The Rebellion ends with the crucial Battle of the Redgrass Field. Daemon’s advance is ultimately thwarted by Brynden Rivers. Support this podcast at — https://redcircle.com/the-westerosi-primer/donations…
Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster
Manage episode 462142435 series 2651581
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Karen Reyes ist wieder da. Ein Mädchen von zehn Jahren, das sein Leben im Jahr 1968 in sein Tagebuch zeichnet. Und zwar im Stil der von ihm heißgeliebten Horror-Comics, mit sich selbst als Werwolf im Mittelpunkt. Was nur zum Teil Karens blühender Fantasie geschuldet ist. Ihre Welt in einem Armenviertel Chicagos ist die der gesellschaftlich Geächteten. Für sie beginnt der Horror vor der Wohnungstür.
…
continue reading
Dan grinst immer wie verrückt, wenn er mich sieht und will etwas spielen, das er „Monsterspiel“ nennt. Manchmal spiele ich mit ihm, weil es mir leidtut, dass er so ein schweres Leben hat, und ich versuche, nicht sauer zu werden, wenn er oder sein kleiner Bruder oder seine zähnefletschende Oma dummes Zeug reden.
Dans Oma: Dan, Junge, du gibst dich doch nicht mit Latinos oder Farbigen ab, oder?Quelle: Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster
Horror und Realität – kaum zu unterscheiden
Gewalt und Rassismus im Jahr 1968, gesehen durch die Augen eines Mädchens mit Liebe zu Kunst und Trash - dieser erzählerische Kniff hat die US-amerikanische Zeichnerin Emil Ferris in der Comic-Welt berühmt gemacht. Dass sie in Karens Bildern harten Realismus und quietschbunte Horror-Motive nahtlos ineinander übergehen lässt, wirkt auch in Teil zwei ihrer Graphic Novel „Am liebsten mag ich Monster“ konsequent. Ghouls und andere Menschenfresser, die Karen in ihrem visuellen Tagebuch porträtiert, machen ihr weniger Angst als die Brutalität um sie herum. Und sind für sie weitaus glamouröser als ihr Alltag als Außenseiterin, die entdeckt hat, dass sie Mädchen lieber mag als Jungen. Emil Ferris spinnt die Erzählfäden des ersten Comic-Bandes fort: den der Coming of Age-Geschichte, weil Karen ihre erste zarte Romanze erlebt. Die Familientragödie, weil sich ihr großer Bruder nach dem Tod der Mutter als zunehmend gewalttätig entpuppt. Und den des Krimis, weil sie immer noch den Mord an ihrer Nachbarin Anka aufklären will. So geschickt wie im ersten Teil der Graphic Novel vermag Emil Ferris die Fäden allerdings nicht zu verknüpfen. Zu gewollt wirkt Karens erste Liebe; neu eingeführte Figuren spielen für die Handlung keine Rolle.Zeichnungen zwischen groben Skizzen und fein schraffierten Porträts
Trotzdem setzt auch Teil Zwei von „Am liebsten mag ich Monster“ neue Maßstäbe im Medium Comic. Denn Ferris beherrscht ihr Handwerk so souverän, dass sie seine Regeln brechen kann, ohne gekünstelt zu wirken. Sie verweigert sich der leichten Lesbarkeit, von der der Comic lebt und gestaltet jede Seite anders, mal in groben Skizzen, mal so fein schraffiert und detailverliebt wie in einem Kupferstich. Sie zeichnet berühmte Gemälde ab und manchmal sogar Karen in sie hinein, während sie im Text dazu Karen mit Hilfe der Kunst über ihr Leben reflektieren lässt. Oder sie lässt Karen Kunst zitieren, um ihre Erlebnisse im Chicago des Jahres 1968 zu schildern.Grant Park war voller Hippies. Es erinnerte mich irgendwie an ein Bild von Georgia O'Keefe. (...) Aber als die Bullen aufkreuzten, verwandelte sich der schöne Tag in ein Gemälde von Leon Golub oder Jackson Pollock.Auf der Seite zu sehen: prügelnde Polizisten, wie Golub sie malte, und Farbklekse in Blutrot, wie Pollock sie auf seinen Bildern verspritzte. Mit solchen Anspielungen auf die Realität jenseits des Comics bremst Ferris zwar den Lesefluss, öffnet dabei aber einen Reflexionsraum für das, was Karens Lebenswelt mit der ihrer Stadt und ihres Landes verknüpft. Wie sehr vor allem Gewalt die Geschichte der USA geprägt hat und wie sie bis heute fortwirkt – in Ferris‘ Graphic Novel wird es nachvollziehbar. Bei aller Gesellschaftskritik verliert sie dabei ihre Hauptfigur nicht aus den Augen. Ihre Karen Reyes mag eine ziemlich frühreife Zehnjährige sein. Doch weil sie glaubwürdig zwischen klaren Einsichten über ihr Umfeld und pubertärer Unsicherheit schwankt, folgt man ihr über 400 Seiten gern bei ihrer Entwicklung zur jungen Frau – oder wie sie es vorziehen würde, jungen Werwölfin. Ihre Geschichte macht „Am liebsten mag ich Monster“ trotz seiner Schwächen zu einem Solitär in der Comic-Welt. Ein Werk von Weltrang, wie es nur alle Jubeljahre erscheint.Quelle: Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster
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Karen Reyes ist wieder da. Ein Mädchen von zehn Jahren, das sein Leben im Jahr 1968 in sein Tagebuch zeichnet. Und zwar im Stil der von ihm heißgeliebten Horror-Comics, mit sich selbst als Werwolf im Mittelpunkt. Was nur zum Teil Karens blühender Fantasie geschuldet ist. Ihre Welt in einem Armenviertel Chicagos ist die der gesellschaftlich Geächteten. Für sie beginnt der Horror vor der Wohnungstür.
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Dan grinst immer wie verrückt, wenn er mich sieht und will etwas spielen, das er „Monsterspiel“ nennt. Manchmal spiele ich mit ihm, weil es mir leidtut, dass er so ein schweres Leben hat, und ich versuche, nicht sauer zu werden, wenn er oder sein kleiner Bruder oder seine zähnefletschende Oma dummes Zeug reden.
Dans Oma: Dan, Junge, du gibst dich doch nicht mit Latinos oder Farbigen ab, oder?Quelle: Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster
Horror und Realität – kaum zu unterscheiden
Gewalt und Rassismus im Jahr 1968, gesehen durch die Augen eines Mädchens mit Liebe zu Kunst und Trash - dieser erzählerische Kniff hat die US-amerikanische Zeichnerin Emil Ferris in der Comic-Welt berühmt gemacht. Dass sie in Karens Bildern harten Realismus und quietschbunte Horror-Motive nahtlos ineinander übergehen lässt, wirkt auch in Teil zwei ihrer Graphic Novel „Am liebsten mag ich Monster“ konsequent. Ghouls und andere Menschenfresser, die Karen in ihrem visuellen Tagebuch porträtiert, machen ihr weniger Angst als die Brutalität um sie herum. Und sind für sie weitaus glamouröser als ihr Alltag als Außenseiterin, die entdeckt hat, dass sie Mädchen lieber mag als Jungen. Emil Ferris spinnt die Erzählfäden des ersten Comic-Bandes fort: den der Coming of Age-Geschichte, weil Karen ihre erste zarte Romanze erlebt. Die Familientragödie, weil sich ihr großer Bruder nach dem Tod der Mutter als zunehmend gewalttätig entpuppt. Und den des Krimis, weil sie immer noch den Mord an ihrer Nachbarin Anka aufklären will. So geschickt wie im ersten Teil der Graphic Novel vermag Emil Ferris die Fäden allerdings nicht zu verknüpfen. Zu gewollt wirkt Karens erste Liebe; neu eingeführte Figuren spielen für die Handlung keine Rolle.Zeichnungen zwischen groben Skizzen und fein schraffierten Porträts
Trotzdem setzt auch Teil Zwei von „Am liebsten mag ich Monster“ neue Maßstäbe im Medium Comic. Denn Ferris beherrscht ihr Handwerk so souverän, dass sie seine Regeln brechen kann, ohne gekünstelt zu wirken. Sie verweigert sich der leichten Lesbarkeit, von der der Comic lebt und gestaltet jede Seite anders, mal in groben Skizzen, mal so fein schraffiert und detailverliebt wie in einem Kupferstich. Sie zeichnet berühmte Gemälde ab und manchmal sogar Karen in sie hinein, während sie im Text dazu Karen mit Hilfe der Kunst über ihr Leben reflektieren lässt. Oder sie lässt Karen Kunst zitieren, um ihre Erlebnisse im Chicago des Jahres 1968 zu schildern.Grant Park war voller Hippies. Es erinnerte mich irgendwie an ein Bild von Georgia O'Keefe. (...) Aber als die Bullen aufkreuzten, verwandelte sich der schöne Tag in ein Gemälde von Leon Golub oder Jackson Pollock.Auf der Seite zu sehen: prügelnde Polizisten, wie Golub sie malte, und Farbklekse in Blutrot, wie Pollock sie auf seinen Bildern verspritzte. Mit solchen Anspielungen auf die Realität jenseits des Comics bremst Ferris zwar den Lesefluss, öffnet dabei aber einen Reflexionsraum für das, was Karens Lebenswelt mit der ihrer Stadt und ihres Landes verknüpft. Wie sehr vor allem Gewalt die Geschichte der USA geprägt hat und wie sie bis heute fortwirkt – in Ferris‘ Graphic Novel wird es nachvollziehbar. Bei aller Gesellschaftskritik verliert sie dabei ihre Hauptfigur nicht aus den Augen. Ihre Karen Reyes mag eine ziemlich frühreife Zehnjährige sein. Doch weil sie glaubwürdig zwischen klaren Einsichten über ihr Umfeld und pubertärer Unsicherheit schwankt, folgt man ihr über 400 Seiten gern bei ihrer Entwicklung zur jungen Frau – oder wie sie es vorziehen würde, jungen Werwölfin. Ihre Geschichte macht „Am liebsten mag ich Monster“ trotz seiner Schwächen zu einem Solitär in der Comic-Welt. Ein Werk von Weltrang, wie es nur alle Jubeljahre erscheint.Quelle: Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
Eine Reise ans Ende der Nacht – davor warnt die Anmerkung am Anfang von Jennifer Downs Roman „Körper aus Licht“. Vernachlässigung, Verlust, sexualisierte Gewalt, Drogen- und Medikamentenmissbrauch werden als triggernde Inhalte benannt. Nein, dieses Buch ist keine leichte Unterhaltung. Über mehr als vier Jahrzehnte – von 1975 bis 2018 – folgt die junge australische Schriftstellerin Jennifer Down ihrer Protagonistin Maggie bei deren Versuch, Stabilität in einem Leben zu gewinnen, das seit Kindertagen durch Brüche und Unsicherheit geprägt ist. Als vierjährige Halbwaise ist Maggie, die Tochter drogenabhängiger Eltern, nach der Inhaftierung ihres Vaters einer quälenden Odyssee durch Heime, Wohngruppen und Pflegefamilien ausgesetzt. Frühe Traumatisierung Knappe Dialoge in einer authentisch nachempfundenen Jugendsprache geben den Blick auf Abgründe frei. Im Kinderheim trainiert der Heimleiter die elfjährige Maggie und ihre Freundin Jodie im Tennis. Jodie trennt ihr Zimmer mit einem Perlenvorhang vom Flur ab. Maggie versteht nicht, warum Jodie das Geräusch der Perlen hasst. Warum nimmst du sie nicht ab? Darum. Sag. Damit ich weiß, wann er kommt. Warum musst du wissen, wann er kommt?, fragte ich. Du solltest dir auch so was besorgen, sagte sie. Und so wusste ich, was mich erwartete, noch bevor das Training in mein Zimmer wechselte. Und wenn ich Jodies Perlenvorhang klackern und zittern hörte, kam mir reflexartig ein Gedanke: wenigstens nicht ich. Ich hängte mir ein Windspiel an die Tür. Quelle: Jennifer Down – Körper aus Licht Erzählt wird Maggies Geschichte aus der Ich-Perspektive in einem Wechsel aus Rückblende und Gegenwart. Maggie ist Mitte vierzig und lebt unter neuem Namen in den USA, als die Facebook-Nachricht eines Mannes sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Die Stationen ihrer Kindheit und Jugend sind nach Orten und Jahreszahlen geordnet. Wobei Ordnung hier eher als staatlich legitimiertes Chaos zu begreifen ist. Maggie lernt früh, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren. „Ich war still und gewieft, und man bemerkte mich kaum“, erinnert sich die Erzählerin an ihre Rolle bei kindlichen Versteckspielen. Mit dieser Taktik überlebt sie das Trauma der Fürsorgejahre. Spätfolgen der staatlichen Fürsorge Der Start in ein bürgerliches Leben mit Ehemann und Kind scheitert, als Maggie sich nach dem plötzlichen Tod ihrer Babys mit der Anklage der Kindstötung konfrontiert sieht. Ihre unklare Vergangenheit macht sie verdächtig. Maggie taucht ab. Sie jobbt unter neuem Namen in Neuseeland, zieht nach Amerika und bewahrt das Geheimnis ihrer Herkunft. Die vertrauensvollen Beziehungen, nach denen sie sich sehnt, verhindert sie selbst immer wieder. Jennifer Downs präzise Sprache richtet den Blick auf retraumatisierende Details wie Gerüche oder Landschaften, die Maggie bei unterschiedlichen Anlässen immer wieder überwältigen. Zwei Kritikpunkte mag man bei diesem insgesamt beeindruckenden Roman anführen. Die endlose Serie gescheiterter Beziehungen, Maggies Drogensucht und Obdachlosigkeit erwecken den Eindruck, als wolle die Autorin wie in einer Anklageschrift alle denkbaren Folgen einer verfehlten staatlichen Fürsorge abarbeiten. Hier hat der 540-Seiten-Roman durchaus Längen. Wenig glaubwürdig ist auch, dass die in Existenzkämpfen gefangene Maggie sich bildungshungrig in öffentlichen Bibliotheken durch die Klassiker liest. Da verlässt die ansonsten so einfühlsam erzählende Jennifer Down die Augenhöhe mit ihrer Protagonistin, um ein höheres Sprachniveau der Hauptfigur zu rechtfertigen. Hoffnung vermittelt der Roman durch Maggies unglaubliche Resilienz. Und durch den Umstand, dass sich Menschen finden, die ihr die Fürsorge geben, die der Staat ihr in Kindheit und Jugend nicht zuteil werden ließ. Gute Literatur darf ihren Leserinnen und Lesern etwas zumuten. Von Triggerwarnungen sollte man sich hier also nicht abschrecken lassen.…
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1 Richard Sennett – Der darstellende Mensch | Buchkritik 4:09
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4:09„Die ganze Welt ist Bühne und alle Fraun und Männer bloße Spieler.“ So heißt es bei Shakespeare und so steht es gleich auf den ersten Seiten von Richard Sennetts neuem Buch mit dem Titel „Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik“. Das klingt nach einer systematischen Studie zum Thema Rollenspiel und Präsentation, doch über solche Erwartungen setzt sich der betagte Autor souverän und ziemlich unbesorgt hinweg. Schauspiel und Ritual In lockerer Folge lässt Sennett zunächst vor allem eigene Bühnen- und Kunsterfahrungen seit den 1960er Jahre Revue passieren. Er erinnert sich an New Yorker Tanzexperimente in Parks und auf Gebäudedächern oder an eine Shakespeare-Inszenierung von todgeweihten AIDS-Patienten, an der er die Differenz zwischen Bühnenperformance und religiösem Ritual festmacht. In der Aufführung lag eine kreative Trotzhaltung gegenüber dem Tod, in dem vom Priester angebotenen Ritual dagegen eine tröstliche Hinnahme des Todes. In mir selbst bestand ein unbehagliches Nebeneinander dieser beiden Wege, dem Tod zu begegnen. Quelle: Richard Sennett – Der darstellende Mensch Sennetts essayistisch-erzählerischer Stil kennt keinen Soziologenjargon, und das ist gut so. Weniger schön ist es, dass seine Schlussfolgerungen in diesem Buch oft so nebulös wie hier ausfallen. Theatergeschichte und andere Themen Sennett umkreist sein Thema des menschlichen Darstellungswillens anhand von zahlreichen Anekdoten, Beispielen und Überlegungen, die meist mit theatralen Bühnenereignissen zu tun haben. Daneben referiert er Ideen von Hannah Arendt , bei der er studiert hat, von Roland Barthes, mit dem er befreundet war oder Norbert Elias, mit dem er durch New Yorker Straßen spazierte. Zweifellos beweist der Autor bei all dem große Belesenheit, wenn er etwa die allmähliche Verlagerung der öffentlichen Schauspiele von den Plätzen und Straßen der Antike in feste Spielorte wie das Teatro Olimpico im Vicenza der Renaissance nachzeichnet. Aber vieles von dem, was er hier ausbreitet, ist geläufiger Wissensstoff der Theatergeschichte, der keine neuen Erkenntnisse mit sich bringt. Die „bösartigen Darbietungen“ der Politik Im Vorwort verweist Sennett auf zwei prominente Demagogen, die gerade die „Bühne der Öffentlichkeit“ beherrschten, als er mit der Arbeit an diesem Essay begann. Er schreibt: Donald Trump in den USA und Boris Johnson in Großbritannien sind geschickte Darsteller. Bei bösartigen Darbietungen dieser Art werden allerdings dieselben Ausdrucksmittel eingesetzt wie bei anderen Ausdrucksformen. Quelle: Richard Sennett – Der darstellende Mensch Das ist kurz und ungenau und da es nirgendwo weiter ausdifferenziert wird, schlichtweg nichtssagend. Andere historische Großdarsteller wie Lenin, Hitler oder Mao kommen überhaupt nicht vor, genauso wenig wie der Kurzschluss zwischen Führern und ihrer Gefolgschaft im Populismus. Das heißt, die Politik wird nur im Buchtitel genannt, ist aber im übrigen praktisch ein Totalausfall. Kurzum, der Fehler dieses Buches liegt in seiner Konstruktion. Die Ausgangsfrage des Essays, „wie hohe Kunst Bedeutung für das alltägliche Leben erlangen könnte“, gerät bald aus dem Blick. Greifbare Antworten darauf finden sich jedenfalls in diesen sprunghaft aneinandergereihten Reminiszenzen und Reflexionen eines Soziologen nicht. Richard Sennett hat schon großartige Bücher geschrieben, dieses gehört leider nicht dazu.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
Noburo denkt groß. Er hat gewaltige Pläne. Will ein Held werden. Mit seinen 13 Jahren geht er ganz in existentialistischem Pathos auf. Mit gleichgesinnten Freunden träumt der kleine Romantiker von einer anderen Welt, in der alles Verweichlichte ausgemerzt ist. Nietzsche hat hier im japanischen Yokohama einen glühenden Verehrer gefunden. Diese Jungs wollen eine Gesellschaft mit eigener Moral, in der das Recht des Stärkeren und des Unbedingten gilt. Nur Verachtung haben sie übrig für die schwächliche Vätergeneration. Fremde Werte und Ästhetik lehnen sie ab. Zwischen Tradition und Moderne Noburus Mutter Fusako, die sich nach dem Tod ihres Mannes alleine um ihren Sohn kümmert, scheint all das von den Jugendlichen Abgelehnte zu repräsentieren: Sie führt ein Geschäft, in dem westliche Mode angeboten wird. Das Japan der Nachkriegszeit, in dem Yukio Mishimas Roman „Der Held der See“ spielt, scheint hin- und hergerissen zwischen Tradition und Moderne. Da taucht Ryuchi auf, ein Seemann, der zum Geliebten der Mutter wird. Noburu ist zunächst fasziniert von diesem Mann. Ryuchi scheint all das zu verkörpern, wonach er selbst strebt: Freiheit, Abenteuerlust und Todesverachtung. Und all diese Sehnsüchte bündeln sich im Meer. Als der Junge seine Mutter und ihren Verehrer durch ein kleines Guckloch beim Liebesakt beobachtet und im Hintergrund das Horn eines Schiffes ertönt, hat er ein fast epiphanisches Erlebnis: Der Mond, die Meeresbrise, der Schweiß, das Parfüm, das nackte Fleisch des reifen Mannes und der reifen Frau, die Spuren der Fahrten auf See, die Reste der Erinnerung an die Häfen der Welt. Erst durch das Horn waren sie eine kosmische Verbindung eingegangen und hatten Einblick in den unentrinnbaren Kreislauf des Daseins gewährt. Quelle: Yukio Mishima – Der Held der See Rache am Verräter Mit Ryuchi, der selbst von einem ruhmreichen Leben träumt, sich aber gegen das Meer und für die Ehe mit Fusako entscheidet, erlebt der Junge eine abgrundtiefe Enttäuschung: Fast wie eine Schmähung und Beleidigung nimmt er dessen Verrat an Männlichkeit und Wagemut wahr. Er erzählt seinen Freunden davon, und sie beschließen, diesen Verrat zu rächen. Wir brauchen Blut! Menschliches Blut! Sonst wird unsere leere Welt verwelken und verdorren. Wir müssen das lebendige Blut aus diesem Mann herauspressen und es wie eine lebensspendende Transfusion dem sterbenden Universum, dem sterbenden Himmel, den sterbenden Wäldern und der sterbenden Erde zuführen. Quelle: Yukio Mishima – Der Held der See Yukio Mishima war eine der schillerndsten und zwiespältigsten Figuren der Literaturgeschichte: Mit seinen avancierten Romanen – gerade auch mit „Der Held der See“ – hat er Klassikerstatus erlangt. Zugleich war er ein glühender Nationalist und wird bis heute von Rechtsradikalen verehrt. Sein „Held der See“, übrigens in angemessener poetischer Kühle übersetzt von Ursula Gräfe, ist ein mit scharfen Kontrasten spielendes Werk: Meer und Land, Idealismus und Realismus, Glaube und Entfremdung, Dekadenz und Einfachheit, Oben und Unten. Bedrohlich und gegenwärtig Die adoleszente Suche nach etwas Wahrhaftigem und Absolutem, so sehr sie auch in der japanischen Nachkriegszeit verortet ist, bekommt hier universellen Charakter. Die Verzweiflung, die durch eine verstörende Tat aufgehoben werden soll, war, als das Buch erschien, anschlussfähig: Eine amerikanische Verfilmung des Stoffes spricht ebenso dafür wie die auf dem Buch basierende Oper „Das verratene Meer“ von Hans Werner Henze. Liest man den Roman heute, fasziniert durchaus die konsequent mit Bedeutung aufgeladene, aber doch sehr nüchterne Sprache; die Schilderung von Gleichgültigkeit und Pathos und der zunehmenden Verrohung der Jugendlichen, die sich auf eine höhere Moral berufen. Zugleich aber ist der essentialistische Unterstrom dieses Buches, auch wenn man um die Ansichten Mishimas weiß, bedrohlich und trostlos – und nicht zuletzt kompatibel mit den Backlashs unserer Gegenwart.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
Wem ein lukullisches Mal serviert wird, der bekommt in der Regel raffiniert zubereitete Speisen und edle Getränke. Man erhebt sein Glas auf „Lucullus“ – den König aller Schlemmer. Doch der Römer Lucius Licinius Lucullus war weitaus mehr als ein antiker Gourmet. Das beweist der deutsche Althistoriker Peter Scholz in seinem neuen Buch. Dessen Lebensgang – vom erfolgreichen Militär zum resignierten, zurückgezogen lebenden Gourmet und Genussmenschen – wurde zum anschaulichen Beleg für den Verfall und für die These vom längst überfälligen Ende der Republik und ihrer uneinsichtigen Verteidiger. Quelle: Peter Scholz – Lucullus Lucullus und die Römische Republik Lucullus stammte aus einer wohlhabenden politisch agierenden Familie. Bereits sein Großvater hatte die Senatorenwürde erlangt. Lucullus gehörte der Partei der „Optimaten“ an, das heißt, er vertrat die eher konservative Aristokratie und war daher ein strikter Verfechter der Vorherrschaft des Senats. Peter Scholz schildert kenntnisreich und detailliert die Problematik der römischen Republik im letzten Jahrhundert vor Christi Geburt. Neben dem klassischen, aristokratisch geprägten Senat gab es zu Zeiten des Lucullus auch plebeische Magistrate und Volksversammlungen mit ihren Volkstribunen. Als „conscripti“, als „Hinzugeschriebene“ gelang es alsbald reichen Plebejern, in den Senat aufgenommen zu werden. Gleichzeitig dehnte sich das römische Reich permanent aus. Nur mit großer Mühe regelten die verschiedenen Entscheidungsgremien – die schon lange nicht mehr mit einer Stimme sprachen – die Staatsgeschäfte der res publica. Lucullus als Politiker und Feldherr Im Jahr 74 v. Chr. wurde Lucullus zum Konsul gewählt. Seine militärischen Erfolge beruhten hauptsächlich auf der Befriedung der Provinz Asia. Dabei ging er diplomatisch vor, indem er selbst widerspenstigen Städten den Status „civitates liberae“ verlieh, ihnen also weitgehende Autonomie zusagte. Die Popularität des Lucullus in Kleinasien fand ihren sichtbaren Ausdruck in den Statuen, mit denen ihn verschiedene Bürgerschaften der Provinz Asia in den Folgejahren ehrten. Quelle: Peter Scholz – Lucullus Doch Lucullus konnte seinen Ruhm nicht festigen. Der Mann der Stunde hieß Gnaeus Pompeius Magnus. Mit teils diktatorischen Mitteln zügelte er den Senat und stärkte seine Position durch enorme militärische Erfolge. Sein späteres Geheimbündnis mit Gaius Julius Caesar weist schon den Weg in die Zukunft: das Ende der römischen Republik. Peter Scholz weist aber nach, dass sich Lucullus nicht rein ins Privatleben zurückzog. Seine aktive Teilnahme an Senatssitzungen ist bezeugt. Lucullus als Ästhet und Genießer Doch tatsächlich berühmt wurde er durch seinen erlesenen Geschmack – sei es in der Kunst, in der Ausstattung seiner Villen oder eben durch die erlesenen Speisen, die er seinen Gästen servierte. Doch genau aus diesem Verhalten kreierten seine Gegner das Bild eines Mannes, der hemmungslos seiner Genusssucht frönt. In dieser Schwundstufe ging er in die allgemeine Erinnerung ein: Als Mann, der die Süßkirsche aus Kerasos nach Italien und Westeuropa gebracht hatte, und nicht als erfolgreicher Feldherr und Politiker, der um die Freiheit der Republik gekämpft hatte. Quelle: Peter Scholz – Lucullus In seinem Buch „Lucullus. Herrschen und Genießen in der späten römischen Republik“ gelingt es Peter Scholz auf vorzügliche Weise, das bis heute geltende Bild von Lucullus als Genießer und Schlemmer zu revidieren. Mit dessen Lebensbild öffnet sich auch die historische Bühne der römischen Republik in ihrer Endzeit. Lucullus war jemand, der die Senatsdemokratie mit allen Mitteln verteidigte und mitansehen musste, wie diktatorisches Regieren an Macht gewann. Der Bürgerkrieg war die Folge, aus dem Julius Caesar als Sieger hervorgehen sollte. Damit bietet Peter Scholz nicht nur ein äußerst interessantes Sittenbild Roms, sondern auch eine Parabel auf heutige politische Gegebenheiten.…
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„Es gibt drei große Männer in Deutschland. Thomas Mann, Heinrich Mann, Henselmann.“ Der Mann, der das sagte, hatte Humor. Aber auch ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein: Es war der Architekt Hermann Henselmann. Der wohl bedeutendste Baukünstler der DDR war im Herzen immer ein Anhänger der Moderne. Als er 1949 aber an der Planung der Berliner Stalinallee, der heutigen Karl-Marx-Allee, beteiligt war, musste er Kompromisse eingehen. Entsprechend des „Nationalen Aufbauprogramms“ war das klassizistische Erbe Doktrin. Henselmann entwarf die vier markanten Türme am Frankfurter Tor und am Strausberger Platz: dem östlichen und westlichen Ende der Allee. Bis heute aber ist sein Name Synonym für den gesamten Prachtboulevard mit historisierendem Antlitz. Florentine Anders meint: „Das ist auch ein bisschen Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet damit immer sein Name verbunden bleibt und Viele gar nicht wissen, dass er eigentlich viel mehr aus der Moderne kam und das dann auch durchgesetzt hat mit in der DDR, was man dann sieht am Haus des Lehrers und der Kongresshalle zum Beispiel." Oder dem weithin sichtbaren, unverwechselbaren Berliner Fernsehturm, der die Silhouette der Stadt bis heute prägt. – All diese Bauwerke sind Ikonen der Ostmoderne. Ihr Buch über den berühmten Großvater nennt Florentine Anders trotzdem „Die Allee“ – vielleicht hat sie da auch an den französischen Wortursprung „aller“ für „spazieren“ oder „gehen“ gedacht. Und so ist ihr Roman eine aufschlussreiche Wanderung: nicht nur durch das Leben des bekannten Architekten und seiner großen Familie, sondern auch entlang 100-jähriger Baugeschichte. Ein Roman nah an der Realität, der aus vielen Perspektiven berichtet Das Besondere daran: der persönliche Blick auf die Häuser und Menschen. Ein Blick zumal, der den realen Geschehnissen ganz nah auf den Fersen bleibt, selten in die Fiktion abschweift, viele Perspektiven einnimmt. Neben der Hermann Henselmanns auch die seiner Frau Irene, genannt Isi, die immer wieder versucht, in der Baukunst Fuß zu fassen. Isi will sich nicht länger der Herausforderung entziehen Und sich über entgangene Möglichkeiten ärgern. In der DDR kann auch eine Frau mit acht Kindern eine erfolgreiche Architektin sein. Den Beweis gilt es anzutreten. Für das Hochhaus in der Weber Wiese hat sie ihre ersten eigenen Entwürfe für funktionale Einbauküchen gemacht. Quelle: Florentine Anders – Die Allee Sie orientiert sich dabei an der berühmten Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky. Bezeichnend: keine Häuser oder Wohngebiete, eine Küche entwirft Isi Henselmann. Mehr ist nicht drin, auch nicht in der jungen DDR. Das Haus an der Weberwiese, in das diese Küchen eingebaut werden, hat ihr Mann Hermann entworfen. Allerdings nur mit Mühe und Trotz hat er sein modernes Punkthochhaus gegen den Willen der Partei durchsetzen können. Und mit dem Zuspruch seines Freundes Bertolt Brecht, der ihm Mut machte. Hermann ist aufgebracht bringt laut und übersprudelnd all seine Argumente hervor. Brecht hört zu und reagiert dann reagiert ruhig und besänftigend. Die Arbeit der Klasse sei eben noch nicht reif für die Moderne. Der Künstler dürfe sich nicht über das Volk erheben, sondern müsse den Menschen kleinere Schritte zumuten und sie behutsam in die richtige Richtung bewegen. Erst wenn sich das Bewusstsein verändert habe, werde auch die neue Form populär werden. Quelle: Florentine Anders – Die Allee Hermann Henselmann – eine komplexe Persönlichkeit Tochter Isa erlebte Brecht noch im Hause Henselmann. Sie ist die Mutter der Autorin. Auch sie ist eine Protagonistin des Romans. Isa hatte es als Kind nicht leicht in der Familie. Der zu Jähzorn und Wutausbrüchen neigende Vater hat sie oft verprügelt. Das Gesicht des Kindes auf den Fliesenboden geschlagen. Darüber zu schreiben, gehört dazu, sagt Florentine Anders. Sie selbst hat ihren Großvater vor allem als liebevollen Anreger kennengelernt. Hermann gab mir jedes Mal ein Buch, bis zum nächsten Treffen sollte ich es gelesen haben, damit wir gemeinsam darüber reden können. Er gab mir selbstverständlich keine Kinderbücher, sondern Bücher von Thomas Mann oder Bertolt Brecht. Jedes Mal lag eine kleine Auswahl, die er sich für mich überlegt hatte, auf seinem Schreibtisch und ich durfte mir ein Werk daraus auswählen. Quelle: Florentine Anders – Die Allee Die komplexe Persönlichkeit Henselmanns auf den Punkt gebracht hat die Schriftstellerin Brigitte Reimann, eine sehr enge Freundin der Familie, weiß Anders: „Brigitte Reimann hat einmal gesagt, wenn man Henselmann beschreiben will, dann muss man einfach alle Gegensätze die einem einfallen, aufzählen und dann liegt man so ganz richtig." Der Roman erzählt chronologisch und schaut dabei immer wieder auf die unterschiedlichen Lebensphasen und -entwürfe seiner drei Hauptpersonen Herrmann, seiner Frau Isi und Tochter Isa (eines der insgesamt acht Kinder!), blickt auf ihre Arbeitsweisen, Erfolge und Niederlagen, entwirft ein lebenspralles Bild dieser berühmten DDR-Familie. Ikonen der Ostmoderne – Vom Fernsehturm bis zum Haus des Lehrers Zugleich sieht man vor dem geistigen Auge die imposanten Türme am Strausberger Platz wachsen und die ersten Mieter in die großzügigen Wohnungen einziehen, darunter zahlreiche Trümmerfrauen und Arbeiterfamilien, erblickt den Fernsehturm mit seiner unverwechselbaren Kugel, um deren Urheberschaft zäh gestritten wurde und die Kongresshalle mit dem Haus des Lehrers am Alexanderplatz. „Die Allee“ ist nicht das erste Buch über Hermann Henselmann. Aber es eröffnet neue Perspektiven auf den Architekten, seine Bauten und die Menschen an seiner Seite.…
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1 Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen 6:04
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6:04Wir leben in Zeiten, in denen das Groteske alltäglich wird. Politik und Tech-Industrie liefern absurde Wendungen, die selbst Horrorfilme alt aussehen lassen. In den letzten Jahrzehnten war es eher umgekehrt: Die Fiktion übersetzte unsere unbewussten Ängste und Fantasien in drastische Erzählungen. Heute kann sie kaum noch mit der Realität Schritt halten. Zach Williams‘ Debüt mit dem euphemistischen Titel „Es werden schöne Tage kommen“ ist ein bemerkenswerter Erzählungsband, zugleich anachronistisch und komplett gegenwärtig. Er knüpft an die Tradition psychologischer Albtraum-Geschichten an, in denen das Vertraute plötzlich unheimlich wird und die Grenze zur Dystopie fließend ist. Autoren wie George Saunders oder Cormac McCarthy kommen einem in den Sinn, wenn man diese zehn, von Bettina Abarbanell und Clemens J. Setz meisterhaft übersetzten Storys liest. Zugleich brodelt in ihnen etwas – ein Echo unserer unsicheren Gegenwart. Ich flog durch die Tür zur Lobby und blickte mich dann keuchend zum Unwetter um. Es war schlimm da draußen. Die Stadt bestand nur noch aus vagen Umrissen und schwebenden Lichtern; der Schnee trieb in Wellen über die Nineteenth Street. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Der Auftakt: ein düsterer Probelauf „Probelauf“ heißt die Auftakterzählung, die 2022 in der Paris Review erstmals erschienen ist. Der Erzähler sucht mitten in einem gewaltigen Schneesturm seinen Arbeitsplatz auf, ein fast verlassenes Bürogebäude. Nur Manny ist da, ein Wachmann mit bizarren Ansichten und einem Hang zur Paranoia. Abgeschirmt von der zugeschneiten Welt draußen, wird es drinnen immer ungemütlicher, klaustrophobischer, bedrohlicher. Ein weiterer Kollege erscheint, der den Erzähler in ein allzu intimes Gespräch verwickelt, das ihn unangenehm berührt. Es ist immer wieder die Rede von mysteriösen Mails, von einer dunklen Macht, aber alles bleibt im Vagen. Sie waren Mitglieder eines eigenartigen Bunds, die einander instinktiv erkannten, Blicke wechselten, sich heimlich auf etwas vorbereiteten, vielleicht nicht mal auf das Gleiche, aber gleich in ihrem Sinnen und Trachten. Und mich hatten sie als einen von ihnen ausgemacht. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Das Unbehagen unserer Zeit Ein Gefühl der Unsicherheit und Unfassbarkeit durchzieht die Geschichten von Williams. Ein Schatten legt sich über die Figuren, kontrolliert sie, ist aber nie recht zu fassen. Es ist da ein zeitgenössisches Unbehagen, spätestens seit der Corona-Pandemie ein sehr konkretes Gefühl. Williams‘ Erzähler sind oft Angeschlagene, leicht aus der Bahn Geworfene, obwohl sie sich vermeintlich feste Strukturen geschaffen haben. So auch in „Das Sauerkleehaus“: eine dreiköpfige Familie erwacht in einer idyllischen, abgelegenen Waldhütte. Weder wissen sie, wie sie dort hingekommen sind, noch von wem sie jeden Tag mit den notwendigsten Lebensmitteln versorgt werden. Es gibt keine anderen Menschen, keine wechselnden Jahreszeiten, keine Möglichkeit, anderswo hinzugelangen. Jacob war der Meinung, am besten käme man der Situation durch Zahlen, Fakten, Aufzeichnungen auf den Grund – kurz, durch alles, was sich irgendwie beobachten und festhalten ließ, denn nur auf diese Weise konnten Rätsel gelöst werden. Ronna dagegen vermutete, dass dieser Ort nicht solchen Regeln folgte. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Noch gespenstischer wird es, als Sohn Max einfach nicht altert, während Jacob und Ronna älter werden und sich mehr und mehr entfremden. In einem der längsten Texte – „Ghost Image“ – verwandelt sich der Sohn des Erzählers insgeheim in dessen früheren Boss Joe Daly, einen Ausbund an Gewöhnlichkeit, der zu einer Art Symbol des Scheiterns wird. Die Geschichte steuert auf einen Ausflug in ein apokalyptisches Disney World zu – dorthin, „wo Träume wahr werden“. Allerdings ist das Schild mit dem Slogan übermalt und lautet nun: „wo Träume absterben“. Choreografie des Absurden In einer anderen Erzählung findet ein Mann seine tote Nachbarin in ihrer Wohnung, im Sessel vor dem Fernseher. Plötzlich bemerkt er einen maskierten Fremden in der Wohnung, es beginnt eine kafkaesk anmutende Verfolgungsjagd. Die absurde Situation scheint sich endlos hinzuziehen. Ich geriet in Panik. Er bewegte sich am Fernseher vorbei, aufs Fenster zu. Unser Kreislauf war ununterbrochen. Die Wiederholung hatte den Charakter eines Albtraums. Ich sagte ihm, er würde verhaftet werden, aber es kam in einem flehentlichen Ton heraus, und ich war mir auch nicht sicher, ob ich es selbst glaubte. Die Polizei, die gleich diese Treppe heraufkommen würde, in diese Situation hinein – das waren zwei unvereinbare Realitäten. (…) Ich wollte zu Boden sinken und den Kopf zwischen die Knie stecken, aber ich hatte den furchtbaren Gedanken, dass er einfach immer weitermachen könnte mit seinem absonderlichen Verhalten und jede neue Runde ihn dann an mir vorbeiführen würde. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Nichts ist sicher, nichts stabil Kleinstädtischen und kleinbürgerlichen Lebenswelten stellt Williams jene Unorte entgegen, in denen eigene oder gar keine Regeln mehr gelten – ein heruntergekommener Freizeitpark, ein verlassener Bürokomplex, eine Wüstenlandschaft. Die Figuren werden davon magisch angezogen, vielleicht weil sie sonst aus ihrem Sackgassendasein keinen anderen Ausweg finden. Oder sie werden durch eine unscheinbare Begegnung auf Abwege geführt. David Lynch lässt grüßen, wenn ein verwachsener Mann – Er war einfach ein kleines, seltsames Ding. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen – aus dem Schrank heraus seiner attraktiven Frau beim Liebesspiel mit dem Erzähler zusieht. Nikolaj Gogol schaut über die Schulter, wenn einem kleinen Kind über Nacht ein weiterer Zeh wächst und sein Vater in einen Strudel irrationaler Gedanken gerät. Williams’ grotesk-fantastische Geschichten spiegeln unsere spätmoderne Welt wider – eine Zeit, in der Künstliche Intelligenz Kreativität simuliert, in der liberale Gewissheiten langsam zerbröckeln und traditionelle Strukturen zerfallen. Mit subtilem Grauen, surrealem Humor und gnadenloser Präzision fängt dieser Erzählband das Gefühl ein, den eigenen Platz in dieser unsicheren Realität zu verlieren. Zach Williams‘ Erzählungen verstören – und bleiben lange im Gedächtnis.…
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Mara hat prophetische Träume. Sie träumt etwas und kurze Zeit später passiert dies wirklich. Diese Gabe ist mehr Fluch als Segen, denn eines Tages träumt sie sogar den tödlichen Unfall ihrer Eltern, der dann tatsächlich eintritt. Ich hatte schon immer sehr lebendige Träume gehabt, wie wohl die meisten Kinder, aber irgendwann geschahen Dinge, die eben nicht normal waren. Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf Das ist schon lange her. Inzwischen ist Mara Lux eine bekannte Schlafforscherin und lebt in London. Obwohl sie auf neurowissenschaftlicher Ebene sehr viel über das Phänomen Schlaf weiß, schläft sie selbst schlecht. Beunruhigend realistische Träume Und dann sind auch die Träume wieder da. Mara träumt von ihrer Nachbarin, die plötzlich fliegen kann. Zunächst ist sie amüsiert, doch als sie am nächsten Morgen ihre Wohnung verlässt, sind unten auf der Straße viele Menschen versammelt. Vor dem Eingang flackert Blaulicht und jetzt sehe ich auch die Polizisten, die auf dem Gehweg stehen. Ich habe ein schlechtes Gefühl. Ein ganz, ganz schlechtes, dunkles, zähes, klebriges Gefühl. Die hübsche junge Frau aus dem ersten Stock wird auf mich aufmerksam und kommt zu mir. „Es ist Mrs. Jones“, sagt sie mit belegter Stimme. „Sie ist aus dem Fenster gesprungen, heute Nacht. Oder besser in den frühen Morgenstunden. Ist das nicht schrecklich?“ Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf Ein merkwürdiges Angebot Mara ist schockiert. Am Abend wird sie sich einen gehörigen Rausch verpassen, weil sie weiß, dass Alkohol die Traumschlafphasen, den so genannten REM-Schlaf, unterdrückt. Gesund ist das nicht, auch das weiß sie. Aber es ist gerade zu viel los. Denn da ist noch diese merkwürdige E-Mail von einem Notar: Ein ihr unbekannter alter Mann möchte ihr ein Herrenhaus in Deutschland schenken. Keine Verpflichtungen, nur ein riesiges Haus in sogar annehmbaren Zustand. Mara zögert, macht sich dann aber doch auf den Weg, um es sich wenigstens einmal anzusehen. Als sie in dem kleinen Ort namens Limmerfeld ankommt, erkennt sie die Gassen wieder – aus einem Traum. Parallel zu Mara und ihren Abenteuern erzählt Autorin Melanie Raabe noch eine zweite Geschichte: Ich erinnere mich an das Gefühl des Laufens, so leicht, so frei. Ich erinnere mich, wie ich einen Blick über meine Schulter warf und sah, dass Kai mir dicht auf den Fersen war. Ich erinnere mich, dass ich dachte, dass ich nicht vergessen durfte, ihm zu sagen, dass er später beim Abendbrot auf keinen Fall erzählen sollte, dass wir im Wald gewesen waren, denn der Wald war verboten. Im Wald gab es einen alten Steinbruch und alte Schächte und all diese Dinge, vor denen Mama uns gewarnt hatte, seit wir klein waren. Ich erinnere mich, wie ich den Blick wieder nach vorne richtete, früh genug, um die morschen Planken vor mir zu sehen, nicht früh genug, um rechtzeitig innezuhalten. Und dann der Fall. Und dann die Hoffnung, Kai möge es geschafft haben, möge nicht ebenfalls in den alten Brunnen gestürzt sein. Und dann die Erkenntnis, dass wir beide hier gefangen waren. Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf Chantal Busse gehört zu jenen Schauspielerinnen, die ihre junge Stimme problemlos einem zehnjährigen Mädchen geben können und natürlich dennoch über das ganze gestalterische Repertoire verfügen, um ihrer Lesung die nötige Tiefe zu geben, Emotionen zu transportieren und Atmosphäre zu erzeugen. Hier ist offenbar ein großes Unglück geschehen. Erwachende Erinnerungen an ein Unglück in Kindheitstagen Das Mädchen wird es schaffen, aus dem Brunnenschacht zu klettern, um Hilfe für seinen bewusstlosen Bruder zu holen. Wie aber hängt diese Geschichte mit der von Mara zusammen? Diese hat sich inzwischen entschieden, die Schenkung anzunehmen und verbringt eine angemessen gruselige Nacht in dem verlassenen, aber komplett eingerichteten Haus, das ein seltsames Eigenleben entwickelt. Immer wieder geht das Licht an und Mara wird das Gefühl nicht los, nicht allein zu sein. Am nächsten Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus, oder? Jetzt noch eine lange Dusche und ein ordentliches Frühstück und ich bin schon wieder ganz die Alte. Während ich noch das Badezimmer im Obergeschoss betrete, streife ich mir bereits das T-Shirt, in dem ich geschlafen habe, über den Kopf und… Mir entfährt ein kleiner, erstickter Schrei, als ich den Spiegel über dem Waschbecken sehe. Mein roter Lippenstift liegt im Waschbecken, die Verschlusskappe auf dem Boden. Jemand hat mir mit ihm eine Botschaft auf den Badezimmerspiegel geschrieben. Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf „Ich sehe dich“, steht da. „Siehst du mich?“ Nicht gerade beruhigend. Autorin Melanie Raabe versteht ihr Handwerk. Nichts einfacher als einer jungen Frau nachts in einem leerstehenden Haus das Fürchten zu lehren, aber sie schafft es zudem, die Atmosphäre ganz langsam von bedrohlich in freundlich zu drehen, Verfolgte und Verfolger tauschen die Rollen. Schauspielerin Sithembile Menck vollzieht all das stimmlich mit. Gekonnt wechselt sie zwischen der selbstbewussten Forscherin zur verunsicherten jungen Frau und zurück, unterscheidet im Tonfall zwischen Traum und Wirklichkeit und hält die Spannung bis zuletzt. Einzig ein paar kleine grammatikalische Fehler im Text sind etwas ärgerlich, da hätten Lektorat oder Regie besser aufpassen müssen. Dennoch: „Der längste Schlaf“ ist ein gelungenes Hörbuch für alle, die es gerne mit dem Übersinnlichen aufnehmen – zum entspannten Hinübergleiten in die Nachtruhe ist es allerdings nicht zu empfehlen.…
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1 Laura Wiesböck – Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend 5:59
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5:59Immer mehr Celebrities und Personen des öffentlichen Lebens sprechen in den Sozialen Medien über ihre Krisenerfahrungen und psychischen Belastungen – und das oftmals in ästhetisch ansprechenden Videos. Ambivalente Auswirkungen der Debatte Dass dies häufig auch Druck bei klinisch betroffenen Menschen auslösen kann und darüber, ob psychische Erkrankungen mittlerweile gar zu einem Trend geworden sind, spricht Soziologin und Autorin Laura Wiesböck. Sie analysiert in ihrem Buch „Digitale Diagnosen“, warum psychologische Konzepte inflationär verwendet werden und welche gesellschaftlichen Folgen das hat. Ein Gespräch über den schmalen Grat zwischen Enttabuisierung und Selbstdarstellung.…
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1 Von Herzen, durch Zeiten, zwischen Welten: Neue Bücher u.a. von Jonas Lüscher und Zach Williams 54:57
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54:57Ob Lyrik als Heilmittel, das architektonische Erbe der Ostmoderne, oder die kritische Analyse eines Social-Media-Trends: Die Literatur eröffnet neue Perspektiven.
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1 Jakob Leiner (Hg.) – Ah, ein Herz, verstehe 5:45
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5:45Jakob Leiner, Arzt und Schriftsteller, beweist mit seiner Gedichtsammlung, dass Medizin und Lyrik sehr wohl zusammenpassen. Beginnend mit der Neuzeit wandert er in seiner Anthologie durch 500 Jahre, in denen Gedichte über Krankheit und Heilung verfasst wurden, bis er schließlich in der Gegenwart ankommt. „Alles kommt vor“ in dieser Anthologie Die Gedichte spiegeln, laut Jakob Leiner, alles wider, was zur jeweiligen Zeit stattgefunden hat – seien es Pestzeiten, wissenschaftliche Errungenschaften oder technische Fortschritte innerhalb der Medizin. Ein Gespräch über Dichterärzte, Patientenklagen und den Trost der Sprache.…
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1 Jonas Lüscher schreibt in „Verzauberte Vorbestimmung“ über das angespannte Verhältnis von Mensch und Maschine 7:02
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7:02Der Einstieg in den Roman ist ein literarisches Versprechen, das im Laufe des Textes aber nicht eingelöst wird. Die Geschichte beginnt im Ersten Weltkrieg. Ein junger Mann sieht für sich keine Zukunft mehr im südalgerischen Heimatdorf. Also lässt er sich von der französischen Armee anwerben, um gegen die Deutschen zu kämpfen, über die der Rekrutierungsoffizier sagt, der Feind sei ein „Volk von Unholden“, (…) (…) regiert von einem zwirbelbärtigen, einfältigen Kaiser, brutal, gemein, aber gleichzeitig hasenfüßig, also kein Gegner, vor dem man sich zu fürchten brauche, weshalb auch nur mit einem kurzen Krieg zu rechnen sei und er davon ausgehen könne, spätestens zum Ende des Jahres wieder heimzukehren, als Held mit Orden auf der Brust und Sold in der Tasche. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Einsatz in Frankreich Der Algerier lässt sich auf das zweifelhafte Angebot ein und wird vor dem Einsatz an der Front „für ein paar Wochen in der Kunst des Schießens“ unterrichtet. Aber er hat, was seine Zeit nach dem Krieg betrifft, etwas anderes im Sinn. Orden interessieren ihn nicht, er möchte sein „Glück in Paris versuchen“. Da der Offizier dem Rekruten verspricht, auch das „sei möglich“, landet der Fünfundzwanzigjährige schon kurze Zeit später, nämlich im August 1914, in Frankreich und zieht mit fremden Kameraden in einen Krieg, der nicht der seine ist. Mit dem Zug brachte man sie nach Norden, über Avignon nach Anor an der belgischen Grenze. Von da an mussten sie marschieren, sechzig Kilometer kamen sie weit, bis kurz vor Charleroi, wo das Schlachten und Morden begann. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Soldat, der seinen Eid bricht Dem zunächst namenlose Soldaten würde man in Lüschers Roman „Verzauberte Vorstimmung“ gerne weiter folgen, zumal er seinen Eid bricht, sich an die Vorbestimmung, als Kanonenfutter zu enden, nicht halten will, sondern auf nahezu märchenhafte Weise die eigene Zukunft in die Hand nimmt. Sein Geist sagte: kämpfen, rennen, laufen, flüchten. Sein Leib war ein einziges Zittern. Dann ein einzelner klarer Gedanke: Nicht mit ihm. Nicht Teil dieser Maschinerie sein. Nicht mehr rennen, nicht mehr feuern, nicht mehr töten, nicht mehr kämpfen. Einer musste damit aufhören. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte Die Fahnenflucht scheint gelungen zu sein, die genauen Umstände erfahren wir nicht. Von kriegsbedingen Lungenschäden gequält, wird der ruhmlose Held nach dem Krieg in Frankreich eine Anstellung als Briefträger erhalten. Eine im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende Geschichte, die teilweise wohl auf wahren Begebenheiten beruht und deren Fiktionalisierung nun erst richtig beginnen könnte! Lüscher aber entscheidet sich, diese Neugier nicht zu befriedigen. Eine differenziertere Figurenpsychologie, die Fortführung dieser Geschichte scheint den Autor kaum zu interessieren. Stattdessen führt er sich als Ich-Erzähler ein, der nach einer schweren Covid-Infektion selbst mit gravierenden Atemproblemen zu kämpfen hat und der sich trotzdem auf strapaziöse Recherchereisen begibt. Ich war ein schlechter Reisender geworden, unsicher, gereizt, verletzlich. In nervöser Erwartung, die Mitreisenden könnten sich einer hygienischen Verfehlung schuldig machen, suchte ich nach freigelegten Nasen, nach unter dem Kinn hängen Masken. Die Essenden strafte ich mit strengen Blicken. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Literarisches Spiegelkabinett Lüschers Spurensuche, die mal Züge einer essayhaften Reportage trägt und mal mit Mitteln der historischen Fiktion arbeitet, führt durch unterschiedlichste Epochen und zu den verschiedensten Schauplätzen. Ein literarisches Spiegelkabinett mit vielen Sackgassen und verwirrenden Verfremdungseffekten. Oft gibt es nur lose Verbindungen von einer Erzählinsel zur nächsten; am späteren Arbeitsort des lungenkranken Briefträgers hat beispielsweise auch der Schriftsteller und Maler Peter Weiss gelebt. „Die Maschinen greifen die Menschen an“ – so heißt eines seiner Gemälde, was den Erzähler ins böhmische Varnsdorf führt, was die Leserinnen und Leser kurzerhand in die Zeit der Weberaufstände katapultiert: So wird von einem fleißigen Handwerker berichtet, der zu seinem Ärger durch einen automatisierten Webstuhl ersetzt werden soll. Erzählstränge von Metareflexionen unterbrochen Der Weber raubt einen Hammer und zertrümmert die bedrohliche Maschine. Eine dramatische Szene, die aber keineswegs linear erzählt wird. Immer wenn es interessant werden könnte, sind wir bei Lüscher schon in einem neuen Setting. Als wäre das nicht komplex genug, werden die verschiedenen Erzählstränge regelmäßig von sprachlichen Metareflexionen unterbrochen – da klingt dann ein aufgebrachter Weber aus dem 19. Jahrhundert auch mal wie ein in Erzähltheorie geschulter Romancier der Gegenwart. Aber was war eigentlich sein Punkt? So genau wusste er das auch nicht, war doch der Sinn seines Erzählens weniger der, seinen Kindern und seiner Frau etwas klarzumachen, ihnen irgendein Faktum einzubläuen oder ihnen ein so ist recht und so ist falsch und so und so sollst du handeln vorzukauen. Eigentlich, so musste er sich eingestehen, erzählte er, um selbst zu verstehen, oder besser noch, um sein eigenes Nachdenken zu formen. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Ja, was ist eigentlich der Punkt bzw. worin besteht der inhaltliche und sprachliche Kern dieses Romans, der in so viele Einzelteile zerfällt? Es geht zweifelsohne um das Verhältnis von Mensch und Maschine; es werden politische, technische und ökonomische Zwangläufigkeiten geschildert, die zumindest im Roman außer Kraft gesetzt werden. Menschliche Träume oder Wahnsinn virtueller Maschinen? Lüscher gibt den Sprachzauberer, wirbelt mit Erzählperspektiven, mit recherchiertem und erfundenem Material herum. Doch der Erkenntnisgewinn ist gering, die Ästhetik wirkt vor allem: überambitioniert. Paradoxerweise ist das Werk, das auch ein Lehrstück über die Gegenwart sein soll, über alle Epochen und Szenen hinweg in einer antiquierten, betont elaborierten Sprache gehalten. Am Ende reisen wir mit dem Ich-Erzähler durch die noch im Bau befindliche neue Verwaltungshauptstadt Ägyptens. In der Wüste vor den Toren Kairos stehen bereits leere Hotels und eine Oper, in der seit der Eröffnung keine Musik mehr erklungen ist. Eine unwirkliche Welt, in der schließlich die Schatten der Menschen ein Eigenleben entwickeln. Ist das die böse Zukunft der künstlichen Dummheit? Es ist völlig unklar, ob wir uns noch in menschlichen Träumen oder schon im Wahnsinn der virtuellen Maschinen befinden. Romanruine, die ratlos macht Jonas Lüscher zieht alle literarischen Register und überzeugt gerade deshalb nicht. „Verzauberte Vorbestimmung“ ist eine Romanruine, die ratlos macht. In einem Interview erklärt der Autor, er habe ursprünglich ein anderes Buch schreiben wollen, doch die Pandemie habe auch den Zuschnitt des Textes verändert. Immerhin hätten die medizinischen Maschinen dem Schriftsteller das Leben gerettet. So ist „Verzauberte Vorbestimmung“ möglicherweise als Dokument des literarischen Scheiterns für Germanisten interessant, die eines Tages untersuchen werden, wie sich Corona auf die deutschsprachige Literatur ausgewirkt hat.…
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1 John von Düffel – Ich möchte lieber nichts | Buchkritik 4:09
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4:09Es ist einer der berühmtesten Sätze der Weltliteratur: „Ich möchte lieber nicht.“ In der Erzählung „Bartleby“ von Herman Melville hält sich ein Büroangestellter gleichen Namens mit diesen Worten zunächst einzelne Tätigkeiten und schließlich die ganze Welt vom Leib. Der Totalverweigerer landet im sozialen Abseits und stirbt zuletzt. Der Verzicht, den der Schriftsteller John von Düffel im Sinn hat, soll dagegen gerade nicht in die Isolation führen, sondern das Leben reicher machen. „Es geht darum zu erkennen, wie wenig man braucht“, schrieb der Autor in seinem Buch „Das Wenige und das Wesentliche“, an das er nun anknüpft. Diese asketische Lebenshaltung begegnete John von Düffel erstmals während des Studiums in Schottland. Fiona, die nur auf einem Stein sitzen und denken wollte, wurde zu seinem Vorbild. „Ich möchte lieber nichts“ – „I dont’t feel like consuming“, so lautete ihre Standardantwort auf das Angebot, mit in die Mensa oder die Kneipe zu kommen. Nach 35 Jahren trifft er sie in Edinburgh wieder. Er will herausfinden, wie Fiona lebt. Inwieweit gelingt es, so eine Lebenseinstellung auch in Alltag zu übersetzen? Man kann sich ja viele schöne Gedanken beim Kaminfeuer machen. Aber wenn dann der nächste Tag losgeht, wie viel davon kriegt man umgesetzt? Und deswegen war’s für mich wichtig zu gucken: Wie verzahnen sich diese Gedanken mit dem wirklichen Leben? Und wie ist das in Fionas Fall? Was für eine Geschichte hat sie? Quelle: John von Düffel Fragen nach dem richtigen Leben Von der Begegnung erzählt das neue Buch. Zwei Tage bleibt der Ich-Erzähler, der von John von Düffel kaum zu unterscheiden ist, in Edinburgh. Gemeinsam mit Fiona spaziert er durch die Stadt. Den Lehrersohn aus der norddeutschen Provinz und die Tochter aus einer Glasgower Arbeiterfamilie trennen Welten. Während er mit großen Fragen nach dem richtigen Leben angereist ist, hat Fiona wenig Interesse daran, die Diskussionen aus den Philosophieseminaren von einst fortzusetzen. Sie wird viel zu sehr von ihrem fordernden Alltag als Mutter und Streetworkerin vereinnahmt, von dem sie jedoch nur zögerlich berichtet. Umso entschiedener markiert sie die Unterschiede zu ihrem Gegenüber. Deine Krisen und meine Krisen waren schon damals verschieden und sind es vermutlich nach wie vor. Insofern weiß ich nicht, ob ich dir so viel Kluges sagen kann. Anders als im Studium habe ich die letzten Jahrzehnte mehr gelebt als gelesen. Und du? Quelle: John von Düffel – Ich möchte lieber nichts Soziale Prägungen und Beschränkungen Das nur mühsam in Gang kommende Gespräch der beiden ist trotzdem erhellend – und das ist Fionas schroffer Direktheit zu verdanken. Das Idealbild, das der Ich-Erzähler von ihr entworfen hat, ohne sie je wirklich zu sehen, korrigiert sie. Ihr Mut, anders zu sein als die anderen, war gar kein Mut, erklärt sie: „Ich musste von nichts abweichen, ich war nicht mal in Reichweite der Norm.“ Fiona fehlte es schlichtweg an Geld, um mit den anderen essen zu gehen. Die Unterhaltung führt weg vom Nachdenken über Konsumverzicht und Askese hin zu Fragen von Herkunft und Status, von sozialen Prägungen und Beschränkungen, wie sie zuletzt immer häufiger auch in der Literatur verhandelt werden. Fiona ist auch ein Beispiel für ein Ausbrechen aus sozialen Gefängnissen oder Käfigen. Und gleichzeitig ist sie aber auch ein Beispiel dafür, wie soziale Benachteiligung auf eine Art immer weitergeht, auch wenn man es vordergründig auf ein anderes Level schafft. Quelle: John von Düffel Das Buch wirkt auf eigentümliche Weise disparat und unfertig. Verstärkt wird dieser Eindruck durch einen Mittelteil mit mal mehr, mal weniger überzeugenden philosophischen und kulturkritischen Betrachtungen. John von Düffel will davon erzählen, welcher Freiheitsgewinn in der Askese liegt. Doch dazu taugt die Begegnung in Edinburgh nur wenig. Das Treffen macht vielmehr deutlich, in welchem Maß die freie Entscheidung zum Verzicht eine privilegierte Entscheidung ist. Fionas Geschichte, eine Geschichte versperrter Möglichkeiten, skizziert das Buch nur. Gerade über ihr ganz anderes, nicht privilegiertes Leben hätte man jedoch gern mehr gelesen.…
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Der indische Strukturbiologe Venki Ramakrishnan steht den Versprechen ewiger Jugend und Fitness ausgesprochen skeptisch gegenüber. Sie sind, wie er jetzt in seinem Buch „Warum wir sterben“ nachweist, absurd, denn der Alterungsprozess unseres Körpers lässt sich nicht abschaffen. Für Laien wie mich ist „Warum wir sterben“ keine leichte Lektüre, denn der ausgewiesene Genexperte beschreibt in aller Detailfreude, wie die Zellen funktionieren. So allgemeinverständlich Ramakrishnan auf 300 Seiten die genetischen Vorgänge auch erklärt, man muss sich die verschiedenen Funktionen der unterschiedlichen Zellformen immer wieder in Erinnerung rufen. Bisweilen helfen kleine Zeichnungen beim Verständnis. Die Erforschung des Alterns Ramakrishnan geht weit zurück in der Geschichte der Erforschung des Alterns. Er stellt berühmte Forscherinnen und Forscher vor, beschreibt, wie sie oft gegen den Widerstand ihrer Wissenschaftsgemeinschaft auf ihre Entdeckungen gestoßen sind. Spätestens seit der Entdeckung des Doppelstrangs der DNA sind rasante Fortschritte gemacht worden. Sie zeigen deutlich, wie kompliziert das Zusammenspiel der verschiedenen Bestandsteile einer Zelle ist. Entscheidend sind die Gene der DNA, denn sie enthalten die Information, wie Proteine aufgebaut werden. Ohne Proteine kein Leben. Proteine steuern den Körper und befähigen die Zelle, Fette, Kohlehydrate, Vitamine und Hormone herzustellen. Sie produzieren die Antikörper, die Infektionen bekämpfen, speichern sogar Erinnerungen im Gehirn. Die dafür verantwortlichen Gene der DNA werden von der Ribonukleinsäure, der RNA kopiert und dann zur Produktion der Proteine genutzt. So unterschiedlich die Proteine sind, so unterschiedlich ist ihr Aufbau, ihre Funktion und ihre Lebenszeit. Ohne sie gibt es keine neuen Körperzellen, von der Gehirnzelle über die Herzmuskeln bis zur Leber. Die Fehleranfälligkeit der Zellen In elf Kapiteln erläutert Ramakrishnan, wie die Zellen entstehen und wie sie sterben, denn fast alle Zellen im Körper haben eine kurze Lebenszeit, müssen sich beständig vermehren und dabei geschehen Fehler. Normalerweise werden diese alle eliminiert. Doch die Reparaturmechanismen sind nicht perfekt. So sammeln sich im Laufe der Zeit immer mehr beschädigte Zellen an. Reaktion des Körpers: 1. Die fehlerbelastete Zelle dazu zu bringen, sich selbst zu zerstören, quasi Selbstmord zu begehen. 2. Die Zelle stillzulegen, so dass sie keinerlei Funktion mehr ausübt und sich nicht mehr vervielfältigen kann. 3. Sie zu reparieren, also alle Fehler zu beseitigen. Quelle: Venki Ramakrishnan – Warum wir sterben Je mehr Zellen stillgelegt werden, desto schlechter arbeitet das entsprechende Organ, in dem sie sich befinden. Je weniger repariert wird, desto heftiger werden die Funktionen einzelner Organe beeinträchtigt. Das ist der unvermeidbare Alterungsprozess der Organe. Wenn die stillgelegten oder zerstörten Zellen die Überhand gewinnen, stirbt man. Man hofft, mit besserem Verständnis der Reparaturmechanismen die Fehler eindämmen oder sogar beseitigen zu können. Das könnte tatsächlich zu einer Verlängerung des Alters führen. Mehr als 120 Jahre aber sind kaum zu erreichen. Die Unvermeidbarkeit des Alterns Es ist eine fremde Welt, in die man eintaucht. Sie zeigt uns zudem, dass das Altern ein natürlicher und beabsichtigter Vorgang der Evolution ist. Auch wenn sich das Alter heute dank zahlreicher medizinischer und pharmazeutischer Entdeckungen gegenüber früheren Zeiten gut verdoppelt hat, steckt der Prozess des Alterns aber noch immer voller Geheimnisse. Ramakrishnan beweist überzeugend, dass er sich kaum unendlich verlängern lassen wird. Einen Methusalem wird es nicht geben.…
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„Geh Weg“, so wollte der Stuttgarter Journalist Joe Bauer die jüngste Sammlung seiner Kolumnen eigentlich nennen. Glücklicherweise war sein Verleger dagegen. Zwar wäre in „Geh Weg“ die peripatetische Grundeinstellung dieser, wie der Untertitel lautet, „Beobachtungen eines Stadtspaziergängers“ fein angeklungen, zugleich aber die grimmige Abwehrformel „Geh weg!“ kaum überhörbar gewesen. Nun heißt das Buch mit seinen gut 50 Texten „Einstein am Stuttgartstrand“. Mit vollem Recht, denn was Albert Einstein mit Stuttgart beziehungsweise dem eingemeindeten Cannstatt zu tun hat, wird hier ebenso enthüllt wie die Bedeutung von Phil Glass, dem Komponisten des Minimal-Music-Meilensteins „Einstein on the Beach“, für das hiesige Opernhaus. Veteran im mentalen Mäandertal Auf Joe Bauers Laptop, mit dem er sich am Neckarufer oder in einer Kettenbäckerei mit freiem Blick auf die dysfunktionalen Reste des Stuttgarter Hauptbahnhofs niederlässt, kommt alles zusammen, mal auf kürzestem Weg, mal mit überraschenden Umschweifen. Auf denen kann dann noch ganz viel anderes aufgelesen und in Erinnerung gerufen werden, aus den historischen Tiefen des Stadtraumes wie aus einem mittlerweile 70-jährigen Leben. Als Bauer vor einem Vierteljahrhundert erstmals zu seinen Stadtspaziergängen aufbrach, ging es ihm darum, ganz in guter Lokalkolumnisten-Manier auf die beim automobilen Durchrauschen übersehenen Details der „Großstadt zwischen Wald und Reben, zwischen Hängen und Würgen“ aufmerksam zu machen. Jedoch: Als Veteran im mentalen Mäandertal gehe ich heute mehr herum als früher, ohne allerdings noch einmal auf die Idee zu kommen, meine Abwege weiterzuempfehlen. Quelle: Joe Bauer – Einstein am Stuttgartstrand Eine gewisse Melancholie macht sich in dieser an vielen Großen geschulten Formulierungskunst bemerkbar, und das hat Gründe, nicht nur, weil mehrere der hier versammelten Texte Nachrufe oder Grabreden auf Weggefährten sind. Seit 26 Jahren schreibt Joe Bauer seine Kolumnen, unterwegs in den Dreckecken wie den Glanzbildchen der Landeshauptstadt ist er als Journalist schon fast doppelt so lang. In dieser Zeit hat sich das ehedem behäbig-bürgerliche und vorbildlich integrationsbereite Stuttgart stark verändert. Zuletzt nicht zum Guten. Eher Kundschafter als Müßiggänger Die Immobilienspekulation zerstört den öffentlichen Raum, die Pandemiezeit hat ihre Spuren hinterlassen mit der leider von hier ausgehenden Querdenkerei, die Lagerbildung seit Putins Überfalls auf die Ukraine beschäftigt auch den Kolumnisten, der sich im wirklichen Leben seit langem gegen Rechtsextremismus engagiert. Kommt hinzu, dass dem naturgemäß randständigen Typus des „Flaneurs“, auch wenn Bauer ihn eher als „Kundschafter“ denn als privilegierten Müßiggänger definiert, traditionell keine überschäumende Lebensfreude eignet: So wunderte ich mich schon als junger Kerl, dass ich überhaupt noch geboren werden konnte. Dieses an sich schon absurde Ereignis brachte mich dazu, ein Leben als Pessimist zu führen. Nur auf diese Art konnte ich zusehen, wie die Stuttgarter Kickers bis in die fünfte Liga abstürzten. Ich habe ihnen das nie krumm genommen, weil sich für einen Pessimisten ‘Oberliga‘ immer noch verdammt glamourös anhört. Wenn du in einer Stadt lebst, in der sie auf dem Marktplatz einen metallenen Foodtruck mit Blumentrögen einzäunen und ,the ratskellerbar‘ nennen, spielst du ohnehin bar jeder Klasse in der Kreisliga. Quelle: Joe Bauer – Einstein am Stuttgartstrand Bauers Spottlust ist offenkundig ungebrochen, allen alters- und gesamtsituationsbedingten Verfinsterungen zum Trotz. Auch wenn sie es nicht immer leicht zu haben scheint, sich durchzusetzen. Das liegt nicht nur am erwähnten Pessimismus. Joe Bauer will es nicht dabei belassen, glossierende Bemerkungen über Honoratioren-Ignoranz oder zweifelhaftes Stadt-Marketing, um es mit einem Modewort zu sagen, „abzuliefern“. Gerade in der Frage von Krieg und Frieden ringt er offen um Haltung, wehrt sich gegen die Schublade des „Lumpenpazifismus“, liest Clausewitz, sucht Argumente. An denen kann man sich reiben. In unseren Tagen der oft wohlfeilen Eindeutigkeiten ist das schon viel.…
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1 Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik – Die Evolution der Gewalt 4:09
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4:09Der Mensch führt Krieg, immer wieder und weiter, und das trotz der ganz großen Schrecken des vergangenen Jahrhunderts. Dabei muss er gar nicht. Weder seine genetische Veranlagung noch das schlechte Beispiel des Brudermords von Kain an Abel zwingen ihn dazu. Das stellen Harald Meller, Kai Michel und Carel van Schaik gleich am Anfang ihres Buches „Die Evolution der Gewalt“ klar. Darin gehen sie entlang der Menschheitsgeschichte der Frage nach: „Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen“. Und von vornherein machen sie deutlich, dass sie die verbreitete Ansicht, der Mensch sei eben von Natur aus ein kriegerisches Wesen, mit aller Entschiedenheit widerlegen wollen. Kriegerische Schimpansen, friedfertige Urmenschen Zu diesem Zweck stützen sie sich zunächst auf die Erkenntnisse der Evolutionären Anthropologie und Primatologie. Woraus sich für unsere nächsten Vorfahren allerdings ein eher bedenkliches Bild ergibt: Die Schimpansen leben im permanenten Zustand eines latenten Krieges. Zwischen Schimpansen-Gemeinschaften gibt es keinen Frieden. Quelle: Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik – Die Evolution der Gewalt Trotzdem bleiben die Autoren zuversichtlich, denn die Archäologie liefert günstigere Indizien für ihre Kernthese, dass der Krieg kein Menschenschicksal sei. Zwar weisen Schädel, Skelette und Knochen aus urgeschichtlichen Grabstellen oft zahlreiche Spuren von Gewalttaten auf, aber von regelrechten Kriegen kann da noch keine Rede sein. Wandernde Wildbeutergruppen setzten eher auf Kooperation und wenn größere Konflikte hochzukochen drohten, konnte man sich in den dünn besiedelten Landschaften der Steinzeit leicht aus dem Wege gehen. Kriegskunst als Erwerbskunst Das änderte sich dann mit Landwirtschaft, Sesshaftigkeit, Staatenbildung und der Inthronisation von Herrschern, die ihren Ruhm und Reichtum mehren wollten. Der griechische Philosoph Aristoteles brachte es so auf den Punkt: Darum ist auch die Kriegskunst von Natur aus eine Art Erwerbskunst, die man anwenden muss gegen Tiere und gegen Menschen, die von Natur aus zum Sklavendienst bestimmt sind. Quelle: Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik – Die Evolution der Gewalt Krieg als Zivilisationsprodukt Hier kommen nun nach der Anthropologie und der Archäologie die Geschichts- und Religionswissenschaften zur Geltung. Sie erklären die Rolle von Herrschern, Göttern und Staatsdenkern bei der offenbar unaufhaltsamen Herausbildung der „Kriegsmatrix“, wie die Autoren das nennen. Zugleich betonen sie jedoch: Es ist eben nicht der Krieg aller Menschen. Es ist der Krieg von Staaten: Herrscher ziehen in den Krieg, Untertanen werden in den Krieg gezwungen. Der total gewordene Krieg ist ein Zivilisationsprodukt. Quelle: Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik – Die Evolution der Gewalt Als Evolutionsgeschichte der Gewalt ist das Buch, ungeachtet kleinerer Unstimmigkeiten, informativ, lehrreich und spannend zu lesen. Weniger gut steht es um die schöne These von der ursprünglichen Friedfertigkeit der steinzeitlichen Menschen, auch wenn die Autoren mehrfach darauf verweisen, dass die Menschheit während 99 Prozent ihres Erdenwandels ohne Kriege ausgekommen sei. Der Vorschlag, daraus Folgerungen für heute abzuleiten, muss angesichts einer fünftausendjährigen Geschichte von kriegsgeprägten Zivilisationen als ziemlich unhistorisch erscheinen. Trotzdem kann der politische Rat, den die Autoren zum Schluss geben, im Sinne von Aufklärung und Menschlichkeit nützlich sein. Der Krieg, so sagen sie, ist weder naturgegeben noch gottgewollt, sondern meist von einseitigen Interessen geleitet. Und darum sei es wichtig, denen genau auf die Finger zu sehen, die ihn führen wollen.…
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1 SWR Bestenliste Februar mit Büchern von Samantha Harvey, Julia Schoch, Jonas Lüscher und Wolf Haas 1:09:57
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1:09:57Über den Wolken und durch die Jahrhunderte: Meike Feßmann, Julia Schröder und Paul Jandl diskutierten vier auf der SWR Bestenliste im Februar verzeichnete Werke, die von berauschenden und bedrückenden Reisen handeln. Zunächst ging es um den mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman „Umlaufbahnen“ von Samantha Harvey in der deutschen Fassung von Julia Wolf, in dem sechs Astronauten auf einer Raumstation durchs Weltall schweben und ihr Verhältnis zur bedrohten Mutter Erde neu justieren (Platz 4). Besprochen wurde in der ausverkauften Mediathek in Bühl Julia Schochs Abschluss ihrer Trilogie, die mit „Biographie einer Frau“ überschrieben ist und auf Platz 3 der Februar-Bestenliste steht: Nach „Das Vorkommnis“ und „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ heißt der dritte Teil der autofiktionalen Romanreihe „Wild nach einem wilden Traum“, in welchem es um die Erinnerung an eine Affäre und die Entscheidung der Erzählerin geht, Schriftstellerin zu werden. Auf Platz 2 wird auf der Bestenliste im Februar der neue und vieldiskutierte Roman von Jonas Lüscher gelistet: „Verzauberte Vorbestimmung“ heißt das Werk, das einerseits ein Post-Covid-Roman ist und andererseits das angespannte Verhältnis von Mensch und Maschine in unterschiedlichsten Epochen reflektiert. Der Spitzenreiter der Bestenliste im Februar ist der neue Roman „Wackelkontakt“ von Wolf Haas. Darin wird zunächst von einem Trauerredner namens Franz Escher erzählt, der auf einen Elektriker wartet und einen Roman über einen Mafioso liest. Schon bald geht es aber auch um einen Mann im Zeugenschutzprogramm, der sich die Zeit mit einem Buch vertreibt, in dem wiederum der Trauerredner Escher auf den Elektriker wartet. Der Text ist ein Prosa-Labyrinth, das an die unmöglichen und unendlichen Gemälde des niederländischen Grafikers M.C. Escher erinnert. Jury und Publikum waren gleichermaßen amüsiert. Aus den vier Büchern lasen Isabelle Demey und Dominik Eisele. Durch den Abend führte Carsten Otte.…
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1 Jonas Lüscher: Verzauberte Vorbestimmung 17:56
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17:56Der Schweizer Lüscher bringt unterschiedliche Lebensgeschichten und Schicksalserfahrungen zusammen, die verbunden sind durch das unsichtbare Band zwischen Mensch, Technik und Kapitalismus. Lüscher greift auf eine sehr persönliche Erfahrung zurück.
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Ein Mann sitzt in seiner Wohnung und wartet auf den Elektriker. Währenddessen liest er ein Buch. Darin sitzt ein Mann in seiner Zelle und liest ein Buch über einen Mann, der auf den Elektriker wartet. Wolf Haas. Sie wissen schon.
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1 Julia Schoch: Wild nach einem wilden Traum 18:17
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18:17Der Abschluss der Romantrilogie „Biographie einer Frau“. Während eines USA-Stipendiums verliebt die Erzählerin sich in einen Mitstipendiaten. Julia Schoch macht daraus eine große Reflexion über Herkunft, Prägung und Schreiben.
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1 Gotthard Erler, Christine Hehle (Hg.), Emilie Fontane. Dichterfrauen sind immer so | Buchkritik 4:09
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4:09Was für ein Leben. Emilie Rouanet kommt am 14. November 1824 im brandenburgischen Beeskow nach einer leidenschaftlichen Affäre ihrer Mutter als deren sechstes Kind zur Welt. Sie wird zu einem Onkel, später zur Adoption freigegeben. Vierzehn trostlose Jahre vergehen, bis der Stiefvater in Berlin 1838 Berta Kinne heiratet, die dem Mädchen verständnisvoll zugewandt ist und ihr liebevoll die Mutter ersetzt, ein Leben lang. Erste Begegnung Emilies mit Theodor Fontane in Berlin Im Haus nebenan wohnt der junge Theodor Fontane bei Onkel und Tante. Das erste Mal begegnen sie sich, als Emilie elf, Theodor 15 ist. Ernst aber wird es erst neun Jahre später, als sie sich wiedersehen. Die Verlobung folgt bald, heiraten aber können sie erst 1850, als Fontane endlich ein festes, wenn auch geringes Einkommen hat. Emilie schenkt sieben Kindern das Leben, drei sterben schnell, Sohn George mit 36 an einer Blinddarmentzündung. Vierundfünfzig herzlich zugewandte Jahre lebt und arbeitet die Frau an der Seite Theodor Fontanes. Gotthard Erler, inzwischen 91, der seit vielen Jahrzehnten Leben und Werk des Dichters ergründet und ediert, ist fasziniert von Emilie. Ein Leben als Dichterfrau in ärmlichen Verhältnissen Aus so miesen Verhältnissen stammend wird sie die Frau eines Dichters, der kein Geld verdient, sie hat eine Schwangerschaft nach der anderen, sie haben nie Geld, nur, was er erschreibt, kann man verbrauchen, und sie hat wirklich ein schweres Leben gehabt. Das hat mich fasziniert, dass sie daraus was gemacht hat, mit einer tiefen Zuneigung zu diesem Theodor Fontane verbunden gewesen ist und bei alledem immer wieder die Feder in die Hand genommen hat und immer wieder etwas aufgeschrieben hat. Quelle: Gotthard Erler Hauptsächlich sind es Briefe. 3 bis 4000, schätzt Gotthard Erler. Die meisten davon sind unbekannt, 500 aber hat er gelesen, einige davon bereits im Ehebriefwechsel veröffentlicht und nun 150 ausgewählt und zusammen mit Christine Hehle herausgegeben: Eine Offenbarung. Lernt doch der Leser dieser Briefe eine wahrlich beeindruckende Frau kennen. Sie schreibt sechs Jahrzehnte lang Stiefmutter, Mann und Kindern, Freunden und Bekannten und berichtet über ihr Leben in Berlin oder London, über Sommeraufenthalte in Schlesien oder Reisen nach Karlsbad oder Kissingen. Immer sitzt zwischen ihren couragierten, wohlformulierten Zeilen auch Sorge über die stets prekären Verhältnisse der Familie. Besonders der innig geliebten Stiefmutter Berta vertraut sie ihre Not an, wie am 19. April 1860. Alles trägt sich doch leichter meine Herzensmama, als beständige Nahrungssorgen, zu denen ich bestimmt zu sein scheine; oft wird es mir recht schwer dieselben zu ertragen. Quelle: Gotthard Erler, Christine Hehle (Hg.), Emilie Fontane. Dichterfrauen sind immer so Geldnöte haben die Fontanes immer – selbst in der wohl produktivsten Phase des Dichters zwischen dessen sechzigstem und siebzigstem Lebensjahr, in der er an „Effi Briest“ oder „Der Stechlin“ arbeitet. Aber nicht nur er allein ist so fleißig. Kopistin und Gesprächspartnerin: eine Frau auf Augenhöhe für den Dichter Sie sei nur noch „Abschreibe-Maschine“, berichtet Emilie einmal ihrem Sohn Theodor. Denn praktisch alles, was Fontane zu Papier bringt, geht sprichwörtlich durch ihre Hände. Nicht nur jetzt, sondern ein ganzes Dichterleben lang. Gut vierzig Bände, tausende dicht beschriebene Blätter voller Korrekturen und Bemerkungen überträgt sie mit kratzenden Federn und schlechter Tinte am Küchentisch unter einer Lichtfunzel. Und greift auch mal inhaltlich ein, wie beim Roman „Graf Petöfy“, zu dem sie am 14.Juni 1883 im Brief an ihren Mann über Figuren und Handlung Stellung nimmt. F. u. E. können doch nicht gleich in Liebe verfallen? Er wirkt außerdem schemenhaft, man würde nicht begreifen, dass er kam, sah u. siegte. Der Schluss des Kapitel’s, wo er seine Stellung zu ihr in Erwägung zieht [ist] doch fast zu zurecht gemacht u. grußlich. Quelle: Gotthard Erler, Christine Hehle (Hg.), Emilie Fontane. Dichterfrauen sind immer so Emilie Fontane war, so legt es diese wunderbare Autobiografie in Briefen nahe, eine Partnerin auf Augenhöhe, eine Frau, die zaghaft lektorierte, frisch und frei berichtete, couragiert austeilte, bildhaft reportierte. Die Ehe- und Dichterfrau war Kopistin und Vorleserin, Gesprächspartnerin, Mutter und Netzwerkerin: rundum potent und patent. Mir fiel irgendwann mal ein, ob sie nicht in gewisser Weise dem Frauenbild vom alten Dubslav von Stechlin entspricht: „Eine Dame und ein Frauenzimmer, so müssen Weiber sein.“ Das ist Emilie! Quelle: Gotthard Erler…
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Ein schrecklicher Skandal droht: Eine menschliche Rippe wird in einer Skulptur der verstorbenen Künstlerin Vanessa Chapman entdeckt. Ist es möglicherweise ein Knochen ihres verschwundenen untreuen Ehemannes, dessen Leiche nie gefunden wurde? Kurator James Becker ist sich sicher: Das kann nicht sein. Deshalb reist er auf die verlassene Insel Eris an der schottischen Küste, auf der Vanessa einst gelebt hat. Dort wohnt die einzige Frau, die die Wahrheit kennt: Vanessas Nachlassverwalterin und enge Freundin Grace Haswell. Die fiktive sturmumtoste Insel Eris ist der Haupthandlungsort von „Die blaue Stunde“, dem neuen Roman der Beststeller-Autorin Paula Hawkins. Der Titel bezieht sich auf die Zeit der Dämmerung. Wem ist hier zu trauen? Das Licht wird schwächer, Schatten sammeln und verdichten sich. Marguerite kennt dafür eine besondere Redewendung: l’heure entre chien et loup, die Stunde zwischen Hund und Wolf. Es ist die Zeit, in der die Dinge anders erscheinen können als sie sind, in der etwas Gutes bedrohlich wirken oder ein Feind in der Gestalt eines Freundes daherkommen kann. Quelle: Paula Hawkins – Die blaue Stunde Etwas, das harmlos sein kann, entpuppt sich als gefährlich – oder etwas Gefährliches ist doch ganz harmlos. Das beschreibt das angestrebte Erzählverfahren: Die beiden personalen Erzählstimmen gehören zu James und Grace. Beide sind verdächtig, verschweigen Dinge, wissen nicht, wem und ob sie einander vertrauen können. Dazu kommen E-Mails, Zeitungsausschnitte und Tagebucheinträge von Vanessa. Ihr künstlerisches Ringen, ihr Kampf um Beachtung, die Frauenverachtung in der Kunstwelt der 1990er Jahre wird so anschaulich gemacht. In ihren Tagebüchern schreibt sie andauernd über Freiheit; auch in Interviews kommt sie häufig darauf zu sprechen. Ihre Freiheit scheint ihr über alles gegangen zu sein, sogar über Liebe, Freundschaft oder nette Gesellschaft. Becker fragt sich, wie weit sie wohl gegangen wäre, um wirkliche Freiheit zu erlangen. Quelle: Paula Hawkins – Die blaue Stunde Ein Künstlerinnenroman – mit einer Toten im Mittelpunkt Noch nach ihrem Tod – sie starb an Krebs – steht Vanessa im Mittelpunkt: Zu Lebzeiten wollten die Menschen um sie herum Beachtung, Geld, Liebe oder Sex. Posthum ringen insbesondere James und Grace um die Deutungshoheit über sie und ihr Werk. Er will sich als Vanessa-Chapman-Experte etablieren. Und Grace hält ein Teil des Vermächtnisses zurück. Sie will Vanessa nicht loslassen und kontrollieren, was öffentlich wird. Insbesondere in den ersten zwei Dritteln des Romans zeigt sich Paula Hawkins‘ erzählerische Stärke: Mit jeder neuen Information verändert sich das Bild von dem Geschehen und den Figuren. Vor allem die rätselhafte Beziehung zwischen Vanessa und Grace treibt die Spannung voran. Doch obwohl am Ende einiges offen bleibt, erklärt die Autorin letztlich zu viel. Moralisch nicht einwandfrei handelnde Frauen Schon in „Girl on the train“ hat Paula Hawkins über widersprüchliche Frauen geschrieben. Das begründete damals teilweise den Erfolg des Buchs – zusammen mit ihrer US-Kollegin Gillian Flynn entfachte sie einen neuen Boom psychologischer Spannungsliteratur. Seither hat nicht nur Hawkins wiederholt darauf hingewiesen, dass bereits vor ihr insbesondere Autorinnen über komplexe, möglicherweise verbrecherische Frauen geschrieben haben. In „Die blaue Stunde“ referenziert sie nun mehrfach Daphne Du Maurier. Die Geschichte eines betrügerischen Ehepartners, der verschwand und möglicherweise im Meer ertrunken ist, erinnert, wie auch die einsame Lage des Hauses, an „Rebecca“. Dieser Roman sowie weitere Kurzgeschichten Du Mauriers werden sogar namentlich genannt. Diese Verweise dokumentieren aber auch die größte Schwäche dieses unterhaltsamen, gut zu lesenden Romans: Wer beispielsweise Du Maurier gelesen hat, weiß von Anfang an, wem hier am wenigsten zu trauen ist. Bei aller psychologischen Komplexität insbesondere ihrer weiblichen Figuren geht Paula Hawkins nicht dorthin, wo zu den üblichen Verletzungen und Demütigungen noch etwas hinzukommen könnte. Etwas, das man noch nicht vielfach gelesen hätte. Und so verpasst der solide Spannungsroman die Gelegenheit, der großen jahrhundertelangen Erzählung von zwielichtigen Frauen etwas hinzuzufügen.…
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Bettina Stangneth hat ein Buch über das Lesen und die Welt der Bücher geschrieben. Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob ich es richtig verstanden habe. Zum Beispiel habe ich nicht herausfinden können, warum und vor allem für wen die Hamburger Philosophin ihren Buchessay eigentlich geschrieben hat. Aber so viel immerhin ist mir durch die Lektüre klargeworden, ein Grund zur Scham ist mein Versagen vor diesem Text nicht: Denn in Sachen Bücher sind wir laut Bettina Stangneth allesamt Dilettanten. Die Vorstellung, das Werk eines Autors „richtig“ zu verstehen, sei eher ein Phantasma aus dem Deutschunterricht, und was immer wir beim Lesen aus einem Buch machen, sei uns überlassen. Und zwar auch und gerade, wenn es um „Club der Dilettanten“ geht, wie Bettina Stangneth ihr neues Buch betitelt. Dieses Buch wurde als philosophisches Buch über das Buch geschrieben. Aber was es wirklich ist und noch alles werden kann, liegt nie im Ermessen der Verfasser. Es liegt ganz bei Ihnen, dem Leser. Quelle: Bettina Stangneth – Club der Dilettanten Lesen als Wiederbelebung Warum das so ist, warum alle Macht über die Bedeutung eines Buchs letztlich bei den Leserinnen und Lesern liegt, darüber entwickelt Bettina Stangneth mit Hilfe verschiedener Metaphern eine Art Theorie schriftlicher Kommunikation. Demnach gießt, wer schreibt, seine Gedanken in Schriftzeichen, ein Vorgang, der zwangsläufig mit Welt- und Komplexitätsverlust einhergeht. Etwas makaber vergleicht Stangneth einen Text mit einem „Skelett“ – das während der Lektüre wieder zurück zum Leben erweckt werde. Mit der Pointe freilich, dass das, was nach dem Lesen – hoffentlich – wieder atmet, ein anderes Lebewesen ist als das, welches vom Verfasser zu Grabe getragen wurde. Schließlich hat jeder seine eigenen Erfahrungen und Vorstellungen, mit denen er das Text-Skelett wieder ausstattet. Damit der Vorgang nicht ganz aus dem Ruder läuft, gibt es immerhin so etwas wie eine anthropologische Brücke, nämlich unser gemeinsames Mensch- und In-der-Welt-Sein. Eine Brücke, die uns, wenn es sein muss, auch zuverlässig über die Jahrhunderte hinwegträgt, weiß Bettina Stangneth – auch wenn Romane aus früheren Epochen für uns heute meist nur noch von historischem Interesse seien, während noch so alte Sachtexte unvermutetes Licht auf aktuelle Probleme werfen können. Kann man ein Buch überhaupt falsch verstehen? Letzteres mag im Einzelfall so sein, ist aber doch wohl kaum verallgemeinerbar. Überhaupt werfen Stangneths ambitionierte Reflexionen über das Schreiben und Bücherlesen so einige Fragen auf: Wenn es kein richtiges Textverstehen gibt, gibt es also folglich auch kein falsches? Warum bezeichnet die Autorin das Lesen dann an anderer Stelle als „Rekonstruktionsprozess“ oder bezeichnet das Schreiben als Fotografieren von Gedanken? Und was, wenn, um das Bild der Autorin aufzugreifen, am Ende nur ein Zombie aus dem Grab steigt – man also anders gesagt beim Lesen nur Bahnhof versteht? Das ist kein Grund zur Besorgnis. Jeder erlebt das früher oder später. Aber Sie können ziemlich sicher sein, dass es mit den Seiten leichter wird, wenn Sie sich bewusst machen, dass es immer der Leser ist, der das Ding in Ihren Händen überhaupt zum Buch macht. Quelle: Bettina Stangneth – Club der Dilettanten Machen wir uns also unseren eigenen Reim auf das Ganze: Ähnlich wie Kant einst seine Zeitgenossen ermutigte, sich ihres Verstandes zu bedienen, geht es der ausgewiesenen Kant-Expertin Bettina Stangneth darum, ihre Leserschaft zu bestärken, keine Angst vor anspruchsvollen Büchern zu haben. Und sich von keinen Deutschlehrern oder Tugendwächtern vorschreiben zu lassen, was sie zu lesen hätten und was besser nicht. Am besten, so der Ratschlag der Autorin, man liest einen Text einfach so, als hätte man ihn selbst geschrieben und schaut dann, ob etwas Sinnvolles dabei herauskommt. Ein Rat, der, fürchte ich, zumindest bei einem Text von Kant rasch an seine Grenzen stoßen dürfte. Davon abgesehen stellt sich die Frage: Wer so anspruchsvolle Bücher liest wie jenes der Hamburger Philosophin – braucht der wirklich noch Ratschläge oder Ermutigungen, wie man die Welt der Bücher für sich entdeckt?…
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1 Sebastian Christ – Auschwitz-Häftling Nr. 2 4:08
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4:08Otto Küsel, ein sogenannter „Berufsverbrecher“, kam als Häftling Nr. 2 nach Auschwitz, um als Kapo andere KZ-Insassen zu beaufsichtigen und zu drangsalieren. Der Mann, der für die Einteilung von sogenannten Arbeitskommandos zuständig war, aber tat das Gegenteil dessen, was von ihm erwartet wurde. Der Berliner Autor Sebastian Christ macht das in seiner Biografie, die Küsel als unbekannten Helden porträtiert und die mit ihrem Protagonisten per Du ist, überzeugend deutlich: „In Auschwitz kümmerte er sich zunächst vor allem darum, dass Häftlinge ein Arbeitskommando bekamen, das ihren Kräften entsprach. Er sorgte dafür, dass vermutlich hunderte Polen nicht von der SS durch Arbeit vernichtet werden konnten." Privilegierte Häftlinge Die ersten 30 Kapos von Auschwitz waren fast ausschließlich sogenannte „Berufsverbrecher“, Menschen also, denen die Nazis attestierten, dass sie aus Gewinnsucht immer wieder Verbrechen begehen würden. Als Funktionshäftlinge, die gegenüber der Mehrzahl der anderen Insassen privilegiert waren, schienen sie geradezu prädestiniert dafür, das KZ-System aufrecht zu erhalten. Die ihnen zugedachte Aufgabe war es, einen Teil der Arbeit der SS-Wachmannschaften zu übernehmen und ihre weit unter ihnen stehenden Schicksalsgenossen zu terrorisieren. Viele Kapos taten dies mit brutaler Energie und sadistischem Einfallsreichtum. Otto Küsel verhielt sich anders. Aber warum? „Er hat in Ausschwitz menschliche Ideale gelebt. Und das ist tatsächlich etwas, was mich sehr fasziniert hat an seiner Geschichte. Trotz der Möglichkeit, die er hatte. Ich meine, wer als Kapo eingeteilt wurde, der hat vom System eine Chance bekommen", so Sebastian Christ. „Der gute Kapo“ Dieses Erstaunen teilt der Leser mit dem Autor. Otto Küsels Geschichte ist so beeindruckend, weil sie so außergewöhnlich und so unwahrscheinlich ist. Der Mann aus einfachen Verhältnissen, der schon 1937 ins KZ Sachsenhausen gesperrt und im Mai 1940 nach Auschwitz gebracht wurde, ist die Ausnahme von der Regel. Während andere Kapos zuweilen noch mehr gefürchtet wurden als die SS, war Küsel als „der gute Kapo“ bekannt. „Ob jemand ein Kapo war oder ob er eine andere Hilfestellung hatte oder ob er ein einfacher Häftling war, das ist alles dieses Prinzip „Teile und herrsche“ – die Leute sollten gegeneinander aufgebracht werden. Und er hat da einfach nicht mitgemacht", meint Christ. Sebastian Christ ist mehr als zwei Jahrzehnte lang den Spuren von Otto Küsel gefolgt. Er hat seine frühen Jahre als Hausierer und Bettler in den Blick genommen und Küsels Konflikte mit dem Gesetz noch während der Jahre der Weimarer Republik. „Die meiste Zeit zwischen 1929 und 1935 hat er wohl im Gefängnis verbracht“, schreibt Christ, der seine Biografie streng chronologisch aufgebaut hat. Er rekapituliert Küsels Zeit in verschiedenen Lagern und schildert die Flucht aus Auschwitz. Christ berichtet von den Monaten im Untergrund in Warschau, von der abermaligen Verhaftung und von der Rückkehr nach Auschwitz – nunmehr als „normaler“ Häftling: „Otto war der allererste Häftling meines Wissens, der nach Auschwitz zurückgekommen ist, der als der frühere Häftling erkannt wurde und der das dann überlebt hat. Dazu haben sehr viele spezielle Umstände beigetragen, aber in jedem einzelnen Moment muss er natürlich befürchtet haben, von der SS umgebracht zu werden." Otto Küsels Zeit als Kapo in Auschwitz vom Mai 1940 bis zu seiner Flucht im Dezember 1942 füllt zwar nur ein Kapitel, aber sie ist der Kern der Biografie. Es sind diese zwei Jahre, die seinen Lebensweg zu einem Besonderen machen. Wie sich sein Protagonist der unerbittlichen Logik der Lagerhierarchie entziehen konnte, das umreißt Sebastian Christ engagiert, lebendig und voller Empathie. Welche Kompromisse Küsel eingehen musste, um sich in einem perfiden System zu behaupten, das Brutalität belohnte und in dem er jederzeit seine Privilegien einbüßen konnte, das bleibt hingegen unterbelichtet.…
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1 Bücher gegen das Vergessen – zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Mit neuen Büchern von Édouard Louis, Michael Köhlmeier, Navid Kermani und Sumit Paul-Choudhry. 54:53
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54:53Dieses Mal im lesenwert Magazin Bücher zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz von József Debreczeni, Tal Bruttmann, Stefan Hördler und Christoph Kreutzmüller
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1 Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest 5:07
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5:07Kennen Sie das? Sie freuen sich wie ein Schneekönig auf Ihre nächste Reise, aber je näher der Aufbruch rückt, desto spürbarer wird ein leises Grummeln irgendwo im Körper. Ausgerechnet Navid Kermani, den die Recherchen für seine Bücher durch die halbe Welt geführt haben, scheint dieses Gefühl zu kennen. Vielleicht nicht von sich selbst, so doch hinreichend, um daraus eine komische Geschichte zu machen. Eine Geschichte für Kinder, die ebenso zum Vorlesen wie zum Mitsprechen einlädt und nicht zuletzt zum gemeinsamen Betrachten der Illustrationen des Zeichners Mehrdad Zaeri. Sie heißt „Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest“. Und das leise Grummeln im Körper sitzt im Fall des Ich-Erzählers ... genau: in der linken Hand. Einmal wollte ich durch Afrika reisen. Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest So beginnt das Buch des vielfach ausgezeichneten Romanciers und Essayisten, der zurzeit mit dem Ostafrika-Sachbuch „In die andere Richtung jetzt“ auf Lesereise ist. Worauf Augen, Ohren, Bauch und Popo sich freuen Der Erzähler freut sich, und alle Körperteile freuen sich mit, die Augen auf den Anblick des Nils, die Ohren auf Jazz in Addis Abeba, der Bauch freut sich aufs Essen, das Herz auf die Menschen, die Kehle auf die Cocktails, die Füße, die Beine, der Mund, der Kopf, auch der Popo, der sich – ausgerechnet – auf Kamelritte freut. „Nur meine linke Hand, die ... Achtung, jetzt beginnt die Geschichte ... die freute sich nicht. ,Ich will nicht nach Afrika!‘ sagte die linke Hand, gerade, als ich zum Flughafen fahren wollte. ,Jetzt komm schon, linke Hand‘ sagte ich. ,Alle wollen nach Afrika, die Augen, die Ohren, die Nase, der Mund, der Bauch, der Kopf, das Herz, der Popo, die Beine, die Kehle, die Füße, sogar die rechte Hand will nach Afrika – warum du denn nicht?‘ ,Zu Hause ist es schöner‘, sagte die linke Hand. ,Papperlapapp‘, rief ich, ,du kommst jetzt gefälligst mit!‘“ Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest Mit „Papperlapapp“ hat noch niemals jemand irgendetwas besser gemacht. So auch hier. Die grummelige Widerspenstigkeit der linken Hand, die sich an der Heizung festhält und partout nicht loslassen will, setzt eine Kaskade der Hindernisse und Scheinlösungen in Gang, inklusive Klempnereinsatz, Problemen im Taxi und am Checkin-Schalter – und jeder Menge Diskussionen von Händen, Mund, Kopf und so weiter. Wenn die Körperteile miteinander streiten Die anderen Körperteile revoltieren regelrecht gegen die aufmüpfige linke Hand, allen voran die rechte Hand, die ihre Chance wittert, sich der unliebsamen Konkurrentin zu entledigen: Ja, schneid sie ab (...) Die linke Hand wird völlig überschätzt. Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest Keine gute Idee für einen Linkshänder-Organismus, weshalb ein anderer Ausweg gefunden werden muss. Und selbstredend findet der Erzähler am Ende einen, mit dem alle zufrieden sind und der Reise durch Afrika nichts mehr im Wege steht. Spoiler: dabei spielen zwei kuschelige Handschuhe mit elektronischem Heizkissen im Futter eine wichtige Rolle. Navid Kermanis Text für dieses Bilderbuch zeigt, dass der Autor, selbst zweifacher Vater, ziemlich gut weiß, was Kinder beim Vorlesen begeistert. Litaneiartige Wiederholungen etwa, die man mitsprechen kann: „Ich zog an der linken Hand und ich ZERRTE und ich FLEHTE und ich BETTELTE und ich SCHIMPFTE und ich SCHRIE die linke Hand an, dass wir das Flugzeug verpassen würden, wenn sie nicht sofort die Taxitür losließe.“ Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest Dazu kommt ein leicht anarchischer Witz. So erinnert die Komik der Interaktion zwischen den Körperteilen an den Sketch „Der menschliche Körper“ von Otto Waalkes mit der unsterblichen Zeile „Milz an Großhirn: Soll ich mich auch ballen?“ Bekloppte Ideen für tausend oder zehntausend Euro All das sorgt dafür, dass erwachsene Vorleser sich bei Lektüre ebenfalls nicht langweilen werden, vor allem bei den leise selbstironischen Stellen: „Da hatte mein Kopf wieder eine seiner bekloppten Ideen, und mein Mund bot dem Fahrer an, die Taxitür zu kaufen, wenn der Fahrer sie schnell ausbaute, worauf der Fahrer einen irren Preis nannte, tausend oder zehntausend Euro.“ Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest Für kleine und große Selber-Leser hat das Buch auch optisch viel zu bieten. Der Illustrator Mehrdad Zaeri setzt auf Farbflächen in der Art von Gouachen, mit knalligen Kontrasten, Ton-in-Ton-Silhouetten, filigranen Details, starken Konturen. Die kubistisch-zweidimensional angelegte Figur des Ich-Erzählers mit Zwirbelbärtchen, großen Augen, flachem Kreissäge-Hütchen, rotem Jackett, grüner Hose und gelben Schuhen hat etwas von einem Torero in der Sommerfrische, aber auch vom HB-Männchen der Sechziger-Jahre-Reklame. Auf unterhaltsam-poetische Art erzählen Navid Kermani und Mehrdad Zaeri mit der rasanten Geschichte einer reiseunlustigen linken Hand zugleich von der Vorfreude auf das Neue und dem Magnetismus des Altvertrauten und davon, dass das Ganze erst in der Summe seiner Teile entsteht. Und seien es die verselbstständigten Körperteile, von denen jedes mindestens so wichtig ist wie der Kopf.…
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1 Sumit Paul-Choudhury – The Bright Side. Eine optimistische Geschichte der Menschheit 6:38
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6:38Draußen ist es dunkel, nass und kalt. Die Stimmung ist trüb und die Nachrichten sind voller Schreckensmeldungen. Und doch gibt es viele gute Gründe, heute optimistisch zu sein, findet der Wissenschaftsjournalist Sumit Paul-Choudhury. Optimismus ist eine Ressource, die man anzapfen kann, gerade wenn es hart auf hart kommt, sagt er. „Zum Optimisten wurde ich in der Nacht, als meine Frau starb. Wie schwierig es auch sein mochte, sie wollte, dass ich weiter nach vorne schaute. Ich will beileibe nicht einen Trauerfall empfehlen, um die Resettaste zu drücken, aber mir verschaffte er Gelegenheit und die Motivation, mein Leben von Grund auf zu überdenken." Optimismus steckt in unseren Genen Paul-Choudhury nimmt sich vor, die Welt besser zu machen und findet heraus: Wir alle sind viel optimistischer als wir es von uns denken. Der Optimismus ist sogar in unseren Genen angelegt. Ohne ihn hätte die Spezies Mensch im Laufe der Evolution nicht überlebt. „Optimismus schien mir die einzige Haltung zu sein, die einzunehmen sich lohnte. Wenn man mehr vom Leben erwartete, konnte man auch mehr vom Leben haben. Aber wenn ich schon Optimist sein wollte, dann wollte ich eine Art von Optimismus praktizieren, den ich guten Gewissens vertreten konnte, der mehr war als nur Glaube." Also durchsucht Paul-Choudhury Neurowissenschaften, Psychologie und Philosophie, auch die Literatur und findet erstaunliche Studien sowie beinahe unglaubliche historische Beispiele für die Macht der positiven Zukunftserwartung. Die erzählt er nun anregend in seinem Buch „The Bright Side. Eine optimistische Geschichte der Menschheit“. Solang man am Leben ist, kann man Entscheidungen treffen Da ist zum Beispiel die Legende von Ernest Shackletons Expedition. Der britische Polarforscher rettete mit Beharrlichkeit seine Crew nach 635 Tagen im ewigen Eis der Antarktis. Seine Überlebensstrategie: „Die Eigenschaft, nach der ich am meisten suche, ist vor allem Optimismus angesichts von Rückschlägen und vermeintlichen Misserfolgen. Optimismus ist wahre Zivilcourage." Dabei ging es Shackleton nicht um blindes Vertrauen, er erinnerte seine Männer: solange sie am Leben seien, könnten sie Entscheidungen treffen, ihr Schicksal in die Hand nehmen. So sah es vermutlich auch der Schriftsteller und Bürgerrechtler James Baldwin. Er antwortete in einem Interview 1963 auf die Frage, wie er die Lage der Nation sehe, nachdem wieder einmal Aufstände schwarzer Amerikaner blutig niedergeschlagen wurden: „Ich kann kein Pessimist sein, weil ich lebe. Ein Pessimist zu sein bedeutet, dass man der Meinung ist, das menschliche Leben sei eine akademische Angelegenheit. Also ich bin gezwungen, Optimist zu sein. Ich bin gezwungen, zu glauben, dass wir überleben können, was auch immer wir überleben müssen.“ Was vom Leben erwarten? Wie die Zukunft gestalten? Die Antworten liegen nicht in der Vernunft, so Paul-Choudhury, sondern in Überzeugungen und Entschlossenheit. Allerdings verändere sich die Welt so rasant, dass die Zukunft immer unvorhersehbarer geworden ist. Seit Beginn der industriellen Revolution haben wir uns an die Vorstellung gewöhnt, dass wir in einer Art von Welt aufwachsen und in einer anderen Art von Welt sterben. Quelle: Sumit Paul-Choudhury – The Bright Side Optimismus hat heute einen schlechten Ruf Da bleibt der Optimismus auf der Strecke. Noch nie scheint er einen so schlechten Ruf gehabt zu haben wie im Moment, beklagen der Autor und sein deutscher Verleger, Lars Claßen, vom Kjona Verlag: „Was ich sehr sympathisch fand, er wollte sich den Optimismus eigentlich austreiben und hat es nur nicht geschafft. Das liegt mir total nah. Ich finde, man darf auch optimistisch aus Notwehr sein.“ Noch so ein Optimist, der Lars Claßen. Veränderung beginne im Kopf, sagt er und gründete einen Verlag mit optimistischer Vision: konsequent nachhaltige Bücher produzieren und nur in Teilzeit arbeiten: „… und der Verlag ist sehr erfolgreich und damit will ich nicht sagen, wow, guck mal, wie toll wir sind, sondern ich will sagen, wenn wir Zwei sowas können, dann können alle anderen das auch.“ Claßen war so begeistert von „The Bright Side“, dass der Verlag das Buch bereits im Sommer 2021 eingekauft hat: „… als es Kjona offiziell noch gar nicht gab, also in der Planungsphase sozusagen, weil wir uns so angesprochen davon gefühlt haben, weil Sumit Paul-Choudhury ein bisschen versucht, den Optimismus vom Kopf auf die Füße zu stellen.“ Der Autor wünscht sich neue Mythen gegen die Optimusmuslücke Stimmt. Was wie ein Lebensratgeber beginnt, entwickelt sich schnell zu einer hoffnungsstiftenden Analyse. Statistisch gesehen gab es noch nie so wenig Gewalt, waren wir nie gesünder, klüger oder älter. Da erstaunt eine aktuelle Umfrage unter Europäern: Die Mehrheit blickt optimistischer in ihre eigene Zukunft als auf die ihres Landes. Zwischen Individuum und Kollektiv klafft eine Optimismuslücke. Und um die zu schließen, wünscht sich Paul-Choudhury neue Mythen. Heute wie damals stirbt eine alte Welt. Unsere Aufgabe ist es, der neuen Welt zur Geburt zu verhelfen und dafür zu sorgen, dass sie nicht von Monstern zur Welt gebracht wird. Quelle: Sumit Paul-Choudhury – The Bright Side Die Ideen und Technologien für positive Veränderungen sind eigentlich auch schon da: er nennt Geoengineering oder künstliche Intelligenz. Auch die Literatur kann helfen. Die ist meist ein Spiegelbild ihrer Zeit und reagiert auf Ereignisse – auf schlimme mit Dystopien, denkt man nur an Mary Shelleys „Frankenstein“, das sie im Jahr 1816 schrieb, nach dem größten Vulkanausbruch der Geschichte, als sich der Himmel derart verdunkelte, dass es in Europa ein Jahr ohne Sommer gab. Als das Tempo des Wandels jedoch irritierend wurde, widmeten sich die Autoren zunehmend fiktionalen Erzählungen über Reisen in die Zukunft. […] Heute scheint die krasse Dystopie zurück zu sein. Quelle: Sumit Paul-Choudhury – The Bright Side Naive Trottel überall? Nein! Das würde auch Verleger Lars Claßen unterschreiben. Doch immer mehr Autor:innen würden beginnen, neue Gesellschaftsentwürfe zu konzipieren: „Wenn man den Möglichkeitsraum im Kopf erweitert, dann erweitert man auch die Grenzen, die man überhaupt beschreiten kann, deswegen sind Optimist:innen auch resilienter und gesünder und spannenderweise auch überall auf der Welt in jeder Altersstufe.“ Wenn man ein Buch „The Bright Side“ nennt, denkt man natürlich an „Das Leben des Brian“ – der gesungene Optimismus der Gekreuzigten. Alles naive Trottel? Durchaus nicht. Sumit Paul-Choudhurys Version von Optimismus ist eine Lebenseinstellung, eine Tugend. Wenn man so will, hat er ganz im Sinne der Aufklärung einen inspirierenden Langessay vorgelegt, kompetent ins Deutsche übertragen von Andreas Wirthensohn, ganz ohne esoterisches Zuversichtsgeschwafel.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
Édouard Louis, vom Außenseiter-Teenager zum gefeierten Intellektuellen, hat bereits mehrere Bücher über seine aus dem Arbeitermilieu Nordfrankreichs stammende Familie geschrieben. Louis‘ neuestes Buch „Monique bricht aus“ handelt von seiner Mutter und ihrer Befreiung von ihrem gewalttätigen Partner. Es ist bereits das zweite Buch, das der Autor über seine Mutter schrieb. Erneutes Entkommen der Mutter aus gewaltvoller Beziehung Im ersten Band, „Die Freiheit einer Frau“, erzählt Louis darüber, wie seine Mutter nach einigen Jahren das erste Mal von einem gewalttätigen Mann entkommen kann. Der neue Band berichtet nun darüber, wie sie das zweite Mal aus einer gewaltvollen Beziehung ausbricht. Eine stark autobiografische Geschichte über sozialen Aufstieg und Selbstermächtigung.…
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Schon 1950 erschien József Debreczenis „Kaltes Krematorium“. 1944 wurde der ungarische Journalist deportiert und hat die alltägliche Hölle der Lager und die von den Nazis erzwungene Entmenschlichung der Gefangenen, präzise beschrieben. Carolin Emcke im Gespräch Die Publizistin Carolin Emcke hat das Nachwort geschrieben und erklärt im Lesenswert Gespräch, was sie an dem Buch so beeindruckt hat. Nach über 70 Jahren endlich auch auf Deutsch erhältlich - besser spät als nie.…
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1 Tal Bruttmann, Stefan Hördler, Christoph Kreutzmüller – Ein Album aus Auschwitz 7:47
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7:47Das sogenannte „Album von Auschwitz“ zeigt die Ankunft von Jüdinnen und Juden aus Ungarn im Vernichtungslager. Die Fotos haben das Bild vom Holocaust entscheidend geprägt. Doch man sollte die Aufnahmen differenziert betrachten, erklärt der Historiker Stefan Hördler im lesenswert Magazin, denn es ist der Blick der Täter auf die Opfer. Stefan Hördler im Interview SWR Kultur: Das sogenannte „Album aus Auschwitz“, das ist keine Neuerscheinung, das Album und die Fotos darin sind der Öffentlichkeit lange bekannt, aber jetzt gibt es diese Neuauflage des Wallstein Verlags. Klären wir doch erst mal die Geschichte dahinter: Was hat es mit diesem „Album aus Auschwitz“ auf sich? Hördler: Das Album hat eine extrem spannende Überlieferungsgeschichte, die wir zum einen natürlich mit der Finderin selbst, Lilly Jacob, eine Überlebende des sogenannten „Ungarn-Programms“, dieser Mordaktion, verbinden und natürlich mit den Fotografen. Vielleicht darf ich mit den beiden SS-Fotografen beginnen, denn das Album ist ja nicht heimlich entstanden und im Verborgenen, sondern dadurch, dass das Fotografieren im Konzentrationslager verboten war, brauchte es natürlich die Erlaubnis und somit auch das Einverständnis von Heinrich Himmler selbst, dem SS-Chef. Es sind zwei Männer, die fotografieren: Bernhard Walter, ein Stuckateur aus Fürth und Ernst Hofmann, ein Lehrer aus Thüringen. Beide Männer fotografieren und Bernhard Walter lässt verschiedene Fassungen anfertigen, nach der Überlieferung etwa 15, die dann an Prominenz wie Heinrich Himmler, Adolf Eichmann, der ja die Deportationen mit organisiert, Rudolf Höß, dem vormaligen Kommandanten von Auschwitz, der extra für diese Mordaktion wieder nach Auschwitz reist und viele andere mehr. Aber eine Kopie behält er privat. Bernhard Walter wird nach der Auflösung von Auschwitz in das KZ Mittelbau versetzt und er nimmt sein Album mit. Mit der Befreiung und dem überhasteten Abzug der SS lässt er es offenbar zurück und das KZ Mittelbau und auch das Hauptlager Dora wird durch die US-Amerikaner befreit. Auch Lilly Jacob, die nach Auschwitz und dann über Groß-Rosen ebenfalls nach Dora deportiert wurde, wird im April 1945 befreit und wird in eine SS-Unterkunft verlegt. Nach ihren eigenen Erinnerungen ist ihr kalt, sie sucht eine Decke, macht einen Schrank auf, findet einen Pyjama und in dem Pyjama findet sie dieses Album, macht dieses Album auf und entdeckt ihren eigenen Transport nach Auschwitz, ihre Großeltern, ihren Rabbi, macht das Album zu und nimmt es mit. Es ist am Ende Serge Klarsfeld, der Lilly Jacob ausfindig macht und sie überredet, das Album an die Gedenkstätte Yad Vashem in Israel zu geben, was 1980 passiert. Damit steht das Album einer breiteren Öffentlichkeit und vor allen Dingen auch der Wissenschaft für die Erforschung zu Verfügung und wir, also Tal Bruttmann, Christoph Kreutzmüller und ich, haben entschieden, dass es Dinge hat, die übersehen wurden. Uns war es wichtig, diesen Täterblick zu dekonstruieren und letztendlich die eigentlichen Bildfolgen zu rekonstruieren und zu erklären, was wir dort sehen. SWR Kultur: Wie haben diese Fotos, diese fast 200 Fotos des Albums, unser Bild vom Holocaust geprägt? Hördler: Das ist eine wichtige Frage, weil natürlich eine gewisse visuelle Vorstellung des Holocaust besteht und diese Fotografien, dadurch dass sie ja reproduziert wurden, über und über reproduziert wurden und oft als Illustrationen gebraucht, sind sie sozusagen zu fast schon „Ikonen“ verkommen. Es sind Fotografien, die nahezu in jedem Schulbuch, in jeder Dokumentation, in jedem Artikel, in jedem Presseartikel zur Geschichte des Holocaust abgebildet sind. Verbunden mit einem empathischen Blick, auf dem Frauen, Kinder und Männer, die für die Gaskammern selektiert werden, aber wir müssen vorsichtig sein, denn das ist der Blick der SS, das heißt, es ist nicht der Blick auf die Opfer durch die Brille der Opfer und es ist damit auch nicht der Blick der Opfer selbst, sondern es ist der Blick der Täter auf die Opfer und wir haben uns die Mühe gemacht, nahezu jeden Standpunkt des Fotografen in Auschwitz mit zu rekonstruieren. Das heißt: Wo genau stand der Fotograf und aus welcher Perspektive hat er fotografiert? Wir können feststellen, dass teilweise direkt aus den Türen der Gaskammern heraus fotografiert wurde, das ist ja die Perspektive der SS, die Perspektive der Überlegenheit. Sie wissen, was jetzt kommt: nämlich der Massenmord. Sie fotografieren die Menschen, die dann als nächstes in diese Gaskammern eintreten werden. Darum dreht sich auch einer der vielen Ansätze des Buches, nämlich genau diese Perspektive zu entschlüsseln und auch die Perspektive zurück mit in den Blick zu nehmen, bis hin zu den verschiedenen Phasen und Kapiteln in diesem Album, die alle eine bestimmt Perspektive auf Menschen haben. Eine sehr stark rassistische Perspektive, die erklärt werden muss. SWR Kultur: Herr Hördler, können Sie vielleicht dafür auch diese neuen Details, die Sie in den Fotos entdeckt habe, die Sie in dem Buch zusammengefasst haben, ein Beispiel für machen, was Ihnen besonders aufgefallen ist? Hördler: Vielleicht ist es ein Umstand, der sofort ins Auge fällt: Dass die SS versucht, diesen Ablauf sozusagen als mustergültigen Ablauf der sogenannten „Abfertigung“ eines Deportationstransportes zu sehen. Das heißt, sie fotografieren in gewissen Kapiteln die Ankunft, die sogenannte Selektion, den Weg in die Gaskammern für die einen Menschen, den Weg in das Lager und in die Registrierung für die anderen, bis hin zu den sogenannten Effekten, das heißt, auch der Raub des Eigentums wird mitfotografiert und dadurch entsteht der Eindruck, als wenn das ein Transport ist, aber letztendlich mixt die SS Dutzende Transporte in diese Inszenierung des Albums über einen längeren Zeitraum. Wir konnten feststellen, dass die ersten Fotos ja am Tag des ersten Transports entstehen und die letzten Fotos im August 1944, also deutlich später, bis hin zum letzten Umstand, dass wir einen SS-Zahnarzt auf der Rampe identifizieren konnten, Schatz heißt dieser Mann, der im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess angeklagt wurde und aus Mangeln an Beweisen freigesprochen wurde, obwohl das Album als Beweismittel im Prozess vorlag und er deutlich auf mehreren Fotos auf der Rampe zu sehen ist bei der Selektion. Das heißt, auch dieser neue Blick zeigt, dass das Thema nicht ausgeforscht ist, sondern, dass wenn wir wirklich genau hinschauen, wir auch erklären und erkennen können, wer genau da steht. Wir können wirklich bis zur einzelnen Person hineinzoomen. Das betrifft auch die Deportieren, auch die Opfer.…
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Im August 1939 begibt sich der Autor Witold Gombrowicz auf einem Transatlantikliner auf die Reise nach Buenos Aires. Die Rückfahrkarte, ausgestellt auf den 1. September, lässt er allerdings verfallen. An diesem Tag begann bekanntlich der Zweite Weltkrieg mit dem Angriff Nazideutschlands auf Polen. Gombrowicz bleibt für die nächsten 24 Jahre in Argentinien. Mit dieser autobiographischen Episode beginnt sein dritter Roman „Trans-Atlantik“, 1953 im Original und 1963 auch auf Deutsch erschienen. Der Roman „Ferdydurke“ aus dem Jahr 1938 hatte Gombrowicz bekannt gemacht, ein „Geniestreich“, wie der Übersetzer und Herausgeber Rolf Fieguth schreibt, aber eben kein einmaliger. Denn mit „Trans-Atlantik“, hochliterarisch wie der Vorgänger, habe er seinen Ruhm in der polnischen Literatur endgültig gefestigt. Rolf Fieguth: „Schlüsselroman, skandalisierende Satire, moral-humoristischer Traktat, doch zugleich und vor allem ist es das unbedingtere und auch geschlossenere Sprachkunstwerk, in welchem die artistische Fantasie, der Rausch, der Traum und die Schönheitssehnsucht inmitten aller Ekelhaftigkeit triumphieren.“ Balancieren auf verschiedenen Bedeutungsebenen Aber wie es mit solch epochemachenden, dem Realismus nicht zugeneigten Werken zuweilen ist: Sie müssen ihren Weg auch zu nachgeborenen Lesern finden. Mit der Wiederveröffentlichung der 37 Jahre alten Hanser-Ausgabe im Kampa Verlag ist ein erster Schritt getan. Allerdings sollte man nicht erwarten, dass es einem der Text selbst ganz einfach macht, denn was Fieguth als hochliterarisch bezeichnet, deutet schon hin auf den Anspielungsreichtum, die sprachspielerische Lust, das Balancieren auf verschiedenen Bedeutungsebenen. Die angesprochene moralisch-humoristische Dimension aber lässt sich leicht erkennen. Als der Titelheld, der den Namen des Autors trägt, in seinem Exil in Geldnöte gerät und seine polnischen Landsleute inklusive Minister anpumpt, ist das nicht ohne bitterernsten Witz. Gut gut, hier hast du 70 Pesos, (…).« Ich sehe also, dass er mich mit Geld abspeist; und nicht einfach mit Geld, sondern mit Kleingeld! Nach einer so schweren Beleidigung steigt mir das Blut in den Kopf, ich sage aber nichts. Ich sage erst: »Ich sehe, ich muss dem Hochwohlgeborenen Herrn sehr klein sein, denn Ihr speist mich auch mit Kleingeld ab, und sicher zählt Ihr mich unter die Zehntausend Literaten; aber ich bin nicht nur Literat, sondern auch Gombrowicz! Er fragt: »Was für ein Gombrowicz?« Ich spreche: »Gombrowicz, Gombrowicz.« Er rollt das Auge und spricht: »Wohlan, wenn du Gombrowicz bist, so hast du hier 80 Pesos (…).“ Quelle: Witold Gombrowicz – Trans-Atlantik Schelmische Naivität Das Spiel mit Paradoxien, Übertreibungen, Wiederholungen, Absurditäten und den umgangssprachlichen Plauderton, der diesen Roman prägt, kann man hier schon bemerken. Damit sollen einerseits der Gestus des mündlichen Erzählens, andererseits die primitivistischen Sprachdeformationen der historischen Avantgarden nachvollzogen werden. Auch der Rückgriff auf vormoderne Erzählungen wie den „Simplicissimus“ liegt Gombrowicz nicht fern. Das hat freilich einen höheren Zweck: Mit einer schelmischen, demaskierenden Naivität schlägt sich sein Held nicht nur mit seinen polnischen Landsleuten, sondern auch dem polnischen Nationalstolz herum, der hier satirisch verunstaltet wird. Wie Gombrowicz in einem der zahlreichen Vorworte zu seinem Buch schreibt, stellt er dem gängigen idyllischen Menschenbild sein eigenes gegenüber: Die Welt sei geprägt von Fiktion und Lüge. Von Wahrhaftigkeit keine Spur. Stattdessen sind wir konfrontiert mit der Leere des Menschen – das Wort „leer“ fällt häufig in diesem Roman. Sie steht der Tiefe entgegen, die man dem menschlichen Wesen gerne zubilligen würde. Tragisch und albern ist er stattdessen. Zum bösen Scherz oder heiteren Ernst des Buches gehört dementsprechend sein Schluss: „Da wummt das Lachen!“, heißt es auf der letzten Seite. Mit befreiendem, wummerndem Lachen endet dieser Roman einer Katastrophe, der den Autor Witold Gombrowicz auf die weltliterarische Landkarte gesetzt hat.…
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Was rettet uns in Zeiten, in denen uns eine geliebte Person abhandenkommt? Wo finden unsere Gefühle und Gedanken Resonanz? Wie finden wir in unserem eigenen Leben Halt und wohin können wir unsere Energie richten, wenn jemand plötzlich fehlt? Das sind im Grunde die Ausgangsfragen, die Sarah Sands in ihrem Igel-Tagebuch erörtert. Explizit widmet sie ihr Werk ihrem Vater und „allen, die Igel lieben“. »Komme ich wieder nach Hause?«, fragte mein Vater. Ich hatte keine klaren Antworten, keine Versprechungen. Wir unterhielten uns über den Frühling, als Metapher für Hoffnung. Und um das ehrliche Schweigen zu füllen, erzählte ich von Peggys erstaunlicher Genesung. (…) Manchmal ist es einfach leichter, über Igel zu reden. Quelle: Sarah Sands – Das Igel-Tagebuch Wie Mensch und Tier mit den Kräften haushalten. Des alten Vaters Herz ist so schwach, dass er nicht mehr den Tätigkeiten nachgehen kann und möchte, die er liebt, nicht in der Natur sein und nicht mehr lesen, und schließlich palliativ in einem Pflegeheim liegt. Quasi gleichzeitig findet die Autorin in ihrem Garten einen sehr schwachen Igel. Angesichts der Befürchtung, der Igel könnte schnell wegsterben, taufen die Erzählerin und ihr Mann ihn mit dem sprechenden Namen Horace. Sie bringen ihn auf eine Igelpflegestation, wo sich herausstellt, dass der Igel weiblich und also besser eine Peggy ist. Es geht also ums Überleben. Vom Vater und Peggy. Mit den eigenen Kräften haushalten: Damit kennt sich der Igel aus, in seinem Bett aus Blättern und voller Insekten. (…) Der Igel rollt sich zusammen, und sein Herzschlag verlangsamt sich. Seine Körpertemperatur fällt von 34 °C auf 2 °C, und er atmet kaum noch. Er fühlt sich kalt an. Ich weiß, worauf ich bei meinem Vater achten muss. Sein Puls darf nicht zu schnell hämmern, sein Blutdruck nicht zu stark absinken, (…) jede Anstrengung würde ihn umbringen. So sieht sein Gleichgewicht aus – ganz knapp zu überleben. Quelle: Sarah Sands – Das Igel-Tagebuch Der Trauerprozess Die Eng- und Parallelführung von Igel und Vater gelingt über weite Strecken des Buches gut. Man erspürt im Text die Kraft, die es braucht, um gegen das befürchtete Ende eines Lebens anzuschreiben. Und es zeigt sich, dass Literatur, Natur und Recherche helfen. Man erfährt von nachlassenden Kräften beim Vater, vom Verlust von Möglichkeiten in der Krankheit, von der Grausamkeit, der Endlichkeit ins Auge schauen zu müssen. Und gleichzeitig wird man anhand des Igelfindlings Peggy zu einer igelkundigen Leserin. Das ist wohltuend. Wenn die Erzählung dabei manchmal hin und her mäandert zwischen Literatur über Tod und Igel oder auch mal zu Vogel- und Igelstatistiken während Corona abdriftet, nimmt man das hin. Solange man im Trauerprozess um den Vater bleiben darf, den nur des Igels Rettung erleichtern kann. Leider verliert sich der Text zunehmend in viele Richtungen. Mal landen wir in der britischen Politik, mal bei Nato-Symbolen oder in der Religion, mal bei CO2-Zielen. Dann blättert man und hofft, die Autorin findet den Faden wieder, aber so recht gelingt das erst ganz am Schluss: Wenn ich meinen Vater vor meinem inneren Auge sehe, hält er ein Fernglas hoch. Er nahm die Natur in sich auf, und jetzt nimmt die Natur ihn in sich auf. (…) Ich trauere nicht mehr, sondern beobachte (…) Neben dem Teich ist ein dunkler, rundlicher Umriss zu erkennen. Ein Igel. Für den Augenblick ist mit der Welt alles in Ordnung. Quelle: Sarah Sands – Das Igel-Tagebuch Uff, denkt man da, nochmals geschafft, aber mit der Ordnung der Erzählung hätte es ein Lektor genauer nehmen können.…
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1 Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster 4:09
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4:09Karen Reyes ist wieder da. Ein Mädchen von zehn Jahren, das sein Leben im Jahr 1968 in sein Tagebuch zeichnet. Und zwar im Stil der von ihm heißgeliebten Horror-Comics, mit sich selbst als Werwolf im Mittelpunkt. Was nur zum Teil Karens blühender Fantasie geschuldet ist. Ihre Welt in einem Armenviertel Chicagos ist die der gesellschaftlich Geächteten. Für sie beginnt der Horror vor der Wohnungstür. Dan grinst immer wie verrückt, wenn er mich sieht und will etwas spielen, das er „Monsterspiel“ nennt. Manchmal spiele ich mit ihm, weil es mir leidtut, dass er so ein schweres Leben hat, und ich versuche, nicht sauer zu werden, wenn er oder sein kleiner Bruder oder seine zähnefletschende Oma dummes Zeug reden. Dans Oma: Dan, Junge, du gibst dich doch nicht mit Latinos oder Farbigen ab, oder? Quelle: Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster Horror und Realität – kaum zu unterscheiden Gewalt und Rassismus im Jahr 1968, gesehen durch die Augen eines Mädchens mit Liebe zu Kunst und Trash - dieser erzählerische Kniff hat die US-amerikanische Zeichnerin Emil Ferris in der Comic-Welt berühmt gemacht. Dass sie in Karens Bildern harten Realismus und quietschbunte Horror-Motive nahtlos ineinander übergehen lässt, wirkt auch in Teil zwei ihrer Graphic Novel „Am liebsten mag ich Monster“ konsequent. Ghouls und andere Menschenfresser, die Karen in ihrem visuellen Tagebuch porträtiert, machen ihr weniger Angst als die Brutalität um sie herum. Und sind für sie weitaus glamouröser als ihr Alltag als Außenseiterin, die entdeckt hat, dass sie Mädchen lieber mag als Jungen. Emil Ferris spinnt die Erzählfäden des ersten Comic-Bandes fort: den der Coming of Age-Geschichte, weil Karen ihre erste zarte Romanze erlebt. Die Familientragödie, weil sich ihr großer Bruder nach dem Tod der Mutter als zunehmend gewalttätig entpuppt. Und den des Krimis, weil sie immer noch den Mord an ihrer Nachbarin Anka aufklären will. So geschickt wie im ersten Teil der Graphic Novel vermag Emil Ferris die Fäden allerdings nicht zu verknüpfen. Zu gewollt wirkt Karens erste Liebe; neu eingeführte Figuren spielen für die Handlung keine Rolle. Zeichnungen zwischen groben Skizzen und fein schraffierten Porträts Trotzdem setzt auch Teil Zwei von „Am liebsten mag ich Monster“ neue Maßstäbe im Medium Comic. Denn Ferris beherrscht ihr Handwerk so souverän, dass sie seine Regeln brechen kann, ohne gekünstelt zu wirken. Sie verweigert sich der leichten Lesbarkeit, von der der Comic lebt und gestaltet jede Seite anders, mal in groben Skizzen, mal so fein schraffiert und detailverliebt wie in einem Kupferstich. Sie zeichnet berühmte Gemälde ab und manchmal sogar Karen in sie hinein, während sie im Text dazu Karen mit Hilfe der Kunst über ihr Leben reflektieren lässt. Oder sie lässt Karen Kunst zitieren, um ihre Erlebnisse im Chicago des Jahres 1968 zu schildern. Grant Park war voller Hippies. Es erinnerte mich irgendwie an ein Bild von Georgia O'Keefe. (...) Aber als die Bullen aufkreuzten, verwandelte sich der schöne Tag in ein Gemälde von Leon Golub oder Jackson Pollock. Quelle: Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster Auf der Seite zu sehen: prügelnde Polizisten, wie Golub sie malte, und Farbklekse in Blutrot, wie Pollock sie auf seinen Bildern verspritzte. Mit solchen Anspielungen auf die Realität jenseits des Comics bremst Ferris zwar den Lesefluss, öffnet dabei aber einen Reflexionsraum für das, was Karens Lebenswelt mit der ihrer Stadt und ihres Landes verknüpft. Wie sehr vor allem Gewalt die Geschichte der USA geprägt hat und wie sie bis heute fortwirkt – in Ferris‘ Graphic Novel wird es nachvollziehbar. Bei aller Gesellschaftskritik verliert sie dabei ihre Hauptfigur nicht aus den Augen. Ihre Karen Reyes mag eine ziemlich frühreife Zehnjährige sein. Doch weil sie glaubwürdig zwischen klaren Einsichten über ihr Umfeld und pubertärer Unsicherheit schwankt, folgt man ihr über 400 Seiten gern bei ihrer Entwicklung zur jungen Frau – oder wie sie es vorziehen würde, jungen Werwölfin. Ihre Geschichte macht „Am liebsten mag ich Monster“ trotz seiner Schwächen zu einem Solitär in der Comic-Welt. Ein Werk von Weltrang, wie es nur alle Jubeljahre erscheint.…
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1 Andreas Reckwitz – Verlust. Ein Grundproblem der Moderne 4:09
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4:09Der Soziologieprofessor Andreas Reckwitz hat vor allem die Gesellschaft der westlichen Moderne bis in unsere Tage im Blick. „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ lautet der Titel seiner neuesten Publikation. Die Moderne beginnt bei Reckwitz ganz klassisch mit den 30er- und 40er- Jahren des 19. Jahrhunderts. Gewaltige Technisierungsschübe und naturwissenschaftliche Errungenschaften sind prägend, ebenso das Bürgertum und ein breiter werdender Wohlstand. Fortschritt und stetiges Wachstum versprechen ein zukünftiges Paradies – was allerdings in der Hölle endet, nämlich im Ersten Weltkrieg. Das Fortschrittsnarrativ wie es insbesondere in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Technik und Lebensführung verankert worden ist, basiert auf einem einfachen Plot: Erzählt wird die Geschichte eines Prozesses der permanenten Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse. Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust Die Verlusterzählung in der Moderne und die Kunst Natürlich gibt es auch in der frühen Moderne Verlusterzählungen – etwa die Marginalisierung des Landlebens und der Agrarwirtschaft. Doch nach Reckwitz ist die Fortschrittsgläubigkeit bis zum Ersten Weltkrieg nicht zu bremsen. Das alte Paris – es ist nicht mehr (ach, die Form der Stadt / wandelt sich viel schneller als das Herz des Sterblichen) Quelle: Charles Baudelaire: Le Cygne / Der Schwan Das Gedicht „Der Schwan“ hat Charles Baudelaire in etwa um 1850 verfasst. Mit dem Bau des Boulevard Hausmann verschwindet das alte Paris. Der Dichter formuliert also klar eine existentielle Verlustangst. Andreas Reckwitz bringt zwar einige Beispiele aus der Belletristik und der Kunst, aber er nennt nicht Künstlergruppen, die jenseits allen Fortschrittsglaubens den Verlust in der Moderne klar markiert haben: Die Symbolisten, später dann die Dadaisten und Surrealisten. Die Künstler des Surrealismus versuchten sich sogar an einem Gegenmodell zum rationalen Fortschritt – nämlich indem sie das Unbewusste und den Traumbereich des Menschen erforschten. Verlustverdrängung versus Verlustpotenzierung Von unschätzbarem Wert ist bei Reckwitz die genaue und breitgefächerte Darstellung der Verlusterfahrungen in der Moderne. Dabei kommt es auch zu Formen der Verlustverdrängung: Das so genannte Wirtschaftswunder nach 1945, das bis in die 1970er Jahre reicht. Oder die 1990er Jahre, in denen man mit dem Zerfall kommunistischer Staaten eine Art kapitalistisch organisierten Weltfrieden zu erkennen meinte. Das Fazit von Reckwitz lautet: Im Arrangement der modernen Gesellschaft ergibt sich eine prekäre Balance zwischen Fortschrittsorientierung, Verlustreduktion, Verlustpotenzierung, Verlustvisibilisierung und Verlustbearbeitung. Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust Und genau diese „prekäre Balance“ von Verlusterkennung und Verlustvergessenheit ist nach Reckwitz entscheidend, um die „Spätmoderne“, also unsere Zeit zu begreifen. Denn die positive Fortschrittserzählung kommt an ein klares Ende. Dass die katastrophische Zukunft eintreten kann, wird im spätmodernen Zeitregime zur neuen Gewissheit. Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust Die vermeintliche Katastrophe und die „Reparatur der Moderne“ Diese negative Gewissheit äußert sich in drei Hauptsegmenten: Technikskepsis, Ökonomieskepsis, Staatsskepsis. Wie aber aus dem Sumpf der Skepsis wieder herauskommen? Andreas Reckwitz bietet drei Szenarien an: Erstens, wir machen weiter so wie bisher – wird schon gut gehen! Zweitens, die Moderne endet in der Katastrophe. Und drittens? Reckwitz nennt es die „Reparatur der Moderne“. Dabei richten wir unser zukunftsorientiertes Tun auf die Reduktion und Vermeidung von Verlusten. Wer allerdings die „Ingenieure“ dieses dritten Wegs sein sollen, sagt Reckwitz nicht. Denn sein Buch „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ sollten alle die lesen, denen die Zukunft etwas wert ist und die nicht in einer Verlustphobie erstarren wollen.…
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1 Thomas Brasch – Du musst gegen den Wind laufen 4:22
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4:22„Die Spaltung, glaube ich, ist sicher meine Obsession.“ So Thomas Brasch. Und Spaltung bestimmt sein Leben: er gehört nirgends ganz dazu, er ist jüdischer Herkunft, er fliegt früh von der Universität, an der er Journalistik studiert, wegen existentialistischer Anschauungen, er kommt auf die Filmhochschule Potsdam, und landet im Gefängnis, weil er gegen den Einmarsch der Sowjets in Prag protestiert, er muss als Fräser arbeiten und ist doch immer Dichter. 1976 verlässt er das eine Deutschland, um ins andere überzusiedeln. Wieder also Spaltung. Spaltung im Kleinen und im Großen. Und sein berühmtestes Gedicht handelt von nichts anderem. Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber Wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin: Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin. Quelle: Thomas Brasch Ein Gedicht, das nie zur Ruhe kommt Alles dreht sich um das Wort „aber“. Ein „aber“ und noch ein „Aber“ und noch ein „Aber“. Ein Gedicht, das nie zur Ruhe kommt, wie auch sein Autor nicht. Viele Gedichte von Brasch klingen oft ganz einfach, zugänglich, fast liedhaft, immer auch mit dem Mut zum linken Kitsch, doch seine Reime sind kein ruhiger Hafen, seine lyrischen Texte eher getriebene, kleine poetische Maschinen, die atemlos vorwärtsstreben, ohne zu wissen, wo sie ankommen. Da schreibt einer gehetzt um sein Leben, weil nur durchs Schreiben Erfahrungen vollständig werden können. Was nicht beschrieben ist, ist nicht. Oder anders: ich schreibe, also bin ich. Es hatte ganz simple Gründe, Ehrgeiz und auch das Bedürfnis, Dinge anders auszudrücken, (…) Dinge zu beschreiben, die man nicht leben kann, Dinge nochmals zu erfahren, indem man sie beschreibt als eine Gegenwehr, als ein Bedürfnis, sie nicht zu vergessen, indem man sie nochmals lebt, beschreibbar. Quelle: Thomas Brasch Keine Erzählungen, sondern Montageroman 1977 erschienen Erzählungen unter dem schlagenden Titel „Vor den Vätern sterben die Söhne.“ Aber sie durften nur im Westen publiziert werden. Sie eröffnen den neuen Band mit gesammelter Prosa, den der Suhrkamp Verlag zum 80. Geburtstag gerade herausgegeben hat. Bei ihrem Erscheinen waren sie eine Sensation, eine knappe, dichte Literatur um rebellische Jugend und erschöpfte Arbeiter, fast grob gefügt, wenn man so will: geschweißt, ohne dass die Nähte verdeckt würden. Brasch selbst nannte seine Prosa darum im Interview gerade nicht Erzählungen, sondern einen Montageroman. Aber gleichzeitig wurde Brasch zu dem, was er nie sein wollte, der Stardissident in Westdeutschland, geliebt von der konservativen Presse. Denn letztlich blieb sein „Meinland“ die DDR, und wenn schon Feind, dann der eigene, und nicht der fremde Feind im „Ausland“ BRD. Gefährdet durch das eigene Leben Irgendwann verlor die Öffentlichkeit das Interesse an ihm. Und er an der Öffentlichkeit? Er schrieb für die Schublade, ohne Kraft zur Ordnung, tausende Seiten über seine Idee fixe, den Mädchenmörder Brunke, die immer noch unveröffentlicht im Nachlass liegen. Was hat ihn an dem interessiert? Das radikale Außenseitertum? Die inszenierten Selbstmorde, die eben doch Morde waren? Oder einfach: Dass dieses Mädchenmörderleben um 1900 ein ganz anderes war, so dass man es nicht hätte auf seine Biographie herunterbrechen können. Also der Brasch hat im Gefängnis gesessen, also muss er gelitten haben, also muss seine Literatur Leidensdruck haben, so eindimensional, und außerdem noch dilettantisch. Quelle: Thomas Brasch Denn das ist die eigentliche Tragik des Künstlers Thomas Brasch. Er war immer gefährdet durch sein eigenes Leben, sein Image: gutaussehend, cool, Frauenheld, Dichter, Filmemacher, Rebell, Dissident. Oder wie er einmal bitter bemerkte: „Biographie war wichtiger als ein Stück, Gedicht oder Film.“ Vielleicht ist sogar etwas Wahres dran: Dass sein Leben den besten Roman schrieb.…
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1 Neues Jahr, neue Bücher: Diese Neuerscheinungen erwarten wir 2025 12:18
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12:18Das literarische Jahr 2025 hat gerade erst begonnen, trotzdem sind wir schon in bedächtiger Gedenkstimmung. Schließlich stehen auch in diesem Jahr einige wichtige Literaturtermine, Gedenktage und Jubiläen an. Wir feiern nicht nur das große Thomas-Mann-Jahr , erinnern uns am 19. Februar zu Thomas Braschs 80. Geburtstag an das Werk des Dichters oder gedenken der Berliner Großstadtlyrikerin Mascha Kaléko an ihrem 50. Todestag ... Nein, wir müssen 2025 einige Daten im Blick behalten. Dabei hilft der Reclam Verlag. Im „lesenswert Magazin" empfiehlt Nina Wolf ein Büchlein, das einen Überblick über alle wichtigen Literaturtermine bietet. Diese Neuerscheinungen erwarten wir Trotzdem lohnt sich nicht nur der Blick zurück, denn auch die Gegenwartsliteratur hat schon im jungen Jahr Bücher zu bieten, die mit höchstem Lob der Kritik bedacht werden. Etwa der neue Roman des österreichischen Schriftstellers Wolf Haas. „Wackelkontakt“ heißt das Buch , in dem es um den Trauerredner Franz Escher geht, der auf einen Elektriker wartet und dabei ein Buch liest über den Mafia-Kronzeugen Elio Russo, der im Gefängnis sitzt und sich die Zeit vertreibt, indem er ein Buch liest, das wiederum von Franz Escher handelt, der auf einen Elektriker wartet, weil seine Steckdose in der Küche einen Wackelkontakt hat. Haben wir damit schon einen Anwärter auf die kommenden Literaturpreise? Eine Gelegenheit um zu spekulieren: Welche Themen und welche Bücher erwarten uns in den kommenden Monaten? Science-Fiction von Christian Kracht Die Verlagsprogramme versprechen schon zu Jahresbeginn einige Titel, auf die wir gespannt warten können. Ein Beispiel, so SWR Kultur Literaturredakteurin Nina Wolf, im Gespräch: ein neuer Roman aus der Feder Christian Krachts . „Air" wird er heißen und der Autor geht mit einer Science-Fiction-Geschichte neue Genre-Wege. Neuer Roman der Deutschen Buchpreisträgerin In jedem Jahr bewegen sie auch die Literaturwelt: die Debatten. Ein Buch, das sich literarisch mit Debattenkultur, medialen Diskursen und „den Erregungsdynamiken, die sich, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr steuern lassen" auseinandersetzen will, kommt von der Deutschen Buchpreisträgerin Antje Rávik Strubel . Wieder ein Weltbestseller? Zehn Jahre sind seit Chimamanda Ngozi Adichies Weltbestseller „Americanah" mittlerweile vergangen. Es war der dritte Roman der 1977 in Nigeria geborenen Autorin, die heute in Lagos und in den USA lebt. Adichie gilt als feministische Ikone und es scheint, als würde sie auch in ihrem neuen Roman „Dream Count" ihren vertrauten Themen treu bleiben. Der Roman wird weltweit zeitgleich am 4. März erscheinen. Das Debüt einer Musikerin Sophie Hunger ist Musikerin , die Schweizerin Texte der Schweizerin überzeugen durch ihre lyrische Qualität. Ob auch ihr Debütroman sich durch dieses Können auszeichnet, wird sich zeigen. Angekündigt ist eine tragikomische Coming-Of-Age Geschichte über eine innige Freundschaft.…
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1 Claudie Hunzinger – Ein Hund an meiner Tafel 10:21
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10:21Die französische Schriftstellerin und bildende Künstlerin Claudie Hunzinger wurde 1940 im Elsass geboren; im April wird sie also 85 Jahre alt. Seit den 1970er-Jahren publiziert Hunzinger Romane und Erzählungen. Ihren größten Erfolg feierte sie allerdings in ihrem Heimatland erst im Jahr 2022: Der Roman „Ein Hund an meiner Tafel“ wurde nicht nur mit dem „Prix Femina“ ausgezeichnet, einem Literaturpreis, der von einer ausschließlich weiblich besetzten Jury vergeben wird. Das Buch wurde in Frankreich auch zu einem Bestseller. Auf den Hund gekommen Nun ist „Ein Hund an meiner Tafel“ in der Übersetzung von Timea Tankó auch auf Deutsch erschienen. Christoph Schröder hat den Roman gelesen. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein altes Paar: Sophie und Grieg. Eines Abends steht eine Hündin vor der Tür ihres Hauses in den Vogesen.…
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1 Literatur für unruhige Zeiten: Mit Büchern von Samantha Harvey, Claudine Hunzinger und einem Ausblick auf das Literaturjahr 2025 54:59
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54:59Dieses Mal im lesenwert Magazin: Preisgekrönte Romane aus Frankreich und England, wichtige Neuerscheinungen 2025 und ein History-Thriller als Hörbuch.
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Vier Männer und zwei Frauen leben zusammen an einem Ort außerhalb unserer Erde. Trotzdem tun sie erstmal, was die meisten von uns den Tag über tun: Essen, schlafen, arbeiten. Die sechs Astronauten haben feste Routinen, genaue Arbeitspläne und einen streng geregelten Schlaf- und Essensplan. Obwohl diese Abläufe an Alltägliches erinnern, so ist auf der Raumstation im All doch nichts alltäglich. Ein Tag bezeichnet bei uns auf der Erde die Dauer, die der Planet braucht, um einmal um sich selbst zu kreisen. Die Bewohner des Raumschiffs umkreisen die Erde in dieser Zeit rund 16 mal. Ein neuer Tag. Aber einer, der fünf Kontinente mit sich bringt, Herbst und Frühling, Gletscher und Wüsten, Wildnis und Kriegsgebiete. Während sie die Erde umrunden, durch Anhäufungen von Licht und Dunkelheit reisen, sich der verwirrenden Arithmetik von Schubkraft und Fluglage, der Geschwindigkeit und den Sensoren hingeben, ertönt alle neunzig Minuten der Peitschenknall eines neuen Morgens. Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen Klarkommen in der ungewohnten Sphäre Die Normalität wie wir sie hier auf der Erde kennen, wird also lediglich simuliert – auch, damit Körper und Psyche der sechs Crewmitglieder überhaupt eine Chance haben, in der ungewohnten Sphäre zurecht zu kommen. Nicht nur das Erleben des veränderten Tag-Nacht-Rhythmus, auch die Abwesenheit der Schwerkraft, das ständige Schweben, bewirkt bei den sechs Protagonisten ein vollkommen neues Körpergefühl, mit dem mehr als nur lästige Kopfschmerzen und wiederholte Übelkeit einhergehen. Auch das Denken nimmt neue Formen an und spinnt mitunter spannende Überlegungen. Oft weiß sie nicht, was sie Familie und Freunden zuhause erzählen soll, hat sie festgestellt, die kleinen Dinge sind zu banal, der Rest zu überwältigend, dazwischen scheint es nichts zu geben. (…) Sie denken viel darüber nach, wie es möglich sein kann, so schnell zu reisen und doch nirgendwo anzukommen. Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen Erzählung verliert sich in ausschweifenden Sinnbildern Wie sich diese spezielle Reise, dieses Leben abseits der Erde anfühlt, das versucht der Roman von Samantha Harvey einzufangen. Er beschreibt die herausfordernden Konditionen für die Crew und befremdende Umstände wie das Wiederaufbereiten von Urin zu Trinkwasser. Es geht um das Leben abseits von Komfort, Heimat und Familie. Allerdings kratzt die Autorin beim Beschreiben der Protagonisten lediglich an der Oberfläche dessen, was diese Menschen tatsächlich ausmacht und die Gedanken des einen könnten genauso auch die eines anderen sein. Hier und dort werden Einblicke in die Lebensgeschichte von Roman oder die Kindheitserinnerungen von Chie gegeben, aber statt nah an die Figuren heranzutreten, verliert sich die Erzählstimme in ausschweifenden Sinnbildern. Ihr Herz und Pietros schlagen als einzige im All, zwischen der Erdatmosphäre und so weit hinter dem Sonnensystem wie man es sich nur vorstellen kann. Ihre beiden Herzschläge eilen friedlich durch den Weltraum, befinden sich nie zwei Mal am selben Ort. Werden nie an denselben Ort zurückkehren. Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen Redundantes Umschreiben von Landschaft und Eindrücken „Umlaufbahnen“ wurde mit dem Booker Prize 2024 ausgezeichnet, die Jury lobte die „Sprache der Lyrik und Schärfe“. Der poetische Klang ist in jedem Fall präsent, die Schärfe beim Erzählen von inneren Zuständen und in den Dialogen zwischen den Figuren, ist dagegen eher selten zu erkennen. Dafür schweift die Autorin zu oft ins Universelle ab. Die menschenlose Klarheit von Land und Meer. Die Art, wie der Planet zu atmen scheint, ein ganz eigenes Lebewesen. Die Perfektion der Welt, ihre gleichgültigen Drehungen im gleichgültigen Raum, die alles Sprachliche transzendieren. Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen Das Buch setzt ganz auf ein redundantes Umschreiben von Bildern und Zuständen. Dass dabei die Figuren so sehr in den Hintergrund treten, ist schade, denn damit verstärkt sich von Satz zu Satz der Eindruck, den sprachlichen Ambitionen der Autorin folgen zu müssen, statt glaubhaft in das Erleben der sechs Protagonisten einzutauchen.…
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1 Antonio Scurati – M. Das Buch des Krieges 4:09
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4:09Das erste Buch seiner Reihe, „M. Der Sohn des Jahrhunderts“, bezeichnete Antonio Scurati als „dokumentarischen Roman“: Alles darin, jede Figur, jeder Dialog sei durch Dokumente belegt, schrieb der Schriftsteller in einer Vorbemerkung. Das gilt auch für seine folgenden Mussolini-Romane. Was sie von Geschichtsbüchern definitiv unterscheidet, ist zum einen das gehobene Stilregister von Scuratis Prosa, zum anderen die Kunstfertigkeit des Autors, die psychologische Entwicklung der handelnden Figuren nachzuzeichnen. Er versetzt uns – teils auch durch wortgetreu zitierte Zeitzeugnisse – in deren Gedankenwelt. Protagonisten von Scuratis M-Bücher sind größtenteils Faschisten, denen in „M. Das Buch des Krieges“ sich Nazis hinzugesellen. Erschütternde Zeitzeugnisse Bei den ersten Wagen hat mir etwas die Hand gezittert, als ich geschossen habe, aber man gewöhnt sich an das. Beim zehnten Wagen zielte ich schon ruhig und schoss sicher auf die vielen Frauen, Kinder und Säuglinge. Der Tod, den wir ihnen gaben, war ein schöner, kurzer Tod, gemessen an den höllischen Qualen von Tausenden und Abertausenden in den Kerkern der GPU. Säuglinge flogen in großem Bogen durch die Luft, und wir knallten sie schon im Fliegen ab, bevor sie in die Grube und ins Wasser flogen. Quelle: Antonio Scurati – M. Das Buch des Krieges Ein Auszug aus dem Brief eines Polizeisekretärs aus Wien, der 1941 aus dem Russlandfeldzug an seine Frau schreibt. Es sind nicht die einzigen schaurigen Zeilen im „Buch des Krieges“. Es geht um den Zweiten Weltkrieg, an dem Italien zunächst als Verbündeter Nazi-Deutschlands teilnahm. Das Buch umspannt den Zeitraum zwischen dem 28. Juni 1940, dem achtzehnten Tag der italienischen Kriegsbeteiligung, und dem 25. Juli 1943 – dem Tag, an dem Benito Mussolini vom Großrat des Faschismus abgesetzt und auf Königsbefehl verhaftet wurde. Denn der Diktator weigerte sich weiterhin, das militärische Debakel zur Kenntnis zu nehmen. Alles nur, um Hitler zu imponieren Dabei war der Krieg für Italien von Anfang an verloren. Militärs und Parteikader – alle wussten, dass Italiens Waffenarsenal heillos veraltet und das Land keineswegs „kriegstüchtig“ war. Aber dem Duce war der Eintritt in den Krieg nicht auszureden gewesen. Anfangs spekulierte er darauf, Deutschland würde den Krieg im Nu gewinnen, und Italien könnte sich mit ein paar Tausend toter Soldaten ein Stück der Kriegsbeute erkaufen. Später trieb sein verändertes Verhältnis zu Hitler Mussolini dazu, suizidale Militäraktionen zu befehlen. War der Duce der Italiener einst des Führers Vorbild gewesen, wurde er durch die militärische Übermacht Deutschlands zu seinem Trabant. Angst vor Blamage und gedemütigter Größenwahn bestimmten demnach sein Handeln. Dass die Italiener ihren deutschen Kameraden ebenbürtig sein und seine Faschisten mit den Nazi-Verbündeten Schritt halten mögen: Das ist an diesem Septemberende Benito Mussolinis höchstes Streben. Doch zu seinem großen Kummer bringen sie es nicht fertig. Deshalb geschieht es immer häufiger, dass die Mitarbeiter des Duce seine anti-italienischen Wutausbrüche ertragen müssen. Quelle: Antonio Scurati – M. Das Buch des Krieges Italiener als Kanonenfutter Der italienische Waffengang wurde, wie vorgesehen, eine Endlosschleife von Niederlagen und sinnlosen Gemetzeln. Zu Hunderttausenden wurden schlecht ausgerüstete und nicht mal angemessen gekleidete junge Männer in den sicheren Tod geschickt. Eine angekündigte Tragödie. In der Tat ähnelt Antonio Scuratis „M. Buch des Krieges“ einem antiken Trauerspiel: Es beschreibt den Sinkflug eines Herrschers, dessen Hybris ihn und sein Land in den Abgrund stürzt – und mitschuldig werden lässt am größten Blutbad des 20. Jahrhunderts. Mehr als 68 Millionen Menschen starben im Zweiten Weltkrieg.…
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1 Johannes Franzen – Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten 4:09
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4:09Eigentlich ist es eine Binsenweisheit: Über Geschmack lässt sich nicht streiten, das wussten schon die Römer. Warum tun wir es dann aber trotzdem, oft sogar mit größter Leidenschaft? Klar, wir tun es nicht, wenn es um unsere Lieblingsmarmelade geht. Aber bei der Frage nach unserem Lieblingsautor, unserer Lieblingsmusik oder -serie? Da sieht die Sache schon anders aus. Für den Literaturkritiker Johannes Franzen ist das kein Zufall. Denn Urteile in Sachen Ästhetik besitzen ein spezielles Konfliktpotenzial: Bei ihnen geht es um viel mehr als nur um Kunst, es geht immer auch um uns selbst. Schließlich ist das, was wir am liebsten lesen, hören oder anschauen – das, wofür wir Zeit, Geld und Emotionen investiert haben –, Teil unserer Identität. Entsprechend groß sei das Verletzungspotenzial einschlägiger Äußerungen, so Franzen. Wer die Kunst angreift, die wir lieben, der attackiert den Kern dessen, was wir sind. Quelle: Johannes Franzen – Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten „Trotzrezeption“ Unter dem schönen Titel „Wut und Wertung“ untersucht Johannes Franzen die starken Emotionen, die wir im Umgang mit Kunst entwickeln. Sein spannendes Buch ist voller überraschender Beobachtungen wie die: Es wurde noch nie so viel über Kunst gestritten wie in unserer Zeit. Jedenfalls wenn man, wie Franzen, von einem sehr weiten Kunstbegriff ausgeht, der keinen Unterschied macht zwischen dem, was uns in Museen, im Fernsehen oder im Internet begegnet. Dann sieht man nämlich: Die Reaktionen von Rezipienten, die sich verletzt oder angegriffen fühlen, sind oft erstaunlich ähnlich. Egal ob es um ein Eugen Gomringer-Gedicht an der Fassade einer Berliner Hochschule geht, um Karl Mays Winnetou-Romane oder den umstrittenen Partyschlager „Leyla“. So kommt es regelmäßig zum Phänomen einer „Trotzrezeption“; schließlich will man sich seine Kunst von niemandem wegnehmen lassen. Oder es kommt sogar zu einer „agonalen Rezeption“, bei der man versucht, der Gegenseite seine Kunst quasi aufzuzwingen. Gomringers Gedicht zum Beispiel wurde zwar von besagter Hochschulwand entfernt, von empörten Gomringer-Liebhabern aber nur ein paar Häuser weiter an einer anderen Fassade angebracht. Konflikte über Kunst und Kultur sind eminent politisch – ein ständiger Schauplatz gesellschaftlicher Konflikte darüber, was gesagt und gezeigt werden darf. Quelle: Johannes Franzen – Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten Neue Macht des Publikums Warum derartige Konflikte heute immer häufiger auftreten, kann Franzen gut erklären. Es liegt vor allem an der Digitalisierung, die dafür sorgt, dass wir ständig mit den Meinungen und Urteilen anderer oder auch Details aus dem realen Leben von Künstlern konfrontiert werden. Und dass zugleich die Meinung des Publikums eine viel höhere Sichtbarkeit und auch Macht gewonnen hat, gerade im Verhältnis zur professionellen Kritik. Franzen erinnert an den Fall eines Musikrezensenten, der es wagte, die Musik von Taylor Swift einmal nicht in den höchsten Tönen zu loben und prompt einen Shitstorm ihrer Fans erntete, bis hin zu Morddrohungen. Toxisches Beziehungsgeflecht Für Kritiker wie Künstler scheinen derartige Erfahrungen kollektiver Ablehnung inzwischen leider zum normalen Berufsrisiko geworden zu sein. Das größere Problem, so Franzen, seien aber jene Künstler, die den Fans die Freude an den geliebten Werken verderben, und zwar durch das, was sie in ihrem realen Leben angeblich oder auch tatsächlich getan oder geäußert haben. Das betrifft die Musik von Michael Jackson oder Rammstein genauso wie die Filme von Woody Allen oder die Romane J. K. Rowlings. Unterstützt man den Künstler nicht, wenn man weiterhin seine Werke rezipiert? Wie rechtfertigt man sich gegenüber denen, die von einem erwarten, dass man sich von dem betreffenden Künstler von nun an distanziert? Ob so oder so, eines sei in jedem Fall klar, betont Franzen: Wir streiten nur über das, was uns wirklich wichtig ist. Und das ist uns die Kunst heute offenkundig mehr denn je. Wie schön.…
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Philadelphia im Jahr 1985: Der 11-jährige Toussaint und seine Mutter Ava sind am Tiefpunkt ihres bisherigen Lebens. Avas Mann hat sie aus dem gemeinsamen Haus geworfen, ohne Freunde und ohne Geld bleibt ihnen nur eine Obdachlosenunterkunft. Eine schäbige Bleibe, voller Kakerlaken, schlechtem Essen, missgünstiger Frauen. Ava weigert sich zwar, sich mit dieser Situation abzufinden. Aber sie ist müde vom steten Überlebenskampf. Diesem Leben von Ava und Toussaint im Norden der USA stellt Ayana Mathis in „Am Flussufer ein Feuer“ in alternierenden Kapiteln den Kampf von Avas Mutter Dutchess in Alabama gegenüber. Sie lebt in dem fiktiven Ort Bonaparte, der historischen Siedlungen wie Freetown nachgebildet ist. Seit Jahrzehnten leben dort Schwarze auf eigenem Land, selbstbestimmt und frei. Und genauso lange wird dieser Ort von Weißen bedroht. Mit Hass und Gewalt. Nun hat es ein von Weißen geführtes Unternehmen auf das Land der Menschen abgesehen. Aber Dutchess ist wie ihre Tochter Ava nicht bereit aufzugeben. Preis der Selbstbestimmung Philadelphia und Alabama, Ava und Dutchess, zwei Orte, zwei Figuren voller Gegensätzlichkeiten und Gemeinsamkeiten im Kampf um ein selbstbestimmtes Leben. Ava ist in Bonaparte aufgewachsen – einer Welt, in der Schwarze frei leben konnten. Im Norden erfährt sie Rassismus und Demütigung, doch der Anspruch, ein Leben zu führen, in dem sie frei sein kann, steckt tief in ihr. Sie ist eine hochinteressante komplexe Figur, die fast in einer eigenen Realität lebt. Sie glaubt, sei eine gute Mutter – tatsächlich ist Toussaint einsam und verloren. Sie hält sich für unpolitisch, Außer dass schon ihre Annahme, dass Schwarze Menschen frei sind und selbstbestimmt handeln, in den USA eine politische Aussage ist. Quelle: Ayana Mathis Hoffnungslosigkeit der 1980er Jahre Avas und Toussaints Leben ändert sich erst, als Ava Toussaints Vater wiedertrifft: den charismatischen Arzt Cass. Einst ein Black Panther, ist er desillusioniert über die politische Gegenwart. Er gründet eine Gruppe namens Arc, die auf Autonomie, Selbstbestimmung und Gewalt setzt. Mich interessiert wie jemand ein politischer Mensch wie Cass, der zielstrebig und hoffnungsvoll war, mit dem Scheitern dieser Bewegungen umgegangen ist. Wir haben so viel getan, viele von uns wurden getötet, eingesperrt. Und im Jahr 1985 gibt es Crack. Es gibt AIDS. Es gibt keine Sozialprogramme. Ronald Reagan ist Präsident. Quelle: Ayana Mathis Aus Utopien Hoffnung schöpfen Ayana Mathis verknüpft ihre historisch-politische Analyse geschickt mit den persönlichen Kämpfen der facettenreichen Figuren. Überall finden sich historische Referenzen – allein Toussaints Name verweist schon auf Toussaint Louverture, den prominentesten Anführer der haitianischen Revolution. Auch setzt sie dem Rassismus, dem Neoliberalismus und den Demütigungen in den 1980er Jahren mit Arc und Bonaparte zwei radikale Utopien entgegen, die auf historischen Vorbildern basieren. Eine Utopie erinnert uns daran, dass es eine andere Möglichkeit gibt: Die Dinge waren nicht immer so, wie es uns erzählt wurden – und sie müssen so auch nicht immer bleiben. Es gibt Alternativen – nicht einfach nur Fantasien oder Träume – sondern Orte, die tatsächlich existiert haben. Egal, wie es mit ihnen ausgegangen ist. Quelle: Ayana Mathis Beide Utopien sind gescheitert. Aber dieser vielschichtige, kluge Roman erinnert daran, dass man den Kampf für eine bessere, eine gerechtere Welt fortführen sollte.…
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1 Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez 4:09
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4:09Nach Cuba und Nicaragua ist Venezuela ein weiteres trauriges Beispiel dafür, wie ein Hoffnungsmodell durch die Egozentrik von Einzelpersonen und die Korruption einer kleinen Machtelite zugrunde gerichtet wird. Zwar sind die Ursachen und äußeren Einwirkungen sehr verschieden, aber Grundmuster und Resultat sind in den drei Fällen die gleichen. Das lässt sich aus der hervorragenden Studie von Tobias Lambert folgern. Er hat sich darin – aus seiner linken Sicht – die Aufgabe gestellt, die Utopie des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ von Hugo Chávez ohne die üblichen Vorurteile und Scheuklappen ausführlich zu beschreiben. Das heißt, ihn ernst zu nehmen und seine sozialen Leistungen für jenen Teil der Bevölkerung herauszuarbeiten, der von den meisten venezolanischen Regierungen vernachlässigt wurde. Er zeigt jedoch auch dessen Schwächen und Grenzen. Die Vorgeschichte der Vision von Hugo Chávez Ein großer Gewinn dieses Buches besteht darin, dass Tobias Lambert sein zentrales Thema, den „Chavismus“, in den historischen Kontext einordnet: in die häufigen Wechsel von schwachen demokratischen Regierungen; die Zweiparteien-Herrschaft von Christ- und Sozialdemokraten, die vor allem der Mittel- und Oberschicht zugute kam; die Aufstände der Menschen aus den ärmeren Vierteln, die ihr Recht an der Ölbonanza einforderten; und die Wahl von Hugo Chávez 1999 zum Präsidenten. Dieser vereinte und kombinierte verschiedene Strömungen der venezolanischen Linken und integrierte revolutionäre, progressive und auch konservative sowie autoritäre Elemente. Quelle: Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez Eine charismatische Führungsperson Die divergierenden Richtungen wurden lange Zeit durch sein Charisma und die anfänglichen positiven Resultate seiner Politik zusammengehalten. Als jedoch sein Modell des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ökonomisch und politisch immer mehr unter Druck geriet, reagierte auch er mit autoritären und sogar repressiven Praktiken. Lambert zeigt weiter, wie sehr dieses anspruchsvolle Projekt vom Schicksal der Einzelpersönlichkeit Chávez abhing und wie es nach dessen frühem Tod durch den von ihm selbst erwählten Nachfolger Nicolás Maduro zugrunde gerichtet wurde. Die Abhängigkeit von der Entwicklung des Erdölpreises Ein wichtiges Thema des Buches ist die völlige Abhängigkeit des Landes von der Entwicklung des Ölpreises. Sie sorgte für Reichtum und Wohlstand, aber auch für immer wiederkehrende wirtschaftliche Einbrüche. Ein erschreckendes Beispiel für die Ineffizienz staatlicher Wirtschaftspolitik führt Tobias Lambert an. Im Mai 2010 wurde entdeckt, dass über 1.000 Container mit mehr als 130.000 Tonnen Lebensmittel im Hafen von Puerto Cabello vor sich hin rotteten. Die betroffenen Importe waren über den staatlichen Lebensmittelkonzern PDVAL mit bewilligten US-Dollar zum Präferenzpreis abgewickelt, aber niemals ins Land gebracht worden. Quelle: Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez Die Rolle der Opposition Ausführlich analysiert der Autor die Rolle der Opposition und ihren Kampf um die Macht. Sie wird oft in den Medien als rechtsextrem verteufelt, aber von Lambert als die konservative, allerdings auch schwache Alternative dargestellt. Sie war zwar an Putschversuchen beteiligt, ihr wurde jedoch vor allem in der Regierungszeit Maduros der demokratische Weg schwer gemacht. Denn dieser hat allmählich die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung weitgehend außer Kraft gesetzt. Und so konnte er sich bei den Präsidentschaftswahlen 2024 zum Wahlsieger erklären, ohne einen Nachweis dafür vorzulegen. Tobias Lambert entwirft eine „düstere Perspektive“: Maduro hat die chavistische Utopie durch ein diktatorisches, auf Klientilismus, Korruption und Militär gestütztes Machtsystem ersetzt, an das er sich eisern klammert, denn es ist seine einzige Option. Wer sich heute mit Venezuela beschäftigen will, kommt an dieser vorzüglichen, erkenntnisreichen Publikation nicht vorbei.…
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Der Pappschuber, der normalerweise die Bände der Anderen Bibliothek schützt, ist im Fall meiner Ausgabe von Christoph Ransmayrs Roman „Die letzte Welt“ nicht mehr auffindbar. Das spricht dafür, dass ich diesen Band, den 44. der Reihe, tatsächlich gelesen und nicht bloß als bibliophiles Schmuckstück ins Regal gestellt habe. Zudem bin ich ganz sicher, „Die letzte Welt“ irgendwo gebraucht gekauft zu haben, denn 1988, im Erscheinungsjahr, war ich vierzehn Jahre alt und gewiss noch kein Ransmayr-Leser. Auch die Debatte um diesen Roman habe ich erst später nachgelesen: Hat Hans Magnus Enzensberger, der Herausgeber der Anderen Bibliothek, mit Hilfe seiner Beziehungen im Literaturbetrieb einen Autor und sein Buch großgemacht? Oder ist der Österreicher Ransmayr tatsächlich ein Schriftsteller von hohem Rang? Heute wissen wir: Letzteres ist der Fall. Ransmayr ist ein Universum für sich. „Die letzte Welt“, diese Geschichte von der Verbannung des Dichters Ovid, die Ransmayr in literarische Korrespondenz zu Ovids „Metamorphosen“ setzt, ist nicht mein Lieblingsroman von Ransmayr geworden. Aber: Er war ein Bestseller. Meine Ausgabe weist die Druckauflage 76.000 - 100.000 auf. So viel verkauft heute allenfalls Sebastian Fitzek. Die Andere Bibliothek: Ein Relikt aus der goldenen Zeit der schönen Bücher. Die Andere Bibliothek, Band 44, erschienen 1988, 324 Seiten.…
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1 Andreas Thalmayr – Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen 1:10
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1:10Am 27. September 1985 erschien als neunter Band der „Anderen Bibliothek“ ein Buch mit einem sehr barocken Titel: „Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr“. Es war prächtig aufgemacht, mit geprägtem Deckel, der ein Teufelchen inmitten eines Labyrinths zeigt, versehen mit einem Schutzumschlag aus Plastik. Sein Inhalt: eine detailreiche Sammlung rhetorischer und sonstiger Mittel der Lyrik anhand vieler Gedichte der Weltliteratur. Beispiele gefällig?: Anapher, Epiphora, Paronomasie, aber auch Überraschendes wie: Jargon, Zitat usw. Da erinnert einer daran, dass Kunst von Können kommt, dass Dichten ein Handwerk ist, vielleicht keines, das man lernen kann, aber eines, ohne das es nicht geht. Ein Genie fällt nicht vom Himmel, sondern steht auf dem Sockel der Transpiration. Aber wer war nun dieser mysteriöse Andreas Thalmayr? In meinem Exemplar steht eine kleine Widmung: „i.V. Enzensberger“. Der sich da einen Vertreter nennt, ist in Wirklichkeit der Sammler und Herausgeber selbst, Hans Magnus Enzensberger, der Begründer und spiritus rector der „Anderen Bibliothek“, „Andreas Thalmayr“ sein nicht ganz unbekanntes Pseudonym. Enzensberger hat sich immer für die handwerkliche Seite der Dichtung interessiert, sozusagen für den Maschinenraum der Poesie. Dass er später also einen „Landsberger Poesie-Automat entwickelt hat, der auf Knopfdruck Gedichte produziert, wenn wundert's. „Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr“, Band 9, 27. September 1985…
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1 Driss Ben Hamed Charhadi – Ein Leben voller Fallgruben 1:51
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1:51Ich bin Alexander Wasner, Kulturredakteur beim SWR und „Die andere Bibliothek“ war für mich sowas wie eine Offenbarung. Literaturwissenschaft habe ich in den 80ern gegen den entschiedenen Rat meines Deutschlehrers studiert. Er wollte Klassiker im Stil der 50er besprechen, ich wollte was anderes. In meinem Ketzertum fühlte ich mich durch die Andere Bibliothek bestätigt. 1985 habe ich meinen Buchhändler jeden letzten Donnerstag im Monat belauert, um eins der Vorschauhefte zu ergattern. Es war eine echt wilde Mischung: am Anfang die Lügengeschichten des Lukian von Samosata, dann Barbey d’Aurevilly über den Dandy, in Samt eingeschlagen, etc. – die frühen Titel sparte ich ernsthaft vom BaföG ab, nur um meinem Deutschlehrer zu zeigen, dass es bessere Autoritäten gab als ihn. Besonders tat es mir Band 2 an, der zwischen den Lügengeschichten und dem Dandy. Driss Ben Hahmed Charhadi, „Ein Leben voller Fallgruben“. Eine Entdeckung von Paul Bowles. Es geht um einen Underdog in Marokko, er wird vom Stiefvater ins Kinderheim geschickt, wird aber bald wieder rausgeholt, weil die Familienehre das nicht zulässt. Wenn er mal Geld hat, nimmt ihm der Stiefvater das gleich wieder ab. Er bekommt einfach keine Chance. Und so verloren ist dann halt auch der Rest des Lebens – er kifft und stiehlt, Liebe gibt es nur bei Huren und da auch nur zusammen mit Prügel, er wohnt auf der Straße und in Gefängnissen. Erzählt aber wird das ohne jede Anklage, ohne Psychologie, nur im Hier und jetzt. Charhadi hat den Text auf Tonband eingesprochen, Paul Bowles hat es nur abgetippt. Ein irres Buch, auch heute noch. Driss Ben Hamed Charhadi: Ein Leben voller Fallgruben, Franz Greno 1985, jetzt im Aufbau Verlag, Übersetzt von Anne Ruth Strauß, 352 Seiten…
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In Reynosa, Mexiko, wird der Reisende von Schüssen geweckt. Das stört ihn aber nicht weiter, er ist es noch gewohnt von seinem letzten Besuch hier. Ihn stört es auch nicht, dass das Hotel, in dem er schläft, der Mafia gehört. Um genau zu sein, liebt er seine Unterkunft. Vor allem aus einem Grund: Sein Hotelzimmer hat einen Schreibtisch. Und dieser steht so, dass man sich selbst nicht in einem Spiegel sieht. Denn in neunzig Prozent der Fälle, so erklärt es der weit gereiste Erzähler, hängt in Hotelzimmern ein Spiegel über dem Schreibtisch. Das sei falsch, schließlich würde zuhause kein Mensch auf so eine Idee kommen. Wer will sich schon selbst beim Nachdenken zuschauen? Dieser Blick – auf die großen und die kleinen Details, machen die Texte von Michael Glawogger so wunderbar. Es ist ein Buch voll mit Geschichten aus der ganzen Welt - von Äthiopien bis Nordkorea, von Vietnam bis Norwegen. Manche von ihnen märchenhaft, manche voller rätselhafter Begegnungen und seltsamen Dingen, die in Hotelzimmern zurückgelassen wurden. Der vielfach ausgezeichnete Filmemacher Michael Glawogger portraitierte in Dokus wie „Whores Glory“ oder „Megacities“ die Ausgebeuteten, die ums Überleben-Kämpfenden. Dieser Band ist vielleicht eines seiner persönlichsten Werke, denn er bringt uns den Reisenden Glawogger näher. Wunderschön ist auch diese Ausgabe, die bei Der Anderen Bibliothek erschienen ist. 2015, posthum, nachdem Glawogger bei Dreharbeiten in Liberia an einer Malaria-Infektion gestorben ist. Auf dem Buchrücken leuchtet wie ein Neon-Schriftzug das Wort „Hotel“. Innen beginnt jede Geschichte mit orange-farbenen Buchstaben, die langsam von Rot und Violett ins Schwarze verlaufen – ein in Druckertinte festgehaltener Sonnenuntergang. Die letzte Geschichte spielt 2012 in einem Hotel in Karlsruhe. Natürlich räumt der Reisende erst mal das Hotelzimmer um und stellt Tisch und Stuhl vor das Fenster für den perfekten Blick auf den Bahnhofsvorplatz. Beim Umbau sieht er sich selbst im Spiegel. Er denkt, für seine Nachwelt möchte er gerne so, als – Zitat – „Der Mann mit dem hellbraunen Tisch in den Armen“ überliefert werden. Das Bild, das mir aber vom Filmemacher und Autor Michael Glawogger bleibt, ist das hier: Das Bild eines Reisenden, der einen besseren Platz für sich selbst sucht, einen Platz mit Aussicht auf das Getümmel und Geschehen, auf die Menschen, für die Glawogger einen so einfühlsamen Blick hatte. Michael Glawogger - 69 Hotelzimmer, Die Andere Bibliothek, Bandnummer 363, 408 Seiten, 24 Euro, ISBN: 978-3-8477-2010-2…
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1 Daniel Kehlmann wird 50: Über sein Vorbild Thomas Mann 2:02
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2:02Vor 20 Jahren, 2005, erschien sein weltweiter Erfolgsroman „Die Vermessung der Welt". Wir gratulieren und hören, was ihm Thomas Mann bedeutet - der in diesem Jahr ebenfalls einen runden Geburtstag hat: den 150. am 6. Juni.
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1 40 Jahre schöne Bücher. Die legendäre „Andere Bibliothek" feiert Geburtstag 16:19
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16:19Es ist die vermutlich schönste Buchreihe, die die deutschsprachige Literaturwelt je gesehen hat: Genreübergreifende, die Welt entdeckende Bücher in einer aufwendigen, bibliophilen Gestaltung. Rainer Wieland im Gespräch Bis heute gibt es die „Andere Bibliothek": Jeden Monat erscheint unter dem Dach des Aufbau Verlags ein neuer Titel. Zum 40. Geburtstag sprechen wir mit Rainer Wieland, neben Nele Holdack einer der Herausgeber der Reihe.…
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1 Von Prachtexemplaren, Kurzschlüssen und Zugbegegnungen 55:07
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55:07Dieses Mal im lesenswert Magazin: Neuen Bücher von Wolf Haas, Julia Schoch, Daniel Glattauer und einer Gratulation zum 40. Geburtstag der Anderen Bibliothek
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1 lesenswert Quartett mit Büchern von Botho Strauß, Andrew O'Hagan, Johanne Lykke Holm und Isabelle Lehn 56:08
56:08
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56:08Literaturexperte Denis Scheck moderiert die Gesprächsrunde aus dem SWR-Funkhaus in Mainz. Stammgast ist Ijoma Mangold, Redakteur im Feuilleton der ZEIT. Diesmal vervollständigen Nicola Steiner, Leiterin des Literaturhauses Zürich, und die ehemalige „lesenswert“-Moderatorin und Verlegerin des Piper Verlags Felicitas von Lovenberg die Runde.…
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Teddy Rosenfeld ist ein Mann, der weiß, was er will. Und Noa Simon, die junge Filmemacherin, die sich dem Boss einer Biotech-Firma bei einer Feier an den Hals wirft, will er definitiv nicht. Sagt er jedenfalls hinterher, nach einem spontanen Stelldichein in einer Toilettenkabine. Daher leistet er den folgenden schamlosen Avancen von Maya Kesslers Ich-Erzählerin auch beharrlich Widerstand, selbst dann noch, als diese in seinem Unternehmen anheuert. Warum Teddy so ablehnend reagiert? Weil der Mittfünfziger nach diversen Ehen und Affären so seine Erfahrungen gemacht hat. Und sich sicher ist, dass sich die 20 Jahre Jüngere – tabuloser Sex hin oder her – am Ende als genauso durchgeknallt entpuppen wird wie seine früheren Beziehungen. »Ich weiß, wohin das führt«, er spricht mehr zu sich selbst als zu mir, »ich werde dich ruinieren. Das will ich nicht. Ich kenne das schon.« »Du wirst mich nicht ruinieren. Und wenn – dann will ich das.« Quelle: Maya Kessler – Rosenfeld Kontrollsüchtiger Titelheld Liebesromane werden heutzutage ja gerne mit sogenannten Tropes etikettiert, zur Einordnung. Teddy Rosenfeld, der schwergewichtige, kontrollsüchtige Titelheld von Maya Kesslers Romandebüt, wäre demnach eindeutig ein „Grumpy“, also ein anfänglich desinteressierter, pessimistischer Kerl, dem unversehens der Schutzpanzer über seinem Herzen abhandenkommt – ein Typus, den bereits Jane Austen kannte. Würde die israelische Autorin diesem Muster folgen, wäre Noa Simon ein „Sunshine“, der lebensfrohe weibliche Sonnenschein, der dem Grumpy die Liebe lehrt. Tatsächlich aber ist Maya Kesslers Ich-Erzählerin das genaue Gegenteil: Noa ist unersättlich, impulsiv und nicht zuletzt wütend – auf sich, das Leben und vor allem ihre Mutter, die einst die Familie im Stich gelassen hat. So gesehen gleicht Noa eher einem Tornado, der Teddys Leben im Lauf des 560 Seiten starken Romans gehörig durchpflügen wird. Dabei fällt es anfangs schwer, für Kesslers Protagonistin Sympathien aufzubringen. Zu sehr stößt einen diese Figur ab: mit ihren selbstdestruktiven Impulsen, mit ihrer emotionalen Instabilität und Unreife. Vielleicht liegt es daran, dass gerade die ersten Romankapitel, trotz der rasanten, gegenwartsnahen Schreibe Kesslers, zur Geduldsprobe geraten. Menschen mit Mutterproblemen Doch es lohnt sich durchzuhalten. Nicht nur wegen der, wie man heute sagt, spicy Sexszenen. Sondern weil die ungleichen Charaktere, die sich im Lauf der Handlung abwechselnd an die Wäsche und an die Gurgel gehen, irgendwann doch überraschend an Tiefe gewinnen – und ihre Beziehung in ihrer Abgründigkeit und Leidenschaft mehr und mehr fesselt. Denn nicht nur Noa hat ein Mutterproblem. Teddy hat aus der Wohnung seiner längst verstorbenen Erzeugerin ein Mausoleum gemacht, für Noa ein No-Go. Die Folge sind Grenzüberschreitungen auf beiden Seiten: Er versucht, gegen ihren Willen, eine Aussöhnung mit ihrer verbannten Mutter anzuleiern, sie fängt an, besagte Wohnung aufzulösen, damit ihr Geliebter endlich loslassen könne. Wieso hat er mich […] dorthin mitgenommen? Weil er nicht weiß, wer du bist. Er weiß nicht, dass du der Todesengel jeglicher Mütterlichkeit bist, dass du jede Nabelschnur, die nicht sofort, sobald es eben geht, durchschnitten wird, bis aufs Blut verabscheust. Quelle: Maya Kessler – Rosenfeld Romanze zweier Sturköpfe Wie aus der Romanze zweier Sturköpfe, die anfangs nur auf Begehren und Leidenschaft basiert, eine wird, in der sich ständig die Macht- und Näheverhältnisse neu austarieren, ist überaus spannend und unterhaltsam zu lesen. Teddy ist, wie sich zeigt, ein Mann mit vielen Geheimnissen, sie dagegen eine Frau voller Traumata und verdrängter Ambitionen. Am Ende führt jede Verletzung, die sich beide zufügen, jeder Vertrauensbruch nur dazu, die Intimität zwischen beiden zu steigern. Maya Kessler hat ein Debüt vorgelegt, das beeindruckt: durch seine intensive Rohheit wie auch seine voyeuristische Präzision.…
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1 Charles Pépin – Mit der eigenen Vergangenheit leben | Buchkritik 4:10
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4:10Wir alle sind Kinder und Erbe unserer eigenen Vergangenheit. Wie wir das Erbe antreten, was wir davon beibehalten oder weiterführen möchten, und welche Erlebnisse wir großzügig hinter uns lassen sollten, ohne sie zu verdrängen, das können wir ein Stück weit auch selbst bestimmen. Auch wenn uns das nicht immer einfach erscheint. Dabei helfen uns, so Charles Pépin, die verschiedenen Formen des Gedächtnisses, die jeweils unterschiedliche Funktionen innehaben. Das Gedächtnis wird von Neurowissenschaftlern schon lange nicht mehr als Speicher oder lokalisierbare Gedächtnisspur betrachtet. Vielmehr formt sich die Erinnerung immer wieder neu und verändert sich damit. Die Erinnerung wird gleichsam neu konfiguriert: durch das seitdem Erlebte, durch den aktuellen Kontext, durch unsren emotionalen Zustand. In diesem Sinn ist das Gedächtnis lebendig und eine Erinnerung ist nie zweimal dieselbe. Quelle: Charles Pépin – Mit der eigenen Vergangenheit leben Ist es also möglich Belastendes, von uns zutiefst Abgelehntes, ja Beschämendes, das wir erlebt haben oder das unsere Herkunft mit sich bringt, zum Material zu erklären? Pépin zieht für seine Überlegungen auf nachvollziehbare Weise philosophische und literarische Erkundungen, besonders von Henri Bergson und Marcel Proust zu Rate, aber auch grundlegende neurowissenschaftliche Erkenntnisse. Belastete Kindheit, glückliche Lebenswege Ist man in der Lage, das Erlebte zu einer Geschichte werden zu lassen, deren Autor wir selbst sind und die uns weniger zusetzt, oder wie es in der hier wohl recht wörtlichen Übersetzung heißt, die uns nicht mehr „ständig beißt“? Sie wäre damit dann auch vom „episodischen Gedächtnis“, das uns einzelne Szenen vor Augen führt, ins „semantische Gedächtnis“ überstellt. Dort kann unsere Geschichte überarbeitet werden, denn hier geht es um Bewertung und Einordnung des Geschehenen. Pépin beschreibt glückliche Lebenswege, die Menschen trotz ihrer belastenden Kindheit oder Lagererfahrungen eingeschlagen haben. Sie sind möglich, weil wir zwar das sind, was die Vergangenheit aus uns gemacht hat, aber wie er aufmunternd sagt: „Wir haben keinen Grund, uns von unserer Vergangenheit alles gefallen zu lassen.“ Das mag ein Stück weit gelingen oder auch nicht. Für jeden zugänglich und mit weniger Kraftanstrengung verbunden ist indes, zu genießen und wertzuschätzen, was der Zufall uns an Begegnungen und glücklichen Momenten für unser Leben geschenkt hat. Die Schönheit der Erinnerung Ganz konkret heißt das auch, zum Beispiel als allein zurückgelassener Liebender oder alternder Mensch, nicht länger dem nachzutrauern, was wir einst besaßen und dann verloren haben, sondern uns mit Freude daran zu erinnern, dass es möglich war und wir diejenigen sind, die es selbst erleben durften. Es heißt also, sich intensiv auf die Schönheit der Erinnerung einzulassen, in ausgewählte Bilder und Szenen einzutauchen, sie ganz ohne Wehmut zu betrachten: Letztendlich geht es auch hier um eine Verabredung mit unserer Vergangenheit, aber diesmal nicht, um ihre Brutalität zu mildern, sondern im Gegenteil, ihre Zartheit neu zu erleben, ihr Bestes auszukosten. Es ist eine Art Würdigung dessen, was gewesen ist. Quelle: Charles Pépin – Mit der eigenen Vergangenheit leben Seien wir deshalb nachsichtig mit uns selbst und den anderen: Wir sollten dem, was wir geworden sind, mit Wohlwollen begegnen. Das reicht bis hin zum Umgang mit unseren Toten, die uns, wenn wir an sie denken, mit „behütender Präsenz“ umgeben können. Und so heißt es dann auch gegen Ende des Buches geradezu verschmitzt, aber eben durchaus auch charakteristisch für die Lebensphilosophie Pépins: Wer möchte, dass die Geister der Verstorbenen ihn gelegentlich besuchen kommen, muss ihnen ein bisschen Luft und Freiheit lassen. Quelle: Charles Pépin – Mit der eigenen Vergangenheit leben…
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Um es gleich vorwegzusagen: Dass „Eine Bumerangfamilie“, der zweite Roman des koreanischen Autors Cheon Myeong-kwan, mit großem Erfolg in seiner Heimat verfilmt worden ist, wundert nicht. Im Mittelpunkt des Romans steht Inmo, ein gescheiterter Filmregisseur mittleren Alters. Zwölf Jahre ist es her, dass er seinen letzten Film – einen Riesenflop – gedreht hat. Seine Frau hat ihn verlassen, sein Vermieter soeben rausgeworfen. In seiner Verzweiflung beschließt der 48-Jährige, zu seiner alten Mutter zurückzuziehen, die in einem heruntergekommenen Vorort von Seoul lebt. Sein Unbehagen ist groß. Und es wird noch größer, als er feststellen muss, dass sich auch sein vier Jahre älterer Bruder – ein fünfmal vorbestrafter Riese mit 130 Kilo Körpergewicht – in der Wohnung der Mutter eingenistet hat. Unzählige Male hatte Hammer mich verprügelt, als ich jung war. Ich trug blutige Nasen davon, abgebrochene Zähne, Platzwunden im Gesicht, das volle Programm. Nichts wünschte ich mir sehnlicher als seinen Tod. aber er war nicht gestorben, und jetzt, Jahrzehnte später, stand er vor mir und versperrte mir den Weg. Quelle: Cheon Myeong-kwan – Eine Bumerangfamilie Hammer, eigentlich Hanmo, ist nicht das einzige Hindernis, das sich Inmo fortan in den Weg stellt. Denn es dauert nicht lang, dann ziehen auch seine Schwester – die bereits zwei Ehen hinter sich hat – und deren Tochter, eine aufmüpfige Jugendliche, in die mütterliche Wohnung ein. Familie: Die Hölle auf Erden Man ahnt: das kann nicht gutgehen. Tatsächlich bereiten sich die drei Geschwister rasch nach allen Regeln der Kunst gegenseitig die Hölle auf Erden. Einzig die Mutter scheint aufzublühen, seit ihre Kinder wieder bei ihr wohnen. Sie strahlte übers ganze Gesicht, als sei sie gerade von einem Wellnessaufenthalt in einem erstklassigen Spa zurückgekommen, ja sogar ihre Stimme klang einen Ton heller. Quelle: Cheon Myeong-kwan – Eine Bumerangfamilie Dass Cheon Myeong-kwan dabei die Geschichte aus Inmos Augen entfaltet, ist ein geschickter Schachzug. Erst allmählich begreifen wir nämlich, dass wir diesem Erzähler nicht ungetrübt Glauben schenken sollten: Hammer, laut Inmo ein pädophiles Monster, erweist sich mehr und mehr als liebenswürdiger Mensch; Inmos Schwester Miyŏn, vermeintlich eine leichtlebige Ehebrecherin, hat sich stets für ihre Familie aufgeopfert, um diese auch finanziell zu unterstützen. Mehr noch: dunkle, bis dato gut gehütete Familien-Geheimnisse kommen zutage. Ich, Hammer, Miyŏn, wir alle, Mutter eingeschlossen, jeder von uns hatte etwas auf dem Kerbholz. Uns war das Stigma des Verlierers eingebrannt, wir waren Gefangene unserer Vergangenheit. Quelle: Cheon Myeong-kwan – Eine Bumerangfamilie Zwischen dunkler Groteske und koreanischer Soap Opera Das alles mag nach tränenreichem Familiendrama klingen. Doch Cheon Myeong-kwan liebt Groteskes ebenso wie Drastik. Sein Roman, der zugleich gespickt ist mit Verweisen auf Hemingway und Klassiker der Filmgeschichte, wirkt deshalb wie eine Fahrt mit der Achterbahn. Immer schon geht es in die nächste Kurve: Miyŏns Tochter verschwindet; ein Serienmörder taucht auf; Hammer gerät in die Falle gefährlicher Krimineller – und Inmo beginnt Pornos zu drehen. All diese Irrungen und Wirrungen erinnern dabei an koreanische Soap Operas, samt Deus ex machina und Happy End. Bis es allerdings soweit ist, führt uns der Roman in seinem letzten Drittel in krasse Abgründe des asiatischen Extremkinos. Das kommt so unvermutet wie manche Details der Handlung einer logischen Prüfung nicht immer standhalten. Speed und Überbietung gehen in „Eine Bumerangfamilie“ Hand in Hand. Die Geschichte vergeht deshalb wie im Flug. Und doch schlingert „Eine Bumerangfamilie“ – von Matthias Augustin und Kyunghee Park erneut in ein zupackendes Deutsch übertragen – am Ende zu unentschieden zwischen rabenschwarzem Sarkasmus und melodramatischer Wohlfühl-Offerte.…
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1 Klaus Böldl – Odin. Der dunkle Gott und seine Geschichte 4:09
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4:09Wotan ist en vogue, nicht nur bei Neuheiden, mythensüchtigen Rechtsextremen, martialisch auftretenden Metal-Bands oder Männern auf der Suche nach antifeministischen Konzepten von Maskulinität. Gegen die simplifizierenden Vereinnahmungen hat der Skandinavist Klaus Böldl seine Geschichte des „dunklen Gottes“ von den Wikingern bis in die Gegenwart geschrieben. Deutlichere Gestalt nimmt Odin oder Wotan in der „Edda“ und der isländischen Saga-Literatur des Mittelalters an. Hier begegnen erstmals die Züge der heute bekannten Ikonographie: Er ist hochgewachsen, hat einen Bart und trägt einen langen nachtblauen oder schwarzen Mantel. Sein Gesicht wird von einem breitkrempigen Hut verdunkelt, doch man kann erkennen, dass er nur ein Auge hat. (…) Seine beiden Raben Hugin und Munin versorgen ihn mit Neuigkeiten aus aller Welt. Quelle: Klaus Böldl – Odin. Der dunkle Gott und seine Geschichte Odin als Oberhaupt der heidnischen Götterwelt ist für Böldl aber – wie überhaupt der zugespitzte Gegensatz von „nordischen“ und klassisch-mediterranen Mythen – ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts. Zuvor war Odin gewissermaßen integriert in die gesamteuropäische Mythenwelt, bisweilen gleichgesetzt mit Odysseus, dem griechischen Okeanos oder gar dem fernöstlichen Buddha. Völkischer Sturm- und Rauschgott Erst im Zuge des wachsenden Nationalismus wurde der Gott zum Repräsentanten eines völkisch durchsäuerten Germanentums, das man in der Nachfolge von Tacitus‘ grundlegender Schrift „Germania“ so charakterisierte: rückständig, was Zivilisation und materiellen Wohlstand betrifft, dafür moralisch integer, freiheitsliebend, tugendhaft und tapfer. Odin und die „Edda“ wurden zu einem essentiellen Mythos der Deutschen. Böldl skizziert und zerlegt die obsessiven Vereinnahmungs-Bemühungen der Historiker, Philologen, Theologen und Ideologen. So erkannte zum Beispiel auch der Tiefenpsychologe C.G. Jung in Wotan eine „Grundeigenschaft der deutschen Seele“ und sah den „Sturm- und Rauschgott“ im Nationalsozialismus wiederkehren – die politisch Verantwortlichen duften sich entlastet fühlen. Wagners gebrochener Wotan Anders als Thor mit dem Hammer ist Wotan jedoch kein eindimensionaler Held. Das zeigt insbesondere die wirkmächtigste aller Aneignungen. In Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ hat der Herr von Walhall nichts mehr mit dem makellosen Göttervater der idealisierenden Tradition zu tun. Wagner zeichnet ihn als gebrochene Gestalt; sein Wotan ist kein Kämpfer, sondern setzt wie ein Agent der Moderne auf Verträge, die er allerdings wie Waffen zu nutzen versteht, ein Intrigant und Betrüger sondergleichen. Klaus Böldl beschäftigt sich mit Odin in Musik, Bildnis und Skulptur. Der Untertitel „Von den Germanen bis Heavy Metal“ ist zugkräftig, allerdings ist von der Rezeption im Metal, beginnend mit Led Zeppelins „Immigrant Song“, nur auf drei Seiten die Rede – mit dem Tenor, dass die Bands meist nur mythologische Klischees reproduzierten und der heidnische Gott instrumentalisiert werde für einen etwas angestaubten Protest gegen das Christentum. Darin zeige sich allerdings ein Moment vieler heutiger Odin-Bezüge: Wenn es Odin nicht gäbe, müsste man ihn erfinden, so groß erscheint im entgötterten Anthropozän die Sehnsucht nach einer identitätsstiftenden numinosen Gestalt jenseits des Christentums zu sein. Quelle: Klaus Böldl – Odin. Der dunkle Gott und seine Geschichte Protest gegen das Christentum Böldl ist nicht nur Professor für skandinavische Literatur, sondern auch Verfasser mehrerer Romane. Er kann klar und unakademisch schreiben, und seine Kenntnis der Materie ist überragend. Vielleicht ist gerade dies aber auch der Grund dafür, dass sich sein Odin-Buch streckenweise wie ein Forschungsbericht liest. Sie läuft auf die Einsicht hinaus, dass jede Epoche ihr eigenes Odin-Bild entwirft und gerade dadurch den Mythos des „dunklen Gottes“ fortschreibt.…
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1 SWR Bestenliste Januar - Diskussion über Bücher von Paul Lynch, Lucy Fricke, Botho Strauß und Han Kang 1:15:30
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1:15:30Der Inhaltsangabe ist nicht zu trauen: Martin Ebel und Hubert Spiegel diskutierten mit Carsten Otte vier auf der SWR Bestenliste im Januar verzeichneten Werke im gut besuchten Prinz-Max-Palais in Karlsruhe. Ein Mann in der Midlife-Crisis Erstaunlich einig war die Runde sich bei Lucy Frickes neuem Roman „Das Fest“ , der auf Platz 3 der Januar-Bestenliste steht (Claassen Verlag). Gerade mal 138 Seiten kurz ist das Buch, das vom Berliner Filmemacher Jakob handelt, der 50 Jahre alt wird – was für ihn aber alles andere als ein Grund zur Freude ist. Der missmutige Zeitgenosse steckt in einer Lebenskrise. Seit geraumer Zeit saß er nicht mehr auf dem Regiestuhl. Jakob ist Single und hat das Gefühl, dass sich die Welt um ihn herum so verändert hat, dass er dort keinen Platz mehr zu haben scheint. Seinen 50. Geburtstag möchte Jakob auf keinen Fall feiern. Er wüsste auch gar nicht, wen er einladen sollte. Ellen, die beste Freundin von Jakob, möchte sich mit der Misanthropie des Jubilars allerdings nicht zufriedengeben. Also organisiert sie Begegnungen mit Menschen aus Jakobs Vergangenheit, die ihm viel bedeutet haben und dem trotzigen Geburtstagskind zu seiner Überraschung herzlich gratulieren. Am Ende gibt es ein Fest – und die Hoffnung auf die wahre Liebe. Gelungener Wechsel der Erzählperspektiven Hubert Spiegel meinte, wer nur die Inhaltsangabe höre, würde wohl eine Schmonzette von Rosamunde Pilcher vermuten. Aber das Gegenteil sei der Fall, was nicht zuletzt an der Rondo-Form des Romans und dem gekonnten Wechsel der Erzählperspektiven liege. Auch Martin Ebel zeigte sich beeindruckt, wie Lucy Fricke, bekannte Motive variiere, aber auch Tiefgründiges leicht aussehen lasse. Wegen der geschlossenen Form des Textes, hält er „Das Fest“ allerdings weniger für einen Roman, der immer eine gewisse Offenheit zeige, sondern eher für eine Novelle, die in diesem Fall mustergültig in Szene gesetzt sei. Vergangene und gegenwärtige Verbrechen Auf dem Programm der Bestenliste-Diskussion in Karlsruhe standen außerdem: die politische Dystopie „Das Lied des Propheten“ von Paul Lynch in der Übersetzung von Eike Schönfeld (Klett Cotta), die vom Wandel einer Demokratie in eine tödliche Diktatur handelt; mit „Das Schattengetuschel“ ein mildes und streckenweise selbstironisches Alterswerk von Botho Strauß (Hanser) und mit „Unmöglicher Abschied“ das von Ki-Hyang Lee ins Deutsche übertragene Werk der frisch gekürten Literaturnobelpreisträgerin Han Kang, das im hohen Ton von den Auswirkungen eines Massakers auf die nachfolgenden Generationen erzählt. Aus den vier Büchern lasen Antje Keil und Dominik Eisele.…
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1 Han Kang: Unmmöglicher Abschied | Lesung und Diskussion 21:50
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21:50Überraschend wurde die Südkoreanerin Han Kang mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Ihr neuer Roman verbindet die Geschichte einer Freundschaft mit einem dunklen Punkt in der koreanischen Geschichte.
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Am 2. Dezember ist Botho Strauß 80 Jahre alt geworden. Mit „Das Schattengetuschel“ hat er seiner Lesergemeinde ein erstaunlich entspanntes Buch geschenkt – eine Sammlung von Texten, die von einem untergründigen Altershumor durchzogen sind.
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Weit mehr als ein Roman über die Midlife Crisis eines Mannes: Gelenkt vom Geschick seiner besten Freundin, wird der erfolglose Filmregisseur Jakob noch einmal durch sein Leben geführt. Ein freundliches, aber kein harmloses Buch.
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Ausgezeichnet mit dem Booker Prize 2023: Eine Dystopie aus dem Herzen der Europäischen Union. Eine nationale Einheitspartei hat in Irland die Macht übernommen, regiert mit Notstandsgesetzen und schaltet Staatsfeinde aus.
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Giovanni Pascolis Gedichtbände erschienen ab 1897 bis zu seinem Tod 1912. Der Dichter hatte zwei Lebenspassionen: die Lyrik und den Alkohol. Einerseits war er eine Art Einsiedler, andererseits unterrichtete er auch an italienischen Universitäten lateinische und italienische Literatur. Giovanni Pascoli und der verlorene Glaube an das „Nest“ Von der Krone baumeln, dort und da, / die kleinen Nester des Frühlings. / Die Leute sagen: Jetzt erst sehe ich, wie gut sie war! Quelle: Giovanni Pascoli – Nester Im Gedicht „Die gefallene Eiche“ findet sich ein Grundmotiv von Pascolis Lyrik: „Nester“ – so lautet auch folgerichtig der Titel des von Theresia Prammer zusammengestellten Auswahlbandes. Das „Nest“ ist nicht nur in der Tierwelt zuhause, sondern im übertragenen Sinn auch bei uns Menschen: „Sich ein Nest bauen“, sich also häuslich einrichten. Das „Nest“ bietet Schutz, Sicherheit – gerade auch in der Kindheit oder bei Tieren in der Aufzucht der Jungen. In Pascolis Gedicht „Die gefallene Eiche“ wird das Nest zerstört, weil der Mensch diese Eiche mit ihren Nistplätzen zu Fall bringt. Vergeblich irrt das Muttertier. Sie sucht nach ihrem Nest, das nicht mehr ist. Quelle: Giovanni Pascoli – Nester Der Dichter, die Natur und ein großer Verlust Giovanni Pascoli hatte selbst mit diesem Verlust zu kämpfen. Im Alter von zwölf Jahren musste er miterleben, wie sein Vater das Opfer eines brutalen Mordanschlags wurde. Ab da war die Vorstellung eines sicheren Familiennestes zerstört. Doch es gibt noch einen anderen Geborgenheitsort: die Natur. Eine Amsel pfeift dem lyrischen Ich ein Lied. Und ein Zaunkönig ruft ihm zu: He! Du kehrst heim … Ich weiß: / Oh! In dein herrliches Nest, vor dem Regen gefeit! Quelle: Giovanni Pascoli – Nester Allein, es bleibt ein Traum. Der Mensch, der Dichter ist förmlich aus der Natur gefallen. Der Gesang der Vögel wandelt sich in ein gräuliches Rauschen. Was geht vor in der Welt? / Unendliche Stille. / Doch tief unten, da schwelt, / einsam und irrend, / dieses schaurige Grollen. Quelle: Giovanni Pascoli – Nester Der Dichter „Traum eines Schattens“ In Pascolis Gedichten gibt es zwei Welten, die zwar nicht voneinander getrennt sind, jedoch schwer zueinander finden: Die eine ist die der Natur, sie ist nicht etwas rein Erhabenes, da sie sich stets dem Leben zuneigt. Die andere ist die des Menschen – so wie es der Dichter auch ganz persönlich erlebt. Theresia Prammer hat diese Motivik Pascolis präzise zusammengefasst. Erinnerung – Kindheit – Tod – Verlust. Pascoli schreibt vom Ende seiner Welt her; die Orte der Tragödie sowie die Friedhöfe sind immer gegenwärtig. Schatten sprechen den Dichter an, wo er geht und steht. Quelle: Giovanni Pascoli – Nester Diese Schatten drängen sich bis in den Bereich der Träume. Im Gedicht „Traum eines Schattens“ schmiedet Pascoli den „Tod eines Alten“ existentiell an den „Tod eines Neugeborenen“. Was ist Leben? Was bedeutet es, eine Strecke des Lebens gehen? Der eine sah die Kinder / seiner Kinder; der andere nicht einmal sich. Ihr Leben / war das nämliche: Traum eines Schattens, ein Nichts. Quelle: Giovanni Pascoli – Nester Dass der Lyrikband „Nester“ zweisprachig erscheint, ist auf jeden Fall ein großes Plus. Er erlaubt damit einer an Lyrik interessierten Leserschaft, diesen italienischen Dichter in gekonnter Übersetzung für sich zu entdecken. Giovanni Pascoli war sicher kein avantgardistischer Experimentator, aber seine in die Tiefe reichende Melancholie, seine stete Sehnsucht nach dem verlorenen Wundergarten der Natur und seine exzellente Sprachführung machen seine Gedichte zum bleibenden Gut europäischer Lyrik.…
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1 Navid Kermani – In die andere Richtung jetzt | Buchkritik 4:09
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4:09„Das ist für mich elementar, dass ich aus meiner eigenen kleinen Welt herauskomme und die Welt sehe, wie sie ist. Und das mache ich ja seit vielen Jahren. Ich habe gemerkt, dass es besser ist, wenn ich über einzelne Regionen länger berichte, über einen längeren Zeitraum mich auf einzelne Regionen konzentriere", meint Navid Kermani. Die Welt zu sehen, wie sie ist, das bedeutet in den Ländern Ostafrikas mit gewaltigen Problemen und großer Not konfrontiert zu werden. Navid Kermani glaubt, dass sich hier globale Probleme verdichten und dass es sich rächen wird, wenn wir der Region zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Apathische Menschen Im Süden Madagaskars schaut er auf die dramatischen Auswirkungen der ersten klimabedingten Hungersnot. Das Land, das eigentlich fruchtbar ist, erscheint dem Reporter aus der Luft wie eine aufgegebene Mine. Viele Wälder sind verschwunden, geblieben sind Baumstümpfe. Auch die restlichen Bäume werden abgeholzt, weil Holzkohle der letzte Verdienst ist. Navid Kermani berichtet von apathischen Menschen, die der Hunger beherrscht, von Kindern, die nicht mehr spielen, von Menschenkolonnen, die schwere Wasserkanister kilometerweit schleppen. Er habe vorgehabt, auch über das Leben zu schreiben, aber die Not sei dringlicher gewesen, notiert der Autor mit Blick nicht nur auf Madagaskar. So Navid Kermani: „Was sich am ehesten behauptet hat, war die Musik, weil sie eine ähnliche Existenzialität hat, eine Notwendigkeit, wie ich sie selten je erlebt habe. Aber wenn man ein Kind sieht, das vor Hunger stirbt, erschlägt das alle anderen Erfahrungen erstmal für lange Zeit." Navid Kermani erzählt auch von der Musik. Aber es ergeht dem Leser wie dem Autor. Die Begegnungen mit Musikern verblassen vor der Wucht anderer, existenzieller Eindrücke und Erfahrungen. Im Norden Äthiopiens in der Region Tigray trifft der Reporter eine vorzeitig gealterte Frau, die von Soldaten mehrfach vergewaltigt wurde. Ein fünfjähriges Mädchen zeigt die Narbe, die ein Messer hinterlassen hat. Jemand hat ihr Bein der Länge nach aufgeschlitzt. „Wer macht so etwas?“, sinniert der Autor. Er spricht mit Kämpfern der tigrayschen Volksbefreiungsfront, die „zu viel erlebt haben, um noch von dieser Welt zu sein“. Navid Kermani verbirgt nicht, wie ihn all das mitnimmt. Eine halbe Million Tote hat der nach seiner Ansicht „nicht nur grausamste, sondern auch sinnloseste Krieg unserer Zeit“ gefordert. Wenn Kermani nach den Gründen für die Kämpfe fragt, erntet er auf beiden Seiten nur Schulterzucken. Navid Kermani sagt dazu: „Was in Tigray so erschütternd ist: Man denkt immer, Kriege entstehen aus Verschiedenheit. Die Menschen, die sich in Tigray bekämpft haben, vergewaltigt, massakriert und so weiter, das waren Menschen mit der gleichen Sprache, mit dem gleichen Gebetsbuch, mit den gleichen Traditionen." Produktive Überforderung Seine Beobachtungen veranlassen den Reporter dazu, grundsätzlich über Krieg und Frieden, über Klima und Umweltzerstörung nachzudenken. Einfache Rezepte hat er nicht zu bieten. Vielmehr folgt man diesem Autor immer wieder fasziniert bei seinem Nachdenken und Nachforschen; dabei, wie er unterschiedliche Antworten ausprobiert – und oft zu neuen Fragen kommt. „ Ich will nicht am Ende das Gefühl erzeugen, dies oder jenes ist die Lösung oder die Conclusion oder die These oder: so ist Afrika oder so ist Ostafrika. Sondern im Gegenteil: Wer reist, der wird verwirrt, der merkt, dass all das, was er im Kopf hatte, gar nicht stimmt. Und das Ziel wäre eher, die Leserinnen und Leser an dieser Verwirrung teilnehmen zu lassen, diese faszinierende Kompliziertheit fassbar zu machen, so dass man am Ende nicht besser Bescheid weiß, sondern viel mehr Fragen hat. Also weniger Bescheid weiß. Das wäre ganz schön." Dieser Autor reduziert Komplexität nicht auf eine gut verdauliche, aber realitätsferne Einfachheit. Sein Buch überfordert auf eine produktive Art. Jedes Land, das Navid Kermani bereist hat und von dem er berichtet, ist mit eigenen, spezifischen Herausforderungen konfrontiert. „In die andere Richtung jetzt“ ist eines der Bücher, die man nicht einfach zur Seite legt.…
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1 „Ein schönes Buch ist in sich rund“ – Stiftung Buchkunst kürt die 25 schönsten deutschen Bücher 15:48
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15:48Zwei Jurys bewerten hunderte Bücher in einem aufwendigen Verfahren. Am Ende werden je fünf Bücher in fünf Kategorien wie Allgemeine Literatur, Kinderbuch oder Kunstbücher ausgezeichnet. Inhalt kann auch die Gestaltung prägen Seit einem Jahr ist Birte Kreft Geschäftsführerin der Stiftung Buchkunst. Sie beschreibt im Gespräch mit dem lesenswert Magazin die Kriterien, nach denen ein Buch als schön bewertet wird: Wir bei der Stiftung Buchkunst sagen immer, ein schönes Buch ist eines, das in sich rund ist. Quelle: Birte Kreft, Geschäftsführerin Stiftung Buchkunst Die Jurys beurteilten zwar nicht den Inhalt des Buches, dennoch sei dieser wichtig für die Gestaltung. Wie etwa bei dem ausgezeichneten Buch „An Rändern“ von Angelo Tijssens. Das Buch erzählt von einem Mann, der in seine Heimat reist und sich dort seinen schmerzhaften Erinnerungen stellt. Wie der Titel „An Rändern“ es bereits sagt, ist auch der Text im Buch an den Rand gerückt. Gute Ideen kosten nicht unbedingt viel Wie hier Form und Inhalt ineinander greifen, habe der Jury besonders gefallen, sagt Birte Kreft: In dem Buch gibt es auch schwarze Seiten, die das Thema Depression aufgreifen. Parallel dazu ist der Umschlag in einem hoffnungsvollen Rosa. Es geht auch darum, was für gute Ideen Gestalter:innen haben, um die immer kleiner werdenden Budgets in eine gute Gestaltung und damit in ein gutes Buch umsetzen. Quelle: Birte Kreft, Geschäftsführerin Stiftung Buchkunst Genau das sei in Zeiten steigender Papier- und Druckkosten die Herausforderung. Es würden nicht nur die großen Publikumsverlage ausgezeichnet, sondern auch kleinere, die „auch mutige Entscheidungen treffen wie der Trottoir Noir Verlag aus Leipzig oder shift books aus Berlin“, so Kreft.…
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1 Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen 6:52
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6:52Schon mit 28 Jahren schrieb und zeichnete Edward Gorey sein erstes Buch mit dem Titel „Eine Harfe ohne Saiten“. Es ist das Buch, das Walter Moers immer noch für das beste von Gorey hält. Jahrelang hing eine Zeichnung daraus über dem Schreibtisch von Walter Moers. Gleich zu Beginn von „Eine Harfe ohne Saiten“ entsteht mit wenigen feinen Strichen eine andere Welt, ein Gefühl des Anderswo: Ein paar karge Büsche, eine Stein-Balustrade, die sich im Nichts verliert, ein kahlköpfiger Gentleman mit großen besorgten Augen, gekleidet in einen dicken Pelzmantel mit schlanken Hosen und spitzen Schuhen. Den Krocket-Schläger in der Hand scheint er nicht ganz bei der Sache. Mr. Clavius Frederick Earbrass ist, wie man weiß, ein namenhafter Romancier. Von seinen Büchern werden wahrscheinlich „Ein moralischer Mülleimer“, „Wenn die Ketten klirren“ und die „Bis zur Hüfte-Trilogie“ am meisten geschätzt. Wir sehen Mr. Earbrass auf dem Krocket-Rasen seines Herrenhauses Hobbies Odd in der Nähe von Collapsed Pudding in Mortshire. Er meditiert über einen Spielzug einer Partie, die er Ende des Sommers abgebrochen hatte. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen Der viktorianische Gentleman Clavius Frederick Earbrass ist ein Bestseller-Autor. Sein Blick in die Welt ist mal besorgt, mal erschrocken. Und am meisten Unbehagen bereitet ihm seine eigene Kunst. Die große Kunst und der kleine Keks Am 18. November jedes zweiten Jahres beginnt Mr. Earbrass mit der Niederschrift seines neuen Romans. Den Titel hat er bereits Wochen zuvor willkürlich einer Liste entnommen, die er in einem kleinen grünen Notizbuch führt. Es ist zur Teestunde am 17. November, als er sich Sorgen zu machen beginnt, dass ihm immer noch kein brauchbarer Plot eingefallen ist, der zu „Eine Harfe ohne Saiten“ passen könnte. Doch seine Gedanken kehren immer wieder zurück zu dem letzten Keks auf der Servierplatte. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen Die große Kunst und der kleine Keks. So ernst der Autor Mr. Earbrass Leben und Schreiben nimmt, so staubtrocken ist der Humor, mit dem Edward Gorey von diesem Künstler-Leben erzählt. Noch qualvoller als die ersten Kapitel des Romans sind die letzten für Mr. Earbrass. Seiner Figuren ist er nun ein für alle Mal überdrüssig geworden. Seine Verben kommen ihm verwelkt vor, und die Adjektive haben sich völlig unkontrolliert vermehrt. Außerdem leidet er in diesem Stadium zwangsläufig an Schlaflosigkeit. Nicht einmal die wiederholte Lektüre seines ersten Romans „Die Trüffelplantage“ bringt den ersehnten Schlaf. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen Der verzweifelte Autor wandert durch die dunklen Flure seines riesigen Anwesens. Und auch als alles geschafft ist, ist er nirgendwo angekommen, steht weiterhin neben sich und nicht mit beiden Beinen in der Welt. Mr. Earbrass steht in der Dämmerung auf seiner Terrasse. Es ist trostlos und kalt, und die Unschuld ist aus allem gewichen. Worte driften zusammenhanglos durch sein Hirn: Pein, Rüben, Partys, keine Partys, Enttäuschung, Krallen, Schwund, Serviette, Fieber, Antipoden, Gletscher, Gezeiten, Betrug, Trauer, Anderswo. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen Auch der Autor und Zeichner Walter Moers, der Edward Gorey mit diesem wunderbaren Jubiläumsband würdigt, kennt das Anderswo. In seinem letzten Schuljahr schwänzte Walter Moers regelmäßig den Unterricht. Weil ihm die Schule nichts mehr beibrachte, las er sich stundenlang durch die Stadtbibliothek. Nicht in der Schule, sondern anderswo entdeckte er die Werke von Edward Gorey. Ein Edward Gorey-ABC In das Gorey-Universum entführt uns Walter Moers mit seiner über 400-seitigen Hommage. Doch sein Buch enthält nicht nur berühmte Gorey-Stories. In einem Edward Gorey-ABC erfahren wir, warum Gorey in seinen New Yorker Jahren fast jeden Abend das New York City Ballett besuchte und mit welcher Genialität er als Illustrator eines New Yorker Verlags zahlreiche Buchcover gestaltete. Reproduktion dieser Cover finden sich in dem von Walter Mores präzise recherchierten und aufwendig gestalteten Band ebenso, wie Fotos von dem verwunschenen alten Kapitänshaus auf Cape Cod, das Edward Gorey in seinen letzten Lebensjahren bewohnte. Viele Details aus dem kuriosen Leben von Edward Gorey erfährt man. Zum Beispiel, dass der Zeichner zur Entspannung Stoffpuppen nähte, die natürlich genauso geheimnisvoll wurden, wie die Fantasiewesen seines gezeichneten Werks. Der düstere Nonsense von Edward Gorey wird auch als „goreyesk“ bezeichnet. Und ähnlich wie bei dem „kafkaesken Kafka“ neigen Gorey-Leser bisweilen dazu, sich im Unheimlichen und Unerklärlichen des feinen Zeichenstrichs und der viktorianischen Fantasiewelten zu verlieren. Kluge Verknüpfung von Leben und Werk Walter Moers bürstet diese Lesart gegen den Strich. Er habe Goreys Zeichnungen in der Regel nicht als düster, sondern als „heimelig und warm“ empfunden, sagt Walter Moers und meint damit die Liebe Goreys zu seiner Zeichenkunst und seinen schrägen Humor. An der Tür klingelts Sturm in windiger Nacht, | doch niemand ist da, als auf man sie macht. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen „Der Mensch Edward Gorey war kein Rätsel, aber sein Werk wimmelt von Rätseln.“ Schreibt Walter Moers. Mit leichter Hand und ohne irgendetwas überzuinterpretieren, verknüpft er das exzentrische Leben des meist in Pelzmantel, Jeans und weißen Canvas-Tennisschuhen gekleideten Edward Gorey und ein Werk, das nach Goreys eigenen Worten von Dingen handelt, die so wenig Sinn machen wie möglich. Fantasievoller Nonsense und fein skizzierte Albträume Allein auf einer Urne stand und stierte | ein Gast, der alle irritierte. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen Die kurze Story „Der zweifelhafte Gast“ trifft genau diesen Punkt zwischen Leben und Kunst. Sie handelt von einem Wesen, das wie ein Pinguin aussieht, und einen langen gestreiften Schal und weiße Canvas-Tennisschuhe trägt. Ganz wie die, die Edward Gorey selbst bevorzugte. In stürmischer Nacht taucht dieser Gast in einem alten Herrenhaus auf und bringt das geordnete Leben der Bewohner durcheinander. Er kam auch zum Frühstück und aß unverzüglich | ganz viel Sirup und Toast und den Teller vergnüglich. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen Der zweifelhafte Gast versteckt Handtücher, blickt stundenlang den Kaminschacht empor oder versenkt Wertgegenstände im Gartenteich. Die Geschichte endet schließlich mit einem Satz, der auch auf das Werk von Edward Gorey zutrifft. Seit siebzehn Jahr´n will er nicht scheiden, | er ist gekommen, um zu bleiben. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen Bleiben, das wird sie, die Kunst von Edward Gorey: Sein fantasievoller Nonsense, seine fein skizzierten Albträume; bleiben, wie das Gefühl, das jeden Gorey-Leser irgendwann beschleicht, das Gefühl, in der Welt selbst ein zweifelhafter Gast zu sein. Mit seinem Gorey-Buch empfängt Walter Moers solche Gäste, als ebenso aufmerksamer wie nonchalanter Gastgeber.…
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1 Verdrängte Geschichten und zweifelhafte Gäste – Das war 2024 55:00
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55:00Dieses Mal im lesenswert Magazin: Die schönsten Bücher des Jahres und ein schwereloser literarischer Jahresrückblick
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Zum ersten Mal seit drei Monaten können sie wieder den Sand erkennen, der während ihrer Fahrt über den Atlantik vom Wasser verborgen war. Den Grund des Ozeans, den sie zuletzt flüchtig an dem Morgen sahen, als sie an Bord der Baleine gingen. Niemand hat ihnen mitgeteilt, wo sie am Abend übernachten, wann sie verlobt sein würden. Man sagt Frauen nicht alles. Quelle: Julia Malye – La Louisiane „Man sagt Frauen nicht alles“, schreibt Julia Malye auf der ersten Seite ihres Romans. Die Frauen, die im Jahr 1721 Französisch-Louisiana erreichten, hatten tatsächlich keine Ahnung, wie ihr neues Leben aussehen würde. Sie hatten auch nicht selbst entschieden, die beschwerliche Reise über den Ozean anzutreten. Der Gouverneur von La Louisiane hatte Ehefrauen für die Kolonie angefordert, möglichst robust und gebärfähig. La Louisiane bedeutete Ungewissheit und Hoffnung Die Frauen, die man ausgewählt hatte, hatten nichts zu verlieren. Ihr Zuhause war die Pariser Salpêtrière gewesen, eine Anstalt für von der Gesellschaft ausgeschlossene Frauen: Psychisch Kranke, Kriminelle, Unkeusche, aber auch Waisenkinder und mittellose Frauen. La Louisiane bedeutete Ungewissheit, aber auch Hoffnung. Eine Chance. Geneviève fällt es schwer, die wechselnden Geschehnisse zu begreifen: Noch zwei Wochen zuvor war sie in einem Heim der Salpêtrière eingeschlossen. Und heute, in Paris, wird sie die Kleidung erhalten, die sie auf der anderen Seite des Atlantiks tragen wird. Quelle: Julia Malye – La Louisiane Autorin Geneviève ist eine der Frauenfiguren, die Julia Malye erschaffen und zu den Heldinnen ihres Romans gemacht hat. Die junge Geneviève stammt aus der Provence, aus einer verarmten Familie. Nach dem Tod ihrer Eltern hat sie sich in Paris allein durchgeschlagen. Sie ist schwanger geworden, hat abgetrieben, hat anderen Frauen bei der Abtreibung geholfen. Deshalb ist sie in der Salpêtrière gelandet. Während der monatelangen Schiffsreise nach La Louisiane freundet sich Geneviève mit Pétronille, Étiennette und Charlotte an. Die rothaarige Charlotte ist die Jüngste – ein Waisenmädchen, das in ihrem Leben nichts anderes gesehen hat als die Salpêtrière. Bevor ihre neue Existenz als Siedler-Frauen in der Kolonie beginnt, überlebt die Gruppe einen Piraten-Überfall und das in La Louisiane grassierende Gelbfieber. Innerhalb kürzester Zeit sind dann alle unter der Haube. Pierre Duran ist der kleinste der drei Männer, die durch den Mittelgang kommen. (…) Er hat breite Schultern, ein markantes Kinn und helles Haar, das im Sommer sicher blond wird. Geneviève hat keine Angst vor ihm. Sie hat immer gewusst, dass es sie etwas kosten würde, die Salpêtrière zu verlassen. Später sollte sie sich kaum an die Zeremonie erinnern. Im Gegensatz zu Étiennette hat sie nie von Sträußen, Mitgift und Aufgebot geträumt. Noch in Paris, dachte sie nicht einmal, dass sie einmal heiraten würde. Quelle: Julia Malye – La Louisiane Ein Leben an der Seite fremder Ehemänner Die 30-jährige Julia Malye erzählt mit großer schriftstellerischer Reife vom Leben der Frauen an der Seite ihrer zunächst völlig fremden Ehemänner. Sie denkt und fühlt sich tief in ihre Figuren ein. Geneviève, Pétronille, Étiennette und Charlotte machen ganz unterschiedliche Erfahrungen. Sie müssen mit Schicksalsschlägen umgehen. Ehemänner sterben, eine von ihnen kann keine Kinder bekommen. Die Frauen lernen, reifen, wachsen hinein in ihr Leben in der neuen Welt. Obwohl sie in einem patriarchalischen System den Männern untergeordnet sind, entwickeln sie eigenständige, starke Persönlichkeiten, die uns die Autorin auf faszinierende, sensible Weise nahebringt. Die Männer, ob sie nun friedfertig oder brutal sind, bleiben in dem Roman stets im Hintergrund. In La Louisiane tragen die Kapitel Frauen-Namen. Elf. Pétronille. Nouvelle-Orléans, Januar 1731. Vierzehn Monate sind seit dem Angriff der Natchez vergangen, aber Pétronille stehen die Ereignisse dieses Wintermorgens so klar vor Augen, als wäre sie gestern geschehen. Nachdem Utu’wv Ecoko’nesel gegangen war, hatten sie ihre Kräfte verlassen. Sie war allein mit ihren Kindern am Ufer des Saint-Louis (…), auf der anderen Seite des Waldes tobten die Kämpfe. Quelle: Julia Malye – La Louisiane Aufstand des Natchez-Volkes gegen die französische Kolonialherrschaft Autorin Julia Malye hat reale historische Ereignisse in ihren Roman eingeflochten, wie den Aufstand des indigenen Natchez-Volkes gegen die französische Kolonialherrschaft. Dafür hat die Autorin auch Quellen der Natchez konsultiert. Bei ihrem Angriff im Jahr 1729 zerstörten die Kämpfer der Natchez die Siedlung Fort Rosalie, töteten Frauen, Männer und Kinder oder nahmen sie gefangen. Die Romanfigur Pétronille, die sich dank der Hilfe einer jungen Indigenen retten kann, lebt fortan mit dem Trauma des Verlusts. Ihre Nachbarin und Freundin Marie aus der Siedlung, ihr Ehemann und die Frau vom Volk der Natchez, die ihr geholfen hat – Pétronille weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, und leidet darunter. La Louisiane handelt also auch von Menschlichkeit in einer Zeit, die von Unterwerfung, Sklaverei und Krieg geprägt war. Und es ist ein Buch über unbedingte Freundschaft und Solidarität. Trotz der großen Entfernungen reißen die Bande zwischen Geneviève, Pétronille und Charlotte nicht ab. Kunstvoll verwebt Julia Malye ihre Lebensgeschichten miteinander – und imaginiert am Ende eine Liebe ohne Männer: Sie nimmt sie in die Arme, und so verharren sie, mit verhakten Füßen, und hören ihrem Atem zu, dem sturen Gesang der Grillen im Garten. Das Zimmer wirkt verändert, als hätte Geneviève es nie zuvor betreten. Sie ist sich ihres Körpers besonders gewahr, auch Charlottes, der sich zugleich vertraut und fremd an sie schmiegt. Quelle: Julia Malye – La Louisiane Roman über weibliche Selbstermächtigung Während fast eines Jahrzehnts hat Julia Malye umfassend und akribisch für La Louisiane recherchiert, unzählige Werke und Expert:innen konsultiert und die Archive von New Orleans – also Neu-Orleans – durchforstet. Vor dem französischen Buchtext verfasste sie eine Version auf Englisch. La Louisiane ist ein unterhaltsam und lebendig geschriebener Roman, der uns ein bisher kaum bekanntes Kapitel französischer Kolonialgeschichte intensiv und authentisch erleben lässt. Zugleich ist La Louisiane ein Buch über weibliche Selbstermächtigung, über Frauen, die auf subtile Weise von Objekten zu Subjekten werden und ihr Schicksal schließlich selbst in die Hand nehmen.…
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1 Bye, bye Literaturjahr 2024 – Wenn Bücher uns in ferne Umlaufbahnen katapultieren 6:05
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6:05Warum lesen wir? Na, weil Lesen bildet, klug macht und – das weiß auch Denis Scheck bestens: „Lesen macht schön, schlank und sexy.“ Der Hauptgrund für gepflegte Lektüren bleibt aber doch: Realitätsflucht. Und in dieser kruden Welt – in der Realität des Jahres 2024 – nach D-Day-Papieren, Kriegen, Vertrauensfragen und Präsidentschaftswahlen dachte doch jeder ab und an: I was not expecting that. We were told that we weren’t allowed to swear. Quelle: Samantha Harvey bei der Verleihung des Booker Prize 2024 Na, wenn schon die Booker-Prize-Gewinnerin fluchen möchte ... Samantha Harveys preisgekrönter Roman „Umlaufbahnen“ katapultierte uns in diesem Jahr in intergalaktische Höhen. Eskapismus at its best! Sechs Astronauten auf der ISS, schwebende Existenzen auf der Suche nach Sinn, die Erde dreht sich unaufhörlich weiter. Ein bisschen Bradbury, ein Hauch Sartre – die Hölle, das sind eben die anderen. Das weiß auch Clemens Meyer. Der Deutsche Dramapreis Wir erinnern uns: der Deutsche Buchpreis. Leer ausgegangen ist Meyer für seinen Roman „Die Projektoren“ . „Verdammte Wichser!“ soll der Leipziger bei der Verleihung im Frankfurter Römer geschimpft haben. Gut, dass er im anschließenden Spiegel-Interview entspannter nachlegen konnte. Buchpreis-Geld? Dringend gebraucht – für Steuernachzahlungen und die Scheidung. Ganz schön abgehoben! Also, die Himmelskörper natürlich. Aber worum geht es in Meyers Roman eigentlich? Im Mittelpunkt: Juno und Jupiter. Juno beginnt eine virtuelle Beziehung mit einem nigerianischen Love-Scammer – Moment, hoppla! Das war ja der andere Roman, der, der wirklich gewonnen hat: Martina Hefters „Hey, guten Morgen, wie geht es dir?“ . Ja, die richtige Gewinnerin Martina Hefter – etwas in den Hintergrund gerückt durch das Meyer’sche Drama. Gekränkte Egos und ehrgeizige Nachwuchsautorinnen Ach, diese gekränkten Egos – ein bisschen wie Raumkapseln ohne Funkkontakt: abgekoppelt, schwebend und weit weg von Bodenständigkeit. Apropos Schimpfen: In den Printmedien zu zetern ist ja auch out. Es ist fast 2025! Heute macht man das auf Instagram. Caroline Wahl weiß das. Die Jungautorin katapultierte sich in diesem Jahr an die Spitze der Bestsellerlisten – schon wieder. Nach dem Erfolg ihres Debüts „22 Bahnen“ nahm Wahl der Buchpreis-Jury übel, dass es ihr Zweitling „Windstärke 17“ nicht einmal auf die Longlist schaffte. Der wütende Post geisterte durch die Insta-Literaturbubble. Gleich mit einem Kummer-Gegenrezept, sie schrieb: „auf jeden fall habe ich gehofft draufzustehen und tat weh, als kein anruf kam. dann bin ich windsurfen gegangen, hab auf dem wasser haftbefehl gesungen“. Und doch: Ganz ohne Printmedien geht’s nicht – für die Welt verabredete Wahl sich zum Porschekauf mit Frédéric Schwilden. Die beiden zog es dann aber ins KaDeWe, wo sie Champagner-trinkend Caroline Wahls Status als Dauer-Bestsellerautorin zelebrierten. Angela Merkel knackte Sachbuchrekorde Und noch eine Nachwuchsautorin knackte Rekorde: Altkanzlerin Angela Merkel. „Freiheit“, ihr Kanzlerschafts-Memoir , ging eine Woche nach Verkaufsstart 200.000 Mal über die Ladentheke. Viel Würdigung, wenig Kritik. Verlag Kiepenheuer & Witsch sagt wohl einfach nur: Danke, Merkel! Ja, ein „Cruel Summer“ – der stand ganz im Zeichen von Taylor Swift . Nichts entzieht sich ihrer Gravitation. Als Literatursuperstar füllt man keine Stadien im Swift-Stil – leider nicht einmal mit einem Literaturnobelpreis. Der Literaturnobelpreis ging nach Südkorea Han Kang – bekannt vor allem für „Die Vegetarierin“. Kein Familienstreit bei der Weihnachtsgans, sondern ein Roman über die südkoreanische Gesellschaft. Eine Frau verweigert das Fleischessen und verwandelt sich in eine Pflanze. Eine Metamorphose! Nicht zu verwechseln mit einem anderen Vegetarier der Weltliteratur mit Faible für Verwandlungen, dessen 100. Todestag 2024 begangen wurde. Kafka Jahr. Kafka war überall: ARD-Serien, Dokus, Theater. Der Kafka-Kosmos lädt auch ein Jahrhundert nach seinem Tod zum Staunen über Bürokratie, Käfer und Folterwerkzeuge ein. Brrrr, der Horror! Den gab’s auch auf der Leipziger Buchmesse, wenn auch als „Mini-Horror“ . In Barbi Markovićs Kurzgeschichten erleben Mini und Miki Beziehungs- und Familienhorror. Aber Krisen gab’s auch sonst genug auf diesem Planeten: Krieg, Antisemitismus , Klimakrise. Das Klima in der Kulturszene? 2024 glich es einer Supernova. Ein bisschen mehr Science Fiction für 2025 10 % des Haushalts will der Berliner Senat einsparen . Die Kulturmenschen demonstrierten – und man fragt sich in diesen Zeiten: Braucht es vielleicht ein bisschen mehr Science-Fiction? Nicht nur metaphorisch, sondern so richtig. Wenn wir schon in Umlaufbahnen kreisen, könnten wir auch weiterfliegen – zum Planeten Utopia, auf dem Buchhandlungen nie schließen und nichts gestrichen wird. Mit diesem Traum: Adieu, Literaturjahr 2024! Vielleicht bleibt uns fürs nächste Jahr nur ein Wunsch: die Füße auf der Erde behalten, während der Kopf weiter kreist. In welcher Umlaufbahn ? Egal.…
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Yang Ning ist Tatortreinigerin in Taipeh. Sie macht diesen Job seit einiger Zeit, sie braucht ihn – nicht nur aus finanziellen Gründen: Seit dem Selbstmord ihres jüngeren Bruders hat sie ihren exzellenten Geruchssinn verloren. Sie riecht nicht, schmeckt nichts, fühlt nichts. Mit einer Ausnahme: Sobald sie den Geruch von Leichen wahrnehmen kann, fühlt sie sich wieder lebendig. Yang Ning lehnte sich über das Bett, lag beinahe mit dem Oberkörper darauf, keuchend; atemlos strich sie mit beiden Händen über die Matratze, streichelte sie mit zitternden Fingern, die geradezu zärtlich über Insektenpanzer, sich windende weiße Maden und die undefinierbare Masse aus Urin und anderen Körpersäften glitten. Ihr Geruchssinn, seit einem Jahr mausetot, war wieder zum Leben erwacht. Quelle: Katniss Hsiao – Das Parfüm des Todes Im Rausch der Gerüche Auf den ersten Seiten des Thrillers „Das Parfüm des Todes“ von Katniss Hsiao gibt es viele dichte Beschreibungen von überwiegend ekligen Gerüchen. Für Yang Ning sind sie wie eine Droge, von der sie immer mehr braucht. Doch dann wird sie verhaftet: Üblicherweise wird ein Tatort erst gereinigt, wenn die Polizei alle Beweise gesichert hat. Yang Ning wurde aber von einem Serienmörder an einen polizeiunbekannten Tatort gelockt und hat dort alle Spuren vernichtet. Für die Polizei ist sie damit die Hauptverdächtige. Yang Ning sucht daraufhin den Tatort abermals auf und entdeckt eine Spur, die nur sie finden kann: Den Geruch eines Parfüms. Sie erinnert sich, dass sie diesen Duft schon einmal gerochen hat: An der Kleidung ihres Bruders, als er noch gelebt hatte. „Das Parfüm des Todes“ ist ein überwältigender Thriller, der alle Sinne ansprechen, ja, regelrecht sprengen will: Mitreißend, ungehemmt und voller Anspielungen auf Filme und Literatur. Bei einem Mörder mit Faible für Düfte denkt man sofort Patrick Süskinds „Das Parfüm“ – und Katniss Hsiao unterstreicht diese Verbindung, indem sie dem unbekannten Verdächtigen den Namen Grenouille gibt. Ähnlich deutlich verfährt sie mit der zweiten großen Referenz: Wie in Thomas Harris‘ „Das Schweigen der Lämmer“ sucht Yang Ning Hilfe bei einem Serienmörder, der sie in die Denkweise solcher Täter einführen soll – und Yang Ning dann fast zärtlich „Lämmchen“ nennt. ‚Jetzt stell dir vor, du bist die Beute, und wenn du das Fürchten gelernt hast, stell dir vor, du bist der Jäger, und lerne, die Furcht zu beherrschen.‘ Er drängte sie zu lernen, Dominanz, Manipulation und Kontrolle zu genießen, die Freude an der Angst zu entdecken, das Licht im Dunkel des Bösen. Was für eine Frau, die vom Schnüffeln an einer Leiche einen Orgasmus bekam, gar nicht so neu war. Quelle: Katniss Hsiao – Das Parfüm des Todes Westlich geprägtes Genre trifft auf taiwanische Lebensrealität Diese beabsichtigten Verweise auf genreberühmte Texte sind mehr als eine Spielerei: Katniss Hsiao verknüpft sie mit Einblicken in die taiwanische Gesellschaft. Die viel zu engen Wohnungen werden zu Tatorten. Traditionelle Werte lösen sich auf. Familiäre Bindungen zerbrechen. Der Druck, zu funktionieren, ist allgegenwärtig – ihm aber widersetzt sich Yang Ning. ‚Warum kann ich verdammt noch mal nicht bleiben, wo ich bin? Warum darf es nicht sein, dass ich mein Leben lang nicht darüber hinwegkomme?‘ Alles sprudelte aus ihr heraus. ‚Du hast dir nie überlegt, was ich wirklich will. Ich will nicht, dass es mir besser geht. Alle zerren an mir, wollen, dass ich glücklich bin. Was heißt glücklich? Warum muss ich unbedingt glücklich sein? Wie könnte ich, jemand wie ich? ›Du musst loslassen.‹ Ich kann nicht loslassen.‘ Quelle: Katniss Hsiao – Das Parfüm des Todes Denn unter der brutalen Oberfläche, dem bewussten Provozieren olfaktorischen Ekels steckt in diesem mutigen, wilden Debütroman eine intensive Auseinandersetzung mit dysfunktionalen Familien und Trauer. Yang Ning verändert sich im Verlauf ihrer Nachforschungen. Sie lernt, ihre Impulsivität zu zügeln. Das macht sie gefährlicher. Und am Ende überschreitet dann auch sie eine Grenze in diesem überbordenden Debüt.…
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Es ist vielleicht die kleinste große Unbekannte auf dem deutschen Pressemarkt: Das Magazin. Am Kiosk und in Bahnhofsbuchhandlungen liegt es meist, aber man muss danach fragen, denn oft geht es zwischen all den großen Zeitschriften unter, seufzt Co-Verleger Till Kaposty-Bliss. Das ist ja das Problem beim Magazin durch das kleine Format. Das hat ja immer schon das iPad-Format, also die DIN-A5-Größe. Das ist ein Vorteil, wenn man es in der Hand hält und wenn man damit rumreist oder auch in der Badewanne. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Hundert Jahre, und immer noch da In diesem Jahr ist das Magazin 100 Jahre alt geworden. Deutschlands erstes „Magazine“ – gegründet 1924 von Franz Walter Koebner und Robert Siodmak, der später als Regisseur in Hollywood Karriere machte. Das Heft war seinerzeit etwas völlig Neuartiges. Leicht im Ton, aber nicht seicht. Eine Wundertüte, gefüllt mit allem, was Spaß macht und aufregend ist. „Die einzige Zeitschrift, die sich – auch in heutigen Zeiten – durchsetzen wird. Warum? Haben Sie vielleicht Lust, wenn Sie heute etwas lesen wollen, das Risiko zu laufen, mit einem langen Roman hereinzufallen, der fünf Mark kostet? – Nein! Sie werden das Magazin durchblättern und sofort etwas finden, was Sie interessiert.“ Die erste Auflage des Magazins 1924 war umgehend vergriffen. Rasch entwickelt es sich zur erfolgreichsten Monatsillustrierten in der Weimarer Republik. Ständiger Gast auf den Covern: ein kleiner Engel. „Also diese wirklich interessante Mischung aus leichter Erotik, Tingeltangel, sehr offenen Themen, wie zum Beispiel Rauschmittel. Das war ja in den Zwanzigern ein großes Thema.“ Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Auch Marlene Dietrich stand schon Modell Ein Heft, prall gefüllt mit Berichten über Revuegirls und literarischen Geschichten. Dazwischen viele Fotos von leicht bekleideten Damen, eingefangen von Vertretern der Avantgarde-Fotografie wie Man Ray. … manchmal auch Herren, soweit ich weiß, hat das Magazin die ersten Misswahlen in Deutschland ausgerufen … Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) In der Jury: unter anderem Heinrich Mann und Carl Zuckmayer. … so was gibt’s wahrscheinlich gar nicht mehr, und was ich immer gerne erzähle, ist, dass eine damals unbekannte Dame Model beim Magazin war: Marlene Dietrich. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Unter den Nazis musste das Magazin kriegsbedingt eingestellt werden – in der DDR aber ist es dann „auferstanden aus Ruinen“. Musik andeuten Hymne? Nach dem Aufstand des 17. Juni 1953 ändert die SED ihren „neuen Kurs“ und „erlässt“ die Gründung einer Zeitschrift, die die Massen unterhält und zerstreut. „Ab Dezember 1953 erscheint ein populäres, für den breitesten Leserkreis bestimmtes, monatlich erscheinendes Magazin. Mitte November sind dem Politbüro Probeexemplare der ersten Nummer vorzulegen.“ Im Januar 1954 erscheint das erste „Magazin“ – für die DDR, eine kleine Sensation. In der bis dahin eintönigen Presselandschaft tritt ein völlig neuer Ton, eine neue Farbe, ja, und die ersten Nacktaufnahmen. Eine Katze wird zum neuen Maskottchen Anteil am sensationellen publizistischen Erfolg haben aber vermutlich auch die ikonischen Titelblätter von Werner Klemke, die von Beginn an eine große Heiterkeit ausstrahlen. Er gestaltete bis nach der Wende über 400 Cover. Auf fast allen taucht ein kleiner Kater auf – mal mehr, mal weniger versteckt. Die Fellnase wird – ähnlich wie in den Zwanzigerjahren der Engel – zum Maskottchen des Blattes. Das Magazin hat für DDR-Verhältnisse eine hohe Druck-Qualität. Für reichlich Devisen werden Kodak-Farbfilme aus dem Westen eingekauft. Das Blatt steht finanziell gut da. Kurz vor dem Mauerfall beträgt die Auflage über eine halbe Million Exemplare. Und sie hätte noch höher sein können, wenn das Papier nicht so knapp gewesen wäre. Namhafte Schriftsteller:innen schreiben für das Blatt wie Christa Wolf, Bertolt Brecht oder Arnold Zweig, das dokumentieren heute die alten Honorar-Karteikarten, in denen Till Kaposty-Bliss blättert: Auch Loriot habe ich gefunden. Die Namen sagen mir jetzt alle auch nichts, ach, guck mal, Anja Kling, die Schauspielerin, die war mal Model beim Magazin, Gerit Kling, die Schwester … Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Viel mehr als eine Ost-Zeitschrift Das Magazin sei der „Playboy der DDR“ gewesen, der „New Yorker des Ostens“. Diese Vergleiche hört Till Kaposty-Bliss aber heute nicht mehr so gerne. Für ihn ist das Blatt unvergleichlich. – Und eines der wenigen Ost-Produkte, das zumindest dem Namen nach überlebt hat. Das Magazin bleibt zwar zunächst im Bewusstsein der Menschen mit der DDR verbunden, ist aber heute mitnichten eine Ost-Zeitschrift. Es gehen zwar 75 Prozent der etwa 45.000 Auflagen starken Zeitschrift nach Ostdeutschland, aber die Themen sprechen alle an. – Gemäß dem Motto: „Hinterher ist man immer schlauer“. Das ist interessant, das sind Lebenswelten, die ich nicht kenne, das sind Biografien, die anders sind als meine, aber durchaus Inspiration bieten fürs eigene Leben. Das sind solche Themen, wo man mit einem Erkenntnisgewinn rausgeht. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Das Magazin ist sich in vielem treu geblieben. Noch immer findet man Berichte aus Kneipen oder fernen Ländern neben Reportagen, Kolumnen und Kultur-Tipps: von Sexualität ab 60 bis zum Boxen sind den Themen keine Grenzen gesetzt. Freundlich im Ton, mit Witz und Sinnlichkeit. Politik spielt praktisch keine Rolle und, ja, auch die geschmackvollen Erotik-Fotos sind geblieben. Wir sind, glaube ich, die einzige Publikumszeitschrift, also die eben nicht Erotik ist, die sowas noch macht. Das macht ja keiner mehr. Das ist ja komplett verschwunden aus der Presse. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Überraschende Themen, viel Kultur, aber keine Politik Meistens werden Themen verhandelt, über die man so noch nicht nachgedacht hat. Und es gibt persönliche Geschichten – zum Teil mit überraschenden Offenbarungen. „Ich hab einen Hochschulabschluss und verdiene so viel oder wenig, wie man im Kulturbetrieb eben verdient. Mir gehts gut, echt. Ich hab was ich brauche. Trotzdem klaue ich neuerdings. Nicht im großen Stil, so bin ich nicht. Es ist einfach so, dass die Selbstbedienungskassen, die man in Supermärkten vorfindet, eine Belastung für meine Integrität darstellen.“ Zum geistreich-verspielten Inhalt passen die brillanten Titel-Gestaltungen von Kat Menschik, Deutschlands gefragtester Illustratorin. Die sind bunt, wo es nur geht und erinnern in ihrem harten Strich an Jugendstil-Plakate – Pop-Art mit romantischem Twist. Und noch etwas ist geblieben: der Kater. Kat hat Katzen oder Kater, und just als sie für uns angefangen zu zeichnen, war ihr Kater Boris gestorben und Boris lebt weiter im Magazin. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Ein Geheimtipp im Westen Nicht nur für Katzenliebhaber ist das Magazin also ein echter Geheimtipp. Und wer nicht am Kiosk suchen will, der verschenke doch einfach last minute ein Abo von „Das Magazin“ – als Überraschung für Kulturinteressierte unterm Weihnachtsbaum - „Hinterher ist man immer schlauer“, versprochen.…
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1 25. Ausgabe von „Das Gramm“ – Kurzgeschichten im Abo 6:11
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6:1122 Gramm kreischende Sägen Was hätten Sie denn gern? 22 Gramm kreischende Sägen? 24 Gramm Sekt und Sardellen? 22 Gramm folgenschwere Beobachtungen - oder doch lieber 24 Gramm Liebe in Zeiten der Zombie-Apokalypse? Diese feine Auswahl bietet kein großes Internetkaufhaus, sondern ein Magazin für Kurzgeschichten: Das Gramm. Etwa so groß wie die gelben Reclam-Heftchen steckt in jeder Ausgabe eine erlesene, bisher unveröffentlichte Kurzgeschichte. Der Name „Das Gramm“ zeigt die Idee dahinter: ein Heft, eine Geschichte, ein Häppchen Literatur, das aber keineswegs Fast Food ist, sondern lange nachhallen und satt machen möchte. Und der Name hat noch eine zweite Bedeutung Es gibt da natürlich auch den etymologischen Hintergrund, also das Wort „Gramm“ kommt aus dem Griechischen „Gramma“, das bedeutet so viel wie „Geschriebenes“. Man kennt es aus Autogramm, Telegramm oder auch aus dem Wort Grammatik. Und dann ist eben ein Gramm natürlich auch vor allem eine Einheit und ein Gramm als Gewichtseinheit finde ich als etwas sehr Sympathisches. Es ist sowas Leichtes und nichts Belastendes und doch ist es da. Es ist spürbar und kann durchaus einen Unterschied machen. Und das finde ich, passt gut zu dem, was dieses Magazin auch ist. Quelle: Patrick Sielemann, Herausgeber „Das Gramm“ … sagt Patrick Sielemann. Er ist hauptberuflich Lektor beim Kein und Aber Verlag und er ist der Herausgeber von „Das Gramm“. Anstoß für das Magazin war eine Frage: In diesem Fall war es die Frage, wie man mehr Menschen für das Lesen begeistern kann. Oder im Umkehrschluss, was hält Menschen eigentlich vom Lesen ab? Quelle: Patrick Sielemann, Herausgeber „Das Gramm“ Das Gramm will Lesehürden nehmen Patrick Sielemann fragte nach bei Familie und Freunden - und hörte meist dieselben drei Gründe: Erstens man hat zu wenig Zeit. Zweitens, man weiß nicht genau, was man lesen soll. Und vielleicht Drittens noch, wenn man sich entschieden hat, ist es vielleicht nicht das Richtige für einen. Quelle: Patrick Sielemann, Herausgeber „Das Gramm“ Diese drei Lesehürden, wie Patrick Sielemann sie nennt, möchte Das Gramm nehmen. Das Zeitproblem ist schnell gelöst, denn Kurzgeschichten sind von Natur aus kurz. Und anstelle von einem dicken Kurzgeschichten-Sammelband gibt es bei Das Gramm alle zwei Monate eine Geschichte. Thematisch keine Grenzen gesetzt Die anderen beiden Lesehürden – was soll ich lesen und trifft es meinen Geschmack – löst Das Gramm durch eine feine Auswahl an Texten: Von der Horror- bis zur Liebesgeschichte – thematisch gibt es keine Grenzen. Wichtig ist für Patrick Sielemann die Zugänglichkeit: Nicht an der Oberfläche bleiben, sondern den Leser und die Leserin an die Hand nehmen und in den Abgrund führen, das mache einen guten Text aus, sagt der Herausgeber. Das finde ich spannend an Texten, wenn man so…Da ist jemand und bittet einen in sein Haus hinein und winkt und ist freundlich und dann sieht man doch die Risse und den Schmutz unter dem Sofa. Das ist sowas, was ich an Texten spannend finde, wenn man erst mal reingelockt wird und dann doch irgendwie überrascht oder sogar vor den Kopf gestoßen wird. Quelle: Patrick Sielemann, Herausgeber „Das Gramm“ Wie im aktuellen Heft: „Dort sind auch Bären“ von Andrej Schulz. Darin verfolgt ein Mann Tag und Nacht den Livestream aus einem Bären-Gehege in Rumänien. Er sorgt dafür, dass die Zuschauerzahl im Livestream nie auf null runtergeht. Und er kennt alle Bären beim Namen. Besonders verbunden fühlt er sich dem Bären Bolik. Er kommt aus der Ukraine, wurde aus einem zerbombten Zoo gerettet. Etwas scheint in Bolik zerbrochen zu sein, denn er hebt kaum den Kopf. Auch das Leben des Ich-Erzählers der Geschichte ist von Splittern und Einsamkeit durchzogen. Andrej Schulz wurde in der Ukraine, in Donezk geboren und ist in Deutschland aufgewachsen. Er ist einer der vielen neuen literarischen Stimmen, die man Dank Das Gramm entdecken kann. Denn neben großen etablierten Namen wie Clemens J. Setz, Ulrike Draesner oder Judith Herrmann, die alle schon eine Kurzgeschichte bei Das Gramm veröffentlicht haben, bietet das Magazin auch unbekannten Autorinnen und Autoren die Möglichkeit, sein Skript einfach einzuschicken. Auf der Suche nach literarischen Goldnuggets Und wir bekommen auch viel geschickt und aus diesen vielen Einsendungen haben wir auch schon was herausgefischt und gefunden. Die Suche nach tollen Texten ist immer so ein bisschen wie eine Goldsuche. Man hat so einen Berg an Texten vor sich und man sucht den einen Besonderen, also das Goldnugget. Und auf dem Weg dorthin findet man durchaus viele toll aussehende Mineralien oder auch Edelsteine. Aber man will eben das Goldnugget. Und das meine ich nicht als materiellen Wert, sondern als ideellen Wert. Man will diesen einen Text, der einen begeistert und überrascht. Und der so strahlt, dass man weiß, man hält was Besonderes in den Händen. Quelle: Patrick Sielemann, Herausgeber „Das Gramm“ Besondere Gestaltung Die Geschichte von Andrej Schulz ist so ein Goldnugget. Was die Ausgaben von Das Gramm ebenfalls besonders macht, ist ihre Gestaltung. Sie sind wahre Sammelobjekte: handliches Format, kräftiges Papier, schöne Cover. Auf dem Cover der nächsten Ausgabe - Heft Nummer 25 - sieht man eine Skyline und die Silhouette einer Frau, die vor dem nächtlichen, liladunklen Himmel auf einem Hochhaus sitzt. Im Heft: Eine Kurzgeschichte von Ulrike Sterblich. Die Ausgabe heißt „Verliefen sich im Park“ und spielt in New York. Zum ersten Mal eine Das Gramm Geschichte, die in New York spielt. Es handelt von einer Familie, die dort einen Urlaub verbringen möchte und dort die wichtigsten Touristenattraktionen abklappert. Und irgendwie läuft alles ganz anders, als wie sie es sich vorgestellt haben. Quelle: Patrick Sielemann, Herausgeber „Das Gramm“ 22 Gramm märchenhafte Begegnungen verspricht uns diese Kurzgeschichte. Ein gutes Pfund wiegen alle 25 Hefte zusammen. Sie zeigen: Das Gramm ist festes Gewicht im deutschsprachigen Magazin-Markt. Und verhilft so der etwas stiefmütterlich behandelten Kurzgeschichte zu einem Revival. Vor allem aber gibt es nun grammweise schwere Gründe, direkt mit dem Lesen loszulegen.…
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1 Charles Baudelaire (Hg.) – Edgar Allan Poe. Heureka & Der Rabe 7:05
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7:05In „Der Rabe“ geht es um einen Raben, der um Mitternacht einen um seine verstorbene Geliebte trauernden Mann besucht. Es zählt zu den bekanntesten US-amerikanischen Gedichten. Neben den zahlreichen Übersetzungen, die es bereits zu „Der Rabe“ gibt, entschied sich Andreas Nohl mit seiner Neuübersetzung, Edgar Allan Poes Gedicht in Prosa, also nicht in Reimform, zu übersetzen. Geistesverwandtschaft zwischen Baudelaire und Poe In Edgar Allan Poe entdeckte der Herausgeber, Charles Baudelaire, einen Geistesverwandten. Mit „Die Blumen des Bösen“ verfasste Baudelaire selbst einen lyrischen Grusel-Klassiker. SWR Kultur Literaturchef Frank Hertweck ist in die Welt von Edgar Allan Poe und seinem Förderer Charles Baudelaire eingetaucht.…
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1 Carsten Henn – Die goldene Schreibmaschine 7:13
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7:13Jeder Mensch braucht einen sicheren Ort. Das konnte ein großer Kleiderschrank sein, in den man komplett hineinpasste, eine morsche Bank an einem abgelegenen See oder ein Schrebergartenhäuschen mit bollerndem Holzkohleofen. Emily hatte eine Bibliothek. Quelle: Carsten Henn – Die goldene Schreibmaschine Und das ist nicht irgendeine Bibliothek, sondern die Anna Amalia Bibliothek in Weimar mit ihrem berühmten Rokokosaal. Autor Carsten Henn hat für seine jugendliche Heldin Emily ein namhaftes, ehrwürdiges Setting ausgesucht, das er ansonsten aber sehr frei behandelt. Er erfindet noch einen Nachfahren des nicht weniger berühmten Johannes Gutenberg, Eurich von Gutenberg, der die Bibliothek erbaut haben soll. Dort steht ein Ohrensessel, auf dem Emily lesend ihre Nachmittage verbringt. Eines Tages aber dringt ausgerechnet der Lehrer, den sie am wenigsten leiden kann, in ihren geschützten Ort ein. Dr. Dreskau ist streng, gemein und ungerecht – die schlechteste aller Kombinationen. Und nun beobachtet Emily heimlich, wie eben dieser Dr. Dreskau in ihrer Bibliothek ganz offensichtlich etwas sucht. Buch um Buch zog er hektisch hervor, jedes wurde wütender zurückgeschoben. Beim 31. geschah etwas Ungewöhnliches: Die Wolkendecke riss ein wenig auf, und die Sonne schickte einen warmen Strahl durch eines der Fenster. Nur ein, zwei Sekunden lang. Im Bücherregal glitzerte es golden. Als Emily genauer hinsah, war es schon wieder verschwunden. Quelle: Carsten Henn – Die goldene Schreibmaschine Emily entdeckt einen geheimen Raum voller Merkwürdigkeiten Emilys Neugier ist geweckt. Am nächsten Tag gelingt es ihr gemeinsam mit ihrem Freund Frederick nach einigen Mühen tatsächlich, das zu finden, was das Glitzern ausgelöst hat: Einen goldenen Füllfederhalter. Mehr noch: Das edle Schreibgerät lässt sich mit einer Drehung in einen Schlüssel verwandeln und dieser wiederum passt in ein Gemälde, das Eurich von Gutenberg zeigt. Ehe sie sich versieht, steht Emily in einem gewaltigen Raum hinter dem Rokokosaal, einer Art Negativabbildung: Dort ist es Nacht, nicht Tag, die Regale sind schwarz, nicht weiß. Und er scheint schier unendlich zu sein. Noch etwas war merkwürdig in diesem Raum, der vor Merkwürdigkeiten strotzte. Die Einbände der Bücher changierten in den unterschiedlichsten Farben. Als könnten sie sich nicht richtig für eine einzige entscheiden und probierten ständig neue aus. Im Zentrum dieser Welt stand eine goldene Schreibmaschine auf einem silbernen Tisch. Davor ein kupferfarbener Stuhl. All das funkelte, als wäre es gerade erst poliert worden. Quelle: Carsten Henn – Die goldene Schreibmaschine Die goldene Schreibmaschine kann Bücher neu schreiben Schauspieler Stephan Benson macht genau das, was ein guter Erzähler tun sollte: Selbst in Beschreibungen macht er die Emotionen der beobachtenden Figur hörbar – wie hier die der staunenden Emily. Diese ahnt nicht, dass sie genau das gefunden hat, wonach ihr Lehrer Dr. Dreskau so verzweifelt gesucht hat: eine Erfindung Eurich von Gutenbergs, eine Maschine, die Mechanik und Magie miteinander verbindet. Emily kehrt nun immer wieder in die geheime Bibliothek zurück und findet heraus, wozu die goldene Schreibmaschine zu gebrauchen ist: Emily kann darauf einzelne Seiten bestehender Bücher neu schreiben und mit einem beiliegenden Bastelset in das Exemplar in der geheimen Bibliothek einkleben. Daraufhin verändern sich sämtliche Exemplare dieses Buches – und: Niemand erinnert sich an das Original. Emily ist begeistert und schreibt erstmal das Ende eines ihrer Lieblingsbücher zum Happy End um. Zu Hause überprüft sie, ob es geklappt hat: Auf der letzten Seite dann: Drei getrocknete Tränen. Wie konnte das sein? Sie hatte beim Lesen nicht geweint. Ganz bestimmt nicht! Sie war wütend gewesen. Dann begriff Emily. Sie hatte ihre eigene Vergangenheit verändert. Ungläubig berührte sie die Worte, als wären sie aus Träumen gewoben und könnten bei Berührung zerfallen. Die goldene Schreibmaschine war ein mächtiges Werkzeug. Wie hatten sich wohl die beiden Folgebände verändert? Emily griff nach ihnen, doch sie standen nicht an ihrem Platz. Quelle: Carsten Henn – Die goldene Schreibmaschine Was passiert, wenn man Romane umschreiben kann? Es gibt sie nicht mehr – Emilys Happy End hat die Fortsetzungen obsolet gemacht. Hier zeigt sich die Macht der goldenen Schreibmaschine und der durchaus aktuelle Bezug dieses Hörbuchs. Sie könnte auch Diskussionen zum Beispiel darüber, ob man Begriffe wie das N-Wort aus alten Kinderbüchern ausmerzen sollte, verhindern. Einmal umgeschrieben und es gäbe noch nicht einmal eine Debatte. Diese Maschine öffnet Geschichtsklitterung Tür und Tor, doch auf ein rein politisches Gebiet begibt sich Autor Carsten Henn nicht: Sachbücher und Zeitungen kann Emily nicht umschreiben. Aber auch die veränderten Romane haben erstaunliche Effekte: Mitschüler verhalten sich ihr gegenüber plötzlich ganz anders. Und leider beachtet ihr Freund Frederick sie gar nicht mehr. Emily kann die Folgen der veränderten Geschichten schlecht kontrollieren. Manchmal findet sie sich selbst kaum in ihrer neuen Realität zurecht. Dazu kommt: Dr. Dreskau ist ihr auf den Fersen. Günther Dreskau wurde von vielen Menschen unterschätzt. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ein Geschichts- und Mathelehrer und damit ein historisch gebildeter Mann und logisch denkender Mensch so verschlagen sein konnte. Und erst recht nicht, dass er eine Schülerin verfolgen würde. Quelle: Carsten Henn – Die goldene Schreibmaschine Ein Abenteuerhörbuch mit idealem Sprecher Und dann wird Autor Carsten Henn doch politisch: Dr. Dreskau will sich um jeden Preis Zugang zur goldenen Schreibmaschine verschaffen, um seine Werte wie Disziplin, Heimat und Tradition über manipulierte Romane im Gedankengut der Gesellschaft zu verankern. Allein Emily kann das verhindern, da sie die Einzige ist, die sich an die alte Welt erinnern wird. Carsten Henn erzählt mit der „goldenen Schreibmaschine“ sehr spannend über die Macht von Ideen und Geschichten. Stephan Benson ist der ideale Interpret dafür. Seine Stimme erinnert an Christian Brückner und wie er hat Stephan Benson den Text voll im Griff, macht die erzählenden Passagen genauso lebendig wie die Figuren, die er selbstverständlich eindeutig charakterisiert. Das macht „Die goldene Schreibmaschine“ zu einem großartigen Abenteuerhörbuch. Pass auf, was Du liest, heißt die Botschaft – aber diese Geschichte sollte auf jeden Fall dabei sein.…
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1 lesenswert Magazin: Mit Büchern von Ottessa Moshfegh, Rita Bullwinkel, zwei literarischen Magazinen und einem Hörbuch von Carsten Henn 54:54
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54:54Dieses Mal im lesenswert Magazin: Bücher für die Zeit „zwischen den Jahren“ sowie zwei literarische Magazine als Geschenktipps
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1 Ottessa Moshfegh – Mein Jahr der Ruhe und Entspannung 5:42
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5:42Die Erzählerin in Ottessa Moshfeghs Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ lässt sich von einer schrägen Psychiaterin ein buntes Sortiment an Medikamenten verschreiben, um abzuschalten und ein ganzes Jahr im Dämmerzustand zu verbringen. Verrückt spielendes Unterbewusstsein Doch dann gibt es Schwierigkeiten. Die Schläferin kann nicht mehr schlafen und erhöht die Medikamentendosis. Darauf beginnt ihr Unterbewusstsein verrückt zu spielen und lässt sie seltsame Dinge tun. Für Katrin Ackermann ist diese ungewöhnliche Geschichte der perfekte Lesestoff für die Zeit zwischen den Jahren. Ein Beispiel sollte man sich an diesem Winterschlaf jedoch nicht nehmen.…
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1 Daniel Kehlmann (Hg.) – Mascha Kaléko. Ich tat die Augen auf und sah das Helle 4:50
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4:50Sie kannte die Nächte von Berlin, New York und Jerusalem. Als junge Dichterin saß Mascha Kaléko an den Künstlertischen des Romanischen Cafés. Im New Yorker Exil dachte sie nachts an Deutschland und vermisste den Frühling an der Spree. Und in Jerusalem, wo sie seit 1959 mit ihrem Mann lebte, litt sie am Heimweh nach Orten, die nur noch im Traum existierten. In ihrem Gedicht "Emigranten-Monolog", das in New York entstand, schrieb sie: Mir ist zuweilen so als ob Das Herz in mir zerbrach. Ich habe manchmal Heimweh. Ich weiß nur nicht, wonach ... Quelle: Daniel Kehlmann (Hg.) – Mascha Kaléko. Ich tat die Augen auf und sah das Helle Exil ohne Ende In diesen Versen zeigt sich die Dramatik des Lebens von Mascha Kaléko, denn für sie nahm das Exil als Zustand und Gefühl nie mehr ein Ende. Trotzdem geriet ihr Werk nicht so in Vergessenheit, wie gelegentlich beklagt wird. Nach dem Krieg hatte sie immer wieder Auftritte in der Bundesrepublik. Nach ihrem Tod gab es Neuauflagen, und 2012 erschien bei dtv eine vierbändige Ge-samtausgabe. Darauf basiert der schöne Auswahlband, den Daniel Kehlmann nun zum 50. Todestag der Dichterin zusammengestellt und mit einem Vorwort versehen hat. Er trägt als Titel die Gedichtzeile "Ich tat die Augen auf und sah das Helle". Eine Großstadtlerche im Dichterwald Begonnen hatte alles mit einem fulminanten Start. Bereits mit Anfang zwanzig stieg Mascha Kaléko vom Bürofräulein zur jungen Dichterin auf. Sie beherrschte den Stil der Neuen Sachlichkeit, genauso verstand sie sich jedoch auf ganz eigene Tonlagen zwischen Sarkasmus, Ironie und Wehmut, wenn sie das Großstadtleben der zwanziger Jahre in Verse fasste. Ein Kinoliebling lächelt auf Reklamen für Chlorodont und sieht hygienisch aus. Ein paar sehr heftig retuschierte Damen blühn bunt am Hauptportal vorm Lichtspielhaus. Quelle: Daniel Kehlmann (Hg.) – Mascha Kaléko. Ich tat die Augen auf und sah das Helle Mascha Kalékos Gedichte erschienen in den führenden Berliner Feuilletons, sie wurden auf Kabarettbühnen gesungen und von der Verfasserin selbst mit viel Lampenfieber vorgetragen. "Ich sang einst im deutschen Dichterwald, / Abteilung für Großstadtler-chen", schrieb sie später. Sie konnte so abgebrüht sein wie Erich Kästner, mit dem sie oft verglichen wurde, und von den neuen Frauen jener Zeit verstand sie ebenso viel wie Irmgard Keun. Den "nächsten Morgen" nach einer illusionslosen Liebesnacht beschreibt sie so: Ich zog mich an. Du prüftest meine Beine. – Es roch nach längst getrunkenem Kaffee. Ich ging zur Tür. Mein Dienst begann um neune. Mir ahnte viel ... Doch sagt' ich nur das Eine: »Ich glaub', jetzt ist es höchste Zeit! Ich geh ...« Quelle: Daniel Kehlmann (Hg.) – Mascha Kaléko. Ich tat die Augen auf und sah das Helle 1933 war es vorbei mit der Leichtigkeit Die "paar leuchtenden Jahre", wie sie ihre Berliner Zeit nannte, waren 1933 vorbei, obwohl es noch eine Weile dauerte, bis die Nazis in Mascha Kaléko die Jüdin und ihr literarisches Feindbild, die "Asphaltliteratin" identifizierten. 1938 floh sie mit Mann und Sohn in die USA und verdiente Geld mit Reklametexten. Von da an überwogen in ihren Gedichten die melancholischen Töne, die wehmütigen Rückblicke, die bitteren Nuancen. Naturbilder wurden für sie gleichermaßen zu Symbolen für das Leiden an Deutschland wie das Heimweh danach. Im Gedenken an die Opfer der Nazis beschrieb sie deutsche Eichen und Äcker als hassenswert. Viel öfter aber waren es die Dramatik von Exil und Fremdheit, die sie in Naturszenen spiegelte. Im Gedicht "Herbstlicher Vers" heißt es: Nun schickt der Herr das Leuchten in die Wälder. Grellbunte Brände lodert jedes Blatt. Wie welkt das Herz dem wandermüden Fremden, Der nur die Einsamkeit zur Heimat hat. Quelle: Daniel Kehlmann (Hg.) – Mascha Kaléko. Ich tat die Augen auf und sah das Helle Auch wenn Mascha Kaléko nicht zu den ganz großen sondern, wie sie selbst sagte, zu den "zweitbesten Namen" zählt, wird niemand, der einmal davon gehört hat, ihre Verse und ihr Schicksal vergessen.…
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Wir steigen in den Ring – beim fiktiven „Daughters of America Cup“ in Reno, Nevada. Zwei Tage, zahlreiche Kämpfe, acht Boxerinnen. Jede von ihnen weiß genau, warum sie im schmuddeligen „Bob’s Boxing Palace“ antritt. Jedes Kapitel - ein Kampf „Schlaglicht“, das Debüt der US-amerikanischen Autorin Rita Bullwinkel, erzählt dramaturgisch klar strukturiert und in packenden, kurzen Kapiteln von diesem Wochenende. Jedes Kapitel ist ein Kampf – und jeder Schlag hat Gewicht. Denn als Leser und Leserinnen haben wir einen Vorteil, den man üblicherweise beim Sportschauen nicht hat: Wir erleben nicht nur das körperliche Spektakel im Ring, sondern auch die inneren Kämpfe der Boxerinnen. Wir blicken in ihre Köpfe – sehen Wut, Entschlossenheit, Ängste und unbändiges Selbstbewusstsein. Boxerstereotype fehlen komplett – zum Glück Was „Schlaglicht“ zu einer besonderen Lektüre macht, ist auch das, was fehlt. Bullwinkels Roman kommt ganz ohne Boxstereotype aus. Hier gibt es keine „Eye of the Tiger“-Rockys, keine Nummerngirls und keine „Million Dollar Babys“. Stattdessen zeichnet die Autorin komplexe, vielschichtige Sportlerinnen. Das Turnier wird zum Brennglas für die Lebensrealitäten dieser jungen Frauen. Jede Boxerin bringt ihre Geschichte mit Iggy Lang hat nur ein Ziel: „die Weltbeste in etwas“ zu werden. Andi denkt immer wieder an den Jungen, der unter ihrer Aufsicht im Freibad ertrank. Und Artemis Victor will endlich aus dem Schatten ihrer erfolgreichen Schwester treten. Jede bringt ihre eigene Geschichte mit in den Ring. Jedes Match wird zur wortlosen Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. Bullwinkels Sprache ist kraftvoll und präzise wie ein perfekter Schlag – stark, roh und furchteinflößend. Doch das Leben geht weiter, auch nach den Kämpfen. Eine der Frauen kann später, nach zu vielen gebrochenen Fingern, nicht einmal mehr eine Tasse halten. Andere werden Managerinnen, Buchhalterinnen, vielleicht Hochzeitsplanerinnen. Was bleibt, ist die Erinnerung an die Zeit im Ring. „Schlaglicht“ ist ein Roman über Kampfgeist, Verletzlichkeit und das Ringen um den eigenen Platz in der Welt. Das Boxen wird zur Metapher für das Leben: ein Kampf, in dem man sich beweisen muss. Ein Buch über die Suche nach Identität – und eines, das nachhallt wie ein harter linker Haken.…
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1 lesenswert Quartett mit Büchern von Behzad Karim Khani, Ljuba Arnautović, Clemens J. Setz und Gian Marco Griffi 56:05
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56:05Literaturexperte Denis Scheck moderiert die Gesprächsrunde mit Ijoma Mangold, Kulturkorrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT. Diesmal vervollständigen das Quartett die Schriftstellerin Nele Pollatschek und die Kulturjounalistin und Autorin Shelly Kupferberg.
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Am Berliner Max-Delbrück-Centrum arbeitet der US-Amerikaner Russ Hodge, der seit 35 Jahren in Deutschland lebt, als Kommunikationstrainer und Wissenschaftsjournalist. Nach einer Konferenz 2019 über besondere Tiere in der Forschung beschloss er, ein Buch zu schreiben. Er hatte so viele interessante Wissenschaftler getroffen, die über so phantastische Tiere wie Nacktmulle, Nachtigallen oder Axolotl arbeiten, dass ihm all die Geschichten nicht mehr aus dem Kopf gingen. Das Ergebnis ist ein großformatiges, farbenprächtiges Kompendium voller Lebenskünstler – Menschen und Tieren. Gleich das erste Kapitel ist kleinen, schrumpeligen Gesellen gewidmet: Nacktmullen. Leben in einer ausgeklügelten Sozialstruktur: Nacktmulle Die wenigen auf ihrer rosa Haut verteilten Haare dienen als Stimmgabeln, um Vibrationen aufzufangen, wenn sie durch die dunklen Gänge unter der äthiopischen Erde flitzen. In vielerlei Hinsicht faszinierende Wesen. Russ Hodge sagt: „Sie haben ihre eigene Sprache, sie können ohne Sauerstoff leben, sie kriegen nie Krebs, das ist ein Tier, das 36, 37 Jahre lebt, jedes Tier ist eine Welt für sich, ist eine Art Community von Eigenschaften, die zusammenarbeiten, um zu überleben in Harmonie mit ihrer Umwelt.“ So wie bereits seit 350 Millionen Jahren der Axolotl aus Mexiko. Übersetzt „Wassermonster“ heißt der überaus friedliebende weiße Schwanzlurch mit dem rosa Kranz aus Kiemenästen um seinen Kopf, dessen Körperteile wieder nachwachsen, wenn sie verletzt oder abgerissen werden. Die meisten Axolotl leben weltweit in Forschungslaboren, wo sie gezüchtet werden, weil sie für die Regenerationsmedizin von großem Interesse sind. In Freiheit in ihrer Heimat nahe Mexiko-City hingegen kommen sie nur noch sehr selten vor. Ausgestattet mit erstaunlichen musikalischen Fähigkeiten: Nachtigallen Eine andere Hauptstadt allerdings bietet beste Bedingungen für eine weitere sehr besondere Spezies: Nachtigallen. Mehr als 3000 fühlen sich in Berlin wohl und lassen die 2500 öffentlichen Parks der Stadt mit ihrem sommerlichen nächtlichen Gesang zu Freiluftkonzertsälen werden. Bis zu 200 Strophen kann das Lied einer Nachtigall umfassen. Oder sie überrascht mit ganz anderen musikalischen Fähigkeiten. Russ Hodge ließ sich darüber von der Künstlerin Ines, einer der vielen Nachtigallbegeisterten, erzählen und beschreibt es in seinem Buch: „Als sie eines Tages auf dem Weg nach Hause war, hörte sie aus einer Hecke eine Nachtigall singen. Sie sang etwas, und Ines antwortete ihr. ‚Ich brachte ihr eine Zeile aus einer Nachtigallenarie von Händel bei‘, erzählt sie. ‚Am Ende sang sie die Zeile besser als ich. Sie hatte Händel verbessert‘.“ Neben all den interessanten Fakten und Anekdoten über die Tiere gerät Russ Hodge nie die große Gefahr aus dem Blick, die für all diese Lebenskünstler besteht – von Grizzlybär über Eisfisch bis Schleiereule oder Bärtierchen. Der Autor sagt: „Die sind alle perfekt angepasst, aber dafür hatten sie Millionen von Jahren Zeit. Da wir diese Prozesse von Klimaentwicklung so beschleunigt haben, werden sie nicht mehr die Zeit haben, diesen natürlichen Prozess von Anpassung hinzukriegen.“ Phantasievolle Bildtafeln für Augen, Herz und Hirn So berichtet Russ Hodge nicht nur viel Wissenswertes von besonderen Tieren und den Forschern, die sie in Laboren züchten und erforschen oder in freier Wildbahn aufspüren. Er zeigt auch, wie fragil ihre, unsere Welt ist. Ungemein bereichert wird der Fundus an Fakten durch die farbenfrohen Illustrationen von Kat Menschik. Sie hat sich an Dioramen von Naturkundemuseen orientiert und große, phantasievolle Bildtafeln geschaffen, auf denen in türkisblauem Wasser ein Axolotl neben einer bunten mexikanischen Totenmaske schwimmt. Oder über der rosa Nacktmulletruppe in ihrem dunklen unterirdischen Gang zwei afrikanische Frauen in bunten Kleidern unter orangefarbenem Himmel auf eine Neubausiedlung am Rande der Wüste blicken. Ein im wahrsten Wortsinne bildschön gestaltetes Buch für Augen, Herz und Hirn.…
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Wer sich fleißig durch die letzten Jahrhunderte Literaturgeschichte bewegt, wird einer Spezies von Autoren eher selten begegnen: den weiblichen. Nicht dass schreibende Frauen gänzlich inexistent gewesen wären. Nur fanden sie selten Eingang in den Kanon. Erst in der jüngsten Vergangenheit werden längst vergessene Autorinnen häufiger in ein helles Licht gerückt, gewürdigt durch Neuveröffentlichungen oder erstmalige Übersetzungen. Die Friedenauer Presse hat uns im Frühjahr mit Maria Messina bekannt gemacht, einer 1887 in Palermo geborenen Erzählerin, die auch in Italien vergessen war, bis ihr sizilianischer Landsmann Leonardo Sciascia in den frühen Achtzigern auf sie aufmerksam machte. Nun folgt nach „Das Haus in der Gasse“ ihr 1923 erstmals erschienener Roman „Un fiore che non fiorì“ , in dem eine junge, zunächst eigensinnig wirkende Frau doch ganz klassisch die Liebe sucht, an den bürgerlichen Konventionen ihrer Zeit verzweifelt und an der Unerfülltheit ihrer Leidenschaft buchstäblich zugrunde geht. Ein Buch, zwei Übersetzungen Das Besondere: Es liegen nun gleich zwei Übersetzungen des Romans vor. Christiane Pöhlmanns bei der Friedenauer Presse vorgelegte Übersetzung heißt „Eine Blume ohne Blüte“; jene von Leopold Federmair bei PalmArtPress „Eine Blume, die nicht blühte“. Der eine Titel nimmt sich eine größere poetische Freiheit; der andere hält sich an die ursprüngliche Relativsatz-Konstruktion. Auch der erste Satz des Buches hat in den deutschen Versionen zwei Varianten: Stefano reichte es! Quelle: Maria Messina – Eine Blume ohne Blüte So bei Christiane Pöhlmann. Bei Leopold Federmair lautet er hingegen: Stefano war sehr verärgert! Quelle: Maria Messina – Eine Blume, die nicht blühte Kreuzdämliche Romantiker Was sich hier schon andeutet, zieht sich durch das Buch: Pöhlmanns Übersetzung ist spielerischer, entfernt sich zwar nicht vom Original, aber interpretiert es freier und ausdrucksvoller. Federmair bleibt näher am Text, wirkt aber zugleich auch ein bisschen braver. Es ließen sich viele Stellen finden, die das belegen, nur zwei seien zitiert. Pöhlmann: Nun allerdings trottete er mit dem Kopf voran, als trüge er seine Gedanken huckepack. Und bei Federmair: Er ging mit nach vorne gerecktem Kopf, als trüge er die Gedanken auf seiner Schulter. Pöhlmann: Und die Bewunderer im Klub oder beim Tennis – die um keinen Preis als »kreuzdämliche Romantiker« abgestempelt werden wollten – stellten sich mit ihr in einer Weise auf freundschaftlichen Fuß, als wäre sie ein junger Mann. Federmair: (…) die Bewunderer vom Club und vom Tennis wiederum behandelten sie – um nicht als „dümmliche Romantiker“ zu gelten – auf saloppe Art und Weise, ganz so, als wäre sie ein junger Mann. Konventionen hinter sich lassen Beide Übersetzungen sind gelungen – wenngleich jene von Pöhlmann der Geschichte der für ihre Zeit ziemlich emanzipierten Franca gerechter zu werden scheint, ihre Keckheit und ihre Regelverstöße stärker in der Sprache zum Klingen bringt. Aus der Perspektive von Franca ist der Roman zum allergrößten Teil erzählt: Sie wächst bei ihrer Tante in einer Kleinstadt bei Florenz auf, ihr Vater lässt ihr gehörige Freiheiten – allerdings nur bis zu einer gewissen Grenze der Schicklichkeit. Mit ihren Freundinnen bildet sie eine verschworene Gemeinschaft; zumindest so lange nicht der Ernst des Lebens droht. Der bedeutete auch in den 1920er Jahren: heiraten, Kinder kriegen, einem Mann treu ergeben sein – genau die faschistische Ideologie, die in der Entstehungszeit des Romans die Gesellschaft prägte. Franca sträubt sich einerseits dagegen – und wird zugleich von der Liebe zum Sizilianer Stefano in einen Strudel von Begehren und Zweifel gerissen. Dieser Stefano allerdings scheint einer Welt verhaftet, die sie eigentlich hinter sich lassen will. Dass Messina ihrer Heldin zwar Eigensinn zugesteht, sie aber dann doch auf gewisse Weise zum Opfer überkommener Vorstellungen macht, mag man bedauern. Aber auch das ist ein Statement: Messina beschreibt einen Kampf um ein selbstbestimmtes Leben, der noch ganz am Anfang stand. Von diesen Anfängen heute sogar in zwei Übersetzungen einer fast vergessenen Autorin lesen zu können, zeigt: Der feministische Kampf ist zumindest in Teilen erfolgreich weitergegangen.…
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1 Christian Uhle – Künstliche Intelligenz und echtes Leben 4:08
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4:08Zu den Stoffen von Science-Fiction-Filmen gehört, dass die Menschen nicht nur von fremden Wesen angegriffen werden, sondern auch von ihren eigenen Geschöpfen. Meistens sind es Roboter, Replikanten oder Cyborgs, die nach der Weltherrschaft greifen. Aber manchmal geht die Revolution auch von ganz alltäglichen Maschinen aus. Dann verhalten sich die Küchengeräte nicht, wie sie sollen, und werden mit einem Mal bedrohlich. Die Revolution der Maschinen Die meisten dieser Szenarien mögen abwegig sein, aber die Angst dahinter ist es nicht. Mit der intelligenten Technik, die unser Leben zunehmend durchdringt, steigt auch das Risiko eines Kontrollverlusts. Denn in Zukunft werden uns die technischen Geräte immer häufiger Entscheidungen abnehmen. Sie werden besser Autofahren können als wir, klüger mit unserem Geld umgehen und vielleicht sogar die beständigeren Freunde sein. Obwohl wir zurzeit eine Revolution mit Ansage erleben, sind wir auf unsere eigene Zukunft schlecht vorbereitet. Aus diesem Grund hat der Philosoph Christian Uhle einen Ratgeber für das Zusammenleben von Menschen und Maschinen vorgelegt. In seinem Buch „Künstliche Intelligenz und echtes Leben“ analysiert er die Verheißungen der neuen Technik und geht der Frage nach, wie wir ein realistisches Verhältnis zu ihnen finden können: Ob privat oder am Arbeitsplatz – dank autonomer Staubsauger, digitaler Tools und smarter Helferlein gewinnen wir angeblich mehr Zeit für Freundinnen oder Kunden. Das klingt gut. Aber ist es auch realistisch? Werden diese Versprechen eingelöst? Werden wir in zehn Jahren dank KI, automatisierter Produktion und neuer Services effizient, fokussiert und entspannt durch den Tag schweben? Quelle: Christian Uhle – Künstliche Intelligenz und echtes Leben Die künstlichen Gefühle Mit wenigen philosophischen Handgriffen erklärt Uhle, warum diese Annahme naiv ist. In einer modernen Welt wie der unsrigen wird jede gesparte Zeit sofort wieder in neue Unternehmungen investiert. Längst haben uns die Errungenschaften der Technik auf den endlosen Pfad ständiger Verbesserungen getrieben. Davon abzuweichen, ist gar nicht so einfach. Oft meinen wir, selbst in unserer Freizeit effizient sein zu müssen. Sorgsam geht Uhle unser alltägliches Leben durch, entlang der Sehnsüchte nach Geborgenheit und Glück. Die Technik ist nicht nur weit effizienter als wir Menschen, sie hat sich auch bereits als eine bessere Managerin unserer eigenen Gefühle erwiesen. Algorithmen suchen uns die passenden Partner aus, ahnen unsere Stimmungstiefs lange vor uns selbst und reden mit uns, wenn sich alle anderen bereits abgewendet haben: In der absehbaren Zukunft werden viele Menschen einen eigenen digitalen Assistenten nutzen, der sie vom Moment des Aufstehens bis zum Schlafengehen durch den Tag begleitet, der immer für sie da ist, der alles weiß und der ihnen das Gefühl gibt, verstanden zu werden und niemals mehr allein zu sein. Quelle: Christian Uhle – Künstliche Intelligenz und echtes Leben Das zweite Leben Viele werden diese neue Welt künstlicher Gefühle vielleicht abstoßend finden. Aber schon bald wird sie uns vertraut sein. Neben unserem geläufigen Leben werden wir noch ein zweites Leben führen, zusammen mit den Maschinen um uns, die zunehmend an Eigenständigkeit gewinnen. Die Leitlinien, die Uhle zum Umgang mit ihnen entworfen hat, sind ein Plädoyer dafür, sich rechtzeitig mit diesem zweiten Leben zu beschäftigen: Gesellschaften haben sich schon immer verändert, aber jetzt erleben wir nicht lediglich eine Veränderung in unseren Gesellschaften, sondern eine Veränderung darin, was eine Gesellschaft überhaupt ist. Es ist nicht mehr etwas, das lediglich zwischen Menschen passiert und an dem Menschen teilhaben. Quelle: Christian Uhle – Künstliche Intelligenz und echtes Leben Uhle wendet sich mit seinem Buch bewusst an ein Publikum, das sich bislang noch nicht mit Fragen der Künstlichen Intelligenz beschäftigt hat. Sein Ratgeber für das Maschinenzeitalter ist zugleich eine gut verständliche Einführung in die logischen Grundlagen der neuen Anwendungen, denen wir bereits überall in unserem Alltag begegnen. Aber es ist vor allem eine gelungene Befragung unserer Erwartungen an eine bessere Zukunft.…
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Seine ersten Eindrücke von Nachkriegsdeutschland sammelte Carlo Levi in München, wo er mit einer vorweihnachtlich geschmückten Lufthansa-Maschine aus Rom gelandet war. Sein Hauptinteresse galt der Kunst, der Architektur, den noch immer von Bombenschäden gezeichneten Stadtbildern und vor allem den Menschen. „Es gibt keine Monster“, flüsterte ihm ein junger Franzose beim Bier zu. Tatsächlich erkannte Levi in den Straßenpassanten vorwiegend „leutselige, einfache, wohlhabende“ Bürger, denen ihre Vergangenheit als Untertanen einer bösartigen Diktatur nicht mehr anzusehen war. Er fragte sich: Wo in diesem selbstzufriedenen Bildungsbürgertum verstecken sich die Ungeheuer? Vielleicht bräuchte es gar nicht viel, sie wieder zu entdecken. Oder entsprachen diese Farblosigkeit und Niedergeschlagenheit ohne jegliche Grandezza auch damals schon der Wahrheit? Quelle: Carlo Levi – Die doppelte Nacht Deutschland versteckt sich Anders als frühere Deutschlandbesucher registrierte Levi weder deutsches Selbstmitleid noch Schuldabwehr und Verdrängung. Stattdessen beobachtete er eine „hohle Stille aus Fragen und Erschütterung“. In ihrer beklemmendsten Form begegnete ihm diese Atmosphäre bei einem spontanen Besuch im KZ Dachau, wo die tyrannische Grausamkeit der Nazizeit nun durch das Elend der dort einquartierten Vertriebenen überdeckt wurde. Aus solchen Eindrücken zog Levi die Schlussfolgerung: „Deutschland versteckt sich“. Streifzüge durch Bierkeller und Museen In seinem kenntnisreichen Nachwort zu dem Reisebuch, dessen Titel „Die doppelte Nacht“ auf Goethes Faust anspielt, betont der Historiker Bernd Roeck, dass Levi über seine Beobachtungen mit dem Blick des Malers, der er auch war, berichtet hat. Insofern passen die dunklen Schattierungen der winterlichen Szenerien, die der Autor oft zu eindringlichen Tableaus ausmalt, symbolisch sehr gut zu der zwiespältigen Verfassung, die er bei den Deutschen feststellte. In einem essayistischen Vorwort umkreist Levi die deutschen Befindlichkeiten mit etlichen klugen, mehr oder weniger geläufigen Erklärungsversuchen. Viel anschaulicher und weniger spekulativ fallen jedoch seine anekdotischen Wahrnehmungen aus, bei denen er sich primär auf unmittelbare Erlebnisse stützte. Über die intellektuellen Debatten im Lande hingegen ließ er praktisch nichts verlauten. Lieber tauchte er mit offenem Ohr und wachen Sinnen ein ins Nachtleben der Kneipen und Bierkeller. Dort widmete er dem Volksmund ebenso viel Aufmerksamkeit wie den Alten Meistern in den Museen. Den Höhepunkt der Reise bildete nach Augsburg, Tübingen oder Stuttgart, die vor allem kunsthistorisch in Erinnerung blieben, der Aufenthalt in Berlin. Dort begegnete der Reisende dem Zwielicht deutscher Schattenwelten und den Existenzfragen des geteilten Landes in geballter Form. Eine Stadt, zwei Welten Viele Male pendelte er zwischen West und Ost, zwischen Kudamm und Stalinallee, Stripteasebars und Pergamonaltar hin und her. Diese halbierten Welten beäugen einander finster, sie stehen einander wie zwei Vertreter unterschiedlicher Zivilisationen gegenüber. Und doch sind sie aus demselben Holz geschnitzt. Quelle: Carlo Levi – Die doppelte Nacht Carlo Levi zeigt sich hier als ein ebenso guter Beobachter wie inspirierter Denker. Seine Ausführungen wirken nach wie vor lebendig und anregend. Darum ist die Deutschlandreise, die sich mit seinem Buch „Die doppelte Nacht“ nachvollziehen lässt, auch von heute aus gesehen nicht viel weniger spannend als damals.…
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1 Richard Cockett – Stadt der Ideen. Als Wien die moderne Welt erfand 4:09
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4:09Die zentrale These klingt zunächst einmal gewagt: Wien habe den „Grundstein für einen Großteil der geistigen und kulturellen Produktion der westlichen Welt im 20. Jahrhundert gelegt“, behaupt Richard Cockett in seinem Buch „Stadt der Ideen. Als Wien die moderne Welt erfand.“ Hinreichend bekannt ist die Geschichte der Donaumetropole im „Goldenen Zeitalter“ des Liberalismus, das Wien von Freud, Klimt, Mahler und vielen anderen mit ihren bahnbrechenden intellektuellen und kreativen Leistungen. Weniger bekannt, und darauf legt der Historiker und „Economist“-Journalist Cockett seinen analytischen Schwerpunkt, ist das Wien nach dem Ersten Weltkrieg. Zu dieser Zeit wurde Wien von Sozialdemokraten regiert und diese versuchten die Ideen des Goldenen Zeitalters anzuwenden. Es ging um die Verbesserung der Lebensumstände und letzten Endes darum, einen „neuen Menschen“ zu erschaffen, wie sie es nannten. Quelle: Richard Cockett Weiterführen der Ideen aus dem „Goldenen Zeitalter“ Wiens Als ein Beispiel unter vielen nennt Cockett die Verwendung von Erkenntnissen aus der Psychoanalyse im „Roten Wien“. Da ging es nicht mehr nur um sehr reiche Patienten, die sich von Freud ihre Träume deuten ließen. Die Sozialdemokraten nahmen die Grundideen von Freud und verwandelten sie in Mittel für Sexualerziehung, Gesundheitserziehung, für all das, was man heute psychische Gesundheit nennen würde. Quelle: Richard Cockett Jüdische Impulse für die liberale Moderne Träger des liberalen und des Roten Wien waren sehr häufig assimilierte Jüdinnen und Juden, die in Wien seit den Zeiten Franz Josephs ein tolerantes und multikulturelles Klima vorgefunden hatten. Diese Welt wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg von illiberalen Tendenzen bedroht, die sich in Wien stärker zeigten als anderswo. Der Wiener Bürgermeister Karl Lueger, Antisemit und Populist der ersten Stunde, wurde so etwa zum Lehrmeister des jungen Kunststudenten Adolf Hitler. Zweifellos war der Erfolg der assimilierten Wiener Juden ein Schlag ins Gesicht für Hitler und seinesgleichen. Ein Frontalangriff auf ihre nationalistischen, großdeutschen Überzeugungen und ihre Blut-und-Boden-Ideologie. Quelle: Richard Cockett Die vom Logischen Empirismus geprägte geistige Landschaft Wiens, die unter anderem die moderne Küche oder die erste Studie über Langzeitarbeitslosigkeit hervorbrachte, wurde in den 1930er-Jahren von den Austrofaschisten und später von den Nazis zugrunde gerichtet. Aber jene ihrer Protagonisten, die rechtzeitig aus Österreich fliehen konnten, trugen ihre Ideen und Methoden in die Länder, die sie aufnahmen. Die USA profitierten von der Wiener Einwanderung Insbesondere die USA profitierten auf zahlreichen Gebieten von der Wiener Einwanderung. Billy Wilder, Fred Zinnemann und Otto Preminger stellten das konservative Hollywood auf den Kopf. Der Architekt Victor Gruen erfand das Einkaufszentrum, weil er sich in der versprengten US-amerikanischen Einkaufslandschaft nicht zurechtfand. Und eine Gruppe von liberalen Denkern, darunter Karl Popper, lieferte in Form von Büchern die wichtigste ideologische Munition im beginnenden Kalten Krieg. Ich denke, der Grund dafür, weshalb sie so wichtig wurden und weshalb ihre Arbeiten vor allem in Großbritannien und den USA rezipiert wurden, ist, dass sie Faschismus, Kommunismus und Totalitarismus viel früher und aus nächster Nähe erlebt hatten. Nämlich im Wien der 20er- und 30er-Jahre. Quelle: Richard Cockett Es ist ein ungewohnter, britisch-liberaler Blick, den Cockett auf dieses Stück österreichische Geschichte wirft. Seine originelle und kenntnisreiche Darstellung lässt das erstaunlich lebendige Erbe einer gewaltsam ausgelöschten Welt schillernd zutage treten.…
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1 Ada D’Adamo – Brief an mein Kind | Buchkritik 4:09
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4:09Der Schicksalsschlag traf Ada D’Adamo völlig unvorbereitet. Als sie im November 2007 ihre Tochter Daria zur Welt brachte, ahnte sie zunächst nichts Schlimmes. Schließlich hatte sie vorher alle nötigen Schwangerschafts-Untersuchungen gemacht – immer ohne Auffälligkeit. Dann aber hielt D’Adamo nach der Geburt ein Baby im Arm, bei dem „HPE“ festgestellt wurde: der abgekürzte Fachterminus für eine schwere Hirnschädigung. Entsprechend schnell stand fest: D’Adamos Tochter Daria würde niemals laufen können, niemals sprechen, niemals gerade sitzen und nie klar konturiert sehen. Eine Leben ohne Hoffnung auf Selbständigkeit Sie würde zeitlebens ein Mensch bleiben, der auf fremde Hilfe angewiesen sein würde. Und damit ein Kind, das D’Adamo bei entsprechendem Vorbefund nicht geboren hätte, wie sie offenherzig zugibt: Ich liebe meine wundervolle, unperfekte Tochter. (…) Doch hätte ich damals die Wahl gehabt, ich hätte mich für einen Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen entschieden. Quelle: Ada D’Adamo – Brief an mein Kind Schlimme Diagnose nach der Geburt Schon das Schicksal, ungeplant Mutter einer hochgradig beeinträchtigten Tochter zu werden, ist schwer erträglich. Umso erschütternder liest es sich, dass die Autorin einige Jahre später auch noch eine weitere fatale Diagnose hinnehmen muss: Diesmal die Diagnose, an fortgeschrittenem Brustkrebs erkrankt zu sein. „Brief an mein Kind“ ist somit der ergreifende Lebensbericht einer erfolgreichen, talentierten, emanzipierten Frau, die 2007 plötzlich ohne Vorwarnung in einen Unglücksstrudel gerät, scheinbar völlig grund- und schuldlos: Warum gerade ich? Man sucht nach einem konkreten Grund, weil man nicht hinnehmen kann, das Opfer eines simplen Zufalls zu sein. Quelle: Ada D’Adamo – Brief an mein Kind Als Mutter einer schwer behinderten Tochter machte D’Adamo dann die bittere Erfahrung, schlagartig zu einem „Menschen zweiter Klasse“ degradiert zu werden, wie sie schreibt. Zu einem sozialen Paria, der – genauso wie ihre Tochter Daria – von der tonangebenden Mehrheit der Gesunden im Alltag ständig übersehen, ausgegrenzt und manchmal sogar öffentlich beleidigt wird. Im Gegensatz zu vielen anderen Opferberichten aber verblüfft an D’Adamos Mutterbeichte deren so gar nicht wütend-anklagender und unjammeriger, unpathetischer Tonfall. Ganz offensichtlich ging es der Autorin mit ihrem letzten Buch nicht darum, eine Abrechnung mit unserer oft ungerechten, unsolidarischen Leistungsgesellschaft vorzulegen. Eine Unglücksbilanz ohne Wut und Bitterkeit Stattdessen erzählt D’Adamo in ihrem Abschiedsbrief an die Tochter vor allem von ihrer eigenen inneren Wandlung. Also davon, wie sie als ehemalige Tänzerin und Perfektionistin langsam gelernt hat, die täglichen Demütigungen an Darias Seite mit einem gewissen Gleichmut zu ertragen: Das ist keine Resignation, eher so etwas wie aktive Akzeptanz. Man hört auf, „dagegen“ zu kämpfen. Man konzentriert sich darauf, „für“ etwas zu kämpfen. Quelle: Ada D’Adamo – Brief an mein Kind Es ist dieser nicht mehr hadernde, nachsichtige und angenehm unaufgeregte Blick auf die eigene Tragödie, der D’Adamos Überlebensbericht so außergewöhnlich macht. Zwar äußert sie darin auch immer wieder durchaus scharfe Kritik an unserer, auf Profitmaximierung ausgerichteten Lebensweise, derentwegen wir heute oft so unfähig sind, angemessen auf Versehrtheit und Tod zu reagieren. Die Autorin gesteht aber auch eigene Fehler im Umgang mit Daria ein. Und: Sie verpackt ihre Klage insgesamt so freundschaftlich in die Du-Ansprache, dass ihr nichts Rachsüchtiges, Selbstmitleidiges oder Didaktisches anhaftet. Auf diese Weise wird D‘Adamos Brief letztlich zu einem ermunternden Aufruf an uns alle. Dafür, sich den Wert jeden Lebens bewusst zu machen, so schwierig, herausfordernd oder unperfekt es einem mitunter auch erscheinen mag.…
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1 Timothy Snyder – Über Freiheit | Buchkritik 4:09
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4:09„Freie Fahrt für freie Bürger!“ Mit diesem Slogan machte der ADAC im Februar 1974 gegen ein Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen mobil. „Freie Fahrt für freie Bürger!“ Das ist nicht die Art von Freiheit, die Timothy Snyder meint. Der Yale-Historiker argumentiert in seinem Buch gegen ein allzu primitives Verständnis von Freiheit, das Freiheit vor allem als Recht versteht, von Einschränkungen verschont zu bleiben. Wer sich weigert, bestimmte Limitierungen für sich gelten zu lassen, ist deshalb noch lange nicht frei, argumentiert Snyder. Der Historiker unterscheidet, wie einst der Philosoph Isaiah Berlin, „negative“ und „positive“ Freiheit voneinander: Negative Freiheit ist die Idee, dass ICH gegen die Welt antrete. Dass das einzige Problem die Welt ist. Dass es da draußen eine Barriere gibt, die ich überwinden oder niederreißen muss. Negative Freiheit ist eine „Freiheit VON“. Positive Freiheit, wie ich sie verstehe, ist eine „Freiheit ZU.“ Quelle: Timothy Snyder Die Freiheit der Wahl Wirklich frei, so Timothy Snyder, ist man erst, wenn man zwischen verschiedenen Optionen wählen kann – guten Optionen: And I deeply believe that it is the ability to choose among the good things. There are good things in the world, when we're in a condition or a state to choose among them, then we're free. Quelle: Timothy Snyder In den USA, so Timothy Snyder, hingen viele Menschen einem im Großen und Ganzen eher schlichten Verständnis von Freiheit an. Von libertärer und rechtspopulistischer Seite wird Freiheit ja vor allem als Freiheit definiert, seine Interessen unbehelligt von staatlichen oder sonstigen Reglementierungen durchzusetzen, ob es nun ums Waffentragen geht oder um die Freiheit, für die Wohlfahrt anderer, möglicherweise unterprivilegierter Menschen nicht aufkommen zu müssen. Jeder ist, diesem Verständnis von Freiheit nach, sich selbst der Nächste. Freiheit muss organisiert werden Dagegen könne sich „positive Freiheit“ nur in der empathischen, lebendigen Interaktion mit anderen verwirklichen, postuliert Timothy Snyder. Anknüpfend an Persönlichkeiten wie Vaclav Havel, Edith Stein, Simone Weil und Leszek Kolakowski – historische Bezugsgrößen, die ihm wichtig sind –, plädiert der Yale-Historiker dafür, Freiheit in demokratischer Übereinkunft gesellschaftlich zu organisieren. Wenn Sie ein negatives Freiheitsverständnis haben, werden Sie davon überzeugt sein, dass die Regierung ausschließlich Ihr Gegner ist. Sie werden die Regierung verkleinern, wenn Sie die Macht dazu haben, und die Regierung wird am Ende nicht mehr in der Lage sein, genau die Dinge zu tun, die sie tun müsste, um die Freiheit der Menschen zu gewährleisten. Quelle: Timothy Snyder Pragmatischer Optimismus Timothy Snyder hat ein tiefschürfendes und in vielerlei Hinsicht anregendes Buch geschrieben. Dass der Autor auf grämliches Moralisieren verzichtet und der „positiven Freiheit“, für die er plädiert, mit pragmatischem Optimismus zum Durchbruch verhelfen möchte, macht diesen Band – trotz des anspruchsvollen Themas – streckenweise zu einem vergnüglichen Leseerlebnis.…
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Seit rund 2000 Jahren wird die Geschichte der Menschheit auch erzählt als Geschichte des Sündenfalls: Gott verbietet Adam und Eva im Paradies, Früchte vom Baum der Erkenntnis zu pflücken. Die listige Schlange verführt Eva dazu, sich diesem Verbot zu widersetzen. Adam und Eva erlangen dadurch Erkenntnis, werden sich ihrer Nacktheit gewahr. Keine Verführung, sondern bewusste Entscheidung Sie werden dafür von Gott aus dem Paradies verstoßen, werden sterblich, und die Geburt ihrer Kinder ist von diesem Moment an durch einen Fluch Gottes mit großen Schmerzen für die Frau verbunden. Die Lyrikerin Daniela Seel wagt eine andere Interpretation dieser biblischen und für die Geschichte des Abendlandes so bedeutenden Urszene, begreift sie nicht als Verführung durch die Schlange, sondern als bewusste Entscheidung: Eva entscheidet sich. Für Erkenntnis und Lust. Für Mut. Die Konsequenzen nimmt sie in Kauf. Nehme ich Eva ernst, ist die Vertreibung aus dem Paradies nicht Rauswurf, sondern Auszug. Der Ausgang des Menschen in die Zeit. In Sterblichkeit. Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Eva ernst nehmen Eva ernst nehmen und damit die ganz großen Fragen nach Schuld, Verantwortung, Erkenntnis noch einmal stellen, das geschieht in „nach eden“. Wäre das Leben im Paradies als Lebensraum denn wirklich so paradiesisch? Steckt nicht auch in ihm schon etwas Gewaltsames? Vom Garten ist es nicht weit zur Plantage mit ihrer Sklav:innenarbeit, Ausbeutung, Raub. Für und gegen wen will Garten Eden sein, Paradies – das sich herüberliest von awestisch pairi daēza, »Einhegung«, »umwallt«? Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Daniela Seel blickt in ihren Gedichten auf Versuche, Unbegrenztes, Unbequemes und Unberechenbares einzuhegen, seien es Tiere und Pflanzen unbekannter Arten, seien es Frauen im Mittelalter, die als Hexen verbrannt wurden, seien es die Naturvölker, die Alexander von Humboldt auf seinen Reisen mit dem Blick der Kolonisators erforschte, seien es besonders bedürftige Kinder unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, seien es spätgebärende Frauen, deren Schwangerschaften als Risiko betrachtet wird: Als meine Kinder geboren werden, bin ich 43 und 45 Jahre alt. Risikoschwangerschaften der Statistik nach. Aber auf welches Risiko wird hier gezielt? Bei der obligatorischen Frühdiagnostik frage ich den Arzt, ob sich durch gesündere ältere Mütter und höhere Lebenserwartung nichts geändert habe. Ohne aufzublicken, sagt er nein. Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Gedichte über Schwangerschaft, Fehlgeburten und Feminismus So beginnt eines der Gedichte über Schwangerschaft, Fehlgeburten und den Umgang der Medizin, es endet mit den Versen: Die Befunde bleiben »unauffällig«. Hätte ich mich für Abtreibung entschieden, wenn nicht? Wäre ich dazu gedrängt worden und von wem, bei welchem Befund? Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Daniela Seel greift Themen auf, die in der Geschichte des Feminismus seit jeher Gewicht haben. Doch sind es nicht nur die Themen, die ihre Gedichte so wirkungsvoll machen. Vor allem durch unterschiedliche Register, die hier gezogen werden, um verschiedene Stimmen zum Klingen zu bringen, entsteht eine große Intensität. Mal spricht ein Totengräber der Idsteiner Pflegeeinrichtung Kalmenhof, die zur Zeit des Nationalsozialismus Zwischenanstalt für das Tötungslager Hadamar war: was wollt ich machen, gell. Hätt ichs nicht gemacht, wärs auch mei eigens Leben gegange. Und dann, wo hätt ich auch hingewollt, ich hat ja mit die Außenwelt gar keinen Kontakt Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Fragen aus Kindersicht Immer wieder stellt ein Kind seine Kinderfragen, spricht aus seiner Sicht und konterkariert grausame und gewaltsame Zusammenhänge, die andere Gedichte umkreisen: Mama, ich höre die Bäume. Ich höre die Bäume singen. Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Aus dieser Vielstimmigkeit bei fortwährender Konzentration auf das lyrische Ausgangsmotto „Eva ernst nehmen“ liegt mit „nach eden“ ein Gedichtband vor, der bewegt, produktiv befremdet und einiges riskiert.…
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1 Clemens Setz – Das zehnte Gedicht. Rückblick auf ein dreiviertel Jahr Gedichte von Clemens Setz 6:46
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6:46Alle Dinge werden kleiner, wenn man sie zusammensetzt Bilder des Krieges in der Ukraine erreichen uns täglich, durch die Nachrichten oder durch Filmaufnahmen, die im Internet verbreitet werden. Clemens Setz berühren bizarre Videoclips mit Kriegsszenen und gleichzeitig faszinieren sie ihn auf erschreckende Weise. In einem Film sieht er einen Soldaten, auf den eine Drohne zufliegt . Die ist mit Sprengstoff und einer Kamera ausgestattet und filmt den Angriff, bevor sie explodiert und den Menschen tötet. In seinem Gedicht konzentriert sich Setz auf die Geste des Soldaten, der abwehrend den Regenschirm hochhebt, bevor er stirbt. Einige haben versucht mit ihr zu verhandeln durch improvisierte Gesten oder sich, schwer verletzt, zu ergeben bevor sie in sie flog Dann der eine, der plötzlich mitten im Rennen stehenblieb auf einem offenen Feld und uns bis kurz vorm Einschlag seine zwei Mittelfinger zeigte Alle Dinge werden kleiner wenn man sie zusammensetzt Als Poeta laureatus reflektiert Clemens Setz aktuelle Ereignisse und Begebenheiten, die er oft nicht genau einordnen kann. Die Form des Gedichts ermöglicht ihm, genau diese Verwirrung sichtbar zu machen. „Es ist ein hilfloses Gedicht. Das beschreibt aber auch sehr gut mein inneres Gefühl, ich bin innerlich vollkommen stumm dabei, ohne Erzählstimme. So, wie ich es erlebe, ist es mehr ein überfordernder Slapstick, und das Einzige, was dann kommt, sind private Assoziationen wie dieser total seltsame Satz über die Dinge, die kleiner werden, wenn man sie zusammensetzt.“ Clemens Setz findet in den Gedichten Worte und Bilder für diese Hilflosigkeit. Alle Dinge werden kleiner wenn man sie zusammensetzt sagte vor einem Vierteljahrhundert ein Kind zu mir während wir ihm den von Sturmwind verbogenen Schirm reparierten Feedbackkultur beim Dichten In den ersten beiden Gedichten nimmt Clemens Setz auf das aktuelle politische Geschehen im Ukrainekrieg und auf die Klimakatastrophe Bezug. Im dritten Gedicht geht es darum, wie aktuell ein Gedicht sein sollte oder darf – und wie er als Poeta Laureatus seine Probleme hat mit Kritik und Anregungen . Danke fürs Feedback, uns geht es sehr gut Die Bäume sind früh dran mit Blühen Ich werde den Link genau studieren und mich in Zukunft bemühen Der Tod der Frauen geschah tatsächlich zweitausend Jahre lang gleich mit unübersehbarer Ähnlichkeit der knienden Haltung der Frauenleichen in Gräbern der Jungsteinzeit Aber jetzt, nach den unvorhersehbar schweren Angriffen habt ihr wohl recht da nehm ich das raus Kaum hat Clemens Setz das Gedicht begonnen, nimmt er den Inhalt schon zurück. Die Schere im Kopf? Die Zurücknahme ist eine rhetorische Spielerei, denn die Zeilen bleiben bestehen, in denen er historische Hinrichtungen beschreibt. „Ich habe irgendwo auf CNN oder wo geschaut, was passiert in der Welt, und dann war da ein mich total fesselnder Bericht über eine 2000 Jahre lang gleich betriebene Art der brutalen Hinrichtungen. Wie kann das sein, 2000 Jahre, und immer sind es Frauenleichen, was ist da passiert?“ Den Hinweis auf die Hinrichtungen bekam Clemens Setz durch eine aktuelle Nachrichtensendung. Im weiteren Verlauf des Gedichts bezieht er sich auf die historische Figur Kaspar Hauser, der im 19. Jahrhundert als rätselhafter Findling auftauchte, der anscheinend vorher ohne jeden menschlichen Kontakt aufgewachensen war, seine Identität wurde nie geklärt, aber er hatte natürlich eine. Das hatte zu tun mit Kaspar Hauser Der säte seinen Namen aus Kresse in einem Nürnberger Garten bis Nachbarkatzen kamen und ihm den eigenen Namen zertraten ach armer Kaspar Hauser So schreibt er’s in einem Brief Diese Geschichte beruht auf einer wahren Gegebenheit, die Clemens Setz aufgrund ihrer Symbolkraft fasziniert. Er zeigt dabei mit ironischem Augenzwinkern, dass jeglicher Inhalt in eines seiner Gedichte einfließen kann. Auch formal variiert Setz die Gestalt seiner Texte und spielt mit vielen Mitteln. Oft sind seine lyrischen Texte nah an der Prosa, doch ab und zu verwendet er auch Reime. „Ich reime eigentlich viel lieber als nicht. Weil es künstlich ist: So spricht man ja nie. Das mag auch damit zu tun haben, dass mein Alltag unwahrscheinlich viel reicher an Reimen geworden ist, seit ich ein Kind habe, nämlich durch die ganzen Kinderlieder, die einem ja wirklich wunderbarste Reimkunststücke vorführen wie zum Beispiel „links sind Bäume, rechts sind Bäume, in der Mitte Zwischenräume“, aus dem Lied „Was müssen das für Berge sein“. Reime sind frech und generell tut mir Frechheit immer gut.“ Mit Goethe gegen Drohnen Frech und auch mutig erscheint es, wenn Clemens Setz sich in der Überschrift seines fünften Gedichts neben Johann Wolfgang von Goethe stellt. „Ein Gleiches“ nennt Setz seinen Text und lehnt ihn damit bewusst an das berühmte Goethe-Gedicht aus dem Jahr 1780 an, das den gleichen Titel trägt und mit den bekannten Worten anfängt: Über allen Wipfeln ist Ruh. Er will sich jedoch nicht anmaßen, im gleichen literarischen Rang wie Goethe zu stehen, er bezieht sich damit auf die Methode: Die Wahl und Variation seines Themas. In seinem Gedicht entwirft er die utopische Szene eines fiktiven fernen Zeitpunkts, an dem Menschen technisch veraltete Kriegsmaschinen wie gefährdete Tierarten im Zoo bestaunen. Damals nahm mich mein Vater jeden Sonntag mit in den Zoo um die alten Drohnen zu sehen Erst bei der Fütterung um vierzehn Uhr kam Leben in sie Der Pfleger betrat die Umhegung in Tarnfarbenjacke und schwarzen Stiefeln ein Gewehr aus Holz an seiner Hüfte Die Ausmaße dieser zerstörerischen Technik sind für Clemens Setz nicht abzuschätzen und deshalb hochgefährlich. Im Gedicht über die Kampfdrohnen im Zoo findet er als Lyriker eine Möglichkeit, die angsteinflößende Idee überhaupt zu ertragen, indem er sie als eine groteske liebevolle Begegnung inszeniert. „Es ist vielleicht der einzig mögliche Perspektivenwechsel, wenn man etwas Neues sieht, etwas total Entsetzliches anzuschauen als etwas Rührendes, Nostalgisches, mit persönlicher bittersüßer Poesie Aufgeladenes, das ist ja etwas, das man sonst nie tut. Mein Gefühl ist, dass wir nicht wissen, was wir gebären.“ Im Gedicht hat der Lyriker die Möglichkeit, die Figuren und Ereignisse mit Hilfe poetischer Bilder auf künstlerische Weise zu kommentieren und zu karikieren. Indem er zum Beispiel rechtspopulistische Hetzreden im Netz in einer absurd wirkenden märchenhaften Szenerie ansiedelt, distanziert er sich von ihnen. Er lässt ihre Verfasser auf diese Weise realitätsfern und naiv wie Märchenfiguren erscheinen. Die Antwort des Dichters auf Gewalt, Krieg und politische Willkür sind seine Gedichte. Allen voran die, die er in seinem Jahr als Poeta Laureatus schreibt.…
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1 lesenswert Magazin: Paradies und Zauberberg. Heldenreisen in Romanen und Gedichten. 55:03
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55:03Mit Büchern von Dante Alighieri, Thomas Mann, Heinz Strunk und Peter Kurzeck.
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1 Zauberberg-Wanderung: Norman Ohler – Der Zauberberg, die ganze Geschichte | Heinz Strunk – Zauberberg 2 | Gespräch 9:05
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9:05Mit seinem ersten Roman „Fleisch ist mein Gemüse“ erreichte der Autor Heinz Strunk schnell großen Erfolg. In „Zauberberg 2“ interpretiert er nun Thomas Manns Klassiker neu. Zwar sind die Schauplätze in Strunks Interpretation vergleichbar mit denen aus Thomas Manns Werk, doch kreiert Strunk eine ganz neue Geschichte rund um den „Erfolgsmenschen“ Jonas Heidbrink. Ein Buch voller Fun Facts Norman Ohlers „Der Zauberberg, die ganze Geschichte“ kann wie eine Ergänzung zu Thomas Manns „Zauberberg“ und Heinz Strunks „Zauberberg 2“ gelesen werden. Ohler erklärt zum Beispiel, wie Davos zum Kurort und zum Ort des Weltwirtschaftsforums wurde. Ein Buch voller „Fun Facts“, so Redakteur Alexander Wasner im Gespräch mit Literaturkritikerin Beate Tröger.…
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1 Eva Rottmann – Kurz vor dem Rand | Buchkritik 4:47
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4:47Das Tagebuch einer Skaterin Ich bin Ari und dies ist die Geschichte meiner ersten Liebe. Sie geht nicht gut aus, das sag ich euch gleich. Also, wenn ihr auf Happy Ends steht, legt das hier lieber weg und geht euch ein Eis kaufen. Quelle: Eva Rottmann – Kurz vor dem Rand Gebrochenen Herzens beginnt die siebzehnjährige Skaterin Ari Tagebuch zu schreiben und erzählt rückblickend von den zwei Wochen ihrer ersten Liebe. Erwachsene Leser*innen erinnern sich zurück: in zwei Wochen kann viel passieren, wenn man jung ist. Jüngere wissen das selbst nur zu gut. Das Tagebuch hat sie von Vater Bob, der ihr Auffangnetz ist, während die stets abwesende Mutter Fanni eher ein Leben auf dem Drahtseil führt. Familienstatus: Es ist kompliziert. „Liebst du sie noch?“ fragte ich. Bob erwiderte meinen Blick, dann sah er aus dem Fenster. „Liebe“, sagte er, „Was heißt das? Will ich wieder mit Fanni zusammen sein? Nein, vielen Dank. Mache ich mir ständig Sorgen um sie und hoffe ich, dass es ihr gut geht? Ja, auf jeden Fall. Haben wir eine einfache Beziehung? Nein. Ist es Liebe? Ich glaube schon. Was für eine Art von Liebe? Keine Ahnung.“ „Hä?“ sagte ich und rührte einen Löffel Zucker in meinen Kaffee. „Wie meinst du das? Wieviele Arten von Liebe gibt es denn?“ Bob zuckte die Schultern. „Ich glaube, es gibt so viele, wie du willst“, sagte er. „Was du mit Yasin, Lou und Teddy hast, das ist doch auch Liebe, oder nicht?“ „Ja“, sagte ich. „Irgendwie schon.“ Quelle: Eva Rottmann – Kurz vor dem Rand Suchen nach Identität, erstes Begehren, Rollenklischees – alles ist hier sowohl präsent als auch gleichgültig. Dass es alles gibt und geben kann, Schubladen aber wirklich oldschool sind, ist selbstverständlich. Daher wird auch konsequent gegendert – Com‘on, es ist 2024. Damit muss man jetzt klarkommen. Die Erzählweise ist dicht und authentisch. Eva Rottmann schafft Nähe zur Normalität des jungen Mädchens und ihrer Freunde, die sich schon seit dem Kindergarten kennen. Bei kaum einer Familie reicht das Geld bis Monatsende, von Urlaub ist keine Rede, das schweißt zusammen. Bei Regen im Parkhaus, sonst auf der Halfpipe. Immer skaten, immer zusammen. Das sind unsere Sommer, das ist unser Leben. Mehr ist nicht los. Aber uns reicht das. Beziehungsweise, es muss uns reichen. Wir haben ja keine andere Wahl. „Na, dann Prost“, sagte Tom und hob seine Bierdose. „Da hab ich ja richtig Glück gehabt, dass meine Mutter hierherziehen wollte.“ Quelle: Eva Rottmann – Kurz vor dem Rand Beim Skaten hilft Basishass Tom. Der arrogante Neue, der gesponserte Skate-Profi fährt Ari voll in die Parade. Ari ist skeptisch. Aber in Tom steckt auch viel Wut. Basishass nennt Ari das und kennt das genau, Basishass ist sozusagen der Antrieb zum Skaten, wo das Denken in den Körper rutschen kann, der Kopf endlich Ruhe gibt. Ari und Tom brauchen und lieben diese gedankliche Schwerelosigkeit. Und Ari fühlt Toms Schmerz, der noch viel größer ist als ihrer, seit Tom seinen Vater durch Suizid verloren hat. Seit dem vergangenen Abend glaubte ich irgendwie nicht mehr an den coolsten Typen der Stadt. Der coolste Typ der Stadt war eine Pappkulisse, die im Sand lag und über die ein paar Heuballen wehten. Ich wusste noch nicht, was das bedeutete. Aber irgendwas bedeutete es auf jeden Fall. Quelle: Eva Rottmann – Kurz vor dem Rand Ari lernt, dass es Mut braucht zum Leben. Sei es, um im Morgengrauen auf dem Board den steilsten Berg der Stadt hinabzurasen, sei es, um Tom ihre Gefühle zu gestehen, sei es, um wieder aufzustehen, wenn man gefallen ist. Mit Hinfallen kennt sie sich zum Glück aus. „Hey Mädchen, ist alles in Ordnung bei dir?“ fragte sie. Unter Tränen guckte ich sie an und schüttelte den Kopf. Nee, bei mir war nichts mehr in Ordnung, gar nichts mehr. „Bist du umgefallen?“ fragte die Frau und zeigte auf mein Skateboard. „Tut es dir irgendwo weh?“ Ich nickte. Es tat mir überall weh, im ganzen Körper, vor allem in der Brust. Ich hatte nicht gewusst, dass es solche Schmerzen überhaupt gab. Wie konnte es sein, dass ein einziger Mensch einem so wehtun konnte? Quelle: Eva Rottmann – Kurz vor dem Rand Deutscher Jugendliteraturpreis für Eva Rottmann „Kurz vor dem Rand“ berührt viele, zum Teil schwere Themen für ein Jugendbuch, das dadurch – und das dürfte vielleicht der einzige Kritikpunkt sein – gelegentlich etwas konstruiert erscheinen mag. Aber dennoch hat Eva Rottmann einen beeindruckend authentischen Coming-of-Age-Roman geschrieben. Über wahre Freundschaft, erste Gefühle, gute und beschissene Eltern und über die Diversität von Geschlechtern und Rollen bzw. darüber, dass man diese vielleicht gar nicht braucht, weil man einfach nur als man selbst schon liebenswert ist. Aufwühlend, rasant, rau und zart zugleich und aus guten Grund auf der Frankfurter Buchmesse 2024 mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.…
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1 Dante Alighieri – Die göttliche Komödie | Gespräch 8:13
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8:13Im Gespräch mit SWR Literaturchef Frank Hertweck spricht Redakteur Alexander Wasner über die 700 Jahre alte „Mutter aller Fantasyromane“ – Dante Alighieris „Die göttliche Komödie“. In drei Stufen ist diese voller Naturwissenschaften steckende Heldenreise zu unterteilen: Hölle, Läuterungsberg und Paradies. Frank Hertweck erklärt unter anderem, welche dieser Stufen am zugänglichsten ist.…
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1 Naomi Klein – Doppelgänger. Eine Analyse unserer gestörten Gegenwart | Buchkritik 4:09
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4:09Man benötigt für dieses Buch einen langen Atem. Denn Naomi Klein unternimmt eine tiefgreifende Analyse der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in der Welt. Ausführlich widmet sie sich zunächst einer feministischen Schwester im Geiste, Naomi Wolf. Unter der Corona-Pandemie radikalisierte sich Wolf, rückte immer tiefer ins Lager der Verschwörungstheoretiker, verkörperte fortan alles, wogegen Naomi Klein ein Leben lang gekämpft hat und wurde, das war das Bedrückendste für die Klimaaktivistin, in den digitalen Medien mit ihr verwechselt. Das Ich als perfektionierte Marke, das Ich als digitaler Avatar, das Ich als Datenmine, das Ich als idealisierter Körper, das Ich als rassistische und antisemitische Projektion, das Kind als Spiegel des Ichs, das Ich als ewiges Opfer. Diese Doubles haben eines gemein: Sie sind Strategien des Nichtsehens, des Vermeidens. Wir vermeiden es, uns selbst klar zu sehen (weil wir so sehr damit beschäftigt sind, eine idealisierte Version von uns zu präsentieren). Quelle: Naomi Klein – Doppelgänger Die Verdrängung der Gegenwart Aus dieser Spiegelung mit dem digitalen Phantom entwickelt Naomi Klein ihre tiefschürfende Analyse und weist auf blinde Flecken in der Geschichte und unsere beschränkten Blickwinkel auf Phänomene in der Gegenwart hin. „Eine Analyse der gestörten Gegenwart“, lautet der Untertitel. Wir wollen nicht, dass unsere Körper etwas mit dem massenhaften Artensterben zu tun haben. Wir wollen nicht, dass die Kleidungsstücke, in die wir unsere Körper hüllen, von anderen Körpern hergestellt werden, die erniedrigt, missbraucht und bis zur Erschöpfung ausgebeutet werden. Wir wollen keine Lebensmittel essen, die mit Erinnerungen an menschliches und nicht menschliches Leid belastet sind. Wir wollen nicht auf gestohlenem, von den Geistern der Vergangenheit heimgesuchtem Land leben. (…) Es ist unerträglich. Quelle: Naomi Klein – Doppelgänger Leugnungen in uns Schattengestalten, Doppel-Ichs, Selbstverleugnung, Verschwörungstheorien allerorten – und die Verdrehungen durch die rasenden digitalen Medien kommen hinzu. Es finde eine „Neuordnung der Politik“ statt, schreibt Naomi Klein und sieht darin „eine der wichtigsten Hinterlassenschaften von Covid“. „Schattenzonen“ sind entstanden. Missbrauch gedeiht in den Schattenzonen, weil er dort gedeihen kann. Und das muss mit Hilfe einer Verschwörung vertuscht werden, um nicht nur die Täter zu schützen, sondern auch uns als Konsumenten, die wir uns unsererseits miteinander verschwören, um unwissend und unschuldig durch die besser beleuchteten Bereiche der Versorgungskette schlendern zu können. Quelle: Naomi Klein – Doppelgänger „Eine Welt, die in Flammen steht“ Als säkulare Jüdin nimmt Naomi Klein schließlich die Kriege im Nahen Osten in den Blick. Israel-Palästina lasse sich nicht „als verwirrender ethischer Konflikt zwischen zwei unversöhnlichen semitischen Zwillingen abtun“, schreibt Klein. Vielmehr sei es „das bisher letzte Kapitel (…) einer Welt, die jetzt in Flammen steht“. Und Naomi Klein schlägt einen großen Bogen durch die unheilvolle Geschichte der Menschheit. In diese Geschichte sind wir alle verstrickt, wo auch immer wir leben. Sie begann im Vorfeld der Inquisition mit Folterungen, Verbrennungen und der Vertreibung von Muslimen und Juden; setzte sich mit der blutigen Eroberung des amerikanischen Kontinents und der Plünderung Afrikas fort, wo man sich Reichtümer aneignen und menschlichen Treibstoff für die neuen Kolonien beschaffen konnte; verwüstete Asien im Zuge der Kolonialisierung und kehrte dann nach Europa zurück, wo Hitler die in den vorausgehenden Geschichtskapiteln entwickelten Methoden – wissenschaftlicher Rassismus, Konzentrationslager, Völkermord in den neuen Siedlungsgebieten – zu seiner Endlösung destillierte. Quelle: Naomi Klein – Doppelgänger Naomi Klein hat eine Selbstbefragung verfasst, die jeden Leser und jede Leserin zum Innehalten und Reflektieren der eigenen Person anregen kann. Ein sehr nachhaltiges Buch der Klimaaktivistin.…
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1 lesenswert Magazin: Von menschengemachten Krisen und tierisch unheimlichen Begegnungen. Neue Sachbücher helfen beim Bewältigen. 54:58
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54:58Neue Bücher von Jörg Baberowski, Jan Mohnhaupt und anderen.
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1 Lyndal Roper – Für die Freiheit. Der Bauernkrieg 1525 | Gespräch 14:53
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14:53Die Geschichte des Bauernkriegs aus Sicht der Bauern und Bäuerinnen Die Bäuerinnen und Bauern hatten damals eine Idee, von der wir heute lernen können, meint die Australierin Lyndal Roper, Expertin für die Geschichte der Reformation und der Frühen Neuzeit in Deutschland. In „Für die Freiheit. Der Bauernkrieg 1525" erzählt die Autorin die Geschichte des Bauernkriegs aus Sicht der Bauern. Der Bauernkrieg hat mich immer fasziniert. (...) Und ich wollte wissen, wie so etwas zustande kommt und wie es sich anfühlt, an so einem Aufstand teilzunehmen. Quelle: Lyndal Roper im Gespräch Für ihre Recherche fuhr die Historikerin die Schauplätze des Bauernkrieges viele hundert Kilometer mit dem Fahrrad ab. Die Tour führte sie vom elsässischen Straßburg bis nach Konstanz, aber auch in Thüringen sei sie unterwegs gewesen. "Das war eine ganz wichtige Erfahrung, durch die ich viel verstehen konnte", so Roper im Gespräch. Religöse und wirtschaftliche Dimensionen Die Bauern lehnten sich zu dieser Zeit gegen wirtschaftliche Not und gegen die Ausbeutung durch ihre Grundherren auf. Mit der Reformation kam dann noch eine religiöse Dimension dazu. Aus dem anfänglichen Protest wurde ein blutiger Krieg. Lyndal Roper habe während ihrer Recherchen herausfinden wollen, welche Träume die Bauern hatten und was sie dazu bewogen hat, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Ihre Vorstellung war, dass wir nach Brüderlichkeit leben sollten, dass wir aufeinander acht nehmen sollen, dass wir fair miteinander umgehen und die Ressourcen gerecht geteilt werden sollen. Diese Fragen, mit denen sie konfrontiert waren, sind heute noch offen. Quelle: Lyndal Roper im Gespräch Im Gespräch erklärt die Autorin, welchen Anteil Theologen wie Martin Luther oder Thomas Müntzer an der Eskalation der anfänglichen Proteste zum Krieg hatten. Außerdem geht sie auf den Freiheitsbegriff der Bauern ein und auf die Frage, weshalb man sich noch heute mit dem Bauernkrieg beschäftigen sollten.…
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1 Francesca Melandri – Kalte Füße | Buchkritik 4:09
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4:09Francesca Melandri stellt in ihrem Buch viele kluge Fragen über Krieg und Frieden, aber über allem steht die Überlegung, ob sich Geschichte tatsächlich wiederholen kann. Melandri sagt: „Ja“. Zum Beweis zeichnet sie in ihrem Buch „Kalte Füße“ frappierende Parallelen nach, die sie zwischen dem Faschismus des 20. und des 21. Jahrhunderts erkennt, wenn man die Ukraine in den Blick nimmt. Erst kamen die Nazis, dann Putin, der seinen Krieg groteskerweise als Feldzug zur Entnazifizierung der Ukraine tarnt. Was ist Faschismus? „Was ist Faschismus?“, fragt Melandri den italienischen Widerstandskämpfer Massimo Rendina: Faschismus ist kein politisches Phänomen‘, erklärte er mir. ‚Faschismus ist eine Geisteshaltung‘. Und für dich verwandte er den Begriff anständiger Faschist. Seither bin ich verwirrt, Papa. Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße Melandri hat weite Teile ihres Buches in der Form eines Zwiegesprächs mit ihrem verstorbenen Vater Franco verfasst. Aber was soll ein anständiger Faschist sein? Rendina war 1942 mit dabei, als Franco Melandri als Kommandeur einer Truppe so genannter „Gebirgsjäger“ in der heutigen Ukraine gegen die Russen kämpfte. Die „Alpini“ waren Verbündete Nazideutschlands. Rendina stieg aus. Melandri blieb dabei, erkrankte schwer und wurde in Rom als Journalist beim Faschistenblatt „Gazzetta del Popolo“ eingesetzt. Dort trafen sich die beiden wieder: Rendina fungierte als Spion der Partisanen, Melandri schrieb seine Artikel, die mitunter neben der Tageslosung von Goebbels standen. Aber der Vater hat Massimo Rendina nicht verraten. Licht- und Schattenseiten eines Vaters Francesca Melandri liebt ihren Vater sehr. Der literarische Teil ihres Buches behandelt Konflikt und Qual einer Tochter, die mit dem Unterschied klarkommen muss, was der Vater für sie war und was er in der Welt draußen womöglich angerichtet hat. Seite für Seite folgen wir der Autorin in ihrer steigenden Verzweiflung. Was hast du dir nur dabei gedacht, Papa? Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße Melandri fährt in die Ukraine, um zu den Orten zu recherchieren, an denen ihr Vater Krieg führte. Wir kennen ihre Namen aus den Nachrichten: Isjum, Charkiw, Mykolajiwka. Für seinen Einsatz in Mykolajiwka erhielt Franco Melandri einen Tapferkeitsorden in Silber. Die Tochter, so lesen sich ihre hochemotionalen Ausführungen zum Krieg dort heute, ist entschlossen, vielleicht auch stellvertretend für den Vater, dieses Mal auf der richtigen Seite zu stehen. Die Russlandfreunde unter den Linken sind ihr suspekt geworden. Was bringt es, uns als stolze Antifaschisten zu fühlen und Bella Ciao zu singen, aber dann einen lupenreinen Faschisten wie Putin nicht zu erkennen, wenn er direkt vor uns steht? Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße Der Wolpertinger unter den Büchern „Kalte Füße“ ist eine rasante Mixtur vieler Textformen. Neben der Zwiesprache mit dem Vater, gibt es kluge essayistische Passagen, zum Beispiel über Hartnäckigkeit und Heldentum, eine Nacherzählung der Familiengeschichte der Melandris, Protokolle, Reportagen, historische Ausführungen, etwa zu einem sibirischen Lager, in dem einst Solschenizyn gefangen war und heute russische Deserteure eingesperrt sind. Da ist es wieder, Putins Projekt, das zukünftige Russland in die Windungen der Vergangenheit einzuwickeln. Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße Eine Tragödie, die sich als Farce wiederholt Der Titel „Kalte Füße“ bezieht sich auf zwei Dinge: einmal konkret auf die nahezu erfrorenen Füße der italienischen Gebirgsjäger 1942 in der Ukraine und zum anderen auf die symbolisch kalten Füße der Westeuropäer, gegen Putin Partei zu ergreifen. Geschichte wiederholt sich, so Francesca Melandris Grundthese. Und mit dieser Ansicht ist sie nicht allein. „Hegel bemerkte, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich zweimal ereignen“, schreibt Karl Marx im Jahr 1852 Hegel habe aber „vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“…
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Hoffnung habe in der Polykrise der Gegenwart Hochkonjunktur, schreibt Jonas Grethlein zu Beginn seiner „Kulturgeschichte eines Weltverhältnisses“ und stellt sich die Frage, woher dieses Gefühl eigentlich kommt. Oder ist es gar kein Gefühl, sondern eine Strategie, über welche die menschliche Ratio frei verfügen kann – zum Trost, zur Bestärkung oder gar zur Flucht vor und aus den Bedrängungen des Lebens? Unterschied zwischen Hoffnung und Utopie In acht Kapiteln spannt Jonas Grethlein einen Bogen von der homerischen Antike bis ins 21. Jahrhundert und zeigt dabei die Facetten eines Begriffs, der in die Zukunft weist: So wie die Erinnerung sich der Vergangenheit, so wendet sich die Hoffnung der Zukunft zu. Aber was unterscheidet die Hoffnung von der Utopie? Utopie ist ganz wörtlich genommen der Nicht-Ort. Es handelt sich um Idealvorstellungen, die sich so nicht realisieren lassen. Hoffnungen haben dagegen immer etwas als Gegenstand, was einem als möglich und prinzipiell realisierbar erscheint. Quelle: Jonas Grethlein – Hoffnung Es geht offenbar um eine beidseitige Beeinflussung: „Hoffnung“ ist von der jeweiligen Kultur geprägt – Grethlein zitiert den römischen Historiker Sallust, der in der Hoffnung einen Ausdruck eines Sittenverfalls sieht, spiegele sie doch die Gier römischer Hegemonialpolitiker; aber umgekehrt prägt sie auch das Denken der Menschen und führt zu einem kulturellen Paradigmenwechsel: Nur drei Generationen nach Sallust steht der positiv konnotierte Hoffnungsbegriff im Zentrum der Lehre des Apostels Paulus und wird zur folgenreichen Begründung einer Religion, welche die Hoffnung zur Tugend erhebt. Ist es vermessen, von einem Anzeichen des Endes der Antike durch diese paulinische relecture des lateinischen Begriffs „spes“ bzw. des griechischen Begriffs „elpis“ zu sprechen, die beide mit Hoffnung übersetzt werden? Paulus ist in der Geschichte der Hoffnungen eine wichtige Zäsur; war Hoffnung davor in der Antike etwas eher Ambivalentes, so wird Hoffnung jetzt als die Hoffnung auf das Ewige Leben ganz stark und positiv aufgeladen. Quelle: Jonas Grethlein – Hoffnung Hoffnungsbegriff als treibende Kraft in der Geschichte Aber auch im Hochmittelalter erweist sich der Hoffnungsbegriff und seine Wandlungen als treibende Kraft: Inmitten einer durch ein nachgerade in Stein gemeißeltes ordo-Denken geprägten Epoche entfaltete sich durch die christliche Hoffnung eine eigene Dynamik: Es war die Geschichtstheologie des Joachim von Fiore, die laut Jonas Grethlein die diesseitige Zukunft als Raum für weitreichende Hoffnungen eröffnete – was aber eben auch zu utopischen Zukunftsentwürfen führte. Letztere haben ein Charakteristikum des Hoffnungsbegriffs geschwächt – nämlich die Unverfügbarkeit. Oder mit den Worten Jonas Grethleins: „Hoffen ist an Kontingenz gebunden, sie entfaltet sich im Raum des Anders-Sein-Könnens und zielt auf Unverfügbares.“ Somit ist Hoffnung inkompatibel mit den großen geschichtsdeterministischen Ideologien des 19. Jahrhunderts: Weder die Revolutionsvorhersagen des Marxismus noch die Idee, dass der Nationalstaat das Telos der Geschichte sei, können – so Grethlein – mit Hoffnung assoziiert werden, weil sie die Geschichtlichkeit des Menschen leugnen und Kontingenz durch die Notwendigkeit des Fortschritts ersetzen. Und was wird aus der Hoffnung im Schatten der Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts? Das vorletzte Kapitel öffnet ein Panorama, das von Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ über Albert Camus‘ Skepsis gegenüber jeglicher Hoffnung bis hin zu Jürgen Moltmanns Theologie der Hoffnung reicht. Wo aber bleibt – so fragt Grethlein – die Hoffnung im Konzentrationslager? Offenbar droht der Hoffnung angesichts von Auschwitz das gleiche Schicksal, das Adorno für die Poesie diagnostizierte, nämlich die Unmöglichkeit. Hoffnung motiviert Handeln Und doch gibt es Hoffen im Anthropozän – so der Titel des letzten Kapitels; aber es gibt sie womöglich nur um den Preis ihrer Funktionalisierung: „Hoffnung motiviert nicht nur Handeln, sie trägt auch zur Zufriedenheit bei“, heißt es gegen Ende eines Buchs, das Hoffnung – daran sei erinnert – eingangs als Weltverhältnis charakterisiert. Angesichts von Klimakrisen, Kriegen und politischen wie sozialen Verwerfungen ist die Hoffnung eine Herausforderung. Jonas Grethleins Buch ist ein Plädoyer dafür, sie anzunehmen.…
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1 Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt 4:09
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4:09Die Anwohner sind längst gegangen. Sie fliehen vor dem Hochwasser. Nur eine nicht: Die 81-jährige Gudelia harrt aus in ihrem Haus. Sie will es nicht den drohenden Fluten überlassen, nicht dem Durcheinander danach. »In dem Haus ist mein ganzes Leben.« Er schnaubt. »In dem Haus ist dein ganzes Leid.« Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und geht. Ich bleibe zurück, sehe ihm hinterher. Der Himmel zieht zu. Wir haben beide recht. Quelle: Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt Gudelia – das wird in Thomas Knüwers Kriminalroman von Anfang an deutlich – hat etwas zu verbergen. Was genau? Das erzählt Knüwer auf drei Zeitebenen: Im Jahr 1984 stirbt Gudelias 15-jähriger Sohn Nico, nachdem er mit Schulfreunden auf einer Party war. Im Straßengraben findet sie ihn. „Schwuchtel“ steht auf seinem Unterarm mit Edding geschrieben. Vierzehn Jahre später – also 1998 – zerbricht ihre Ehe. Ihr Ehemann hat schon immer viel getrunken. Aber seit dem Tod seines Sohnes hat er kaum etwas anderes gemacht. In der Erzählgegenwart 2024 setzt das Hochwasser ein. Gudelia bewacht ihr Haus und sieht in der Nacht die Leichen zweier Menschen, deren Hände mit Kabelbindern gefesselt sind. Psychogramm einer trauernden Frau Dieser Kriminalfall um die zwei gefesselten Menschen wird in „Das Haus in dem Gudelia stirbt“ eher beiläufig abgehandelt, er wäre auch nicht nötig gewesen: Die Vergangenheit ist spannend genug. Man ahnt zwar früh, was Gudelia verbirgt. Das gesamte Ausmaß überrascht aber doch. Gudelias Tun wird mit zu vielen unnötigen Details geschildert, die für einige Seiten das zuvor gekonnt gehaltene Erzähltempo verlangsamen. Der Wunsch, alles zu erklären, nimmt dem Wahnsinn Gudelias die verzweifelte Unerbittlichkeit. Überwiegend aber gelingt es Knüwer, mit knappen Sätzen und präzisen Beobachtungen Atmosphären und Szenen entstehen zu lassen. Beim Abendessen war draußen kein Mensch mehr. Die Straßen hatten Autos durch Wasser ersetzt. Ich habe mir ein Spiegelei gebraten und auf eine Scheibe Graubrot mit Butter und Schinken gelegt. Strammer Max. Habe ich Heinz und Nico oft gemacht. Schnell, einfach, sättigend. Für Nico mit Ketchup, für Heinz mit Bier. Quelle: Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt Horror in der Provinz Mit klug gewählten Details entwirft Knüwer Gudelias Leben in dem fiktiven kleinen Dorf Unterlingen, irgendwo im Süden Deutschlands. Mit einer Zeitung namens „Donau-Nachrichten“, ein bisschen Landwirtschaft, einer Kirche und einem Pferdehof. Gudelia dachte, sie weiß, wie es sein würde, mit Mann und Kind alt zu werden. Nicos Tod hat alles erschüttert. Das spiegelt sich in der bündigen Erzählweise, den zwischen den Jahren wechselnde Kapiteln und den kurzen, bruchstückhaften Passagen, die zugleich eine dräuende Spannung aufbauen. Knüwer, gelernter Journalist und Inhaber einer Digital- und Kreativagentur, erkennt eine Pointe, wenn sie sich bietet, strapaziert sie aber nicht über. Vielmehr durchbricht er damit für einen Moment das schleichende Grauen dieses Dorfhorrorromans. Niemand darf hier sein. Niemand. Hinter dem Garten stehen drei Fichten. Bernhards Rhododendron ist gut gewachsen. Höher, als ich groß bin. Die Blätter glänzen braun, sie stinken. Der Garten hat die Fluten überstanden und mit Schönheit bezahlt. Die Pflanzen sind stark. Sie verbergen, was der Riss offenbart – was ich seit vierzig Jahren verstecke. Quelle: Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt Das Szenario, das Thomas Knüwer entwirft, ist erschreckend nah an der Realität, nicht nur eines Lebens in einem Dorf. Erst im Sommer gab es Hochwasser in Süddeutschland. Die Bilder von Wassermassen, überfluteten Häusern und zerstörten Gebäuden übermitteln aber nicht den bestialischen Gestank, der sich durch überflutete Gebiete zieht. In Unterlingen entstanden durch Schweinekadaver, Dreck und übergelaufene Kanalisation. Für Gudelia ist dieser Gestank eine Waffe. Er hält unerwünschte Eindringlinge fern. Doch gegen das Wasser gibt es kein Mittel. Unerbittlich dringt es in jede Ritze des Hauses ein. Und spült in diesem packenden Kriminalroman die ganzen dreckigen Geheimnisse nach oben.…
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Werden Eltern alt, sehen sich ihre Kinder häufig, auch wenn sie nicht vor Ort wohnen, mit wachsenden Aufgaben konfrontiert. Peggy Elfmanns Anregungen, wie man die Situation etwas entspannter meistern kann, sind im vertraulichen Ton einer Freundin geschrieben, die gerade durchgemacht hat, was einem selbst noch bevorsteht. Man wird als Leserin also geduzt. Gleichzeitig heißt es immer wieder – und hier denkt man dann eher an einen Coach oder Agenten: „Ich möchte Dich dazu einladen“ dieses und jenes zu versuchen, nachzudenken oder auch nur einmal innezuhalten. Das Thema ist ernst und belastend, gleichzeitig aber für viele eine Alltagserfahrung: Über das Pflegen zu sprechen fällt schwer, denn es geht auch ums Abschiednehmen. Niemand kann dir sagen, was die Zukunft bringt und all die Wünsche und Pläne dafür brauchen immer wieder ein Update. Quelle: Peggy Elfmann – Meine Eltern werden alt Der sich schnell verändernden Situation die besondere Schwere zu nehmen und in den permanenten Veränderungen ein Stück Normalität zu sehen, ist ein Anliegen des Buches. Den richtigen Zeitpunkt für Maßnahmen zu finden, die das Leben erleichtern, ist eine Kunst für sich. Häufig sind gerade die alten Eltern der Ansicht, dass alles „noch Zeit habe“. Das Zeitverständnis unterscheidet sich bei älteren Menschen grundlegend vom Tempo der um eine oder mehrere Generationen jüngeren Helferinnen. Und schnelle Lösungen sind eher nicht gefragt, stattdessen müssen Ideen sich erst allmählich entwickeln. Schöne Momente sammeln Die 50 Tipps der Autorin sind sehr unterschiedlich. Manches ist einfach nur banal, wie to-do-Listen zu schreiben und nach Wichtigkeit zu sortieren, gibt es tatsächlich Menschen, für die das etwas Neues ist? Andere Ideen klingen sinnvoll, so die Idee, schöne, gemeinsam erlebte Momente aufzuschreiben und auf Zetteln zu sammeln. Aber dann geht es sehr ins Detail: So ein Marmeladenglas mit feinen Momenten kann einen kleinen Beitrag leisten. Und: Jeder kann es füllen. Egal ob Enkel oder Freunde. Schnappt euch ein Marmeladenglas, genießt den Inhalt auf Frühstücksbrötchen oder Pancake und verwendet das Gefäß dann für deine, für eure süßen Erinnerungen. Quelle: Peggy Elfmann – Meine Eltern werden alt Im Gespräch unter Freunden mag dieser Vorschlag die Betroffenen aufmuntern. Liest man ihn in einem Buch, mutet er, solchermaßen munter ausgeschmückt, etwas zu pathetisch an. Zuhören, einander Zeit schenken, Tannenzapfen oder Beeren von einem Spaziergang mitbringen, um Erinnerungen zu wecken oder haptisch ein wenig Natur zu genießen, Musik aus der Jugendzeit zu hören, all das mag bereichern oder auch die Melancholie wecken. Dennoch: Peggy Elfmann, die selbst drei Kinder alleine großzieht und aus der Ferne sich gemeinsam mit den Geschwistern um die Eltern gekümmert hat, führt warmherzig an die Probleme heran. Nachsicht mit sich selbst walten lassen Sie rät auch immer wieder dazu, nicht nur mit den alten Eltern nachsichtig zu sein, die nicht immer annehmen, was man ihnen Gutes tun möchte, sondern auch mit sich selbst. Niemand sollte seine eignen Interessen zu sehr vernachlässigen, sondern sich aktiv Hilfe bei der Bewältigung der kräftezehrenden Aufgabe suchen. Hier wird es schwierig. Unter Geschwistern, Enkeln und Verwandten kann man die Aufgabe nur aufteilen, wenn welche vorhanden sind. Ein soziales Netzwerk aus der Nachbarschaft und Freunden erfordert Offenheit und Vertrauen der alten Menschen. Und gerade auch zu Zeiten des demographischen Wandels: Schon in naher Zukunft wird es nicht mehr genügend agile Nachbarn geben, die hilfsbedürftige Alte unterstützen können, und wenn doch, sind diese vermutlich mit den eigenen Eltern beschäftigt. Hilfe von Außenstehenden zu bekommen, aber auch sie anzunehmen, ist schwierig, die Probleme liegen also tiefer und sie sind nicht einfach zu lösen. Man darf sich also von Elfmanns Ideen im konkreten Fall nicht allzu viel versprechen.…
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1 Martin Becker, Tabea Soergel – Die Schatten von Prag 5:51
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5:51Prag an einem geschäftigen, sonnigen Herbstnachmittag: Touristen strömen durch die Gassen der Altstadt – auch vorbei an einem Renaissance-Haus, über dessen Holztür zwei Bären prangen. Es ist das Geburtshaus von Egon Erwin Kisch, in dem sein Vater und Onkel einen Laden für Tuchwaren hatten, erzählt Krimiautor Martin Becker: „Der Onkel von Egon Erwin Kisch und der Vater hatten hier dieses Geschäft. Und Kisch war, so beschreibt er es selbst, als Kind oft dort und hat dort auch seine erste Zeitung namens ‚Zeitung‘ herausgebracht. Er hat halt Bleibuchstaben zusammengesucht, bis er irgendwann drei Sätze zusammen hatte, und hat dann quasi unter dem Tisch sitzend in diesem Tuchwarenladen seine eigene Zeitung rausgebracht." Schon zu Kischs Zeiten ist es in dieser Ecke Prags lebhaft zugegangen. Egon Erwin Kisch wird zum Kriminalreporter Der spätere „rasende Reporter“ wird hier bereits einiges von der Stadt mit ihren hellen und dunklen Seiten mitbekommen haben, ist sich Becker sicher: „Überliefert ist, dass Kischs Mutter vom Balkon aus manchmal die hier wartenden Prostituierten gefragt hat, wo denn Egonek sei. Und die haben dann gesagt, wissen wir nicht." In ihrem Roman machen Martin Becker und Tabea Soergel aus dem Reporter Egon Erwin Kisch einen Kriminalreporter, der eigene Fälle löst. Das liegt durchaus nahe, denn Kisch war in Prag bestens vernetzt und kam auch immer wieder mit Gaunern und Ganoven in Kontakt. Der Roman spielt im Jahr 1910. Kisch war damals 25, hatte sich bereits einen Namen gemacht und schrieb für eine konservative Tageszeitung: Das ist der Eingang der Bohomia . Quelle: Martin Becker Martin Becker blickt durch die Toreinfahrt eines klassizistisch anmutenden Hauses, in dem heute das Ballett des Prager Nationaltheaters probt und sagt: „Man kann einen kleinen Blick in den Hof hineinwerfen und sehen, dass da hundertprozentig Platz war für allerlei Druckmaschinen." Prag im Jahr 1910 – Alltag und politische Lage 1910 erschien die Bohemia zwei Mal am Tag. Tabea Soergel hat sich unzählige Ausgaben der Zeitung angesehen: „Man kann leider nicht, wenn man in diesem Archiv sucht, irgendwie Copy und Pasten. Aber ich habe wirklich von Hand sehr viele Artikel einfach abgeschrieben, wo ich dachte, das könnte man vielleicht noch mal gebrauchen." Im Buch finden sich viele Artikel der damaligen Zeit als Schlagzeilen wieder – in kurzen Aufzählungen, die viel über die politische Lage des Jahres 1910 und den Alltag in Prag verraten: In Britisch-Indien begann ein Aufstand gegen die Kolonialherrschaft, wovon man in Prag wenig Notiz nahm. Und genauso wenig Nachhall hatte dort die Ermordung des ägyptischen Ministerpräsidenten durch einen jungen Medizinstudenten. Und die deutschen Schüler der Kunstgewerbeschule in Prag traten aus Protest gegen die Entlassung eines deutschen Mitschülers tagelang in den Schulstreik. Quelle: Martin Becker, Tabea Soergel – Die Schatten von Prag Für größere Aufregung sorgte damals der Halley’sche Komet, der an der Erde vorbeiraste und dessen vermeintlich giftiger Schweif die Menschen in Angst und Schrecken versetzte. Der Kriminalreporter wittert eine Sensation In diesem Tumult geht die Mordserie, die sich im Roman ereignet, fast unter: Erst stirbt ein Versicherungsmakler, dann der Kriminalreporter des Prager Tagblatts. Seinen Kollegen Kisch beflügeln diese Unglücke. Er wittert die große Sensation, den Solokarpfen, auf den er schon lange wartet: Wenn er hörte, dass es in manchen Familien zu Gerangel kam, weil jeder zuerst seine neue Gerichtsreportage lesen wollte, dann schmeichelte ihm das. Aber es reichte ihm nicht. Worauf Kisch seit Jahr und Tag lauerte, das war der große Scoop. Der Solokarpfen. Der ihn nicht nur in seiner Stadt, sondern im ganzen Land berühmt machen würde. Quelle: Martin Becker, Tabea Soergel – Die Schatten von Prag In dem Fall voran kommt er allerdings nur mit Hilfe der Medizin-Studentin Lenka Weißbach. Sie ist von Berlin nach Prag zurückgekehrt, um sich um ihre kranke Mutter zu kümmern. Problematisches Verhältnis zu Frauen Während die Autoren ihre Kisch-Figur mit einem intuitiven Gespür für Situationen ausstatten, besticht Lenka durch einen scharfen, analytischen Blick. Dass es diesen zweiten Blick gibt, war Tabea Soergel wichtig: „Die ganzen progressiven jungen Literaten in Prag, also auch Kafka, die hatten alle ein sehr problematisches Verhältnis zu Frauen. Auch Kisch, glaube ich. […] Er war schon ein Macho. Okay, er hat auch sehr viele positive Seiten. Deswegen ist es eben auch gut, dass es eine sehr präsente weibliche Hauptfigur gibt neben ihm." Das historische Setting und die Dynamik der Figuren erinnern an die Kriminalromane von Volker Kutscher: Kisch ist wagemutig und melancholisch zugleich. Lenka kämpft dagegen mit dem Frauenbild ihrer Zeit. Besonders reizvoll macht die neue Krimireihe aber Prag als Handlungsort, den das Autorenteam mit vielen Details beschreibt - so wie mit dieser Szene, die sich am berühmten Wenzelsplatz zugetragen haben soll, meint Becker: „Spätnachts, wenn im Grunde alles schon zu hat, gab es - das hat Kisch sehr ausführlich beschrieben - mobile Teestationen, wo man eine Buchtel, eine Zigarette und einen Tee mit Schuss bekam. Kisch behauptet, dass die Teestation, die hier stand, angeblich von einer Dame betrieben wurde, die diesen Wagen von zwei Doggen ziehen ließ. Ob das stimmt, weiß man natürlich wieder nicht." Spannender und atmosphärisch dichter Krimi Auch wenn sie bei ihrer Recherche zahlreiche Biographien, Bildbände und natürlich die Reportagen von Egon Erwin Kisch zu Hand genommen haben, hätten sie sich ihren eigenen Kisch erfunden und es – genau wie der rasende Reporter – an der einen oder anderen Stelle mit der historischen Wahrheit nicht ganz so genau genommen, erzählen Martin Becker und Tabea Soergel. Mit Die Schatten von Prag ist ihnen ein spannender und atmosphärisch dicht erzählter Krimi gelungen, der Lust auf eine Fortsetzung macht. Und tatsächlich ist Kischs zweiter Fall bereits in Arbeit: Die Feuer von Prag , so der Arbeitstitel, soll im Herbst 2025 erscheinen.…
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1 Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems 6:20
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6:20Falle Schnee, auf unsere Kindheit – / Zuflucht aus Treue und Klang, / hier waren wir vertraut / mit der dunklen Seite der Sprache / mit der Verdunklung der Zärtlichkeit, / hier lernten wir die Stimmen zusammen zu legen / wie Besitz … Quelle: Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems Eine „kurze Geschichte vom Schnee“ will die Stimme in diesem Gedicht von Serhij Zhadan zusammentragen, gestützt auf Nacherzählungen von Augenzeugen, ebenso auf Lieder und Erinnerungen von Passanten. Der Schnee wird dabei selbst auf den Weg geschickt, durch die nächtliche, dunkle Stadt, zu den Feldern vor ihren Toren, ebenso durch die Lebenszeit eines Menschen. Und nichts verschwindet hier unter dem Schnee. Im Gegenteil: Alles tritt ans Licht. Schnee als Metapher für Veränderung Für Serhij Zhadan – so erzählt er dieser Tage im Interview – ist der Schnee eine Metapher für Bewegung und Veränderung, selbst in Momenten der Erstarrung: „Einerseits ist Schnee, das, was das Leben bedeckt, das, was nach einer bestimmten Manifestation des Lebens kommt, andererseits ist Schnee nichts Endgültiges, nichts, was alle möglichen Auswege versperrt. Trotz allem kommt nach ihm etwas, nach ihm bleibt trotz allem die Möglichkeit eines Auswegs, die Möglichkeit der Stimme." Im neuen Gedichtband „Chronik des eigenen Atems“ nimmt die „kurze Geschichte des Schnees“ eine wichtige Rolle ein. Das lange Gedicht, datiert auf den 10. Februar 2022, ist das letzte, das vor dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine entstand. Vier Monate lang konnte Serhij Zhadan keine Poesie mehr schreiben. Die Sprache verschwand, berichtet der Schriftsteller, der heute auch als Soldat für die Freiheit seines Landes kämpft, im Nachwort des Buches. Der tiefe Bruch, die russische Invasion, ist in der Mitte des Gedichtbandes dokumentiert. Gedichte gegen das Verstummen und die Angst Es gibt ein sicht- und fühlbares Davor und Danach. Die Gedichte nach dem Februar 2022 richten sich auch gegen das Verstummen, ebenso gegen die Angst Es erwarten Menschen den Abend, die Schnecken gleichen, / so hart schlafen sie auf den Bahnhöfen, so tief. / Gebrochen die Grenzlinie wie ein Kiefernzweig. / Der Weg ist schwer, wenn du dein Haus und dein Gestern auf dem Rücken trägst. Quelle: Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems Die Menschen, die den Schnecken gleichen, flüchten vor den russischen Aggressoren: Frauen und Kinder, auf der Odyssee westwärts, auf Wegen, die von Stimmlosigkeit markiert sind. „Das Haus ist euch genommen, nicht aber das Herz“, ruft ihnen die Stimme im Gedicht aus dem August 2022 nach. Die Poesie, so Serhij Zhadan, könne das aufnehmen, was auf den ersten Blick als unsagbar erscheint. Es könne hinter die Dinge, hinter das Sichtbare blicken. Das macht diese Form des Schreibens – in den Augen des Schriftstellers – besonders: „Und natürlich braucht es ein Bild, eine Metapher, eben genau die metaphorische Art zu sprechen, um diesen Dingen Klang zu verleihen, um sie aus dem Schatten zu holen, um sie aus dem Dunkel ans Licht zu holen. Vielleicht ist das eine Funktion der Dichtung in diesen Zeiten, in den Zeiten des Krieges, dass die Dichtung von etwas Zeugnis ablegen kann, wozu die gewöhnliche menschliche Sprache nicht in der Lage ist, wofür ihr die Sprachkraft, das Vokabular nicht reicht." Serhij Zhadans „Chronik des eigenen Atems“, begonnen im März 2021, führt bis in den Juni 23. Immer wieder durchstreifen die Gedichte, eindrücklich übertragen von Claudia Dathe, die große Stadt: Charkiw. Hier ähnelt die Metropole – vor der Ausweitung des Angriffskrieges – einem Liebesbrief, dort wird sie, im ersten Kriegswinter, von Sternsängern durchquert, dann schließlich wird sie von den Menschen verteidigt und vorgetragen „wie ein Gedicht“. Ebenso werden die Landschaften im Umland, darunter die Flussufer und die Weinberge, im Wandel der Jahreszeiten und Zeitläufte festgehalten in den Versen. Poetische Gespräche mit Autoren Und: Serhij Zhadan führt immer wieder ein poetisches Gespräch mit Autoren, die für ihn wichtige Bezugspunkte im Schreiben sind. Darunter Bruno Schulz, der große polnischsprachige Erzähler aus Galizien, 1942 von den Deutschen ermordet. So Zhadan: „(Bruno) Schulz‘ Figur hat eine besondere Tragik, denn nun sind ja schon 80 Jahre vergangen, seit er umgekommen ist, und in der Ukraine werden immer noch Autoren umgebracht, kommen immer noch Autoren um, das ist natürlich, das ist unverzeihlich, es ist sehr bitter, sich das zu vergegenwärtigen, es ist sehr bitter, darüber zu sprechen, denn die Kultur ist schrecklich empfindlich, was den Krieg angeht, sie ist de facto die Komponente, die in erster Linie zerstört wird, sie ist die erste, die dem Druck nicht mehr standhält, die kaputtgeht, zerstört wird, und das sind dann die Welten, die sich später nicht mehr wiederherstellen lassen." Serhij Zhadan hat Bruno Schulz eine Reihe von Psalmen gewidmet. Dem Krieg – und mit ihm den immer wiederkehrenden Schnee – setzt er die Liebe entgegen. Sie steht überhaupt im Zentrum der gesamten Gedichtsammlung, ist Kontrapunkt zu allen Verheerungen der Gegenwart. Auch wenn es nicht um Liebe geht – es geht trotzdem um Liebe. / Auch wenn du nicht existierst – deine Abwesenheit / gibt denen Hoffnung, die überhaupt nichts haben, / die in den Trümmern alte Schulbücher finden. Quelle: Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems Je länger der russische Krieg gegen die freie Ukraine andauert, desto mehr findet auch das damit verbundene Geschehen konkreten Niederschlag in den Gedichten. Nur selten aber vordergründig, wie etwa dann, wenn, im ersten Winter und im Schnee, von Kämpfern die Rede ist, die dem Land ausgehen. Der dritte Kriegswinter in der Ukraine Serhij Zhadan schreibt oft aus einer Position der Stille heraus, abtastend, beobachtend, erkundend. Während seine „Chronik“ in Deutschland erscheint, beginnt in der Ukraine der dritte Kriegswinter. Als der Schriftsteller einige Gedichte aufnimmt, so berichtet er, schlägt in der Nähe seiner Wohnung eine Rakete ein: „Denken Sie einfach daran, dass tatsächlich genau jetzt unsere Städte, unsere Dörfer unter russländischem Beschuss liegen, genau jetzt Ukrainer, Erwachsene und Kinder sterben, das passiert jeden Tag, und da ist eine furchtbare Sache, die man weder auf die Politik noch auf die Geopolitik noch auf irgendwelche ökonomischen Interessen schieben kann. Natürlich hoffen wir sehr auf Hilfe. Vielleicht mehr noch als auf Hilfe hoffen wir auf Verständnis, für uns ist es sehr wichtig, dass wir in einer gemeinsamen Sprache miteinander sprechen, dass es sich dabei um eine ehrliche Sprache, um eine offene Sprache handelt. Das ist es, was die Menschen tun können." Am 19. Oktober 2022 (kurz vor der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan) heißt es in der „Chronik des eigenen Atems“: Die Sprache brauche jene, die leise sprechen / und überzeugend schweigen. Quelle: Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems Das wäre auch eine treffende Umschreibung für diese Gedichte, Ausdruck eines tiefen Humanismus und einer stetigen Ermutigung. Wir sollten hören, was dem Schweigen inmitten von Krieg und Kälte erwächst.…
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1 „Chronik des eigenen Atems“ von Serhij Zhadan und andere neue Bücher 57:16
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57:16Dieses Mal im lesenswert Magazin: Bücher von Anne Tyler, Cemile Sahin, Doris Vogel, Martin Becker, Tabea Soergel und einem Gespräch über ein unerwünschtes Fest zum 50. Geburtstag
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Ausgerechnet am Tag vor der Hochzeit ihrer einzigen Tochter kommt es ziemlich dicke für die 61-jährige Gail: Nach Jahren als stellvertretende Schuldirektorin droht ihr die Kündigung wegen vorgeblich mangelnder Sozialkompetenz. Dann steht plötzlich ihr Ex-Mann Max vor der Tür, um sich für zwei Nächte in ihrem Häuschen in Baltimore einzuquartieren. Zu allem Überfluss mit einer alten Katze im Schlepptau, dabei ist der Schwiegersohn in spe schlimm allergisch. Damit nicht genug, sitzt wenig später die Tochter Debbie aufgelöst auf dem Sofa, weil sie von einem nicht lang zurückliegenden Seitensprung ihres Bräutigams erfahren hat. Frauenleben auf emotionaler Sparflamme Das ist die Ausgangssituation des neuen Romans von Anne Tyler, „Drei Tage im Juni“. Wie wird es in diesen drei Tagen nun weitergehen? Wird Max mit seiner raumgreifenden Art seiner Exfrau, wie erwartet, den letzten Nerv rauben? Wird Debbies Hochzeit platzen oder werden ein paar kleine „white lies“ alles richten? Und wie wird es mit der Katze weitergehen, vom Job ganz zu schweigen? I ch malte mir aus, wie ich in der halbleeren Kirche saß, während die restliche Hochzeitsgesellschaft mit dem Finger auf mich zeigte und ,Die arme Gail, habt ihr schon gehört?‘ flüsterte. Gefeuert. Mit einundsechzig. Weil sie keine Sozialkompetenz hat. […] Diese biedere Frau, diese blasse Person mit den Schnittlauchlocken, die sich nicht im Mindesten um ihr Aussehen schert! Quelle: Anne Tyler – Drei Tage im Juni Anne Tyler lässt dieser Exposition ein Kammerspiel folgen, das sich zum Porträt einer Frau mit einem Leben auf emotionaler Sparflamme weitet. Ganz oder fast alltägliche Vorgänge wie ein ziemlich misslingender Friseurbesuch, der Kauf eines Anzugs für den Brautvater Max, Restaurantbesuche und Imbisse in der eigenen Küche, die Probe für die Trauung am nächsten Tag rufen Erinnerungen auf: an das Kennenlernen in der Studenten-WG, den ersten Kuss bei einem Picknick vor einem malerisch gelbgoldenen Getreidefeld, die ersten gemeinsamen Jahre. Die kleinen Dinge statt der großen Dispute Um die Leser ins Nachdenken zu bringen – etwa über Willensfreiheit, die Rolle des Unbewussten oder die Frage, was eine Ehe am Laufen hält – braucht Anne Tyler keine tiefgründig-bildungssatten Dialoge oder Erwägungen. Die kleinen Dinge illustrieren Gails Beziehung zu Max. Zwanzig Jahre nach der Scheidung und einigen schwierigen Phasen ist das Verhältnis der beiden einigermaßen befriedet. Doch weiterhin hängt Gail der Auffassung an, Max neige im Umgang mit anderen wie mit sich selbst zu einer gewissen achtlosen Übergriffigkeit. Grenzen – sein großes Problem. Er kannte keine Grenzen. Für mich waren Grenzen wahnsinnig wichtig. Quelle: Anne Tyler – Drei Tage im Juni Wie zu erwarten war, geraten diese Grenzen bei Gail nach und nach ins Bröckeln. Die gemeinsam verbrachte Zeit, das erleichternde Gefühl des Einverständnisses gegenüber den Herausforderungen der Hochzeitsfeierlichkeiten, die geteilte Sorge um die Tochter führen Gail vor Augen, was Max vielleicht schon länger wusste: dass da noch etwas ist, woran man anknüpfen könnte. Er entpuppt sich nämlich als gar nicht so achtlos, wie Gail denkt, sondern kennt sie womöglich besser als sie selbst. So begegnet er ihrer gewohnheitsmäßigen Bedenkenträgerei mit einem fast rührenden Vergleich: Er musterte mich. ,Weißt du, was du brauchst? Du brauchst einen Donnermantel.‘ ,Einen was?‘ ,So ein eng anliegendes Mäntelchen, das man Hunden anzieht, die sich vor Donner fürchten. Meine Güte! Führst du eine Liste, auf der jede Sache, um die du dich sorgst, einzeln aufgeführt ist? Und wie merkst du dir das alles?‘ Quelle: Anne Tyler – Drei Tage im Juni Tatsächlich ist Gails Selbstbewusstsein prekär und schwankt zwischen Selbstzweifel, verdrängten Gefühlen von Schuld und Trauer und – ja, auch – Rechthaberei. Das macht es den anderen im Allgemeinen und Max im Besonderen nicht gerade leicht. Stichwort „fehlende Sozialkompetenz“. Denn sie wissen nicht, was sie tun Gails allmählich wachsende, kurz sogar von Panik begleitete Selbsterkenntnis, nachdem die Tochter in die Flitterwochen aufgebrochen ist und Max wieder heimwärts Richtung Delaware, gießt die begnadete Menschenkundlerin Anne Tyler in ebenso komische wie ergreifende innere Monologe: Was sollte ich mit dem Rest meines Lebens machen? Ich bin zu jung für diese Situation, dachte ich. Nicht zu alt, wie man hätte meinen können, sondern zu jung, zu unbeholfen, zu ahnungslos. Warum waren keine Erwachsenen in meiner Nähe? Warum nahmen alle an, dass ich wüsste, was ich tat? […] Warum war ich nur so verschlossen ? Quelle: Anne Tyler – Drei Tage im Juni Dass Menschen mitnichten immer wissen, was sie tun, kann bekanntlich fatale Folgen haben. Auch Anne Tylers in ihrer ganzen verschlossenen Unbeholfenheit bezwingende Heldin Gail hat dies einmal erfahren – und damit ihre Ehe ruiniert. Es kann aber auch ein Glück sein, vorausgesetzt, man tut das, was Gail künftig neu lernen wird: es auch mal gut sein lassen. Gut möglich, dass eine betagte Katzendame ihren Anteil daran hat. Anne Tylers „Drei Tage im Juni“ ist ein Kabinettstück aus der Mittelschicht der USA, deren Angehörige trotz allem mehr oder weniger erfolgreich versuchen, ihrem moralischen Kompass zu folgen. Ein kleiner, feiner Roman, den man gern zwei- oder dreimal liest, um herauszufinden, wie alles so kommen konnte.…
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Ein Hochzeitssaal in Rotterdam. Es ist das Jahr 1995. Die Familie Korkmaz. Eine Braut und ein Bräutigam. Ein Schuss. Und Keko, der Bräutigam, ist tot. Wer war es? Wer hat ihn ermordet? Und vor allem: warum? Von diesem Hochzeits-Murder-Mystery ausgehend zieht Cemile Sahin die Erzählstränge ihres Romans: Ein Scharfschütze ist ein Scharfschütze ist eine stille Person. Sein Sturmgewehr ist ein Echo, das durch die Geschichte hallt. Diese Szene ist wie eine Seite aus einem Buch, dessen Worte sich in den Pausen zwischen den Schüssen entfalten. Während der Scharfschütze seine Geschichte in stiller Konzentration weiterspinnt. Und während er darauf wartet, dass sein Ziel auftaucht, wird sein eigenes Schicksal zu einem Teil dieser Geschichte, die das Leben selbst ist. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Die Vergangenheit und die Zukunft einer kurdischen Familie Im Mittelpunkt von „Kommando Ajax“ steht eine kurdische Familie, mit Mitgliedern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Fünf Brüder, einer von ihnen, Keko, auf der Hochzeit ermordet. Ali Hüseyin, der dicke Dachdecker, mit dem Traum, Maler zu sein. Xidir, den die Polizei für Kekos Mörder hält. Ali Ekber und Ali Haydar, die auf dem Bau arbeiten und später eine Baufirma gründen. Und die Schwester Fatma, die ehrgeizige und clevere Putzfrau mit dem Traum vom Mercedes, obwohl sie gar keinen Führerschein besitzt. „Kommando Ajax“ führt uns in die Zeit, nach dem Mord, aber auch zurück in die Vergangenheit der Familie Korkmaz. Wir folgen Ali Hüseyin, der malt wie die Alten Meister, gekonnt wie Caravaggio, dessen Talent von den Brüdern belächelt wird. Ali Hüseyin malt nur Selbstporträts, aus verschiedenen Perspektiven mit der Landschaft des Heimatdorfes im Hintergrund. Er war der erste, der das kurdische Dorf verließ, um – mit Zwischenstopp in Istanbul - in die Niederlande zu emigrieren. Wer brachte ihn so versteckt nach Holland? Ein Schmuggler. Warum? Weil türkische Sicherheitskräfte Mezra über Nacht in Brand steckten. Warum? Sie führten einen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, der schon begann, bevor Ali Hüseyin und seine Geschwister geboren waren. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Die Herausforderungen der Migration In Rotterdam müssen sich die verschiedenen Generationen nach der Flucht nach Europa neu orientieren. In der Familie Korkmaz geht man unterschiedlich mit dem neuen Leben im Exil um. Während Ali Hüseyin malt, wird der andere Bruder spielsüchtig. Schwester Fatma befreit sich von ihrem gewalttätigen Ehemann. Liebevoll schrullig zeichnet Sahin ihre Figuren voller seelischer Narben, und mit leisem, manchmal düsterem Humor beschreibt sie die Herausforderungen der Migration: Auf der Baustelle lernte man die Sprache eines Landes viel schneller, weil auf der Baustelle immer alle Ausländer sind und sich eben über die neue Sprache verständigen, die sie mit ach und krach beim Arbeiten lernen, um sich besser zu verstehen, anstatt dass alle Ausländer in ihrer jeweiligen Ausländersprache miteinander sprechen und so nie jemand jemanden versteht. So reden alle schlecht Holländisch, aber die Männer auf der Baustelle reden besser als die Frauen, die in der Spielbank putzen gehen. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Cemile Sahins dritter Roman „Kommando Ajax“ ist Cemile Sahins dritter Roman. Und immer wieder beschäftigt sie sich in ihrer literarischen Arbeit mit der kurdischen Identität. Heimatlosigkeit und Sehnsucht nach den Wurzeln plagen die Figuren in „Kommando Ajax“. Eine weite Landschaft. Die Sonne wandert über Hügel. Über Berge. Zoom auf einen Gipfel. Die Sonne blendet. Zoom auf ein Lehmhaus. Eine Ziegenherde läuft durch das Bild. Zoom auf einen Birnbaum, der vor dem Lehmhaus steht. Zoom out. Ein Bild von sechs Geschwistern. Voiceover: Dies ist die Geschichte von sechs Geschwistern: fünf Brüdern und einer Schwester, die ihr Dorf, auf Kurdisch: MEZRA, das in Dêrsim liegt, verlassen mussten. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Ein aufwendig gestaltetes Buch Und wer hat nun den Bruder auf der eigenen Hochzeit ermordet? Das erzählt Sahin nach und nach, verwebt die Erzählstränge ineinander, führt uns spannend wie in einem Thriller auf falsche Fährten. Und neben glücklichen und unglücklichen Zufällen, Begegnungen mit Gangstern und Kriminellen, spielt die bildende Kunst in diesem Roman eine große Rolle. Cemile Sahin schreibt nicht nur, sie ist auch Künstlerin, sie arbeitet mit Video, Schrift und Fotomontagen. Diese Erfahrungen fließen in den Roman mit ein: Immer wieder tauchen Bilder und Grafiken mit auf, oft wird der Text selbst zu einem gestalterischen Element. Es gibt fast drehbuchhafte Passagen, Sahin springt wie im Filmschnitt zwischen Dialogen, Rückblenden und Zooms hin und her. „Kommando Ajax“ ist visuell lebendig, sprachlich und dramaturgisch erfrischend. Absurde und doppelbödige Einfälle Und dann kommt auch noch - Stichwort: Murder Mystery - eine Agatha Christie ins Spiel. Die ist zwar Namensvetterin der britischen Krimipäpstin, in diesem Fall aber verwandtschaftlich mit dem Christies Auktionshaus verbandelt. Zoom auf Agatha Christie. Agatha Christie bekommt einen denkwürdigen Auftritt. Natürlich. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Was es mit dieser Figur auf sich hat, wird hier nicht verraten. Sahin überrascht immer wieder mit absurden und doppelbödigen Einfällen – und erzählt zugleich die Geschichte von prekären Existenzen, Schicksalsschlägen und der Sehnsucht nach einem Zuhause. Das macht „Kommando Ajax“ zu einem spannenden, rasanten Stück Gegenwartsliteratur. Ein kunstvoll gestaltetes Buch, das man gar nicht mehr weglegen mag. „Kommando Ajax“ - Kommando: lesen!…
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Der Held in Lucy Frickes neuem Roman „Das Fest“, Jakob, wird 50 und steckt in einer klassischen Midlife-Crisis. Er ist Single, nicht mehr ganz erfolgreich im Beruf und der Meinung, das Wichtigste im Leben liege hinter ihm. Statt seinen runden Geburtstag zu feiern, würde er sich am liebsten allein verkriechen. Seine beste Freundin Ellen aber akzeptiert das nicht. Vermeintlich zufällige Begegnungen Der Tag beginnt damit, dass Ellen Jakob eine Badehose schenkt und ihn ins Freibad schickt, wo er auf seine langjährige Beziehung trifft. Mehrere solcher vermeintlich zufälligen Begegnungen des Tages führen Jakob zu neuen Einsichten und tiefer Freundschaft. Am Ende wird dann doch gefeiert! Im Gespräch mit Anja Brockert spricht Literaturkritiker Christoph Schröder eine starke Empfehlung für Lucy Frickes neuen Roman „Das Fest“ aus.…
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1 Doris Vogel – Dieses Buch gehört dem König 2.0 1:33
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1:33Eine lyrisches Biopic über Elvis Presley: Literaturkritiker Denis Scheck ist berührt von diesem Gedichtband von Doris Vogel über den „King“, seine Songs und sein Leben. Mit allen Registern des lyrischen Sprechens wird der Mensch Elvis Presley spürbar. Schecks persönliches Buch des Jahres.
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Als der Roman „Die Nichtswürdigen“ beginnt, hat die Apokalypse schon stattgefunden: Ein globaler Kollaps und eine Umweltkatastrophe gigantischen Ausmaßes. Länder sind unter Wassermassen verschwunden, dann sind Meere ausgetrocknet, Bäume und fast alle Tiere verschwunden. Nur wenige Menschen haben überlebt, sie irren durch eine zerstörte Welt ohne Strom und Internet, jagen Tauben oder Ratten, um nicht vor Hunger zu sterben, sie töten sich gegenseitig. Agustina Bazterrica schildert das Grauen in Rückblenden, denn die Ich-Erzählerin ihres Romans, eine junge Frau, hat nach langem Herumstreunen einen Zufluchtsort gefunden. Sie lebt im Haus der Heiligen Schwesternschaft, wo sie gemeinsam mit anderen Frauen einem mysteriösen, Mann, der nur Er genannt wird, und einer brutalen Schwester Oberin unterworfen ist. Es gibt hier etwas zu essen, ein wenig Wasser, Kleidung und Betten, aber auch eine streng hierarchische Ordnung, die auf Gehorsam, blindem Glauben und Sadismus beruht. Geist der Grausamkeit Von den sogenannten Nichtswürdigen, zu denen die Erzählerin gehört, wird Läuterung verlangt, Selbstgeißelung, Opfer aller Art. Sie alle wollen aufsteigen in der Hierarchie der Heiligen Schwesternschaft, wollen sogenannte Auserwählte oder Durchgeistigte werden. Deshalb konkurrieren die Frauen gnadenlos miteinander, quälen sich gegenseitig. Es herrscht ein Geist der Grausamkeit – und das von der ersten Romanseite an: Jemand schreit im Dunkeln. Ich hoffe, es ist Lourdes. Ich habe ihr Kakerlaken ins Kopfkissen gesteckt und den Bezug vernäht, damit sie nicht so leicht herauskönnen, damit sie unter ihrem Kopf krabbeln oder über ihr Gesicht. Hoffentlich kriechen sie ihr in die Ohren und nisten auf ihren Trommelfellen, hoffentlich spürt sie, wie die Brut ihr ins Gehirn dringt. Quelle: Agustina Bazterrica – Die Nichtswürdigen Nichts für Zartbesaitete. Makabre Passagen gibt es immer wieder in Bazterricas Roman. Auch, wenn die Strafen geschildert werden, die die Nichtswürdigen beim geringsten Fehlverhalten ertragen müssen – wenn die Schwester Oberin mal wieder die Peitsche schwingt oder einer Nichtswürdigen noch Schlimmeres geschieht. Die Dienerinnen banden sie an einen Pfahl, um den Äste und Strünke gehäuft waren. Sie zündeten sie an, und Mariel stand in Flammen. Sie war wunderschön. Ein Feuervogel. Quelle: Agustina Bazterrica – Die Nichtswürdigen Eine vom jahrelangen Kampf ums Überleben abgestumpfte Gemeinschaft, in der selbst im Verbrennen einer Frau Schönheit gesehen wird: Inmitten ihrer Dystopie einer unbewohnbaren Welt hat Agustina Bazterrica einen Ort ersonnen, an dem Frauen Unterdrückung und Folter aller Art ausgesetzt sind – auch die vermeintlich Privilegierten. Damit erfindet die Autorin aber nichts Neues, damit treibt sie nur Szenarien von misogyner Gewalt und Missbrauch auf die Spitze, die es immer schon gegeben hat. Messianische Figur bringt Erlösung In dem perversen System der Heiligen Schwesternschaft funktioniert keine Sisterhood, bis eine Frau, eine fast messianische Figur, zur Gemeinschaft stößt, die Erlösung bringt: Durch Barmherzigkeit – und Liebe. Lucía streckte einen Arm zum Himmel, als wollte sie die Sterne berühren. Wir sind Töchter des Mondes, sagte sie. Sie küsste mich, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte sie bloß ansehen, bloß streicheln mit den Fingerspitzen (…). Quelle: Agustina Bazterrica – Die Nichtswürdigen Schade, dass in „Die Nichtswürdigen“ die Sprache oft so klischeehaft ist. Was die schockierenden Passagen des Romans angeht, so sind diese ein nachvollziehbares Mittel, um die Verrohung der Menschheit nach dem Zivilisations-Kollaps zu verdeutlichen. Die Autorin zeigt auf erschreckende Weise, wie aus dem Chaos ein allumfassendes System des Bösen entstehen könnte. Die Nichtswürdigen ist einer von vielen Romanen, die von der Apokalypse handeln – aber durchaus ein interessanter. Geschmälert wird das Leseerlebnis durch Allgemeinplätze, einige Redundanzen und ein nicht ganz überzeugendes Ende.…
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1 Christoph Sebastian Widdau, Jörn Knobloch – Was ist und was soll Political Correctness? 4:09
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4:09Über die Berliner „Mohrenstraße“ wurde ausgiebig gestritten, bei Bismarck-Denkmälern würden manche Leute gern den Vorschlaghammer hervorholen, der Hindenburg-Damm muss doch nicht nach einem Demokratiefeind heißen, und das N-Wort hat in einem Kinderbuch nichts zu suchen. In all diesen Fällen geht es um Symbole und um Sprache. Und all diese Fälle sind hart umkämpft. Komplett verfeindete und unversöhnliche Parteien scheinen sich gegenüberzustehen. Für die einen kann ein Straßenname verletzend, gar retraumatisierend sein. Andere berufen sich auf Traditionen oder ein komplexes Geschichtsbild, das sich nicht einfach durch das Auslöschen von Begriffen übermalen lässt. Wenig verbindet diese Positionen. Was darf man (noch) wie sagen? Darum tobt ein Kulturkampf Es tobt ein regelrechter Kulturkampf. An diesem Punkt setzt der schmale Essay der Politologen und Philosophen Jörn Knobloch und Christoph Sebastian Widdau an. Sie fragen: „Was ist und was soll Political Correctness?“, beschreiben also zunächst die Grundlagen der Auseinandersetzung, die Herkunft des Begriffs, die Intentionen, die hinter der Forderung nach politischen Korrekturen stecken. Political Correctness wurde in der Bundesrepublik früh durch Feministinnen praktiziert. Sie zielten darauf, die ungenügende Repräsentation von Frauen in Sprache, Kultur, Politik anzuprangern. Aber längst gehe es neben der Kritik am Sprachgebrauch auch ... … um die Bewertung und Sanktionierung bestimmter Weltanschauungen oder die politisch-moralisch begründete Auswahl von Sprechern in der Öffentlichkeit. Quelle: Jörn Knobloch, Christoph Sebastian Widdau – Was ist und was soll Political Correctness? Beitrag zur Versachlichung in der Diskussion um Political Correctness Political Correctness ist ein Kampfbegriff, dessen Wesen schon zur Genüge wissenschaftlich und feuilletonistisch diskutiert wurde. Knobloch und Widdau aber gehen einen Schritt über die Beschreibung hinaus. Ihr Anliegen: Sie wollen die Diskussion versachlichen, und zwar indem sie versuchen, die verfeindeten Strömungen der Bewahrer und Korrektoren auf eine gemeinsame ideengeschichtliche Wurzel zurückzuführen. Wir vermuten (…), dass beide Positionen auf dem Liberalismus fußen. Zumindest, um dies vorsichtiger zu formulieren, lassen sich ihre Ursprünge auf liberales Denken zurückführen. Quelle: Jörn Knobloch, Christoph Sebastian Widdau – Was ist und was soll Political Correctness? Natürlich gibt es Rechtsextreme, die der Political Correctness aus durchschaubaren Gründen den Kampf ansagen. Das ignorieren Knobloch und Widdau keineswegs. Aber im Kern der Auseinandersetzung stünden sich unterschiedliche liberale Gesinnungen gegenüber. Dies eröffne die Möglichkeit, doch Übereinkünfte zu finden, die aufgrund der aufgeheizten Debatten schier unerreichbar scheinen. Wenn sich aber die Streitparteien darauf einigen könnten, dass sie sich innerhalb liberaler Demokratien bewegen und den Liberalismus ernst nehmen, dann könnte man prüfen, ob von hier aus gesehen bestimmte Praktiken, Routinen und Konventionen, Sprechweisen und Handlungen sinnvollerweise als »korrekt« oder »inkorrekt« bezeichnet werden können. Quelle: Jörn Knobloch, Christoph Sebastian Widdau – Was ist und was soll Political Correctness? Fundament gemeinsamer liberaler Überzeugungen gibt Hoffnung Letztlich begreifen die Autoren die Debatte als Reaktion auf die Krise des Liberalismus. Es handelt sich um einen Streit darüber, wie der Liberalismus fortgeführt, liberalisiert werden könnte. Vor Gerichten lässt sich das schwerlich austragen, durch Gesetze nur um den Preis tieferer Spaltungen regeln. Auf dem Fundament gemeinsamer liberaler Überzeugungen aber könnten beide Streitparteien die Wichtigkeit ihrer Anliegen erkennen und diskutieren – und Kompromisse aushandeln, die aus der Unbedingtheit des Entweder-Oder ausbrechen. Der Sprachgebrauch müsse, so Knobloch und Widdau, einer Inventur unterzogen werden; diese ermögliche Suche nach tatsächlichen oder vermeintlichen Beleidigungen. Darauf ließe sich aufbauen. Freilich basiert dieser Vorschlag auf einer von Jürgen Habermas inspirierten Diskursethik, die vernunftbegabte und offene Teilnehmer voraussetzt. Auf solche darf man zwar hoffen. Ob man sie gegenwärtig wirklich finden kann, ist allerdings zweifelhaft.…
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1 Molly MacCarthy – Kleine Fliegen der Gewissheit 4:09
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4:09Eine weitläufige Zimmerflucht als Zuhause, der Blick aus dem Kinderzimmer in einen üppigen, gepflegten Garten, Privatunterricht mit Hauslehrern und berühmte Autoren zum Abendessen. Es ist eine ferne, faszinierende Welt, in die Molly MacCarthy uns in ihren Kindheitserinnerungen „Kleine Fliegen der Gewissheit“ mitnimmt. Ich wurde in den Achtzigern in behütete, äußerst behagliche religiöse und literarische Kreise hineingeboren. Quelle: Molly MacCarthy – Kleine Fliegen der Gewissheit Ironische Distanz zur eigenen Familie Kindheitserinnerungen bergen die Gefahr der nostalgischen Verklärung. Dass Molly MacCarthy nicht in diese Falle tappt, macht „Eine Kindheit im neunzehnten Jahrhundert“ – so der Originaltitel der autofiktionalen Erzählung – umso lesenswerter. Immer ist das Bemühen der Autorin um Ehrlichkeit wahrnehmbar, was sich oft auch in einem Ton ironischer Distanz gegenüber der eigenen Familie und deren Werten niederschlägt. Molly, die eigentlich Mary heißt, ist das zweitjüngste von acht Kindern des Vize-Schuldirektors Francis Warre-Cornish und seiner Frau Blanche. Die Autorin ist zwölf Jahre alt, als ihr Vater seine Stelle in Eton antritt und die Familie in das weiträumige Tudor-Haus neben dem Eliteinternat zieht. Mollys Familie gehört zum gehobenen Bildungsbürgertum. Um die Aufmerksamkeit der zerstreuten und exzentrischen Mutter kämpft die Tochter oft vergeblich. Häusliche Theateraufführungen, Vorlesestunden und Klavierkonzerte machen für MacCarthy auch im Rückblick den Mangel an mütterlicher Zuwendung nicht wett. Völlig unerwartet entscheidet die Mutter überdies, die Tochter in ein katholisches Internat zu geben. Die weitläufigen, weißen Schlafsäle, (…) und die Kapelle, in der ein schwerer Weihrauchduft lag, vermittelten ihr das Gefühl dieser disziplinierten Ordnung und Ruhe, nach der sie sich selbst sehnte und die sie einer Tochter nur zu gerne vermittelt hätte. (…) So rasch wie möglich sollte ich in dieser hochkirchlichen Festung eingekerkert werden. Quelle: Molly MacCarthy – Kleine Fliegen der Gewissheit Kaum Berufsperspektiven trotz Schulabschluss Trotz Heimweh, Einsamkeit und rigiden religiösen Geboten versucht das Mädchen, die Beweggründe der mütterlichen Entscheidung nachzuvollziehen. Diese Balance zwischen Fakten und subjektivem Rückblick zeichnet das Buch aus, das einen höheren literarischen Anspruch als ein Memoir hat und von der Ich-Perspektive bisweilen auch in die dritte Person wechselt. Nach ihrem Schulabschluss sieht sich das junge Mädchen allerdings mit einem unerwarteten Problem konfrontiert. Auf der Suche nach einer Zukunftsperspektive geht sie im „Jahrbuch der englischen Frauen“ die Liste mit den Berufen durch. Obgleich das Jahrbuch alle Berufe nannte, die eine Frau in jener Zeit hätte ergreifen können, von der Universitätsprofessorin bis zur Müllkutscherin (…) an den Hafendocks, wurde es mir zu meiner großen Bestürzung klar, dass ich ohne Beruf dastand. Unter diesen Umständen entschließe ich mich zu einem drastischen Schritt. „Ich werde Hygieneinspektorin“, verkünde ich meiner Familie. Sie brüllen vor Lachen. Quelle: Molly MacCarthy – Kleine Fliegen der Gewissheit Mollys Berufssuche wird ebenso in Ehe und Mutterschaft enden wie die ihrer Schwestern. Vorher dürfen die jungen Mädchen in London noch ein wenig ihre Freiheit auf sittsamen Tanztees genießen. Die zahlreichen Anmerkungen des Herausgebers und Übersetzers Tobias Schwartz machen den beeindruckenden Bildungshintergrund deutlich, der für junge Mädchen der britischen Upperclass selbstverständlich war. Als Queen Victoria, Königin von Großbritannien und Kaiserin von Indien, 1901 stirbt, endet eine Epoche und mit ihr auch die Kindheit und Jugend der 19-jährigen Molly MacCarthy. Das sachkundige Vorwort bettet die Erzählung in den historischen Kontext der berühmten Bloomsbury Group ein, deren Mitglied Molly MacCarthy war. „Mit Neid und Entzücken“ habe sie Mollys Kindheitserinnerungen gelesen, schreibt Virginia Woolf 1924 in einem Brief an ihre Cousine. Auch hundert Jahre nach der Erstveröffentlichung bereiten die anrührenden, nachdenklichen und amüsanten Kindheitserinnerungen große Lesefreude.…
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1 Vincenzo Cerami – Ein ganz normaler Bürger 4:09
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4:09Das Glutnest, aus dem in „Ein ganz normaler Bürger“ ein regelrechter Flächenbrand wird, hat einen Namen. Er lautet Aufstiegswille: Du wirst deinen Weg gehen, so wahr mir Gott helfe. Und du fängst da an, wo ich nach dreißig Dienstjahren aufhöre … mit gerade mal zwanzig. Ein junger Mann, der etwas werden will, denkt nur an sein Fortkommen, an sonst nichts, sollen die anderen sich den Strick nehmen! Quelle: Vincenzo Cerami – Ein ganz normaler Bürger So spricht der kurz vor der Rente stehende Giovanni Vivaldi mit seinem Sohn Mario, der im Rom der 1970erJahre im gleichen Ministerium wie sein Vater eine Prüfung vor sich hat. Sie soll Mario für eine höhere Beamtenlaufbahn qualifizieren und ihm damit den sozialen Aufstieg und das Entkommen aus der kleinbürgerlichen Enge seiner Verhältnisse ermöglichen. Damit Mario der Aufstieg gelingt, legt sich Giovanni mächtig ins Zeug, konkurrieren schließlich 12.000 Bewerber um 2.000 Plätze. Er tritt auf Einladung seines Vorgesetzten, Dottor Spaziani, der Freimauerloge bei und macht sich dort erst einmal lächerlich. Doch durch diese Mitgliedschaft gelingt es ihm, sich die Fragen und Antworten für die Prüfung seines Sohnes schon vorab zu erschleichen: ‚Hier habe ich die Abschrift der Prüfungsaufgabe‘, raunte Dottor Spaziani und blickte sich misstrauisch um. Wie von einem Magneten in seinem Bauch angezogen, schnellte Giovanni nach vorn, packte die Hände des Vorgesetzten und bedeckte sie mit ungestümen Küssen. Er wollte sie gar nicht mehr loslassen und schwitzte und stöhnte. Zwischen Schmatzern, Speichelfluss und Seufzern stieß er ein Dutzend ‚Danke‘ hervor. Quelle: Vincenzo Cerami – Ein ganz normaler Bürger Ein verzweifelter Kriecher Man könnte Giovanni einen Kriecher nennen. Oder einen Verzweifelten. Der Aufstieg des Sohnes scheint aber beschlossene Sache zu sein. Doch am Tag der Prüfung geschieht ein Unglück. Vater und Sohn durchqueren eine Straße, in der ein Raubüberfall stattfindet: Ein Wimpernschlag und zugleich eine Ewigkeit. Bevor Mario noch »Mamma« sagen konnte, war er schon tot. Einen Augenblick oder hundert Jahre zuvor der gellende Schrei einer Frau, wie er nur im höchsten Falsett möglich ist. Aus dem Hosenbein des Jungen floss Blut wie aus einem Wasserhahn. Die tödlichen Schüsse stammten aus Feuerwaffen. Quelle: Vincenzo Cerami – Ein ganz normaler Bürger Von diesem Moment an, so stellt Ceramis atmosphärischer dichter Roman es dar, ist Giovannis Schicksal endgültig besiegelt. Es geht unerbittlich nur noch in eine Richtung: bergab. Die Enge der Verhältnisse Indem Cerami die Handlung einbettet in die bleierne Atmosphäre im Rom der 1970er-Jahre, an der sich auch Pier Paolo Pasolini abarbeitete, gewinnt das traurige Schicksal Giovannis parabelhafte Züge. Durch die bildhafte Sprache hinterlässt „Ein ganz normaler Bürger“ einen tiefen Leseeindruck. Sofort erkannten die beiden den Sonntag wieder: an den heruntergelassenen, mit Schmierfett geölten Rollgittern der Läden, an den Wohnhäusern mit ihren zu hohnlächelnden Mäulern aufgerissenen Toren, an den entlang der Bürgersteige geparkten Autos gleich einbalsamierten Hunden, an den menschenleeren Straßenbahnen – lahme, verschreckte Raupen – und schließlich an der einen, die ganze Stadt durchquerenden Häuserkette, die sich überallhin verzweigte wie Haarbüschel auf einem grindigen Kopf. Quelle: Vincenzo Cerami – Ein ganz normaler Bürger Schilderungen wie diese von Giovannis und Marios Rückkehr von einer Angeltour am Rand der Stadt sind typisch für Ceramis Roman, der in seiner Klarheit und Genauigkeit von den ersten Seiten an so packend ist, dass man ihn kaum zur Seite legen, dass man erfahren möchte, welch traurigen Weg dieser ganz normale Bürger, eingezwängt in die Enge der Verhältnisse, gehen muss.…
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1 Tove Ditlevsen – Vilhelms Zimmer | Gespräch 6:09
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6:09Tove Ditlevsen nahm sich 1976 das Leben. Als sie starb, war sie noch keine 60 Jahre alt. Ihr letztes Buch „Vilhelms Zimmer“, in Dänemark bereits 1975 erschienen, liest sich wie eine Ankündigung ihres Freitods und wie ihr literarisches Vermächtnis. In Dänemark war Tove Ditlevsen bereits zu Lebzeiten sehr erfolgreich. In Deutschland hingegen wurde die Dänin erst vor wenigen Jahren wieder entdeckt, vor allem ihre autofiktionale „Kopenhagen Trilogie“, in der sie ihre Kindheit, Jugend und ihre Abhängigkeit verarbeitet. Übersetzerin Ursel Allenstein im Gespräch In Ditlevsens jetzt ins Deutsche übertragenen Buch „Vilhelms Zimmer“ verarbeitet sie ihre schwierige letzte Ehe. Das Buch handelt von der Hassliebe zwischen der Protagonistin Lise Mundus, eine erfolgreiche Schriftstellerin, und ihrem narzisstischen Ehemann Vilhelm. In der Ehe wie auch im ganzen Roman geht es um Leben und Tod. Tove Ditlevsen war eine Vorreiterin des autofiktionalen Erzählens und damit war sie ihre Zeit total weit voraus. Quelle: Ursel Allenstein - Übersetzerin von Tove Ditlevsen Durch den stetigen Wechsel der Erzählperspektiven sei die Übersetzung von "Vilhelms Zimmer" die schwierigste aller Ditlevsen-Übersetzungen gewesen, berichtet Übersetzerin Ursel Allenstein im lesenswert-Gespräch. Tove Ditlevsen ist eine Ikone der dänischen Literatur. Sie hat Generationen von Leserinnen und Lesern geprägt. Sie ist auch heute, 50 Jahre später, noch wahnsinnig modern. Wie sie über weibliches Leben und Leiden schreibt, hat immer noch eine große Aktualität. Sie ist unglaublich kompromisslos und in ihrer Radikalität, dass sie wirklich immer alles von sich gibt, finde ich sie einzigartig. Quelle: Ursel Allenstein - Übersetzerin von Tove Ditlevsen…
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Der Ursprung dieses Buches ist eine zufällige Begegnung in einer Leipziger Kneipe. So behauptet es jedenfalls der Ich-Erzähler in Clemens Böckmanns „Was du kriegen kannst“. Es ist Zufall, dass Uta und ich uns kennengelernt haben. Eine Freundin von mir war, im Rahmen ihrer Forschung in Leipzig, an einem Abend müde in eine Bar gegangen. An einem der Tische saß eine ältere Frau. Sie kamen ins Gespräch. Über vier Stunden erzählte Uta Einzelheiten aus ihrem Leben. Am nächsten Morgen rief die Freundin mich an, war verwirrt und überfordert und gleichzeitig eingenommen von einer Person, die sich ihr fast hemmungslos offenbart hatte. Quelle: Clemens Böckmann – Was du kriegen kannst Diese Frau aus der Bar ist Uta Lothner, die (durchaus widersprüchliche) Heldin des Romans. Sie arbeitet in den frühen 1970er-Jahren als Möbelverkäuferin in ihrer Heimatstadt Zwickau. Uta sieht gut aus, ist erlebnishungrig und Männerbekanntschaften nicht abgeneigt, kurz: eine ganz normale junge Frau, die in einem ganz und gar unnormalen, wenn auch grundspießigen Staat aufwächst. Im Jahr 1971 wirbt die Staatssicherheit Uta an, um rund um die internationalen Leipziger Messen Geschäftsleute und Besucher aus dem Westen auszuspionieren. Das funktioniert natürlich am besten, indem man mit ihnen schläft. Uta wird zur Sexarbeiterin und Agentin, die regelmäßig Berichte an ihre Kontaktleute abliefert, zugleich aber selbst immer unter Beobachtung steht. Clemens Böckmann beleuchtet Utas Biografie aus unterschiedlichen Erzählperspektiven: Sein Ich-Erzähler zeigt die Uta der Gegenwart als prekäre Alkoholikerin. Uta selbst erzählt im umgangssprachlichen Jargon aus ihrem Leben. Und große Teile des Romans schließlich bestehen aus Aktenvermerken des Ministeriums für Staatssicherheit: In ihrer Begleitung befindet sich meistens die Verkäuferin aus der Konsumgenossenschaft Zwickau (schwarzer Balken) wohnhaft in Zwickau, (schwarzer Balken) sowie auch oftmals die Verkäuferin vom Warenhaus (schwarzer Balken) aus Schneeberg (schwarzer Balken) wohnhaft in (schwarzer Balken). Alle Genannten werden als Männertoll eingeschätzt. Seit dem 30.1.1972 ist die Obengenannte Mitglied der SED. Gesellschaftliche Funktionen übt sie keine aus. Ansonsten kann gesagt werden, dass es sich bei der Obengenannten um eine attraktive Erscheinung handelt, die auch stets mit der neusten Mode gekleidet ist.“ Quelle: Clemens Böckmann – Was du kriegen kannst „Was du kriegen kannst“ ist ein komplexer, anspruchsvoll zu lesender Roman, eine Collage aus unterschiedlichen Textgattungen. Die Fülle an Informationen, die hier aus verschiedenen Quellen zusammengetragen wird, dient im Grunde einem einzigen Zweck: Zu zeigen, dass es keine gesicherten Informationen gibt. Uta ist eine ambivalent gezeichnete Figur: Ist sie Täterin oder Opfer? Clemens Böckmann ist subtil genug, die Antwort auf diese Frage in der Schwebe zu halten. Er zeigt, wie man in die Maschinerie des Spitzelapparates hineingeraten kann. Er führt vor, wie ein Individuum komplett hinter einer Sprache verschwindet, die auf bloße Funktionalität ausgerichtet ist und in ihrer bürokratischen Verschraubtheit nahezu unlesbar ist. Der Geruch von Abgasen und Schnaps Uta ist in diesem Roman beobachtetes Objekt und sprechendes Subjekt zugleich, doch beide Perspektiven ergeben kein abgerundetes Bild, sondern stecken voller Widersprüche. Genau darin liegt die historische Wahrhaftigkeit dieses Romans. Zugleich transportiert Böckmann die Gerüche, Geräusche, Milieus des nach Abgasen, Zigaretten und Schnaps riechenden, muffigen Alltags eines sich selbst als progressiv verstehenden Staats auf verblüffende Weise. Die Ambivalenz zwischen Utas Unschuld und Täterschaft kommt auch in kleinen Szenen zum Vorschein. Beispielsweise, wenn die junge Uta in ihrer Wohnung ihren Vater empfängt: Irgendwann später hat er mich mal besucht, und da hat er eine Einladung von der persischen Botschaft gesehen. Da hat er Augen gemacht! Meine Tochter beim Empfang in der persischen Botschaft! Da habe ich ihm alles erzählt. Also nicht das mit dem Sex, aber, dass ich da für die STASI hingehe, in deren Auftrag, und dass ich schon seit vier Jahren für die arbeite. Da war er stolz! Damit hatte er gar nicht gerechnet. Quelle: Clemens Böckmann – Was du kriegen kannst Clemens Böckmann, so kann man nachlesen, hat für seinen Roman ausgiebig recherchiert. Es gab schon einige, durchaus gelungene Versuche, den Staatssicherheitsapparat der untergegangenen DDR in Literatur zu fassen, Wolfgang Hilbig mit seinem grandiosen Roman „Ich“ zum Beispiel. Aber in den vergangenen Jahren hat sich nun eine neue, junge Generation von Autorinnen und Autoren herausgebildet, die sich dem Leben in der DDR nicht aus eigener Erinnerung, sondern aus der Sicht der Nachgeborenen nähert. Der 1988 geborene Clemens Böckmann gehört zu diesen neuen Stimmen und bekommt nun für sein vielschichtiges, komplexes Debüt „Was du kriegen kannst“ den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung – verdientermaßen. Was genau in diesem Buch erfunden und was in Archiven entdeckt wurde, bleibt bewusst unklar. Wer Uta Lothner tatsächlich war, weiß man nach der Lektüre nicht und soll es auch nicht wissen. Aber wie kann man einer solchen versehrten Existenz mit all ihren Brüchen, die bis in die Gegenwart hineinreichen, gerecht werden? Die Antwort auf diese Frage ist dieses Buch: Indem man von ihr erzählt.…
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1 „Das ist die Mcdonaldisierung der Literatur" 7:03
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7:03Wäre es für Verlage nicht rentabel, wenn man vor dem Druck eines Buches absehen könnte, wie erfolgreich es wird? Ab Ende des Jahres steht der Verlagswelt eine künstliche Intelligenz zur Verfügung, die genau das kann: Eine Art Bestseller-Orakel, das mithilfe eines Algorithmus vorhersagt, welche Bücher zu Verkaufsschlagern werden. Ob das ein Fluch oder ein Segen für die Literaturbranche ist, darum geht's im Gespräch mit Thomas Montasser, Literaturagent aus München. Algorithmus bezieht sich auf Vergangenheit Die Firma Media Control, die das Programm "Demandsens" entwickelt hat, verspreche den Verlagen eine 85-prozentige Prognose-Sicherheit darüber, ob ein Buch ein Bestseller werde oder nicht, sagt Literaturagent Thomas Montasser. Allerdings: 'Demandsens' kennt nur den literarischen Massengeschmack. Wenn wir nicht aufpassen, gibt es bald nur noch Einheitsbrei und alles, was neu ist, findet nicht mehr statt. Quelle: Thomas Montasser - Literaturagent aus München Der Algorithmus von "Demandsens" basiere sich in seiner Prognose aber lediglich auf Trends der Vergangenheit. Unvorhersehbares, wie etwa die Vergabe eines Literarturpreises, woraufhin Werke in manchen Fällen zu Bestsellern werden, könne das Programm in seine Berechnungen nicht einbeziehen, erklärt Montasser. Künstliche Intelligenz kann als Ansporn dienen Ihm zufolge könne künstliche Intelligenz aber auch Positives für die Buchbranche bewirken: Ich bin selbst nicht nur Agent, sondern auch Autor. Wenn ich heute einen Text schreibe, dann überlege ich mir am Ende regelmäßig: 'Hätte das auch eine KI schreiben können?' Und wenn ich zu dem Ergebnis komme: 'Ja, möglicherweise schon.' Dann muss ich den Text löschen, denn dann genügt er meinen eignen Ansprüchen nicht. Die KI hält uns den Spiegel vor. Wir müssen besser als die KI bleiben, denn sonst hat der Mensch keine Chance. Quelle: Thomas Montasser - Literaturagent aus München…
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1 António Lobo Antunes – Am anderen Ufer des Meeres | Buchkritik 6:13
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6:13Es ist alles lange her, was den Menschen, die in diesem Roman ihr Innerstes ausbreiten, durch den Kopf geht. Und doch ist es für sie noch immer präsent wie eine nie vergehende Gegenwart. So lebte die Frau, die an ihre Jugend zurückdenkt, einst als Tochter eines Plantagenbesitzers in Angola, als das Land noch eine portugiesische Kolonie war. Trotzdem ist das Mädchen, das sie einmal war, in ihr noch immer so lebendig wie ein zweites Ich, von dessen Empfindungen nichts verloren gegangen ist, wenn sie zurückblickt. Obwohl ich vor vielen Jahren weggegangen bin, habe ich die Orte, die ich bewohnt habe, nie verlassen, oder aber sie sind es, die mich immer begleiten, ich höre den Mispelbaum, höre das Pfeifen der Gräser, Domingas Warnung 'Vorsicht der Wind Menina, Vorsicht der Wind'. Quelle: António Lobo Antunes – Am anderen Ufer des Meeres Es war einmal in Afrika In Wirklichkeit befindet sich die Frau nicht mehr in Afrika, genauso wenig wie die beiden anderen Protagonisten des neuen Romans von António Lobo Antunes. Die beiden anderen, das sind ein ehemaliger Offizier der portugiesischen Kolonialtruppen und ein Beamter der Kolonialverwaltung. Alle drei sind längst wieder in Portugal, „Am anderen Ufer des Meeres", wie es im Romantitel heißt, nur dass die beiden Ufer in ihren Erinnerungen immer wieder miteinander verschwimmen. Bis zur sogenannten Nelkenrevolution von 1974 war Portugal eine katholisch-autoritäre Diktatur. Seit den 1960er-Jahren verrannte sich das Regime in lange, qualvolle und hoffnungslose Kriege um den Erhalt seiner afrikanischen Kolonien. Diese Gewaltgeschichte hat Antunes in seinem Erzählwerk schon oft thematisiert und auch in seinem neuen Roman bilden zwei Schlüsselereignisse dieser Zeit den historischen Hintergrund. Das eine ist der brutal niedergeschlagene Landarbeiterstreik in einer angolanischen Baumwollplantage. Das andere ist der dadurch ausgelöste Befreiungskrieg gegen die portugiesische Herrschaft. Das Murmeln der Erinnerungen In der Erinnerung der Romanfiguren sind diese historischen Vorgänge nicht als Abfolge von Ereignissen sondern als Gefühlsgeschichte präsent. Da verdichten sich Stolz und Niederlagen, Beschämungen, Verluste und Verklärungen zu einem oft ununterscheidbaren Knäuel von Empfindungen. Ohne Übergang wechselt der Erinnerungsmonolog des Offiziers von der Schilderung sexueller Anzüglichkeiten zum angeberischen Bericht über die Vorbereitung eines Gemetzels. Die Lastwagen fuhren in Quela ein, ich gab den Soldaten den Befehl, in Schussposition auszusteigen, die Offiziere und die höheren Dienstgrade vorn, in einer Art Halbmond vor dem Hüttendorf, ich ließ die Bazooka zu mir bringen, seitlich davon zwei Maschinengewehre, während zwei Flugzeuge über den Bäumen auftauchten. Quelle: António Lobo Antunes – Am anderen Ufer des Meeres Im Wechsel der Romankapitel reden die drei Protagonisten weder miteinander, noch zu irgendjemand sonst. Sie reden vor sich hin, gleichsam ins Leere - ein perfektes Bild der Einsamkeit. Im Bewusstseins- und Redestrom ihrer Monologe vermischen sich einschneidende und alltägliche Momente ihres Lebens, Vergangenheit und Gegenwart unablässig. Vorgefunden hat Antunes diese komplexen emotional geprägten Erzählmuster in seiner viele Jahre ausgeübten Praxis als Psychiater. Seine Figuren beherrschen nicht den Stoff ihres Lebens sondern werden von ihm beherrscht, sie sind ihm ausgeliefert. Dieses Erzählverfahren hat Antunes zu höchster Kunst entwickelt. Unverkennbar wird das selbstversunkene Monologisieren dieser Menschen angetrieben von Verletzungen und Verlusten aber auch von schal gewordenen Triumphen. Die Grundmelodie des Ganzen wird von Melancholie bestimmt. Portugiesische Passionsgeschichten Die Tochter des Plantagenbesitzers ergibt sich dem Zauber ihrer Erinnerungen, weil ihr Leben nie wieder so wurde wie einst in Afrika. Für den Offizier bilden seine militärischen Heldentaten, deren verbrecherischen Anteil er verdrängt, den Höhepunkt seines Lebens. Der Staatsbeamte kann sich nicht lösen von den Resten seines früheren privilegierten kolonialen Daseins, weil ihm das portugiesische Mutterland fremd geworden ist. Wozu mich auf ein Schiff zurück zum anderen Ufer des Meeres begeben, wo ich dort schon niemanden mehr kenne, denn nach so vielen Jahren ist Lissabon natürlich anders, Häuser und Straßen, keine Ahnung, wie sie jetzt aussehen, Leute auf den Fußwegen oder, besser gesagt, Fremde, die mich nicht beachten. Quelle: António Lobo Antunes – Am anderen Ufer des Meeres Antunes portugiesische Passionsgeschichten handeln von der Gefangenschaft des Menschen in der erdrückenden „Ordnung der Dinge", wie er einen seiner früheren Romane nannte, das heißt in der Ordnung ihrer seelischen Prägungen, ihrer sozialen Stellung und der historischen Verhältnisse. Mit unerbittlicher Konsequenz hat Antunes die Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms weiterentwickelt zu einem Medium nationaler Befindlichkeiten und Traumata, die sich aber über Portugal hinaus ebenso gut auf die menschliche Existenz überhaupt beziehen lassen. Den Nobelpreis hat er bislang nicht bekommen. Aber die Anerkennung für sein großartiges Werk, für das auch dieser neue Roman stehen kann, ist ihm gewiss.…
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1 Bei Krisen aller Art hilft: Lesen! Bücher von Joachim Meyerhoff, Tove Ditlevsen und Clemens Böckmann 55:00
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55:00Mit guten Büchern kann man die Krisen und Brüche der politischen Welt für ein paar Stunden ausblenden - und das Lesenswert Magazin hat die passenden Tipps dafür.
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1 Amir Hassan Cheheltan – Die Rose von Nischapur 6:03
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6:03In den acht Jahren, die er und Nastaran zusammen waren, waren sie noch nie ernsthaft miteinander in Streit geraten. Man konnte sie zu den unkomplizierten Paaren zählen… Seit ein, zwei Jahren aber fragt Mama Malli ständig: „Findet ihr nicht, dass es Zeit ist zu heiraten?“ Quelle: Amir Hassan Cheheltan – Die Rose von Nischapur Amir Hassan Cheheltan im Gespräch: „In my apartment, in the building that I live in, 20 families live in this building, and we had two couples, who live together without marriage. And this is the real picture of my country, or at least the real picture of Tehran as the mega city and as the heart of Iran." Amir Hassan Cheheltan kennt zwei unverheiratete Paare im eigenen Haus, das sei heute Realität in Teheran, dem Herzen Irans, sagt er. Auch zwei seiner Romanfiguren, der Schriftsteller Nader und die junge Grafikdesignerin Nastaran, leben in „weißer Ehe“. Nastarans Gefühle waren echt… Nader bewunderte ihre dezente Unverblümtheit und ihre Zivilcourage. Quelle: Amir Hassan Cheheltan – Die Rose von Nischapur Abtrünniger, Ungläubiger, Hedonist: Der Dichter Omar Khayyam Aber dann kommt der attraktive, alle betörende Engländer David, benennt ihre Lebenslügen, und die Dreiecksgeschichte driftet in die Katastrophe. Dieses Beziehungsdrama unterfüttert Cheheltan, der Homme de lettres, mit philosophischen Gesprächen und historischen Lektionen. Im Zentrum Omar Khayyam, ein Dichter aus dem 11./12. Jahrhundert. David verehrt Khayyam, den Abtrünnigen, Hedonisten, den Gegenspieler aller Glaubensverkäufer. So Amir Hassan Cheheltan: „In his poetry, he's against God, he's against everything. He cares only about this moment. I want to clear up something at the present. Khayyam is a figure that is against everything that Islamic Republic is based on and at the same time, I wanted to show a modern life in Tehran." Historie zur Klärung der Realität also. Khayyam lehnte alles ab, worauf die heutige Islamische Republik basiert, resümiert Amir Cheheltan. Wozu noch Selbstmordattentate, wenn es kein Paradies gibt? Wozu Wein und Musik im Diesseits verbieten, wenn kein Jenseits existiert, lässt er seine Figuren fragen, öffnet Diskussionsräume und zeigt die Gegenwart im Spiegel der Vergangenheit. Aus der persischen Literaturgeschichte zitiert er eine Fülle von Beispielen, auch zu Tabus wie Homosexualität. Europa sei prüde gewesen, sagt er und lässt das Personal seines bildungstrunkenen Romans überall debattieren, auf Märkten, beim opulenten Essen, im Theater. Über Gott und die Welt, Orient und Okzident, es wird eine Menge geredet und zugleich verhüllt. „Manchmal redet man viel, um etwas zu verbergen“ Amir Hassan Cheheltan: „This is my style in narration always, that I am not so direct to anything. Because I think a human life is very complicated, and sometimes you talk a lot just because you want to hide something." Das menschliche Leben sei kompliziert, manchmal rede man viel, um etwas zu verbergen, weiß Amir Hassan Cheheltan, Ende 60, ein Schriftsteller von stilistischer Raffinesse, ein Meister von Innenräumen, der hinter Fassaden blickt, der mit Erwartungen spielt und immer wieder falsche Fährten legt. Nastaran heißt seine weibliche Hauptfigur, sie kommt aus Nischapur wie Omar Khayyam und wie die echte Rose von Nischapur, die Blume, die im fernen England, am Grab von Khayyams Übersetzer vertrocknete. Eine Rose, nicht feuerrot, aber wunderbar duftend. Quelle: Amir Hassan Cheheltan – Die Rose von Nischapur Amir Hassan Cheheltan ist Iraner und Weltbürger. In der Zeit der Massenhinrichtungen in Iran Ende der 90er-Jahre lebte er in Italien, später in Deutschland und den USA. Immer ging er nach Teheran zurück, das Land sei sein Zuhause, die Stadt sein Arbeitszimmer, sagt er: „I am so connected to my home, the country, my country is my home. The capital of my country is my study room. And whereever in the world I am, I feel like a passenger who is in the station to get the next train." Wo immer er in der Welt sei, er fühle sich wie ein Passagier, der auf den nächsten Zug warte, meint Cheheltan. Auch diesmal wird er wieder aus Europa zurückkehren in die Islamische Republik. Er hält sich fern von politischen Organisationen, selbst dem Schriftstellerverband, in dem er einst aktiv war. Seit vierzig Jahren publiziert er, seit zwanzig Jahren können seine Bücher nur im Ausland erscheinen. Aber er schreibt, in Romanen und deutschsprachigen Zeitungen, erstaunlich deutlich über Korruption, Inflation, Frauen, den offenen und stillen Protest, nichts davon gibt es auf Persisch. Irans „Weg des Todes“: eine Sackgasse? Amir Hassan Cheheltan: „In fact, after the Mahsa movement, maybe the government was even more strict. So many lives were lost during this movement. Many eyes were blinded in the streets, in the protest scene. But like any other movement it has got up and down. It is still an ongoing movement, and nowadays, there is a lot of people active in social obedience. You see many girls in public places without hijab." Zu Beginn der Jina Mahsa Amini-Bewegung sei das Regime rigider gewesen, so viele verlorene Leben, beim Protest in den Straßen erschossen oder geblendet, aber die Bewegung gehe weiter, immer mehr junge Frauen zeigten sich öffentlich ohne Hijab, sagt Cheheltan. Irans neuer Präsident Massud Peseschkian, ein Reformer im Amt, schien ein Zeichen, als hätte das Regierungssystem der Mullahs verstanden, dass der rigide Kurs eine Sackgasse, ein „Weg des Todes“ gewesen wäre. Aber die Hinrichtung eines Deutschen wäre ein fataler Fehler gewesen. Den Preis zahlten am Ende wieder die Iraner, sagt Cheheltan. Die Reformer sind eliminiert, aber die Mittelschicht verweigert sich, nur 15 Prozent der Bürger Teherans gingen zur Wahl. Iraner haben mehrere Gesichter Die Menschen lebten in eigenen Welten, hinter den Wohnungstüren meist liberaler, Iraner hätten drei, vier Gesichter, sagt er. Und mit dem Krieg in Nahost wolle die Mehrheit nur noch „Iran first“, keine Einmischung im Libanon oder in Palästina. Für Nastaran, „Die Rose von Nischapur“ im Roman, gibt es kein glückliches Ende. Aber, wo es keine Hoffnung gebe, sagt Amir Hassan Cheheltan, müssten wir sie schaffen. Ost und West seien heute ein Dorf und Literatur immer eine Hilfe, sie sei alles in der Welt: „We should create hope if there is not any. Of course, the West and East, we are living in a very small village now. Always, literature is helpful. Literature is everything in the world."…
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1 Joachim Meyerhoff – Man kann auch in die Höhe fallen 5:21
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5:21Will man von seinem Leben erzählen, muss man entweder ein großer Poet und Dichter sein, sprachlich etwas entstehen lassen, das in keiner Form so erlebbar wäre, oder man braucht ein aufregendes, von dramatischen Ereignissen durchzogenes Leben. In einer psychiatrischen Klinik aufzuwachsen, als Sohn des medizinischen Leiters, inmitten von mehr oder minder liebenswürdigen, in jedem Fall aber sonderbaren Gestalten, das ist großer Romanstoff. Reisen nach Amerika, die Sehnsucht nach Behausung, schicksalhafte Todes- oder Krankheitsfälle sowie die erste große Liebe sind es ebenfalls. Von all diesen Dingen erzählt Joachim Meyerhoff, und doch verlässt er sich nicht darauf. Er bleibt immer bei einem beiläufigen Ton, der Selbstverständlichkeit suggeriert, wo wahrhaft Aufregung geherrscht haben muss. Jedes meiner Organe schien maßlos enttäuscht von mir zu sein und genug von mir zu haben. Quelle: Joachim Meyerhoff – Man kann auch in die Höhe fallen So beginnt er sein neues Buch „Man kann auch in die Höhe fallen“, das zwar die Genrebezeichnung Roman trägt, sich aber liest wie ein Memoire, eine sprachliche Verarbeitung von Gewesenem, und das mit den Nachwehen seines Schlaganfalls einsetzt. Aus Berlin zur Mutter an die Ostsee So sehr ich mich auch bemühte, oft wurde ich eine mir völlig wesensfremde Gereiztheit nicht los. Dinge ärgerten mich, die mir früher in Wien, vor dem Schlaganfall, nicht einmal aufgefallen wären. Unordnung machte mich unverhältnismäßig nervös, ungemachte Betten ließen meine Unterlippe erzittern vor Empörung. Geräusche, welcher Art auch immer, Straßenlärm oder Kinderlärm, wurden mir schlagartig zu viel. Es war vorgekommen, dass ich durch eine neben mir plötzlich aufheulende Krankenwagensirene in Tränen ausgebrochen war. Quelle: Joachim Meyerhoff – Man kann auch in die Höhe fallen Meyerhoff verlässt Berlin, die Stadt, die ihm nach dem Schlaganfall in Wien zur neuen Heimat werden sollte und zieht sich zu seiner Mutter an die Ostsee zurück. Eine Art Privat-Sanatorium in mütterlicher Hand, nicht zu hart, aber auch nicht zu locker, soll ihn wieder in die Balance bringen und ihm auch über eine unerklärbare Schreibblockade hinweghelfen. Tag für Tag schrieb ich, ohne zu wissen, wohin mich meine Erzählungen tragen würden. Es kam mir völlig absurd vor, nach einem Sujet zu suchen, nie hatte ich das getan, immer hatte ich das geschrieben, was mir unter den Nägeln gebrannt hatte. Unter Literaturgattungen herrscht eine brutale Hierarchie. Es gibt Versepen, Gesänge und tausendseitige Gesellschaftsromane, die alles überdauern. Es gibt unsterbliche Dramen, deren Personal unverwüstlich durch die Zeiten schreitet. Und natürlich Lyrik, die dem Wort unsterblich einen tieferen Sinn verleiht. Aber dann gibt es eben auch die kleineren Formen, die keine allzu lange Lebensdauer haben. Eintagsfliegen aus Worten. Quelle: Joachim Meyerhoff – Man kann auch in die Höhe fallen Die offene Art zu erzählen, nimmt die Leser gefangen Es sind diese kleinen Geschichten, oft nicht mehr als Anekdoten, die Meyerhoff in seinen Text streut, und deren Entstehen er wiederum mit anderen Worten beschreibt, als gäbe es zwei Ebenen des Textes, verschiedene Zeiten und Orte. Tatsächlich aber sind wir unmittelbar dabei, wie dieses Buch entsteht. Zumindest fühlt es sich so an. Hier wird nicht tiefenpsychologisch analysiert oder auf einer philosophischen Ebene reflektiert, sondern einfach nur erzählt. Mit dem Gestus des „weißt Du noch“ holt er Geschichten hervor, die er selbst erlebt, aber keineswegs heldenhaft gemeistert hat. Das beginnt bei einer Erzählung, die der kleine Joachim in der Grundschule mit Bleistift in ein Heft geschrieben hatte, und endet bei einem Wutausbruch bei der Geburtstagsfeier seines Sohnes in Berlin. Doch die offene Art, wie Meyerhoff keinerlei Rücksicht auf sich selbst nimmt und den Erzähler oft in ausweglosen Situationen schildert, nimmt den Leser gefangen. Diese kleine Schulheftgeschichte zum Beispiel, als Faksimile im Buch abgedruckt, ist so voller Fehler, dass kaum ein orthografisch richtiges Wort übrigbleibt und dazu kommentiert der offensichtliche Legastheniker, dass er schon bei seinem eigenen Namen Joachim Phillip Maria Meyerhoff ins Straucheln kam und nicht wusste, ob Phillip mit zwei l oder zwei p zu schreiben sei. Meyerhoff wird weiter schreiben – hoffentlich! Tatsächlich hilft ihm die beruhigende Gegenwart der Mutter, das tägliche Schwimmen in der Ostsee oder dem eigenen Teich, die Gartenarbeit, die nie aufzuhören scheint und die Leichtigkeit des Seins, dem jede Verantwortlichkeit entzogen wurde. Den zweiten Band, „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ über seine Kindheit in der Psychiatrie, hat Sonja Heiss erfolgreich verfilmt. Bei dem bildstarken Stoff lag das nahe. Joachim Meyerhoff, das wissen wir am Schluss dieses Buches, wird weiterschreiben. Auf eine weitere Verfilmung, die diese Schlussszene enthalten könnte, müssen wir hoffen. »Morgen fährst du.« »Ja.« »War so schön, dass du da warst. Mal richtig mit Zeit.« »Ja.« »Bist du zufrieden mit dem, was du geschrieben hast?« »Hm.« »Glaubst du, es wird ein Buch?« »Ich weiß es nicht, Mama.« »Ich würde, ehrlich gesagt, lieber doch nicht drin vorkommen.« »Na bravo.« Quelle: Joachim Meyerhoff – Man kann auch in die Höhe fallen…
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Vor dem Putschversuch von 1923 erschien in den USA ein erstes längeres Interview mit Hitler, geführt von dem prominenten Deutsch-Amerikaner George Sylvester Viereck, einem Bestsellerautor, Publizisten und Esoteriker. Einen Monat vor dem misslungenen Bierkellerputsch in München (und natürlich auch vor Hitlers Buch „Mein Kampf“ von 1925), verhehlt Hitler Anfang Oktober 1923 seine Absichten weniger als später. In seinem Antisemitismus sind mörderische Töne nicht zu überhören. Wir haben es hier mit der Frage Jude und Arier zu tun. Die Mischrasse stirbt aus; sie ist ein wertloses Produkt. Rom ging unter, als es nicht mehr auf den Erhalt seiner Rasse achtete. In der Literatur, im Film, in der Wissenschaft ist der Einfluss des Juden destruktiv. Wir gleichen einem Schwindsüchtigen, der nicht merkt, dass er dem Untergang geweiht ist, wenn er nicht die Mikroben aus seiner Lunge vertreibt. Wie Individuen tanzen auch Nationen in der Nähe des Abgrunds oft besonders wild. Deshalb sage ich, wir brauchen gewaltige Korrektive, starke Arznei, vielleicht Amputation. Quelle: Lutz Hachmeister – Hitlers Interviews Lügen und Propaganda eines Diktators So deutlich wird Hitler später nicht mehr. Und Fragen zum Antisemitismus bleiben in Hachmeisters Buch ohnehin die Ausnahme. Viele Auslandsjournalisten begnügten sich mit der Sensation einer Exklusiv-Begegnung mit einem angesagten Politiker und späteren Diktator, sie ließen ihn reden, ohne nachzufragen, und verbreiteten es als Clou. So gelingt Propaganda. Das erste (wenn auch kurze) Hitler-Interview in einer französischen Zeitung erschien am 19. März 1932 in L’Œuvre (»Das Werk«), einer linken Publikation. Es war aber kein klassisches Interview mit Fragen und Antworten, schreibt Hachmeister, sondern eher ein Monolog: Hitler als Friedensfreund. Man hat gesagt: Hitler bedeutet Krieg. Ich will Ihnen versichern: Mein Sieg wird die deutschen Beziehungen mit dem Ausland in keinster Weise ungünstig beeinflussen können. […] Der Frieden in Europa, ich sage es noch einmal, wird nicht gestört werden, es sei denn ein Land will das. Wir werden das nicht sein. Quelle: Lutz Hachmeister – Hitlers Interviews Der Diktator und die Journalisten Interessant in diesem Buch ist die Bestandsaufnahme einer internationalen Journalistenszenerie und die Kurzbiographien dazu, in denen Hintergründe, fragwürdige Allianzen, Eitelkeiten der Branche, Verführbarkeit, Karrieresucht angedeutet werden. Dazu veranschaulicht eine lange Reihe weitgehend unterbeleuchteter Memoirenliteratur die Begegnungen mit dem Diktator. Zur Rolle der französischen Journalisten fasst Lutz Hachmeister zusammen: Man kann sagen: Die wenigen Interviewer verhielten sich zuvorkommend gegenüber Hitler. Vielleicht war es eine gewisse complaisance oder eine Faszination, die er auf Journalisten aus dem Ausland ausübte. Oder zunehmende Rechtstendenzen spielten eine Rolle. Oder eine Selbsttäuschung, denn keiner wollte Krieg; alle wollten Hitler glauben, wenn er von Frieden sprach. Quelle: Lutz Hachmeister – Hitlers Interviews Massenpsychologie und Täuschungsmanöver Insgesamt bringt diese aufwendig recherchierte Bestandsaufnahme Hachmeisters nicht unbedingt neue Erkenntnisse für die Hitler-Forschung. Einblicke in die Journalistenbranche hingegen sind höchst aufschlussreich und wenig schmeichelhaft. Es herrschte viel Opportunismus und Spökenkiekerei, Irrtümer, Naivität und Dummheit verstellten die Sicht, Servilität und Kollaboration waren verbreitet. Wiederholt warnt Hachmeister vor Interviews mit Diktatoren oder Autokraten, auch mit Blick in die Gegenwart. In seinem Vorwort zitiert der Medienfachmann den französischen Mediziner und Soziologen Gustave Le Bon aus seiner „Psychologie des foules“ von 1895. Darin spricht der französische Autor über Massenpsychologie und die Macht von Täuschungen. Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer. Quelle: Lutz Hachmeister – Hitlers Interviews…
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1 Alexander Kluge und Anselm Kiefer – „Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben“ | Buchkritik 4:09
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4:09Weißer Umschlag, grüner Balken – von außen sieht das Buch aus wie ein klassischer Band aus der Bibliothek Suhrkamp. Wenn man sich aber hineinvertieft, ist es viel mehr: Schatzkasten, Zauberkunststück, Überraschungsei. Um den besonderen Charme dieser medialen Neuerfindung zu entdecken, muss man aber erst einmal lesen. Das Buch ist aus dem Dialog zwischen dem Künstler Anselm Kiefer und dem Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge entstanden: Das ist das Schöne am Dialog, dass er ein ganz anderes Metier hat als ich. Ich habe mein Metier als Autor und als Filmemacher. Er hat ein Metier: er macht feste und recht große Bilder. Er ist aber übrigens ein poeta doctus. D.h. er ist ein gelehrter Maler, der sich auch interessiert. Und das fügen wir zusammen und dabei gibt es Riss-Stellen. Wir überraschen uns gegenseitig. Das ist Dialog. Quelle: Alexander Kluge und Anselm Kiefer – »Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben« Kunst vor dem Hintergrund der deutschen Vergangenheit Es geht um Freundschaft, auch wenn das Wort nicht strapaziert wird, es geht um Unterschiede und Berührungspunkte zwischen den Menschen, den Künsten und der Zeit. Für mich innerlich war das Thema: Was ist Verlässlichkeit in einer zerrissenen Welt. Das ist eigentlich meine Grundfrage, die mich die ganze Zeit, letztes Jahr, dieses Jahr beschäftigt. Quelle: Alexander Kluge und Anselm Kiefer – »Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben« In Text-Collagen, Assoziationen, Zitaten und gemeinsamen Gesprächen kommentiert Alexander Kluge das Werk von Anselm Kiefer und reflektiert dabei seine eigene künstlerische Position. Im Hintergrund beider Biografien wummert der Krieg. Alexander Kluge ist 1932 in Halberstadt geboren, Anselm Kiefer im März 1945 in einem Luftschutzbunker in Donaueschingen. Als er auf die Welt kam, schreibt Kluge über Kiefer, „waren Süddeutschlands Himmel voller alliierter Flugzeuge“. Flugzeuge werden zu wiederkehrende Motiven in Kiefers Werk. Kluge vergleicht den Maler und Bildhauer mit einer Fledermaus. Die Tiere werfen Töne an die Wände und orientieren sich am Echo. Und sie haben ein Ohr, sie sehen mit dem Ohr, das ist etwas sehr Interessantes. Und ich habe manchmal den Eindruck, dass Anselm Kiefer, wenn er malt, Musik macht. Quelle: Alexander Kluge und Anselm Kiefer – »Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben« Künstlerische Gemeinsamkeiten Die beiden Künstler verbindet das Prinzip, ihr Material zu zerlegen, zu schichten und zu verdichten. Die abgebildeten Werke von Kiefer bestehen aus Stroh, Gold, Schellack. Er zersetzt seine Bilder durch das Elektrolyse-Verfahren oder begräbt sie unter Blei. Einige, sagt er im Buch, könnten einen Atomkrieg überstehen. Gemeinsam ist den Werken der unbedingte Anspruch an die Kunst. Alexander Kluge schreibt. Es müsste möglich sein, dass die Verschränkung von Texten, Bildern, Filmen, Dokumentationen und Poemen: die tausend Splitter und Fragmente, dazu führt, dass Tote auferstehen. Quelle: Alexander Kluge und Anselm Kiefer – »Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben« Das Buch wird zum Kino Und dann wandelt sich der Charakter des Buches: Kleine QR-Codes erscheinen auf den Seiten. Wenn man sie mit dem Handy scannt, wird das eigene Smartphone zum Taschenkino. Kurze Filme öffnen sich, nur eine Minute lang, wie die ersten Filme in der Geschichte des Kinos. Alexander Kluge kreiert neue Bilder auf den übermalten Rändern der Leinwände von Anselm Kiefer, die dieser Elefantenhaut nennt: Er ist wie ein Alchimist tätig und schafft auf diese Weise unbekannte Materialien. Wenn ich sie als Hintergrund nehme für mein filmisches Emblem, dann ist das so, als ob eine Felsmalerei entsteht. Quelle: Alexander Kluge und Anselm Kiefer – »Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben« „Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben“ – der unscheinbare Band birgt mehrere Stunden Film. Da sind zwei Systemsprenger am Werk. Getreu bleiben sich Anselm Kiefer und Alexander Kluge, indem sie immer wieder die Grenzen ihrer Kunst überschreiten.…
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1 Yaroslav Hrytsak – Ukraine. Biographie einer bedrängten Nation 4:09
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4:09Yaroslav Hrytsaks Buch über die Ukraine ist in seiner Heimat ein Bestseller. Mittlerweile in neunter Auflage, stillt dieses Grundlagenwerk offenbar ein elementares Bedürfnis der Ukrainer, sich mit ihrem Land und ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Mein Buch ist sehr populär bei Ukrainern, besonders bei denen im Osten, in den großen russischsprachigen Städten, die seit Kurzem ukrainische Patrioten sind. Das ist ein radikaler Wandel. Viele Ukrainer haben jetzt erst ihre nationale ukrainische Identität entdeckt. Quelle: Yaroslav Hrytsak Hrytsaks Buch, das nun unter dem Titel „Ukraine. Biographie einer bedrängten Nation“ auf Deutsch erschienen ist, handelt von der Kiewer Rus, einer Art vornationalem Handelsbündnis, dessen Gründer im 9. Jahrhundert Wikinger waren – und von den globalen Folgen der Entdeckung Amerikas. Damals brachte ein intensiverer Warenverkehr entscheidende Impulse auch für Osteuropa, bis hin zur Gründung eines Kosakenstaats im Jahr 1648. Kosakentum als Herzstück der Nation Dem Kosakentum mit seinen urdemokratischen Strukturen – für Hrytsak ein Herzstück noch der heutigen Ukraine – ist im Buch ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Kosaken wählten ihren Anführer jeweils auf Versammlungen in der Sitsch, ihrem Hauptquartier. In Russland hatten die Kosaken eine ganz andere Rolle, betont Hrytsak. Natürlich gibt es auch russische Kosaken: Donkosaken, Kubankosaken, Uralkosaken. Doch sie unterscheiden sich deutlich von den ukrainischen Kosaken. Die russische Geschichte kann man leicht ohne Kosaken schreiben, weil die Kapitel über sie etwas über den russischen Staat erzählen, nicht aber über die Kosaken. Die ukrainische Geschichte dagegen kann man nicht ohne die Kosaken erzählen, weil sie eine Geschichte von unten nach oben ist. Im Gegensatz dazu ist die russische Geschichte eine Geschichte von oben nach unten. Quelle: Yaroslav Hrytsak Mit den Kosaken hat es auch zu tun, dass Russen Ukrainer bis heute gern „chochly“ nennen, nach der einzelnen Haarsträhne auf dem kahlgeschorenen Kopf. Das verlustreiche 20. Jahrhundert Weiter geht es in Hrytsaks Buch von den blutigen Jahren des Ersten Weltkriegs zum millionenfachen Mord des Zweiten Weltkriegs. Die Gemetzel wurden oft genug durch Begehrlichkeiten nach den fruchtbaren Böden der Ukraine ausgelöst. Die Tatsache, dass Teile der ukrainischen Bevölkerung in den 1940ern mit deutschen Einheiten kollaborierten, um nationale Autonomie zu erlangen, benutzt die Putinsche Propaganda bis heute, indem sie Ukrainer grundsätzlich als „Faschisten“ bezeichnet. Dagegen hält Hrytsak, dass in der heutigen Ukraine alle Ethnien, von den Krimtataren bis zu den Juden, gegen Russland zusammenstehen. Das hat auch damit zu tun, dass die moderne Ukraine sich ihrer Mitverantwortung am Holocaust bereits gestellt hat. Was die meisten westlichen Beobachter, einschließlich der deutschen, nicht zur Kenntnis nehmen, ist die große Gruppe der Juden in der Ukraine, die sich ganz bewusst als Ukrainer fühlen. Da gab es jetzt einen sehr bewegenden Fall: Der oberste Rabbiner von Kiew hat seinen Sohn an der Front verloren. Das war ein tragischer Moment, der eine Menge darüber sagt, ob die Ukraine wirklich ein faschistischer Staat ist. Quelle: Yaroslav Hrytsak Loslösung aus dem russischen Narrativ Hrytsaks starkes Buch treibt die Loslösung der ukrainischen Geschichte aus dem so lange dominanten russischen Narrativ weiter voran. Punkt für Punkt widerlegt Hrytsak Putins neoimperiale Argumentation, die stets darauf hinausläuft, dass die Ukraine ein marginales Land ohne eigene Identität sei. Ein gut zu lesendes Buch, dass auch deutschen Lesern die ukrainische Perspektive überzeugend näherbringt.…
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Das Leben der beiden ist voller Bruchstellen, Surrealem, inneren und äußeren Konflikten sowie Fragen wie: Ist es möglich, nur nach persönlicher Erfüllung zu streben? Und wofür soll man die eigenen Kräfte einsetzen – zumal wenn sie, wie in Helens Fall, sogar telekinetisch sind? Das Cover muss man ziemlich weit von sich weghalten, um zu erkennen, dass das abstrakte Gebilde darauf das Profilbild einer geologischen Bruchzone ist. Rätselhaft kommt das Buch daher. Dabei scheint auf den ersten Seiten alles noch ganz einfach: Helen ist eine gefragte bildende Künstlerin mit Ausstellungen in ganz Europa. Sie reist herum, auch in den hohen Norden, ins Permafrostgebiet, wo sie an neuen Bildern arbeitet. Ihr Partner Lenell arbeitet als Seismologe in Egio, Griechenland. Er beschäftigt sich mit der geografischen Bruchzone, an deren Rand Egio liegt. Lenell ist depressiv und braucht Hilfe, was die Beziehung zu Helen stark belastet. Der Punkt, an dem es zumindest für Helen kompliziert wird, ist ihr Gewissenskonflikt im Umgang mit ihren telekinetischen Fähigkeiten. So kann sie zum Beispiel den durch den Klimawandel aufgetauten Permafrostboden wieder gefrieren lassen. Kunst oder Weltrettung Damit verbunden ist für sie die existentielle Frage, ob es nicht besser wäre, ihre Kräfte für die Verbesserung der Welt einzusetzen oder wenigstens Lenells Depression zu heilen, anstatt Kunst zu machen. War das nicht Verschwendung? Vielleicht wäre es richtig, dachte sie, wenn jeder Mensch in diesem Sinne für den Planeten arbeiten würde, für die Zukunft und für nichts sonst. Quelle: Joshua Groß – Plasmatropfen Der Roman handelt nicht nur auf der inhaltlichen Ebene von Bruchzonen, auch formal tun sich Brüche auf: Da ist zum einen Groß’ sehr gegenwärtige Sprache: Da pulsieren Wolkenschichten cremig, da wird „geswervt ohne Demut“, da hat Lenell „Speedracerqualitäten“. Und der Text ist durchzogen von immer wieder auftauchenden und fein verbundenen Motiven, den Koräen-Kiefern, dem Meer oder den titelgebenden Plasma-Augentropfen. Was im Verlauf der Lektüre jedoch zunehmend stört, sind die sich häufenden Passagen, in denen die Figuren sich selbst reflektieren. Hier verschwindet Groß’ feiner literarischer Ton hinter einer abstrakten und in vielen Fällen aus Theoriefragmenten zusammengesetzten Sprache, die am Anfang lediglich irritiert, im Verlauf des Textes aber ermüdet und dazu führt, dass man blättern oder zumindest diese langatmigen Passagen überspringen möchte. Und wenn man müde war, gegen die Beschwichtigungen anzukämpfen, konnte man entweder indolent werden oder depressiv. Oder versuchen, im Fernmöglichsten die Misskonfigurationen auszuhalten, sie spürbar zu machen, wobei man sich eben ständig sagen musste, dass es kein Vorgeben war, kein Vorschieben. Und mündete das Aushalten der Misskonfigurationen nicht auch in einer Depression höherer Ordnung? Quelle: Joshua Groß – Plasmatropfen Außerdem stört im Handlungsverlauf immer mehr der Eindruck der Wohlstandsblase, in der sich die Figuren befinden: Ständig wird guter Espresso aus Siebträgermaschinen getrunken, Müsli mit frischem Obst zubereitet und Basketball gespielt – oder Racinggames am Handy. Helen schüttete sich den zweiten Espresso rein. Sie verspeiste ein Croissant und steckte das andere in die Gepäckbox. Sie zahlte. Dann fuhr sie mit ziemlich viel Speed nach Osten. Bröckelnder Asphalt oder sogar Schotterstraßen. Diffuse Schilder. Aber ihr Navi war zuverlässig. Im Grunde musste sie sich auf die Helligkeit zubewegen, die am Horizont sengte. Quelle: Joshua Groß – Plasmatropfen Erfahrungsarmut der Figuren Wirkliche Arbeit kommt in dem Text schlicht nicht vor. Die künstlerische Tätigkeit Helens erahnen wir nur aus ihren Reflexionen, etwa wenn sie sagt, dass gemalte Bilder sie nicht interessieren, sondern nur diejenigen, die sie in Zukunft noch malen wird. Und auch die seismologische Arbeit Lenells wird nicht gezeigt, sondern schlicht und ergreifend in kurzen Sätzen behauptet, etwa wenn er am Computer kurz Daten überprüft, nur um sich dann sofort wieder einem YouTube-Meditationsvideo oder seinen verqueren Selbstreflexionen zuzuwenden. Auch der surreale Spechtmensch, ein Wesen halb Vogel, halb Mensch, mit dem Lenell ein homoerotisches Verhältnis beginnt und sich damit aus der Depression befreit, rettet den Text nicht vor seiner Banalität und der letztendlich überall durchschimmernden Erfahrungsarmut der Figuren. Hier stellt Groß seine Figuren ein Stück zu sehr bloß, indem er andeutet, die Depression sei womöglich nur eine Folge der Wohlstandsverwahrlosung kinderloser Mittdreißiger. Dieser Bruch zwischen inhaltlicher Oberflächlichkeit und formaler Raffinesse löst sich – anders Lenells Depression – leider nicht auf.…
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1 SWR Bestenliste November 2024 mit Büchern von Jana Volkmann, Simone de Beauvoir, Eva Maria Leuenberger und Clemens Meyer 1:11:31
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1:11:31Literaturkritik über die deutschsprachigen Ländergrenzen hinweg: Aus der Schweiz war Martina Läubli, Literaturredakteurin der Neuen Zürcher Zeitung , ins Künstlerhaus Edenkoben angereist. Aus Österreich die Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl, deren Rezensionen unter anderem in der Wiener Tageszeitung Die Presse zu lesen sind. Literaturkritiker Jörg Magenau, der unter anderem für die Süddeutsche Zeitung schreibt, kam aus Tübingen in die Pfalz. Besprochen wurden vier Titel der SWR Bestenliste im November, und zwar mit „Der beste Tag seit langem“ (Residenz) der neue Roman von Jana Volkmann. Mit „Die Mandarins von Paris“ von Simone de Beauvoir (Rowohlt) stand die Neuübersetzung von Claudia Marquardt und Amelie Thoma auf dem Programm. Während die zweite Hälfte der gewitzten Mensch-Tier-Parabel von Jana Volkmann kritisiert wurde, lobte die Runde einhellig die lehrreiche und auch literarisch überzeugende Darstellung der französischen Debattenkultur in der Nachkriegszeit. Die Jury-Runde diskutierte kontrovers über den Lyrikband „die spinne“ von Eva Maria Leuenberger (Droschl) und war sich einig im Lob des Spitzenreiters der SWR Bestenliste im November: Der Roman “Die Projektoren“ von Clemens Meyer (S. Fischer) sei „epochal“, sagte Jörg Magenau. Der Autor habe mit dem Roman „gewagt und gewonnen“, erklärte Daniela Strigl, und Martina Läubli gab zu, die vielschichtige Prosa habe sie „verzaubert“. Aus den vier Büchern, die in Edenkoben vorgestellt wurden, haben Antje Keil und Sebastian Mirow gelesen.…
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1 Eva-Maria Leuenberger: die spinne | Diskussion 15:00
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15:00Ein Ich in einem abgeschlossenen Zimmer, das an die Decke starrt und dort eine Spinne erblickt, die zur Beobachterin und Begleiterin wird. Ein Szenario, das zunehmend dystopisch wird. Und ein Ich, dessen Position kunstvoll in der Schwebe bleibt.
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1 Sasha Filipenko – Der Schatten einer offenen Tür | Buchkritik 4:09
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4:09Das russische Provinzstädtchen Ostrog wird von einer Selbstmordserie heimgesucht: Im Kinderheim des Ortes haben sich drei Teenager nacheinander und auf ganz unterschiedliche Weise umgebracht. Einen Zusammenhang zwischen den Taten hat die örtliche Polizei noch nicht finden können. Und weil immer mehr Journalisten in den Ort strömen, wird Alexander Koslow aus Moskau mit dem Fall betraut. Er versucht, sich in der allgemeinen Aufregung einen Überblick zu verschaffen – auch wenn er am liebsten zu Hause geblieben wäre. Er hat keine Lust auf Ostrog. Erstens muss er deswegen andere Fälle delegieren, und zweitens ist er alles andere als begeistert von der Aussicht, den dortigen Beamten den Hintern zu putzen. Außerdem war er schon mal in Ostrog. Wenn er an diese hermetische Kleinstadt zurückdenkt, fällt ihm wieder ein, wie wenig dieser gottvergessene Ort zu bieten hat. Vor Jahren hat er in einer großen Ermittlergruppe den dortigen Bürgermeister hinter Gitter gebracht, und seine Erinnerungen daran sind wahrscheinlich nicht angenehm. Quelle: Sasha Filipenko – Der Schatten einer offenen Tür Ein systemtreuer Ermittler Sasha Filipenkos Roman besticht zunächst durch einen charismatischen Ermittler: Koslow ist Veteran des Tschetschenienkriegs und hat es zu etwas gebracht, weil er nach den Regeln spielt und keine lästigen Fragen stellt. Seine Ehe ist angesichts dieses Pflichtbewusstseins in die Brüche gegangen und seitdem lässt eine – vielleicht typisch russische – Schwermut Koslow nicht mehr los. Dass ausgerechnet dieser systemtreue Ermittler sympathisch wirkt, liegt daran, dass er um die menschlichen Schwächen weiß, auch um seine eigenen. Das wird zum Beispiel deutlich, als Koslow mit großer Ausdauer versucht, so viel wie möglich über die toten Teenager in Erfahrung zu bringen und sich durch deren Social-Media-Profile scrollt. Er könnte mit geschlossenen Augen die Gesichter der toten Teenager beschreiben und, wenn es nötig wäre, ganz ohne Verwechslungen ihre Lebensläufe wiedergeben. Was im Übrigen gar nicht so schwer ist, weil sie einander ja doch recht ähneln: überforderte Eltern und ein Kinderheim nach dem anderen. Die Erarbeitung dieses Wissens hat mehrere Stunden gedauert. Als er die Dokumente ordnet, stößt er auf ein weißes Blatt Papier. Er betrachtet es und denkt zum ersten Mal in seinem Leben, wie schwierig es doch ist, über Gefühle zu sprechen. Die passenden Formulierungen dafür zu finden. Nicht dem eigenen Wortschatz auf dem Leim zu gehen, es nicht dem Zufall zu überlassen, sondern nach den einzig richtigen Worten zu suchen. Quelle: Sasha Filipenko – Der Schatten einer offenen Tür Ein Bild des heutigen Russlands Der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko hat bis 2020 in St. Petersburg gelebt, bis er Russland verlassen musste und mit seiner Familie in die Schweiz gezogen ist. In seinem neuen Roman zeichnet Filipenko ein plastisches Bild des heutigen Russlands: So wie Ostrog als Ort an einen Kerker ohne Wände erinnert, gleicht das ganze Land einem riesigen Gefängnis. Nur selten geraten die Bilder etwas zu plump, etwa wenn sich siamesische Zwillinge in Ostrog über den Anschluss der Krim streiten – eine Zwillingsschwester ist für Russland, die andere für die Ukraine. Viel öfter sind es stimmige Details, die den Roman ausmachen: Irgendwo fängt ein Hund zu bellen an. Andere stimmen ein. Klein und groß kläffen im Chor, und dann schließen sich, ganz gegen die Vorschrift, auch noch die Schäferhunde im Gefängnis an. Wie in einer europäischen Stadt das Glockenläuten ergießt sich das Echo des Hundegebells über Ostrog. Quelle: Sasha Filipenko – Der Schatten einer offenen Tür Immer wieder nimmt der Roman Bezug auf die griechische Tragödie: Die Kapitel sind als Gesänge überschrieben und es wird bald klar, dass in dieser Geschichte so gut wie alle Menschen in Schuld verstrickt sind. „Der Schatten einer offenen Tür“ ist ein packender Roman, der als Gesellschaftsporträt genauso überzeugt wie als Kriminalfall.…
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Das ist hart: Da wendet man sich als junger Mensch voller Sorgen an einen renommierten Gelehrten. Möchte von ihm wissen, ob und wie man heutzutage, angesichts immer neuer Kriege und Klimakatastrophen, noch hoffen könne. Auf eine menschenwürdige Zukunft zum Beispiel. Oder auf ein Leben in Glück und Frieden. Und bekommt dann zu hören, dass die Angst angesichts der gegenwärtigen Weltläufte durchaus berechtigt sei. Dass die Hoffnung allzuoft nur eine „Fluchthelferin“ aus der Wirklichkeit sei. Dass sie die Menschen sogar zu den schlimmsten Verbrechen verleiten könne. Und dass es, davon abgesehen, so etwas wie ein „Verbraucherrecht“ auf ein glückliches Leben schlichtweg nicht gibt. Kein Gericht der Welt kann deinen Anspruch durchsetzen, kein Parlament, keine Armee. Das musst du verstehen, sonst kannst du dich nie zu einer Art von erwachsenen Hoffnung durchringen. Diese Hoffnung ist vielleicht nicht das, was du erwartet hast, aber sie ist das Beste, was ich anzubieten habe. Quelle: Philipp Blom – Hoffnung Eine „erwachsene Art von Hoffnung“ Man kann Philipp Blom nur zustimmen: Mit einer solch „erwachsenen Art von Hoffnung“ aufzuwarten, mag auf den ersten Blick enttäuschend sein, hat aber etwas mit intellektueller Redlichkeit zu tun. Und wenn man an all die Propagandisten und Trickbetrüger in Politik oder sozialen Medien denkt, an ihren wachsenden Erfolg gerade bei der jungen Generation, dann wäre eine sozusagen hoffnungslos abgemagerte, ausgenüchterte Form der Hoffnung genau die richtige, überfällige Botschaft. Zumal der 54-jährige Historiker – preisgekrönter Verfasser scharfsichtiger Epochenporträts etwa über die Jahrhundertwende oder die Weimarer Republik – nur zu gut weiß, wie leicht es früher fiel zu hoffen, in Zeiten religiöser Heilsversprechen etwa oder eines ungebrochenen Fortschrittsglaubens. Und wie ungleich schwerer dagegen heute. Trügerische Kraft Wobei Letzteres aber nicht nur beklagenswert sei, so Blom. Zum Beispiel waren viele Menschen nach Hitlers Wahlsieg 1933 voller Optimismus für die Zukunft, doch selten war eine Hoffnung trügerischer. Dass sich die Hoffnung allzuoft als illusorisch erweist, sei wohl auch der Grund, warum die Griechen sie in der Büchse der Pandora vermuteten, neben allerlei anderen Übeln und Plagen. Doch ganz ohne die „stille Kraft“ der Hoffnung geht es angesichts einer, mit Albert Camus gesprochen, absurden Welt freilich auch für Philipp Blom nicht, im Gegenteil. Den Grund dafür, dass sie heute, zumal in den Wohlstandsgesellschaften des globalen Nordens, für die Menschen immer schwerer zu finden ist, liegt für den Historiker vor allem am Verlust übergeordneter Sinnzusammenhänge. Sinn aber werde von Narrativen, von Geschichten also, gestiftet, und eben deshalb hängt für Blom alles davon ab, die richtigen neuen Geschichten zu finden: Geschichten, die die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden, die der oder dem Einzelnen einen Platz geben und die helfen, unsere Handlungsspielräume zu erweitern. Hoffen können heißt vielleicht auch, sich über diese unerträgliche Brüchigkeit des Lebens hinwegzuretten, indem du deine eigene kleine und zerbrechliche Geschichte in eine größere Erzählung einfädelst. Quelle: Philipp Blom – Hoffnung Briefe an einen jungen Adressaten Auf seiner Suche nach dem „Wagemut des Hoffens“ in unserer Zeit stellt Philipp Blom auf knapp 200 Seiten viele kluge Fragen: Warum zum Beispiel wirbt niemand für Hoffnungslosigkeit? Welchen Einfluss haben konkrete Lebensumstände auf unsere Fähigkeit zu hoffen? Und warum scheint sie gerade in Gesellschaften am Abgrund am besten zu gedeihen? Dabei geht der Historiker in bester essayistischer Tradition sympathisch behutsam und tastend vor, und zwar in Form von sieben Briefen an einen jungen Menschen, der ihn nach einem Vortrag angesprochen habe. Für diesen – und alle anderen – Leser hat Philipp Blom am Ende noch einen Rat auf Lager: Um auf eine „erwachsene“ Weise zu hoffen, brauche es neben dem Mut zum Risiko vor allem zweierlei: Wissen und Können. Und das sei etwas, das einem keine noch so fixe KI abnehmen könne.…
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1 Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte 4:09
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4:09Alevs Onkel Cem liegt im Koma. Für Alev, die in einem deutsch-türkischen Elternhaus aufgewachsen ist, ist er die stärkste Verbindung zur türkischen Seite der Familie. Während Alevs Vater kaum etwas von der Zeit erzählt, bevor er nach Deutschland gekommen ist, besticht ihr Onkel durch Gesprächigkeit und beste Laune. Cem ist in der Türkei geblieben, hat Karriere als Unternehmer gemacht und versucht, die weit verstreute Familie mit rauschenden Festen zusammenzuhalten. Nun ist er am Steuer seines Autos zusammengebrochen und dem Tod nahe. Sein ungewisses Schicksal treibt Alev ebenso um wie die politische Lage in der Türkei: Denn Leyla Bektaş‘ Roman setzt im Jahr 2017 ein – und damit kurz vor Verfassungsreferendum, das dem türkischen Präsidenten ein Jahr nach dem Putsch mehr Befugnisse sichern soll: In den Monaten darauf hielten alle den Atem an. Die Verbindung in die Türkei war wie gekappt. Niemand aus der Familie traute sich, in die Türkei zu fliegen. Täglich hörte man von unzähligen Festnahmen. Es war ungewiss, in welche Richtung es ging. Alev beobachtete die Ereignisse aus der Ferne. Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte Dass Alevs Vater ungern über die Familiengeschichte spricht, hat auch damit zu tun, dass er und seine Vorfahren einer religiösen Minderheit in der Türkei angehören: den Aleviten. Weil sie seit langer Zeit Verfolgung und Gewalt ausgesetzt sind, haben sich viele Aleviten angewöhnt, ihre Religion zu verstecken. Geschickt verschränkt Leyla Bektaş in ihrem Roman verschiedene Zeitebenen miteinander und wechselt vom Jahr 2017 in die Vergangenheit: Sie erzählt, wie Alevs Vater in den 70er Jahren nach Deutschland kommt, auch beeinflusst von den Pogromen gegen Aleviten. Von der Gewalt gegen die Aleviten Später behandeln einzelne Kapitel die 80er und 1990er Jahre und beleuchten wie im Zeitraffer die jüngere türkische Geschichte. Sie erzählen vom wirtschaftlichen Aufstieg des Landes und davon, wie die Religion in der Politik eine immer größere Rolle spielt. Übergriffe auf Aleviten bleiben dabei an der Tagesordnung. So sorgt im Jahr 1993 ein Brandanschlag auf ein Hotel, in dem sich alevitische Künstler aufhalten, für Schlagzeilen: An den Barrikaden, die sich vor der jubelnden Menge auftürmen, entzünden sie das Feuer. Das Hotel, so hat Alev es woanders gelesen, war aus Holz gebaut. Darin befanden sich alle Teilnehmer des Festivals, denn die Menge hatte das Hotel eingekesselt, es gab keinen Hinterausgang. Die Barrikaden sind das letzte Zeichen von innen, das nach außen dringt. Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte Die Stummheit überwinden Wie meine Familie das Sprechen lernte ist ein einfühlsamer Familienroman. Wie auch Ronya Othman in ihrem Roman Die Sommer erzählt Leyla Bektaş vom Aufwachsen zwischen zwei Welten und dem Bewusstmachen der eigenen Familiengeschichte. Da für Alev die eigene Herkunft im Ungefähren liegt, hat sie lange keine Worte für ihre Geschichte und die ihrer Familie. Als im Unterricht die Sprache ein einziges Mal auf die Aleviten kommt, bleibt sie stumm: Etwas in Alev regte sich, aber sie traute sich nicht zu widersprechen. Sie wusste nicht, auf welche Beweise sie sich stützen sollte. Alles, was sie über Aleviten wusste, hatte sie in irgendwelchen Gesprächsfetzen aufgeschnappt, war für sie mit Rätseln belegt. Nichts davon schien gesichert. Alev öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Was hätte sie sagen können? Das Alevitentum ist all das, was der Islam nicht ist. Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte Das Sprechen-Lernen, das schon im Titel anklingt, vollzieht sich auf mehreren Ebenen: Auch mit Hilfe ihres Onkels, der aus dem Koma erwacht ist, versteht Alev, wie sehr Erfahrungen von Ausgrenzung und Gewalt die Familie geprägt haben. In dem sie sich diese Geschichten aneignet, trägt Alev auch dazu bei, sie zu bewahren. In Anbetracht der rasanten Geschwindigkeit, mit in der Türkei Geschichte über- und neu geschrieben wird, ist dieser präzise erzählte Familienroman auch politisch hochaktuell.…
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1 SWR Bestenliste Dezember mit Büchern von Tezer Özlü, Katja Lange-Müller, Lydia Davis und Maria Stepanova 1:08:18
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1:08:18Kitsch oder nicht? Cornelia Geißler, Gregor Dotzauer und Klaus Nüchtern diskutierten vier auf der SWR Bestenliste im Dezember verzeichneten Werke im barocken Schießhaus in Heilbronn. Vor allem das erstplatzierte Prosawerk von Tezer Özlü gab Anlass für grundlegende Diskussionen. Die Anfang der 1980er Jahre geschriebene und jetzt wiederentdeckte „Suche auf den Spuren eines Selbstmordes“ führte zur Frage, ob der Text unter Kitsch zu subsumieren sei. Vor allem der aus Wien angereiste Literaturkritiker des Wiener Magazins Falter Klaus Nüchtern mokierte sich über Sachfehler und missglückte Formulierungen der „pathetischen und egozentrischen Prosa“. Gregor Dotzauer, Literaturredakteur des Tagesspiegel, verteidigte den hohen Ton und die existentielle Dringlichkeit der Prosa. Cornelia Geißler, Literaturredakteurin der Berliner Zeitung, erinnert an den biografischen Hintergrund des Buchs, an die Gewalterfahrungen und Todessehnsucht der Autorin, denen beglückende Lektüren und nahezu therapeutische Sex-Szenen gegenübergestellt werden. Die 1943 in Anatolien geborene Übersetzerin und Schriftstellerin Tezer Özlü gehörte in den 1980er Jahren zu den wichtigsten Vertreterinnen junger Literatur in der Türkei. Obwohl sie auch in Deutschland gelebt hat, ist sie hierzulande weitgehend unbekannt geblieben. Özlüs „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes“ erscheint hierzulande zum ersten Mal, obwohl das Buch auf Deutsch verfasst und mit einem Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Die Autorin reist nicht nur zu den Schauplätzen ihrer literarischen Heroen wie Kafka, Svevo und Pavese, sie erkundet in einer „apodiktischen Sprache“ (Nüchtern) auch eigene Sehnsüchte, Träume und Wünsche. Das Buch entwickelt sich damit zu einer literarischen Feier der „unbedingten Rebellion“ (Dotzauer). Auf dem Programm in Heilbronn standen außerdem: mit „Unser Ole“ der neue Roman von Katja Lange-Müller (Platz 2), die Prosaminiaturen “Unsere Fremden“ von Lydia Davis (Platz 3) sowie der aus dem Russischen von Olga Radetzkaja übertragene Roman „Der Absprung“ von Maria Stepanova (Platz 4). Aus den vier Büchern lasen Isabelle Demey und Dominik Eisele. Durch den Abend führte Carsten Otte.…
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1 Katja Lange-Müller: Unser Ole | Lesung und Diskussion 16:54
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16:54Es beginnt mit einer ungewöhnlichen Dreier-WG: Zwei Seniorinnen und ein autistischer Jugendlicher. Dann ereignet sich ein Unfall, der mehr als das gewesen sein könnte, und der Blick wird frei auf ein düsteres Mutter-Tochter-Verhältnis.
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1 Lydia Davis: Unsere Fremden | Lesung und Diskussion 12:53
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12:53Davis ist ein Star der Short Story. Ihre Texte sind streng durchgearbeitet, formbewusst und radikal reduziert. 147 Stories komprimiert sie auf 300 Seiten. Ihr Blick für die Paradoxien des Alltags und auch für deren Komik ist frappierend.
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1 Maria Stepanova: Der Absprung | Lesung und Diskussion 18:29
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18:29Sommer 2023. Ein Krieg ist im Gange. Die Schriftstellerin M. ist im westeuropäischen Exil und wird zu einem Literaturfestival nach Dänemark eingeladen. Doch sie strandet – und nutzt die Gelegenheit, um zu verschwinden. Eine trickreiche, doppelbödige Prosa.
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1 Tezer Özlü: Suche nach den Spuren eines Selbstmordes | Diskussion 20:30
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20:30Tezer Özlü, die 1986 starb, schrieb ihren Roman auf Deutsch, veröffentlichte ihn aber nur in eigener Übersetzung auf Türkisch. Nun ist erstmals die Originalversion zu lesen: Eine Prosa, die die Welt nicht beschreibt, sondern durchlebt.
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1 Michael Sommer – Mordsache Caesar | Buchkritik 4:09
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4:09Die Geschichte des Bürgerkriegs am Ende der Römischen Republik ist wohl kaum zu schreiben, ohne vom Aufstieg und Fall der großen Männer zu berichten – oder des einen großen Mannes: Caesars nämlich. In seinem jüngst erschienenen Buch über die Mordsache Caesar verbindet der Oldenburger Althistoriker Michael Sommer diesen Ansatz mit dem der longue durée, also der Beobachtung von langfristigen Strukturen der Vorgeschichte eines Ereignisses. Dabei geht es ihm nicht nur um die letzten Tage des Diktators – so der Untertitel –, sondern die Geschichte der Republik schlechthin, dass nämlich die Geschichte von Caesars Ermordung 400 Jahre vor seiner Geburt mit der Gründung der Republik begonnen habe. Der Resilienzvorrat der Republik war durch den Bürgerkrieg erschöpft Der schon in den Jahren um Caesars Geburt 100 vor Christus tobende Krieg um die Vorherrschaft hatte den jahrhundertealten Freiheitsgedanken der römischen Patrizierschicht geschwächt. Und diese Schwächung des republikanischen Konsenses zeigt sich womöglich nirgends so deutlich wie in Caesars von seinem ersten Biographen Sueton überlieferten Satz am Rubikon: „Diesen Fluss nicht zu überqueren, wird Unglück über mich bringen, ihn zu überqueren, über die ganze Menschheit.“ Als Caesar den Rubikon dann in seinem ganzen Machtwillen überquerte: War er lediglich Profiteur eines allmählichen Verfalls des republikanischen Gedankens oder war er ein Akteur mit einem Programm zur Beendigung des Bürgerkriegs? Dazu meint der Autor Michael Sommer: Weder das eine noch das andere. Als Caesar am Rubikon stand, ging es ihm nur darum – seine Ehre – dignitas. Caesars Ego war so groß, dass es nicht mehr in die Republik mit ihren ehernen Prinzipien von Kollegialität und Annuität passte. Das Denken in den Kategorien von Standessolidarität und senatorischer Disziplin war dem Bezwinger Galliens fremd. Quelle: Michael Sommer Der Tyrannenmord geht aus dem Mythos der Freiheit hervor Caesars Selbstbild hat also offenbar nichts mehr mit republikanischen Tugenden zu tun – und das ruft seine Mörder auf den Plan. Bei seinen Überlegungen zu diesem Mordfall sieht sich der Historiker Michael Sommer als Ermittler: Freilich sind nicht die Mörder zu ermitteln, denn diese handelten in aller Öffentlichkeit – sondern ihre Motive. Und diese erschließen sich aus dem Mythos der Freiheit, ein Mythos, der sich im Namen des Haupttäters geradezu kondensiert: Lucius Junius Brutus war derjenige, der den letzten der Könige, Tarquinius Superbus, viereinhalb Jahrhunderte vor dem Mord an Caesar vertrieben hatte. Und dessen Mörder heißt wiederum Marcus Junius Brutus. Das war Zufall – und doch wieder auch nicht. Nichts geschah in der römischen Geschichte ganz zufällig. Das historische Gedächtnis war lang, und die Ahnen schwebten wirkungsmächtig über allem, was bedeutende Römer an großen Taten vollbrachten, Quelle: Michael Sommer - Mordsache Caesar So schreibt es Michael Sommer und spielt damit auf die Wirkmacht des mos maiorum der Römer an, dieses Destillat erinnerter Geschichte, das besagte, keinen Alleinherrscher zu akzeptieren. Wenn die Vertreibung des letzten Königs um 500 vor Christus zum Gründungsnarrativ der Republik werden konnte, warum gelang es den Caesarmördern nicht, Kapital aus ihrer Tat zu schlagen? Ja warum nicht? Es war ein mächtiges Narrativ, es hatte viele Menschen das Leben gekostet und noch viele mehr davon abgehalten, das Kollektiv der senatorischen Machtelite herauszufordern. Als Caesar tot am Boden lag, traten sofort Ereignisse ein, mit denen die Mörder nicht gerechnet hatten und die ihren Plan A über den Haufen warfen. Plan A lautete: Die Leiche Caesars wegschaffen und die Jubelstimmung ausnutzen, um das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Es gab aber keinen Jubel und das Rad der Geschichte lässt sich auch nicht zurückdrehen. Augustus – „der junge Caesar“ Also galt es, den Schwung des Rades zu nutzen, um im Bild zu bleiben. Dies gelang Caesars Großneffen Octavian: Augustus ‚verkaufte‘ den Senatoren seine Alleinherrschaft als Fortsetzung der Republik und erklärte den Bürgerkrieg für beendet. Pax Augusta nannte er es – den augusteischen Frieden, und Michael Sommer kommentiert lakonisch: „Sieger schreiben Geschichte.“ In seinem Buch über Caesars Ende lässt er seine Leser und Leserinnen hinter die Kulissen dieser Siegergeschichte schauen.…
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In Gipis Comic-Welt wird es kaum je richtig hell. Meist ziehen sich hellgraue Aquarellhimmel über menschenleere Landschaften. Überhaupt ist Grau die beherrschende Farbe. Gefühlt herrscht ständig Winter, es schneit oder regnet oder ist kurz davor. Jedes Dorf, jede Stadt gleicht der nächsten. Doch so trostlos Gipis „Geschichten aus der Provinz" auf den ersten Blick wirken – sie gehören zu den eindrücklichsten in der europäischen Comic-Szene. Denn Gipi lotet gekonnt die Dimensionen von Schuld, Loyalität und vor allem Gewalt aus. Obwohl explizite Gewalt selten in den Bildern zu sehen ist. Keine Kämpfe, aber Atmosphäre der Bedrohung Das gilt vor allem für sein Meisterwerk, für das Gipi 2006 den Grand Prix d'Angoulême gewonnen hat, den wichtigsten europäischen Comic-Preis: „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte." Darin lässt er die drei Freunde Stefano, Christian und Giuliano in einem Kriegs-Italien erwachsen werden. Auch wenn in den Bildern nie Kämpfe stattfinden – die Atmosphäre der Bedrohung gräbt sich in ihr Leben und ihre Freundschaft. Erst recht, als sie sich einer Gruppe Milizionäre anschließen. Die Gewalt, die jeden Moment auszubrechen droht, bringt die Unterschiede zwischen den dreien hervor. Sie zeigt, wie stark die soziale Schicht die Sicht auf das Leben prägt. Stefano: Du hast nie abgedrückt. Nie wirklich draufgehauen! (…) Du bist nicht wie wir. Giuliano: Wie meinst du das, ich bin nicht wie ihr? Stefano: Das weißt du. Du bist nicht wie wir. Du bist anders. Deine Familie hat Geld. Wenn du in Schwierigkeiten steckst, reicht ein Anruf und deine Probleme sind gelöst. Quelle: Gipi – Geschichten aus der Provinz Verknappte Stilmittel Gipis Strich zeigt, wie die erfahrene Gewalt sich als Härte in Körper und Psyche einschreibt. Seine Comics beweisen, dass man dafür nicht einmal besonders realistisch zeichnen muss. Die Gesichter seiner Protagonisten umreißt er als Flächen mit wenigen Linien. Vor allem ihr Mund ist nur ein dünner, schwarzer Strich. Und doch ist jede Regung klar erkennbar. Angst, Verachtung, Ungläubigkeit - alles da. Diese Knappheit setzt sich als Stilmittel fort bis in die Dialoge und die Dramaturgie. „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte" bleibt auch knapp 20 Jahre nach dem ersten Erscheinen ein Comic von Weltrang. Nicht alle Kurzgeschichten in diesem Band können dieses Niveau halten. „Zwei Pilze" aus dem Jahr 2005 sieht eher aus wie ein Rohentwurf. Grobe, mit schwarzem Stift hingeworfene Zeichnungen deuten an, dass es für die Hauptfigur um die Trauer nach dem Tod eines Freundes geht; um das komplizierte Verhältnis beider Männer zu den Vätern. Racheplan nach Inhaftierung Doch was wie ein Auftakt wirkt, endet abrupt. In sich stimmig ist dagegen „Sie haben das Auto gefunden", ein kurzer, verstörender Psycho-Thriller, der ebenso von dem lebt, was er ausspart wie von dem, was er zeigt. Genauso wie „Die Unschuldigen", ausgezeichnet mit dem Max und Moritz-Preis für den besten internationalen Comic. Wieder bewegen sich knapp und kantig gezeichnete Männer durch eine blassgraue Aquarell-Landschaft. Zwei Freunde treffen sich nach Jahren wieder. Einer von ihnen hat lange im Gefängnis gesessen. In Rückblenden, abgehoben von der Handlung als grobe Skizzen in Schwarzweiß, erfahren wir, dass damals Polizeiwillkür im Spiel war. Jetzt will der aus dem Gefängnis Entlassene Rache nehmen. Männliche Abgründe Valerio: Sie stehen unter Hausarrest und sitzen gemütlich zu Hause. Sind aber keine Polizisten mehr. Die Pistolen sind futsch. Sind ganz normale Leute wie du und ich. Aber ich weiß, wo einer von ihnen wohnt. Quelle: Gipi – Geschichten aus der Provinz Dann die Überraschung: Aus der Rache wird nichts. Sein Freund hat seinen kleinen Neffen dabei. Und vor dem Kind einen Mord begehen? In der Figur des Jungen gönnt Gipi seinen Männern diesmal einen Ausweg aus der Gewalt. Wo in Gipis Comics die Frauen bleiben? Am Rand. Obwohl in „Sie haben das Auto gefunden" eine Frau für die entscheidende Wendung sorgt. In den Bildern sind sie Körper, vielleicht noch Stichwortgeberinnen. Gipis Geschichten führen in männliche Abgründe. Aber die sind immer wieder lesenswert.…
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1 Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn 4:09
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4:09So richtig gut ging es Manfred Krug zu Beginn des neuen Jahrtausends nicht. Die Folgen eines Schlaganfalls im Jahr 1997 hat er zwar einigermaßen überwunden, doch der Herzschrittmacher drückt, das Treppensteigen ist beschwerlich – und alle Diäten sind vergeblich. Heute beginne ich wieder von vorn. Bei 118 Kilo fange ich erneut an. Es ist schrecklich. Alt werden ist ein einziges Leiden. Quelle: Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn „Ich beginne wieder von vorn“ lautet der Titel der dritten Tagebuchlieferung von Manfred Krug aus den Jahren 2000 und 2001. Das klingt wie ein Neuanfang, bedeutet aber, nicht nur was das Körpergewicht betrifft, die Wiederkehr des Immergleichen. Und doch ist Manfred Krug entschlossen, mit dreiundsechzig noch einmal durchzustarten: als Sänger. Nicht als Schauspieler. Am 1. Januar 2000 notiert er unmissverständlich: Es wird das letzte Jahr sein, das man mich als Schauspieler sehen wird. Ich kann nicht mehr. Quelle: Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn Abschied vom Fernsehen Tatsächlich verabschiedete sich Krug nach über fünfzehn Jahren vom „Tatort“. Die letzten Folgen als Hamburger Kommissar Stoever, die bis zum Sommer gedreht werden, sind eine Qual, die Drehbücher findet er miserabel. Zukünftigen Forschern, die wissen wollen, warum er, Manfred Krug, so beliebt gewesen sei, gibt er den Rat, Filme und Drehbücher miteinander zu vergleichen. Dann wird man ermessen, was er, Krug, eingebracht habe an Witz und Schlagfertigkeit. Wenn er sich abends im Fernsehen sieht, ist er sehr zufrieden mit sich, hält die beachtliche Einschaltquote fest und lässt sich gelegentlich sogar zu einem Glückwunschfax an den mäßig begabten Regisseur hinreißen. Trällerte Duette im „Tatort“ Der Abschied vom Film fällt ihm nicht schwer. Zu DDR-Zeiten war Krug als Sänger von Schlagern und Jazz-Standards mindestens genauso berühmt wie als Schauspieler. Im „Tatort“ trällerte er zusammen mit seinem Kompagnon Charles Brauer Duette, die nun als CD in die Charts gelangen. Krug legt „Deutsche Schlager“ und anderes nach. Wenn er mit Geschichten und absurden Gedichten auf Lesereise geht – Schriftsteller war er auch –, verlangt das Publikum, er solle singen. Also singt er. Das macht mehr Freude als die Arbeit am Set. Dass die als Volksaktie platzierte Telekom-Aktie an der Börse abstürzte, machte ihm durchaus zu schaffen, schließlich hatte er dafür geworben. Die Bild-Zeitung veröffentlichte einen Brief Krugs an einen Aktionär, der in einem lustigen Vierzeiler gipfelte. Manchmal stehn die Aktien hoch / und manchmal stehn sie niedrich, / ein Auf und Ab, grad wie beim Arsch / vom alten Kaiser Friedrich. Quelle: Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn „Bild“ hielt das für Verhöhnung der Aktionäre, musste aber schließlich eine Gegendarstellung drucken. In eigener Sache war Krug unerbittlich. Akribisch listete er auf, wer gerade woran und in welchem Alter gestorben ist: „Die Einschläge kommen näher.“ Das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit gab ihm eine produktive Distanz zum gesellschaftlichen Leben und zum Weltgeschehen, das er gleichwohl mit großer Neugier verfolgte. Lebenskünstler mit Charme Von heute aus gesehen wirkt das Jahr 2000 wie ein Luftanhalten zwischen Gestern und Morgen. Helmut Kohl steht wegen der Spendenaffäre vor dem Untersuchungsausschuss. Der serbische Präsident Slobodan Milošević wird verhaftet. Putin , frisch im Amt, attestiert Krug „den Gang einer energischen Soldaten-Ente“. Doch mit dem 11. September 2001 beginnt ein neues Zeitalter. Krug ist erschüttert; das kommt nicht oft vor. Die Tagebücher zeigen ihn als Lebenskünstler, der mit seinem Charme über alle Abgründe hinwegsegelte. Auch im Schreiben praktizierte er das, was ihn als Schauspieler und als Sänger so beliebt machte: in jeder Rolle vor allem er selbst, Manfred Krug, zu sein. Es ist so vergnüglich wie lehrreich, ihn mit seinem wachen Blick, seiner Lust an Klatsch und Tratsch, seiner Schnoddrigkeit und seiner auch sich selbst nicht schonenden Ironie durchs Leben zu begleiten.…
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1 Davi Kopenawa, Bruce Albert – Der Sturz des Himmels 4:08
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4:08Davi Kopenawa ist ein Mitglied der Yanomami-Indigenen. Ungefähr 29 000 Yanomami gibt es heute in Brasilien, die im weitläufigen Amazonasgebiet leben. Davi Kopenawa hat sich vehement für die Rechte der Indigenen eingesetzt und dafür unter anderem den „Alternativen Nobelpreis“ 1989 erhalten. Doch er ist nicht nur ein Kämpfer für die seinen und für den Erhalt der Artenvielfalt im tropischen Regenwald, nein, er ist auch Schamane. Davi Kopenawa – Kämpfer für die Natur und Schamane Wir werden keine Schamanen, indem wir Wild oder Nahrung aus unseren Gärten essen, sondern nur mit den Bäumen des Waldes. Es ist das Yakoana-Pulver, der von den Bäumen ausgeschwitzte Saft, der bewirkt, dass sich die Worte der Geister offenbaren und weithin ausbreiten. Quelle: Davi Kopenawa, Bruce Albert – Der Sturz des Himmels Yanomami-Schamanen inhalieren das Yakoana-Pulver, um einen tranceartigen, traumähnlichen Zustand zu erreichen. Dann nähern sich dem Schamanen die „Xapiri“ und führen ihre Tänze auf. „Xapiri“ sind Geisterwesen, sie können in vielen Formen auftreten. Als Tiere oder als Pflanzenwesen, oft sind sie auch menschenähnlich, manchmal verstorbene Ahnen. Das Entscheidende daran: Sie sind die Beschützer des „Waldes“, wie Davi Kopenawa sagt, also Hüter des Regenwaldes im Amazonasgebiet. Natur ist keine Verbrauchsware, sondern ein organisch-lebendiges Wesen Auf unser westliches Denken übertragen, heißt das: Die „Xapiri“ sind Abbilder der lebendigen Natur – der „Natura Naturans“, der schöpferischen Natur. Die Natur ist nicht einfach ein Objekt, dessen Gesetzlichkeiten bestimmt werden und das man gebrauchen und verbrauchen kann, sondern es ist ein organisch-lebendiges Wesen. Man verspürt weder mehr Hunger noch Durst. Man kennt weder mehr Schmerz noch Schlaf. Die Geister der Yakoana haben unser Fleisch verschlungen und unsere Augen sind tot. In diesem Augenblick sehen wir eine heftige, blendende Klarheit anbrechen. Die Kohorte der singend auf uns zukommenden Xapiri ist zu erkennen. Quelle: Davi Kopenawa, Bruce Albert – Der Sturz des Himmels Hüter des Waldes Initiationsriten der Schamanen sind schon öfter beschrieben worden – etwa in dem prominenten Buch „Schamanismus und archaische Ekstasetechnik“ von Mircea Eliade. Doch was Davi Kopenawa beschreibt, ist Neuland für unser westliches Denken. Denn er erzählt seine gesamte Geschichte: Ein junger Mann, der beschließt Schamane zu werden und alle Stadien der Initiation durchmacht bis er die „Xapiri“ tanzen sieht und sie bei ihm ihr Haus der Geister bauen. Man mag über diese Geisterwesen lächeln, man mag über die Drogen-Trance die Nase rümpfen – doch die westliche Überheblichkeit schwindet beim Lesen von Kopenawas Buch. Denn der Schamane mit seinen „Xapiri“ hat kein anderes Ziel, als Hüter des „Waldes“, also Hüter der Natur zu sein. Und es sind wir, die diese Natur zerstören. Vor allem Goldgräber und Siedler haben im Amazonas-Gebiet den Regenwald zerstört, durch Krankheiterreger und auch mittels roher Gewalt die Yanomami-Indigenen dezimiert. Das ist die andere Geschichte, die in „Der Sturz des Himmels“ erzählt wird. Ein Buch für alle, die Natur als bedrohten und daher schützenswerten Organismus begreifen Mitte der 1970er-Jahre lernte der französische Anthropologe Bruce Albert Davi Kopenawa kennen. Daraus entwickelte sich eine Lebensfreundschaft. Albert lernte die Sprache der Yanomami. Und in jahrelanger Arbeit erzählte ihm Kopenawa seine Geschichte. Albert hat daraus ein Buch in französischer Sprache gemacht. Sicher, ein gewagtes Unternehmen, denn unsere westlichen Sprachen bringen ganz andere Geisterwesen hervor als die Sprache der Yanomami. Aufklärung und Technik versus schöpferische Natur – das wäre die Kurzformel. Genau deswegen ist Davi Kopenawas und Bruce Alberts „Der Sturz des Himmels“ ein unverzichtbares Buch für all jene, die die Natur als bedrohten und daher schützenswerten Organismus begreifen.…
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1 Peter Heather & John Rapley – Stürzende Imperien. Rom, Amerika und die Zukunft des Westens 6:23
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6:23Wir spiegeln uns in Rom, und es ist gerade der Untergang des Reichs, der immer wieder zur Folie unserer eigenen Gegenwart herangezogen wird. So auch in „Stürzende Imperien“ von Peter Heather und John Rapley. Peter Heather ist Althistoriker und unterrichtet am Kings College in London, er ist ausgewiesener Experte für die Spätantike, John Rapley ist Ökonom in Cambridge und Fachmann für das Gebiet Globalisierung und Ungleichheit. Beide lehnen die schon klassische Erzählung ab, die es längst ins Arsenal der rechtspopulistischen Agenda gebracht hat, dass Rom an seiner eigenen Dekadenz und an einer Barbareninvasion gescheitert sei. Nein, sie bestehen darauf, dass das antike Rom sich nach der Krise des 3. Jahrhunderts wieder berappelt hat und durch die Reichsteilung, die Tetrarchie, eine Verwaltungsreform und eine modifizierte Besteuerung um 400 u. Z. sogar auf dem besten Weg in eine goldene Zukunft gewesen sei. Ein Lebenszyklus eines Imperiums Aber warum dann trotzdem der nicht zu bestreitende Kollaps wenige Jahrzehnte später? Die beiden Autoren entwickeln so etwas wie einen Lebenszyklus eines Imperiums, das sie geopolitisch aufteilen in das eigentliche Machtzentrum, dann die Provinzen noch innerhalb des Reichs, und die Peripherie außerhalb der Grenzen. Was sie beobachten, ist eine zunehmende Bedeutungsumkehrung von Zentrum, Provinz und Peripherie. Die Waren- und Menschenströme in die Randgebiete stärken diese Bereiche wirtschaftlich so, dass aus der abhängigen Provinz bedeutende Städte wie Trier oder York in England werden, wogegen die ökonomischen Daten von Italien nach unten zeigen. Und während die ersten Schlachten mit den, wie die Römer sie nennen, Barbaren schon mal verloren gehen können, siehe die Varus-Schlacht im Jahr 9 unserer Zeit, weil die germanische Bündnisse einfach nach den Siegen wieder zerfallen, sehen sich die Römer 300 Jahre später ganz anderen Gegnern gegenüber. Militarisierte Strukturen in der Peripherie In der Peripherie haben sich feste, stark militarisierte politische Strukturen gebildet, es gibt Könige, gut ausgebildete Heere, die von ihren römischen Feinden gelernt, ja sogar als Foederati für den römischen Kaiser gekämpft haben – ein ganz spezieller Wissenstransfer, der das Zentrum schwächt und die Ränder stärkt. Diese stabilen Verbände tragen die Namen, die ihnen die frühere Geschichtswissenschaft gegeben hat, Westgoten, Ostgoten, Vandalen, Alanen, obwohl man sie heute nicht mehr Völker nennen würde. Sie sind nur unter großem militärischem Aufwand kontrollierbar, wenn überhaupt, was natürlich die Finanzlast für den Kaiser wiederum erhöht. „Einen menschlichen Tsunami“: der Hunnensturm Ein Teufelskreis. Aber der entscheidende Schock ist das Auftauchen der Hunnen, die wohl aus klimatischen Gründen gen Westen stoßen und die Peripheriebewohner hinein ins Reich treiben. „Einen menschlichen Tsunami“ nennen Heather und Rapley den Hunnensturm. Nun befehlen die fremden Herrscher gleichsam Enklaven im römischen Reich mit dem Effekt, dass lokale Großgrundbesitzer sich ihnen zuwenden und lieber vor Ort die Steuern zahlen als einem fernen Zentrum. Eine Finanzkrise im Kernbereich ist unumgänglich. Die Geschichte des Westens Heather und Rapley deuten nun auch die Geschichte des Westens nach diesem Schema, was manchmal nur mit einem etwas grobem Keil gelingt, schon weil es den Westen als politische Einheit nicht gibt. Die großen Player der Neuzeit entstehen jeweils an den Rändern eines Reichs, die Niederlande folgen Spanien und Portugal, dann entsteht das britische Empire, mit dem Ableger USA, der nach dem 1. Weltkrieg die globale Macht innehat, wenn man denn Russland etwas aus den Augen verliert. Und heute? Sind die einstigen Kolonien bzw. Peripherien wie Indien, Südkorea, Brasilien nach Heather und Rapley die neuen Boom-Staaten, was die wirtschaftlichen Daten nicht immer hergeben, während der alte Westen unter geringen Wachstumsraten, enormem Schuldenstand und demographischer Unwucht stöhnt. Wer sind die Hunnen von heute? Und China? China hat es zum zweiten Hegemon gebracht, zur anderen Großmacht wie zu Roms Zeiten das Sassanidenreich in Persien. Aber während damals die entscheidende Währung das knappe Land war, heißt sie heute Geld, das scheinbar unbegrenzt zur Verfügung steht. Darum ist die kritische Frage: Wer sind die Hunnen von heute? Wer zerstört die fragile Balance? War es Corona? Oder sind es doch die sich auftürmenden Schulden, weil nur mit viel Geld die gesellschaftlichen Konflikte noch zu übertünchen sind? Ganz klar wird das nicht. Politisch sind Heather und Rapley wackere geistige Sozialdemokraten. Sie glauben zwar nicht mehr an ein „Make den Westen great again“, aber sehr wohl daran, dass eine kluge Außenpolitik es ermöglicht, zwei Hegemonialmächte zum gewinnbringenden und fairen Ausgleich zu bringen, nämlich China und die USA, und eine clevere Innenpolitik mit einer stärkeren Besteuerung der Vermögen, nicht der Einkommen, dem Staat die Gelder zur Verfügung stellt, um einen sozialen Ausgleich zu schaffen. Kein lachender Dritter Das liegt zweifelsohne nicht im Zeitgeist. Der erinnert eher an die Verzwergung des oströmischen Reichs, das sich zusehends mit dem persischen Imperium kriegerisch verkeilt hatte, wodurch es einen lachenden Dritten gab, die unter der Fahne des Islam neu vereinigte arabische Welt, der die beiden erschöpften Streithammel nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Wenigstens ist im Augenblick ein lachender Dritter nicht in Sicht.…
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1 Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich | Buchkritik 9:20
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9:20Zu Beginn sollte man einem Missverständnis vorbeugen: Macht und Herrschaft im Zarenreich - dahinter könnte sich womöglich eine zähe Strukturgeschichte verbergen, ein akribischer Röntgenblick durch das gesamte Herrschaftssystem zwischen Baltikum und Wladiwostok bis hinunter ins kleinste Dorf, der auf über tausend Seiten dann wirklich nur absolute Insider interessiert. Zum Glück aber ist dieses dicke Buch alles andere als das. Jörg Baberowski hat eine bewundernswert kenntnisreiche und dennoch gut lesbare, stellenweise sogar fesselnde Geschichte der Zarenherrschaft geschrieben. Sie beginnt um 1700 herum, mit jenem Zaren, der in Russland ein neues Zeitalter einleitete: mit Peter dem Großen. Schwerwiegendes Strukturproblem Peter wollte den Fortschritt Europas nach Russland bringen. Aber Jörg Baberowski sieht einen ähnlichen Mangel wie unter Peters Vorgängern: Rußland wurde nicht von Königen und Ständen, sondern von Tyrannen und Sklaven regiert. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Denn unter Peter und unter seinen Nachfolgern litt das Riesenreich - anders als etwa Frankreich, England oder Preußen - unter einem fatalen Strukturproblem. In Rußland gab es keinen mächtigen, regional verwurzelten Adel mit Grundbesitz, dessen Wert schwer gewogen hätte. Die Adligen waren Knechte des Zaren und zugleich Herren der Bauern. Auf diesem Fundament ruhte das System der Selbstherrschaft. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Mit Gewalt auf allen Ebenen, bis hinunter ins kleinste Dorf auf Kamtschatka. Nur so ließ sich das größte Land der Erde zusammenhalten. Dabei kann Baberowski zeigen, wie sich im 19. Jahrhundert durchaus freiheitliche Ideen ausbreiteten. Um 1880 schien in Petersburg gar eine regelrechte Aufbruchsstimmung zu herrschen. Kein anderer als Fjodor Dostojewski beschwor die Mission Russlands, die ganze Menschheit im Frieden zu vereinen. Seine Zuhörer reagierten euphorisch, wie Dostojewski seiner Frau schrieb: Ich kann Dir das Geheul, das Gebrüll der Begeisterung gar nicht beschreiben: Die Menschen im Publikum weinten, Fremde fielen sich in die Arme und brachen in Tränen aus und schworen einander, bessere Menschen zu sein, sich in Zukunft nicht mehr zu hassen, sondern zu lieben. Alle stürzten zu mir aufs Podium, vornehme Damen, Studenten, Staatssekretäre und wieder Studenten – all das umarmte und küßte mich. Alle, buchstäblich alle, weinten vor Begeisterung. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Von der westlichen Aufklärung abgeschnitten Aber solche Ideen der Freiheit, der Menschenwürde und der Aufklärung schlugen keine Wurzel; und sie kamen für das Riesenreich viel zu spät. Baberowski konstatiert: Die Vorstellung, der Mensch sei ein autonomes Wesen, verbreitete sich in Rußland erst zu einer Zeit, als sich der autoritäre Staat im Leben der Untertanen bereits fest verwurzelt hatte. In Rußland waren Freiheit und Individualität mit der Vorstellung verbunden, eine Person könne nur sein, wer sich dem Staat und seinen Formen widersetzte. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Also ein anarchische Totalobstruktion, ähnlich wie sie heute mitunter in sogenannten sozialen Netzwerken en vogue ist. Unter diesen Umständen konnte man für sinnvolle Oppositionsarbeit kaum Anhänger finden. So hielt Kirchenminister Konstantin Pobedonoszew den Liberalen sein pessimistisches Menschenbild entgegen: Pobedonoszew glaubte nicht an die erzieherische Kraft vernünftiger Argumente. Schwach, selbstsüchtig, dumm, gegenüber jeder Vernunft immun seien die meisten Menschen. Demokratie und Rechtsstaat seien in den Ländern des Westens Schöpfungen einer gebildeten, selbstdisziplinierten Elite, die sich auf eine lange Tradition des Individualismus berufen könne. Worauf aber könnten die liberalen Petersburger Eliten schon verweisen? Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich So gab es in Russland lange Zeit weder Parteien noch Gewerkschaften. Keine Organisation, die sich als oppositionelle Kraft tatsächlich auf nennenswerte Teile der Bevölkerung hätte stützen können. Diese Bevölkerung begehrte durchaus auf, wenn ihr etwas nicht passte. Aber, so Baberowski: Die meisten Arbeiter konnten weder lesen noch schreiben, wußten nicht, wie sich Bedürfnisse zur Sprache bringen und durchsetzen ließen. Arbeiter zerstörten Maschinen, verwüsteten Kontore und plünderten Läden, ballten sich auf den Straßen in Massen zusammen. Aber nie kam ihnen in den Sinn, daß sich Gewalt nur dann in produktive Energie verwandeln ließ, wenn man sie in den Dienst von Zwecken und Zielen stellte. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Der letzte Zar: machtlos So erschöpfte sich Protest in tumbem, ziellosem Aufruhr. Auf der anderen Seite stand eine immer schwächere Monarchie. Zar Nikolaus II. war nurmehr ein Spielball der Interessen und der Intrigen bei Hofe. Alles blieb in der Schwebe, niemand wußte, wem der Zar sein Vertrauen schenken würde. Wie hätte sich unter diesen Umständen ein Gefühl für die Bedeutung rechtsstaatlicher Verfahren durchsetzen können? Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich 1905: die erste Revolution 1905 erlebte Russland seine erste Revolution. Der gerissene Premierminister Sergej Witte schaffte es, Nikolaus Zugeständnisse abzuringen: In seinem berühmten Oktobermanifest machte der Zar sein Reich tatsächlich zu einer konstitutionellen Monarchie. Damit aber hatte er in dem Land, in dem schon so viele Reformen gescheitert waren, keine Chance. Die einen hielten das Oktobermanifest für ein leeres Versprechen, die anderen für einen Verrat an der Autokratie. Seine Versprechungen glätteten die Wogen nicht, sondern verwandelten den Proteststurm in einen Orkan. Es gab in den Jahren der ersten Revolution wahrscheinlich keinen Ort in Rußland, der nicht vom Terror heimgesucht wurde. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Im ganzen Land ließen die Bauern ihrem aufgestauten Zorn freien Lauf. Sie wandten sich gegen ihre adligen Herren, steckten deren Schlösser in Brand. In Saratow an der Wolga beobachtete das die damals 20jährige Maria von Bock. Was für eine Ironie der Geschichte. Das erste zerstörte Herrenhaus gehörte jenem liberalen Gutsbesitzer, der gewaltige Summen für die Subventionierung der linken Zeitungen geopfert hatte. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Wittes Politik der Verständigung war steckengeblieben. Nur mit rücksichtslos harter Hand brachte Innenminister Iwan Durnowo die Lage unter Kontrolle. Ohne die Entschlossenheit, ja Skrupellosigkeit Durnowos aber wäre der zarische Staat wahrscheinlich schon im Dezember 1905 zusammengebrochen. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Reformer ohne Chance Er hielt sich noch knapp zwölf Jahre. Baberowski weiß noch von hoffnungsvollen Ansätzen zu berichten: Die Gewalt nach der Revolution habe die Liberalen zur Einsicht gebracht, dass sie, statt im Parlament geräuschvoll Fundamentalopposition zu betreiben, mit dem Zaren und seiner Regierung verhandeln mussten. Dann konnten sie Zugeständnisse erreichen. Auf der Regierungsseite kam ihnen der neue Ministerpräsident Pjotr Stolypin entgegen. Stolypin legte nicht nur dem Parlament, sondern auch dem Zaren Fesseln an. Witte hatte das Zarenreich in eine konstitutionelle Monarchie verwandelt. Stolypin bewahrte sie vor dem Untergang. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Aber Stolypin wurde ermordet, 1911 in Kiew. Mit diesem Attentat schließt das Buch. Man legt es ungern aus der Hand. Reizvoll zu lesen wäre eine Fortsetzung: zu Russlands Weg in den Ersten Weltkrieg, zur Februarrevolution 1917, schließlich zu der Katastrophe für die Menschen in Russland, die übrigens von kaiserlich deutscher Seite eingefädelt wurde: Lenins Oktoberrevolution mit dem Beginn der jahrzehntelangen sowjetischen Tyrannei. In einem vergleichsweise knappen Buch hat Baberowski sich vor drei Jahren schon damit befasst. Hoffentlich schreibt er auch sein Monumentalwerk künftig noch dahingehend weiter. Für den Moment beschränkt er sich auf eine leise Mahnung: Man wird die Revolutionen der Jahre 1905 und 1917, Lenins Terror und Stalins Gewaltherrschaft, nicht verstehen, wenn man sie nur als Ausdruck eines Ideenkonfliktes und nicht auch als Versuche begreift, eine bedrohte Ordnung vor dem Zerfall zu bewahren. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Nachdem durch immer neue Gewaltorgien im ganzen Reich ganze Generationen traumatisiert worden waren. Russische Tragödie So erzählt dieses höchst lesenswerte Buch letztlich eine bedrückende Geschichte: Die Geschichte eines riesigen Landes, in dem enormes Potential steckte, in dem aber immer wieder Chancen verpasst wurden. Weil die Monarchie zumeist keine Ahnung hatte, wo ihre Untertanen der Schuh drückte, und nur Härte kannte. Weil eine liberale Opposition viel zu lange unrealistische Ziele verfolgte. Weil das zaristische Establishment Reformern in der Regierung Knüppel zwischen die Beine warf. Und weil die Masse der Bevölkerung von Politik nichts wissen wollte. Vielleicht war dieses Land in seiner Vielfalt aber auch zu groß, um anders als mit Härte zusammengehalten zu werden. Zwischen den Zeilen kann man bei Baberowski herauslesen, dass er in den Reformjahren nach 1907 Chancen sieht, Russland tatsächlich in eine stabile konstitutionelle Monarchie zu verwandeln. Der Erste Weltkrieg aber setzte all diesen Versuchen ein Ende. Und so war er mit seinen Folgen vielleicht für Russland noch mehr als für die übrige Welt die vielzitierte Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Mit Folgen bis heute.…
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1 Florian Werner (Hg.) – Meine bessere Hälfte. Musiker*innen erzählen über ihre Instrumente | Buchkritik 5:21
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5:21Anne-Sophie Mutter spielt ihre Stradivari von 1710, die außer ihr selbst (und hin und wieder dem Geigenbauer) niemand auch nur anfassen darf. Sie beschreibt in ihrem Text auch, wie sie selbst als Virtuosin jede Violine erst erkunden muss: „In welchem Winkel setze ich den Bogen auf? Mit wie viel Druck spiele ich, und mit wie vielen Haaren? Auf welcher Höhe setze ich den Bogen an, und wie wird das Instrument darauf reagieren? Die Geige macht also nicht, was ich will – ich muss tun, was die Geige will!“ Oh ja, Instrumente stellen Ansprüche. Das ähnlich antike Cello von Steven Isserlis sitzt im Flieger stets neben ihm (und zwar am Fenster!); tourende Pianisten dagegen wie Michael Wollny – die müssen mit eher lockeren Bindungen leben: „Auf jeder Bühne ein neues Instrument, jeden Abend eine neue bessere Hälfte. Denn: ich reise nicht mit meinem Instrument. Ich treffe es an.“ Erfahrungen von Musikern vieler Genres und Generationen Es ist eine bunte Runde, die Florian Werner hier zusammengestellt hat: „Das Ganze fing eigentlich schon an als so eine Art Fanboy-Projekt, da sind natürlich viele Musikerinnen und Musiker dabei, die ich einfach schon seit Jahrzehnten wahnsinnig toll finde. Tabea Zimmermann, die Bratschistin, oder Budgie, der Schlagzeuger von Siouxsie & The Banshees, oder eben Jochen Distelmeyer von Blumfeld. Und dann hab ich natürlich geschaut, dass man da so eine große Bandbreite von Instrumenten, von Persönlichkeiten und natürlich auch von musikalischen Genres hat.“ Die angesprochene Bratschistin Tabea Zimmermann etwa erzählt, wie sie ihre künftige Profession schon als Kleinkind mit zwei Kochlöffeln simuliert hat und wie sie, viel später, mit einem Instrumentenbauer ihre perfekte Viola entwirft. Auch Florian Werner spielt Bratsche, das war natürlich der Anstoß zum Buch. So Florian Werner: „Es ist schon so eine Hassliebe, so eine Beziehung mit Höhen und Tiefen zu dieser Bratsche, die, seitdem ich zehn oder zwölf bin, immer in meinem Leben ist, die ich überall dabei hatte, in USA, in Russland, in Ungarn, weiß nicht wo, also die hat mich sehr viel begleitet, und trotzdem immer wieder, wenn eben etwas nicht gelingt auf dem Instrument, und das ist sehr häufig leider bei mir der Fall, dann hat man natürlich so Aggressionen, die man auf dieses Instrument projiziert, also fast als wär das so’ne Partnerin oder ein Partner, wo man denkt, so: Mensch, was ist mit dir los eigentlich, warum antwortest du mir nicht so, wie ich es mir doch wünsche.“ Lustige Anekdoten und historische Betrachtungen Die Texte nun (meist von den Musizierenden geschrieben, teils im Interview gewonnen) sind auch formal vielfältig: Andreas Martin Hofmeir erzählt in lustigen Anekdoten, wie seine Tuba Fanny zu ihren Namen kam und was grobe Zöllner ihr angetan haben; Cellist Steven Isserlis oder der Sitar-Fan PeterLicht dagegen haben eher kulturhistorische Abhandlungen verfasst. Jochen Distelmeyer von der Hamburger Band Blumfeld - er stilisiert seine Gitarre nicht ganz uneitel zur Waffe des Widerstandskämpfers und zum Werkzeug des Sinnsuchers; Inga Humpe vom Elektropop-Duo 2raumwohnung – sinniert schwärmerisch von den Ausdrucks- und Täuschungsmöglichkeiten der Stimme und ihrem gesellschaftpolitischen Potenzial: „Singen Sie in einem Chor! Chorsingen bedeutet, dass man lernt, sich selbst und gleichzeitig anderen zuzuhören. Und das ist eigentlich die Grundvoraussetzung für ein Zusammenleben mit anderen Menschen.“ Vom Glück des Musikmachens Wir lernen außerdem, welch komplexes Instrument das Tonstudio ist – und welch beeindruckendes ein - Pferdeskelett. Und dass manchmal auch Tinnitus oder orthopädische Beschwerden dazugehören, Saxophonist Benjamin Koppel hat beides und noch eine Metallallergie; er spielt trotzdem, unter Schmerzen und mit bisweilen blutigen Fingern. Und so handeln am Ende all diese unterschiedlichen Texte gleichermaßen von der Faszination des Musikmachens; vom Glück, ein Instrument zu spielen. Es ist eine inspirierende Lektüre. Florian Werner meint: „Wenn man weiß, wie die Beziehung zwischen Musikerin/Musiker und Instrument besteht, dann hört man auch die Musik anders und weiß sie auch anders zu schätzen – und bekommt hoffentlich auch selber Lust zu musizieren. Also mir geht’s zumindest so, dass ich mich gerade jeden Morgen mit ganz neuem Schwung an das Klavier setze und dort… dilettiere.“…
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1 Clemens Meyer: Die Projektoren | Diskussion 19:21
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19:21Auf mehr als 1000 Seiten ein wilder Ritt durch die Geschichte und durch Geschichten. Es kommen vor: Das Velebit-Gebirge, in dem die „Winnetou“-Filme gedreht wurden, ein Partisanenkämpfer und ein verschwundener Psychiatrie-Patient.
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1 Simone de Beauvoir: Die Mandarins von Paris | Diskussion 21:44
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21:44Mehr als 1000 Seiten, 1954 erschienen, ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, jetzt in deutscher Neuübersetzung. Es ist das Denken europäischer Intellektueller in Gesprächen und Debatten der Nachkriegszeit, das hier inszeniert wird.
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1 Jana Volkmann: Der beste Tag seit langem | Diskussion 15:54
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15:54Ein Pferd in einer lauen Sommernacht, das zwei Frauen, Tante und Nichte, nach Hause begleitet. Die Tiere in Wien, die plötzlich den Aufstand proben. Ein Roman über die Solidarität unter den Lebewesen, und zwar unter allen.
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1 Anne Applebaum – Die Achse der Autokraten 4:09
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4:09„Die Achse der Autokraten“: Das weckt Assoziationen an die Achsenmächte des Zweiten Weltkrieges, die nicht nur militärisch kooperierten, sondern durch eine faschistische Ideologie verbunden waren. Demgegenüber sind die Bündnisse, die heute die Autokratien von Russland, China, Iran, Nordkorea, Syrien usw. miteinander eingehen, schreibt Applebaum, rein pragmatischer Natur: Vereint seien sie in ihrem gemeinsamen Widerstand gegen die westlich-liberale Weltordnung. Kooperation: Ideologische Unterschiede sind kein Hindernis Ideologische Unterschiede etwa zwischen dem iranischen Mullah-System, der Diktatur Putins und dem kommunistischen Nordkorea hielten die autokratischen Länder nicht davon ab, miteinander militärisch und politisch zu kooperieren. Vereint im Hass auf die Demokratie Verbindend sei ihr „Hass auf die Demokratie“, die Verachtung des Völkerrechts und die Bereitschaft, skrupellos Gewalt einzusetzen, um sich an der Macht zu halten. Besser als der Begriff der „Achse“ passt Applebaums Beschreibung der neuen globalen Bündnisse als internationale „Netzwerke“, die sich im Interesse kleptokratischer Bereicherung und geopolitischer Machtausübung gegenseitig stützen. Unaufhaltsamer Siegeszug der liberalen Demokratien Aber wie kam es zu diesen autokratischen Netzwerken? Applebaum macht dafür die westlichen Länder selbst mitverantwortlich, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Weltordnung des Kalten Krieges nicht nur der Illusion vom „Ende der Geschichte“, das heißt dem unaufhaltsamen Siegeszug der liberalen Demokratien anhingen. Darüber hinaus ermöglichte das neoliberale Wirtschaftssystem den Autokratien, ihre krummen Geschäfte im globalen Maßstab abzuwickeln: Dank der Globalisierung der Finanzwelt, der Vielfalt an Geldverstecken und der gütigen Duldung ausländischer Gaunereien durch Demokratien eröffnen sich Autokratien heute Möglichkeiten, von denen sie vor einigen Jahrzehnten nicht zu träumen gewagt hätten. Quelle: Anne Applebaum – Die Achse der Autokraten Weit verzweigte Netzwerke internationaler Autokratien Anne Applebaum belegt diese Diagnose mit einer Vielzahl von Beispielen, indem sie etwa beschreibt, wie russische Oligarchen mit Hilfe westlicher Banken und einem System von Briefkastenfirmen ihren gestohlenen Reichtum sicherten. Oder indem sie zeigt, wie die korrupte Elite Venezuelas die Gewinne aus der Ölwirtschaft in ihre eigenen Taschen leitete, dabei tatkräftig gefördert nicht nur durch die westliche Finanzindustrie, sondern durch andere autokratische Länder wie zum Beispiel Iran oder Russland, eben jener internationalen Netzwerke, die die regelbasierte Weltordnung untergraben. Was sie verbindet, sind das Erdöl, der Antiamerikanismus, die Unterdrückung ihrer Demokratiebewegungen und die Notwendigkeit, Sanktionen zu umgehen. Quelle: Anne Applebaum – Die Achse der Autokraten Detailliert schildert Applebaum den hierzulande wenig bekannten Fall von Simbabwe, dessen despotisches Regime sich mit Hilfe russischer Kampfjets und chinesischer Überwachungstechnologie an der Macht hält und sich dafür revanchiert, indem es seinen Helfershelfern Schürfrechte an Bodenschätzen und diplomatische Unterstützung zum Beispiel für Russlands Krieg gegen die Ukraine gewährt. Auch der Kooperation der Autokratien bei der Herstellung und Verbreitung von antidemokratischer Propaganda und Fakenews widmet Applebaum ein ganzes Kapitel ihres fesselnden Buchs. Mahnung an Deutschland: Keine Geschäfte mit Autokratien! Ihre Darstellung überzeugt dabei immer durch die Verbindung von Analyse und Anschaulichkeit. Ihre engagierte Beschreibung der neuen Weltunordnung, in der Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte durch die Netzwerke der Autokratien zerstört zu werden drohen, führt zur nachvollziehbaren Forderung nach einer „internationalen Allianz“ demokratischer Staaten und einem „internationalen Antikorruptionsbündnis“, das durch entschiedene Gesetzgebung die „Transparenz des Finanzwesens“ wiederherstellen soll. Staatliche und zivilgesellschaftliche Initiativen sollen außerdem die Verbreitung von Propaganda und Fakenews durch die Regulierung sozialer Medien verhindern. Ob all diese nicht-militärischen Maßnahmen ausreichen, um die freiheitliche Weltordnung erfolgreich gegen den Angriff der Autokratien zu verteidigen, bleibt eine offene Frage.…
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Volker Kitz hat ein wichtiges Buch geschrieben über eine Frage, der wir uns erst stellen, wenn wir durch die Umstände dazu gezwungen werden: Was sollen wir tun, wenn unsere Eltern nicht mehr für sich selbst sorgen können? Sein Vater ist Ende siebzig, als er eines Tages nicht begreift, wie man einen Schlüssel im Schloss dreht und eine Kaffeemaschine bedient. Die Diagnose „Demenz“ stellt die beiden Söhne vor eine Herausforderung. Wie löse ich mich von der Illusion des Immer-weiter-so? Welche Zeichen muss ich erkennen, welche Entscheidungen darf ich treffen? Welche muss ich treffen, gegen Vaters Willen? Wie behalte ich Zugang zu ihm, teile Schmerz, Freude, pendle in seine Welt – ohne meine verdorren zu lassen? Quelle: Volker Kitz – Alte Eltern Was ist Erinnerung, wenn das Gedächtnis nicht mehr funktioniert? Volker Kitz versucht zunächst, einen rationalen Zugang zu der schwer begreiflichen Veränderung des Vaters zu finden. Besessen sucht er medizinische, soziologische und psychologische Erklärungen. Er fragt sich: Was ist Erinnerung, wenn das Gedächtnis nicht mehr funktioniert? Der Vater bekommt bei einer Fußball-Reportage leuchtende Augen, die Familienbilder aber sagen ihm nichts. Die Gedächtnisforschung hat herausgefunden, dass wir nur acht bis zehn Tage eines Jahres im Gedächtnis behalten. Die unzähligen einander ähnlichen Erlebnisse, die keine Emotionen hervorrufen, werden aussortiert. Volker Kitz findet und zitiert eine Menge Literatur über Erinnern und Vergessen, was ihm selbst aber nicht hilft. Ich hatte geglaubt, gut vorbereitet zu sein. Ich hatte Zeit eingeplant, um mich um meinen Vater zu kümmern. Womit ich nicht gerechnet hatte, waren die Schwernisse, die der bloße Anblick der Veränderungen mit sich brachte. Es ist nicht so, dass ich zuvor nie verzweifelt gewesen wäre. Doch eine so anhaltende, sich steigernde Verzweiflung kannte ich nicht. Quelle: Volker Kitz – Alte Eltern Der Vergleich zum Vorher macht die Dinge unerträglich Als das Leben alleine im Haus für den Vater unmöglich wird, findet Volker für ihn in Berlin in der Nähe seiner eigenen Wohnung ein Pflegeheim. Zwischen den beiden besteht eine große Verbundenheit, aber das wird jetzt zum Problem: Der Sohn kann das Irreversible der Krankheit nicht akzeptieren. Im Heim kontrolliert er die Pflegerinnen, zählt die Tabletten nach, lässt sich Protokolle der sozialen Aktivitäten des Vaters ausdrucken. Unter allen Umständen will er zurück ins Altvertraute. Irgendwann jedoch begreift er: „Es ist der Vergleich zum Vorher, der die Dinge unerträglich macht.“ Volker Kitz ist Jahrgang 1975 und hat mit seinem Buch das Problem einer ganzen Generation beschrieben. Er zitiert Prognosen, nach denen sich mit steigender Lebenserwartung die Zahl der an Demenz Erkrankten alle zwanzig Jahre verdoppelt und fragt sich, ob auch er eines Tages dazugehören wird. Demenz der Eltern nimmt auch den Kindern viel Selbstbestimmung Wir, die Kinder, machen scharenweise ähnliche Erfahrungen, während unsere Eltern alt werden: Zeichen erkennen, deuten, sich eingestehen. Konsequenzen aushandeln. Sie betreffen nicht nur die Eltern, sondern auch uns, im Kern unserer Lebensgestaltung. Die schwindende Selbstbestimmung der Eltern greift auch unsere Selbstbestimmung an, ein Gut, das unserer Generation so unentbehrlich schien. Quelle: Volker Kitz – Alte Eltern Volker Kitz hat mit dem Schreiben begonnen, als der Vater noch lebte. Es sind die persönlichen und unmittelbaren Beschreibungen des Alltags mit einem dementen Vater, die das Buch so wertvoll machen. Gerade weil Volker Kitz keine Lösung kennt und keine Ratschläge anzubieten hat, dürfte dieses Buch für viele Menschen ein Begleiter werden in einer Situation, auf die man sich emotional nicht vorbereiten kann.…
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Der Ausstieg aus dem gesellschaftlichen Leben ist in diesem Fall ein Einstieg. Eine hübsche Idee ist es auch, die Badewanne, in die man gestiegen ist, einfach nicht mehr zu verlassen. Doch das ist auch schon fast alles in Tine Melzers zweitem Roman „Do Re Mi Fa So“. Der Ausgangsidee folgt nur noch Gerede. Der Opernsänger Sebastian Saum – was wohl von säumig kommt – hat sich zwar noch die Mühe gemacht, die Wanne nach dem Bad trocken zu reiben, um sie mit Kissen und Decken auszustatten. Aber dann bleibt er liegen und hat nun sehr viel Zeit zu räsonieren, sechzehn Kapitel lang, die in ermüdender Regelmäßigkeit mit dem morgendlichen Erwachen beginnen. Wehleidig ist dieser neuzeitliche Oblomow auch, wenn er über sich sagt: Womöglich habe ich mich selbst in der Ruhestand versetzt. Aber gerade jetzt mag ich nicht das Richtige tun. Deshalb bin ich ja hier. Quelle: Tine Melzer – Do Re Mi Fa So Von Socken und Langeweile Dann kommt der Pianist Franz mit dem Frühstück. Franz wohnt eine Etage tiefer, hat dort ein eigenes Bad und offenbar sehr viel Geduld mit der enervierenden Person in der Wanne. Die beiden sind so etwas wie eine schwules Paar, allerdings ohne Liebe und ohne Sex, was ja eigentlich, wenn schon Badewanne, nahe läge. Stattdessen denkt Sebastian ausdauernd über Kleiderfragen nach, welche Hemden in seinem Leben eine Rolle gespielt haben, welche Stiefel er wann trug und welche Socken im Schlafzimmer über der Stuhllehne hängen. All das ist von Herzen uninteressant. Es wird auch in den Passagen nicht fesselnder, in denen Sebastian sich an den Tod seiner Mutter erinnert und über seltsame Worte wie „Beisetzung“ nachdenkt. Immerhin gelingt ihm eine brauchbare Definition der Langeweile, unter der er leidet, und die Tine Melzer geradezu schmerzhaft spürbar werden lässt: Ich stelle nichts her außer Zeit und lasse die Stunden über mich ergehen, weil ich es kann. Quelle: Tine Melzer – Do Re Mi Fa So Überfülle an Metaphern Genauso verhält es sich auch mit diesem Roman. Tine Melzer schreibt ihn, weil sie es kann. Allerdings fragt man sich beim Lesen, warum dieser eher lethargische Mann, der doch eigentlich Abstand von allen Verpflichtungen nehmen wollte, unentwegt redet und wem er das alles erzählt. Das Buch ist in der Ich-Form und im Präsens gehalten, so dass es so klingt, als spräche er aus der Wanne in ein Diktafon. Präsens und Ich-Form, das sollte man eigentlich im Schreibkurs lernen, geht niemals gut, weil man nicht während des Lebensvollzugs mitschreiben kann. Doch das ist nicht das einzige Problem dieser Prosabemühung. Melzer neigt zu einer Überfülle an Metaphern und Wie-Vergleichen, die nie ganz stimmig sind. So heißt es beispielsweise: Ziellos wie Zugvögel ohne Magnetfeld bleibe ich, wo ich bin. Quelle: Tine Melzer – Do Re Mi Fa So Aber Zugvögel bleiben nun mal nicht, wo sie sind, und wenn das Magnetfeld sich verändert, fliegen sie in die Irre. Auch wenn es sich um Figurenrede handelt, muss man ja nicht jeden Unsinn zu Papier bringen. Zu derlei Ungenauigkeiten kommen Sätze, über die man lange und vergeblich nachdenkt: Ich wohne der Geburt der Stimme aus dem Inneren des Radiomoderators bei. Quelle: Tine Melzer – Do Re Mi Fa So Kraftlos in der Badewanne Vom Beiwohnen mal ganz abgesehen: Ist damit vielleicht der kleine Mann im Inneren des Radios gemeint? Aber wieso gebärt er eine Stimme? Man könnte darüber hinweglesen, wenn der arme Romanheld mehr zu bieten hätte, als über Socken und Strümpfe nachzudenken. Wenn es wenigsten um Musik und sein Leben als Musiker ginge. Aber das kommt nur beiläufig und ganz am Rande vor. Am Ende wird es ihm selbst zu fad in der Wanne, doch er hat nicht mehr die Kraft auszusteigen. Erst als der gute Geist Franz dann auch die Geduld verliert und nicht mehr mit leckerem Essen und Getränken erscheint, ist Sebastian gezwungen aufzustehen und das Haus zu verlassen. Danke, möchte man ihm zurufen. Endlich! Seine abschließende Frage, wer ihn wohl vermissen würde, wenn er nicht wiederkäme, lässt sich präzise mit „Niemand“ beantworten.…
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Das Werkverzeichnis von Gerhard Richter besteht aus sechs Bänden mit rund viertausend Arbeiten, entstanden in einem Zeitraum von fast sechzig Jahren. Abstraktion, Fotorealismus, Farbexperimente, Computermalerei. Wie kann ein Buch ein solches Werk fassen? Zumal sich der Künstler selbst am liebsten in Schweigen hüllt. Gerhard Richters Vagheit setzt Uwe Schneede Genauigkeit entgegen. Beim Lesen werden die inneren Zusammenhänge in dem vielgestaltigen Gesamtwerk deutlich, die Wechselbeziehung zwischen abstrakter und gegenständlicher Malerei. Das Ungewöhnliche ist, dass Richter die Formen gleichzeitig nutzt. Immer auf der Suche nach unbekannten Bildern. Er hat also nicht eine Vorstellung davon, wie das Bild am Ende aussehen soll. Sondern er arbeitet so, dass er sich am Ende selbst überrascht. Deshalb ja der auf den ersten Blick merkwürdig klingende Satz von ihm: „Meine Bilder sind klüger als ich.“ Weil er eben immer über sich selbst hinaus zu gehen versucht in ein Neuland. Quelle: Uwe M. Schneede – Gerhard Richter Organische Darstellung disparater Werkkomplexe Gerhard Richter, 1932 in Dresden geboren, studierte dort an der Hochschule für Bildende Künste. Er verließ die DDR 1961. Die Aktionen nach der Begegnung mit Fluxus an der Düsseldorfer Akademie, die ersten fotorealistischen Bilder, die Aufarbeitung der Familiengeschichte im Nationalsozialismus – diese sehr disparaten Werkkomplexe scheinen in dem Buch „Der unbedingte Maler“ fast organisch ineinander zu greifen. Schneede legt Wert darauf, Richters Abstraktionen von der informellen Malerei abzugrenzen: Und zwar ist ja das Informel geprägt durch den unmittelbaren, psychischen, schnellen Niederschlag auf der Leinwand, so dass auf der Leinwand auch die Emotionen des Schöpfers zu erfahren sind. Gerhard Richter arbeitet überhaupt nicht schnell, sondern überaus langsam und gezielt und mühsam auch und damit auch auf eine gewisse Art bewusst und nicht, um etwas Unbewusstes in sich hervorzubringen. Quelle: Uwe M. Schneede – Gerhard Richter Gerhard Richter, der skeptische Maler Uwe Schneedes sprachliche Präzision folgt der Sinnlichkeit von Gerhard Richters Malerei. Er spricht von „Schichtungen und Häutungen“, vom „zeitwidrigen Eigensinn“ des Künstlers und bleibt auch bei Richters schwergewichtigen Themen genau. Den grabdunklen Zyklus zu den Selbstmorden der RAF-Terroristen in Stuttgart Stammheim am 18.Oktober 1977 oder den Zyklus zu Auschwitz-Birkenau, der im Reichstagsgebäude hängt, kann man als monumental empfinden. Uwe Schneede widerspricht: Also monumental finde ich sein Werk überhaupt nicht. Monumental enthält immer pathetische Elemente. Aber das ist es nicht. Ich denke, selbst da, wo er richtig große Werke wie für das Reichstagsgebäude in Berlin geschaffen hat, selbst da herrscht immer noch die ihm eigentümliche Skepsis. Er ist immer sehr zurückhaltend und in allem, was er äußert, auch was er malt, ein Skeptiker. Quelle: Uwe M. Schneede – Gerhard Richter Glasklare Analyse von Richters Gesamtwerk In dem Buch begegnen sich zwei Unbestechliche. Chronologisch aufgebaut kann man den Band wie eine klassische Biografie lesen und doch ist „Der unbedingte Maler“ viel mehr. Eine glasklare Analyse des Gesamtwerks, das Gerhard Richter mit 85 Jahren für abgeschlossen erklärt hat. Und die Ehrung eines Künstlers, der sich allen Kategorien verweigert. Gerhard Richter ist – finde ich – das Inbild eines bürgerlichen Künstlers. So versteht er sich auch selbst. Nur, dass er in seiner Malerei ein Revolutionär ist. Das ist ein gewisser Widerspruch. Ich finde den aber besonders interessant. Quelle: Uwe M. Schneede – Gerhard Richter…
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„Lo-li-ta“ - drei Silben, ein Name, der nicht zu trennen ist von Vladimir Nabokovs Roman von 1955. Damals war das Buch ein Skandal. Heute ist „Lolita“ ein Teil der Popkultur. Bis heute steht „Lolita“ verharmlosend für die „verführerische Kindfrau“. Eine andere Perspektive nimmt die Schauspielerin und Autorin Lea Ruckpaul in ihrem Roman „Bye Bye Lolita“ ein. Aus der Perspektive der erwachsenen Dolores Haze erfahren wir, welche Gewalt und wie viel Schmerz Lolita erfahren musste. Eine Abrechnung mit Humbert Humbert und mit unserer Gesellschaft. Lea Ruckpaul im Gespräch In „Bye Bye Lolita“ schreibt sich Dolores Haze an Humbert Humbert auf den Seiten seines Taschenkalenders an. Im „lesenswert Magazin" erzählt Lea Ruckpaul wie sie sich im Schreibprozess an Nabokovs Roman angenähert hat. Was hat Ruckpaul an der Figur „Lolita“ so interessiert? Das erzählt sie Kristine Harthauer.…
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Mein Name ist Frank Hertweck, ich bin Leiter der Literatur im SWR. Und das Buch, das ich zur Lektüre, genauer zum Wiederlesen mitgebracht habe, sind die Dichtungen und Briefe von Georg Trakl. Wiederlesen, weil sicher die meisten im Deutschunterricht der Schule Georg Trakl gelesen haben, eben und vor allem seine Herbstgedichte. „Gewaltig endet so das Jahr“ heißt es im berühmtesten: Verklärter Herbst“. Trakl ist neben Rainer Maria Rilke sozusagen DER Herbstdichter. Bei ihm ist das, was den Herbst auszeichnet, der langsame Übergang, das Ineinanderfließen der Farben, das Nebulöse, nicht ganz scharf gezeichnete, immer mehr zum Prinzip seiner Dichtung geworden, weil er die Farben und Dinge so kombiniert, dass einem die Wirklichkeit entgleitet. Inwieweit seine Drogenabhängigkeit, die regelmäßige Einnahme von Opium, Veronal, Kokain, er betäubte sich mit Chloroform, alles Drogen oder Medikamente, an die der ausgebildete Apotheker leicht herankam, damit zusammenhängen, lässt sich schwer bestimmen. Eines ist sicher: Der Herbst ist in seinem lyrischen Schaffen gar keine Jahreszeit, sondern eine Lebenshaltung. Kurz: Es kann auch in seinem Sommer herbsteln. Diese Gedichte zu lesen und wieder zu lesen, dafür bieten sich die dunklen Abende an. Um auf Zeilen zu treffen wie: Leise verfallen die Lüfte am einsamen Hügel, Die kahlen Mauern des herbstlichen Hains. Unter Dornenbogen O mein Bruder steigen wir blinde Zeiger gen Mitternacht. Quelle: Georg Trakl – Dichtungen und Briefe…
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Ich, Nina Wolf, düse an diesen langen, verregneten Herbsttagen lektüremäßig in den Weltraum. Genauer: Auf den kolonisierten Mars. Kim Stanley Robinsons „Marstrilogie“ bringt es insgesamt auf über 2700 Seiten. Die drei Bände „Roter Mars“, „Grüner Mars“ und „Blauer Mars“ sind mit diesem Umfang ein perfektes Endjahresleseprojekt. Erschienen ist der erste Teil dieser Science Fiction Reihe vor knapp 32 Jahren, 1992. Die Trilogie spielt in unserer nahen Zukunft. Band eins beginnt mit der Marsbesiedlung im Jahr 2026 und lockt mit der Verheißung einer vielschichtigen Geschichte – nicht nur eine technische Utopie, sondern auch ein soziales und politisches Experiment. Die Marsbesiedlung als letzter Ausweg der Erdbevölkerung, Umweltfragen, Ressourcenverteilung – Robinson verwebt utopische und dystopische Visionen miteinander. Und das nicht prognostisch, sondern deskriptiv. Science Fiction als Gedankenexperiment: Eine Methode, die Robinson sicher von Sci-Fi-Legende Ursula K. Le Guin gelernt hat, mit der der amerikanische Schriftsteller lange zusammen arbeitete. Mein Herbst- und Marsmission mit Kim Stanley Robinsons Trilogie lautet also: In eine Welt der möglichen und unmöglichen Zukünfte eintauchen und so vielleicht die Fragen der Gegenwart aus einer neuen Perspektive zu betrachten.…
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Scrollen Sie mal einen Tag durch Instagram oder TikTok! Oder stöbern Sie in dieser einen Ecke der Buchhandlung mit den bunten Covern und den markigen Sätzen, sie kennen sie sicher. Sie werden glücklich sein. Denn offensichtlich ist alles möglich. Ob das nun Erfolg im Beruf ist, der Traumpartner oder ein langes, gesundes Leben inklusive Marathon mit 87. Mit diesen zwölf Schritten, jenen neun Lebensmitteln – Stichwort Kurkuma! – oder mit ein bisschen Selbstdisziplin, natürlich. Übrigens, klicken Sie mal auf diesen Link, da sind die entsprechenden Tipps zu kaufen. Zum Sonderangebot! Die Comicautorin Liv Strömquist ist fasziniert von dieser Kultur der Selbstoptimierung. Strömquist meint im Gespräch: Diese Kultur gibt es schon lange, aber über die letzten Jahre hat sie mehr und mehr Leute erreicht, ist immer mehr zum Mainstream geworden. Und jetzt scheint irgendwie jeder in diese Art zu Denken verwickelt zu sein. Quelle: Liv Strömquist im SWR Kultur lesenswert Magazin Kein Drehbuch mehr fürs Leben In ihrem neuen Comicband „Das Orakel spricht“ geht Liv Strömquist auf knapp 250 Seiten vielen Beispielen nach. Zum Beispiel den Fitness-Tracker, die den Schlaf, das Cholesterin und den Blutdruck messen – und uns damit vorgaukeln, mit den richtigen Werten wären wir unsterblich. Oder den frauenfeindlichen Influencern der Manosphere, die überzeugt sind, ihre Alpha-Männer-Techniken würden sie unverletzlich in der Liebe machen. All die Dinge also, die uns glauben lassen, Leid, Tod und Schmerzen ließen sich mit ein bisschen Anstrengung und Planung aus dem Leben verbannen. Willkommen in der Postmoderne! Liv Strömquist sagt: „Die Zeit, in der wir leben, ist eine, die dem Ich viel abverlangt, denn das Ich muss ständig Entscheidungen treffen und die besten Entscheidungen treffen: Wer bin ich? Bin ich glücklich? Gibt es vielleicht etwas anderes, das mich glücklicher macht? Man hat nicht mehr wirklich ein Drehbuch dafür, wie man sein Leben leben soll. Deshalb die ständige Selbstbeobachtung, und das ist etwas, das wir viel mehr tun muss als frühere Generationen." Doch „Das Orakel spricht“ wäre kein typischer Liv Strömquist-Comic, wenn er bei der Diagnose stehenbliebe. Auf der Suche nach Antworten rührt Strömquist in sieben Kapiteln alle möglichen Ansätze zusammen. Philosophinnen wie Eva Illouz kommen zu Wort oder Soziologen wie Hartmut Rosa. Aber Strömquist greift auch auf die heilige Katharina von Siena, den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan oder antike Mythen zurück. Wer auch immer etwas zum Thema zu sagen hat. So sagt Strömquist: „Ich arbeite sehr intuitiv, das habe ich schon immer so gemacht. Wenn ich das Gefühl habe: ,Oh mein Gott, das ist so interessant', dann qualifiziert das eine Theorie dafür, in das Buch aufgenommen zu werden. Es muss also etwas Unerwartetes sein. Etwas, das mich aufregt und glücklich macht." Der Ratschlag wird zur Ware Wie eben das titelgebende Orakel von Delphi, für die Autorin die Urmutter aller Ratgeber und Influencer. Das Orakel war, soweit lässt sich archäologisch belegen, wohl berauscht von den giftigen Dämpfen aus einer Erdspalte, über der sein Tempel gebaut war. Strömquist meint: „Das Orakel von Delphi antwortete in einer Art Rätsel, denn es war high. Also sagte sie etwas, das sehr offen für Interpretationen war. Und das kann besser sein als ein Rat, der sehr konkret ist, der ist autoritärer. Die Person, die ihn bekommt, hat nicht viel Spielraum, für ihre eigene Perspektive, also den Rat so umzusetzen, wie es für sie Sinn macht. Im Ratgeber kreuzen sich bei Strömquist postmoderne Steuerungs-Fantasien und kapitalistische Verwertungslogik. Der Selfhelp-Guru ist die Figur der Stunde, ob es dabei um den richtigen Schlaf, die beste Ernährung oder Erziehung oder das Liebesleben geht. Die vermeintlichen Aufstiegsgeschichten der Gurus sind ihre Ware. Und gleichzeitig, so seziert Strömquist, die moralische Legitimation für den eigenen Reichtum, die eigenen Privilegien. Denn dass die Welt möglicherweise ungerecht, planlos, willkürlich sein könnte – diesem Horror müssen wir mit Anstrengung und Leistung begegnen. Etwas, von dem Liv Strömquist wundersamerweise verschont geblieben zu sein scheint: „Den Menschen wird oft gesagt, sie sollten sich Ziele setzen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht ein Ziel gehabt. Ich hatte nie das Ziel, Comiczeichnerin oder so etwas zu werden. Kreativität als Ausbruch Strömquist unterwandert mit ihren bunten Panels jeden Anspruch auf Wahrheit oder Autorität, den ihre Figuren vermarkten. Text und Bild sind lustvoll skeptisch gegenüber dem, was sie zeigen. Dabei sei sie keine begnadete Zeichnerin, gibt Strömquist unumwunden zu. Auch diese Geschichte erzählt sie mit zweidimensionalen, flächigen Panels, ihrem Stil bleibt sie treu. Form und Inhalt aber passen in „Das Orakel spricht“ besser zusammen als in ihren anderen Büchern. Nicht perfekt geführt, nicht geradlinig, sondern mäandernd bewegt man sich als Leserin durch den Comic. Und nimmt damit gleichzeitig am kreativen Prozess der Autorin teil – immerhin Widerstand im Kleinen. Es ist eher wie ein Spaziergang im Wald, bei dem man etwas findet und dann wieder etwas anderes, bei dem man etwas Schönes sieht und versucht, eine gewisse Stimmung zu erzeugen. Quelle: Liv Strömquist…
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Mysteriöse Kriminalgeschichten und geheimnisvolle Charaktere gehören für Katrin Ackermann genauso zu einem gelungenen Herbst wie Pumpkin Spice und die „Gilmore Girls“. Auf ihrem Stapel ungelesener Bücher liegt passenderweise der Psychothriller „Seltsame Sally Diamond“ der irischen Autorin Liz Nugent. Psychothriller mit kurioser Hauptfigur Seltsam – wie der Titel es vorhersagt – soll die Hauptfigur Sally deshalb sein, weil sie ihre Gefühle schlecht zum Ausdruck bringen kann, Ironie nicht versteht und in zwischenmenschlichen Situationen oft überfragt ist. Ihre kuriose Art hängt sicher auch mit ihrer Vergangenheit zusammen. Denn Sallys Vater war ein Kidnapper, der ihre Mutter entführte und in einem Versteck gefangen hielt, in dem Sally auch geboren wurde und die ersten fünf Jahre ihres Lebens verbrachte. „Entsorg mich mit dem Müll!“ Jahrzehnte später wird sie verdächtigt, ihren Stiefvater ermordet zu haben. Kurz vor seinem Tod hatte er ihr gesagt: „Entsorg mich mit dem Müll“. Dem geht Sally schließlich nach. Plötzlich interessieren sich jede Menge Menschen für sie – nicht nur die Polizei und die Medien, sondern auch ein mysteriöser fremder Mann, der Sally gut zu kennen scheint. Für Katrin Ackermann klingt das nach einer fesselnden und geheimnisvollen Geschichte mit einer spannenden Protagonistin. Die „Gilmore Girls“ müssen warten, zuerst geht es mit der Lektüre von „Seltsame Sally Diamond“ von Liz Nugent weiter.…
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Dies ist ein Buch über Lustbefriedigung, über den Genuss, Begierde und Glamour – denn all das ist „Pleasure“ wie es in diesem Erkundungsbuch über das gute Leben steht: die Fähigkeit Genuss zu empfinden. Pleasure, sagt Jovana Reisinger, sei sehr individuell, kann aber grundsätzlich sehr viel, fast alles sein: „Einen sehr guten Kaffee trinken oder ein anderes tolles Getränk, etwas Tolles zu essen. Aber auch das Ausschlafen. Ich sag ja die ganze Zeit, mein größter Luxus ist es tatsächlich auszuschlafen, und zwar nicht im Sinne von sehr lange schlafen und dann irgendwie den Tag zu vertrödeln, sondern aufzuwachen ohne Wecker und tatsächlich ausgeschlafen zu sein. So wie ich auch sage, dass mein größter Luxus ist, in Ruhe arbeiten zu können und das wiederum befriedigt mich ja auch total, das heißt, das ist auch für mich Pleasure." Jovana Reisinger ist Single und will es auch sein. Sie ist selbstbestimmte Künstlerin und Autorin, sie liebt Events wie den roten Gala-Teppich, Partys, teure Restaurants, viele Liebhaber und vor allem Designer-Mode. Ich will die Liebe, den Sex, die Romanze, den Erfolg, die Selbstbestimmtheit, das Geld, die Sorglosigkeit, die Karriere, das Outfit, die Gesundheit, den Fame, die Geschenke. Ich will mich nicht dafür schämen müssen – weder dafür, dass ich über meine Grenzen gehe, um manches davon zu bekommen, noch dafür, dass ich manches davon bekomme, und es mich glücklich macht. Quelle: Jovana Reisinger – Pleasure Traum vom Reichtum Der Autorin war all das ursprünglich nicht mitgegeben. Aufgewachsen in einer Kulisse der Armut, wie es heißt, mit Eltern, die eine Dorf-Wirtschaft betrieben – träumte sie sich seit ihrer Kindheit in die Welt der Reichen, die sie aus den Medien kannte. Paris Hilton als das erste große Vorbild oder später Carrie Bradshaw aus der Serie Sex and the City: die schreibende Frau in High-Heels mit der Designer-Handtasche. Wer darf wie genießen? Das Buch ist deshalb auch das Zeugnis eines hart erarbeiteten Aufstiegs und eine Analyse von Klassismus. Es untersucht anhand von drei Kategorien – Kleidung, Essen und Schlaf – welche Form des Genusses für wen gesellschaftlich bestimmt ist. Welche sozialen Zuschreibungen finden sich in der Mode, in der Auswahl der Speisen und in dem Luxus der Erholung? Jovana Reisinger hat erlebt, dass Herkunft im Kulturbetrieb oft ein Grund für Abwertung ist. Bei einer Filmgala wird sie gefragt, was sie als Zitat „Prostituierte“ denn auf dem roten Teppich zu suchen hätte. Reisinger sagt dazu: „Also in dem Moment, wenn ich als Schriftstellerin, die ja durchaus ernst zu nehmende Bücher schreiben will - was auch immer das wieder bedeuten möchte – wenn die sich dann wiederum so anzieht, was als vulgär gelesen wird, dann passiert da auch wieder so eine Entwertung. Und genau in diese Lücken und genau in diese Spielräume, in genau die will ich rein. Und das wollte ich mir nochmal genauer angucken und deswegen wollte ich auch dieses Buch schreiben." Die Intellektuelle im Tussi-Look Verschiedenste Formen von Pleasure lassen sich also auch als Spielweise von unten begreifen, so will es das Buch verstanden wissen, bei der sich die normierenden Zuschreibungen unterwandern und neu definieren lassen. Im Tussi-Look klug und eloquent sein, Männer zu Objekten machen in Spitzenunterwäsche, mit viel zu langen Fingernägeln den Essay schreiben. So Reisinger: „Ich behaupte eben auch, dass es durchaus ein politisches Moment haben kann, eine politische Bewegung haben kann, wenn es nämlich von unten nach oben geht. Also, wenn diese Leute, die vermeintlich nicht dazu gehören sollen zum elitären Literaturbetrieb, wenn die dann aber diesen Platz einnehmen und in diesem Sinne schon für Ärger sorgen." Ausschweifung als literarische Performance Diesen Ärger oder die Irritation performiert auch der Text in gewisser Weise. Er ist raumnehmend und ausschweifend, redundant und regelrecht maßlos: in seiner unerbittlichen Aufzählung von Designer-Labeln, Handtaschen, Kleidern und Heels, Restaurantbesuchen, Textnachrichten von Lovern und Hotelaufenthalten. Demonstrative Übertreibung Der Glam, der Sex, die Übertreibung, die Oberflächlichkeit und die unentwegte Selbstinszenierung machen dieses Buch aus, das zwischen Essay und ausuferndem Genussbericht hin und her schwingt. Die Frau, die alles will - hier wird sie erlebbar und gibt sich auch preis. Insofern ist literarisch bewiesen, was auch eine These des Buches darstellt: die Frau in ihrem Hunger nach Pleasure kann eine Herausforderung sein, vor allem für die Männer. Meine Nägel sind fertig. Sie sind obszön, geschmacklos und hinreißend sexy. Vor allem aber sind sie ein Zeichen meiner Selbstfürsorge. In den 60 Minuten ihrer Produktionszeit gebe ich meine Hände ab, kann nicht arbeiten, nichts erschaffen, niemandem dienlich sein. Quelle: Jovana Reisinger – Pleasure Konsum für den Wohlfühl-Feminismus Was das Buch wenig reflektiert, ist der Preis der Ausbeutung und Ungerechtigkeit, die mit diesem Hunger nach Konsum, der Befriedigung schaffen soll, verbunden ist. Die Frau, die sich die Nägel machen lässt, verschafft sich Pleasure und Erholung. Die Frau, die die Nägel machen muss, fällt aus dem Bild. Ein neoliberaler Geist weht somit durch den Essay, denn das Buch „Pleasure“ fragt nie nach Allianzen, nach Solidarität, nach Koalitionen. Ein radikal individueller Wohlfühl-Feminismus mit Mitteln des Konsums wird zur Schau gestellt, der letztlich einer Ethik entbehrt. Auf dem roten Teppich stirbt jede Frau für sich allein.…
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Dieses Mal im lesenswert Magazin: Neue Bücher von Liv Strömquist und Jovana Reisinger, einem Abgesang auf „Lolita“ und dem „Silent Reading“-Lesetrend
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1 Giorgio Scerbanenco, Paolo Bacilieri – Private Venus 5:52
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5:52Giorgio Scerbanenco wurde als Vladimir Serbanenko in der Ukraine geboren. Ende der 1920er Jahre floh er mit seiner italienischen Mutter nach Italien. Dort wurde er zu einem der Begründer des modernen italienischen Krimis. Bereits mit seinem ersten Buch „Venere privata“ gab er dem Genre einen neuen Dreh. Innovativ wie die Romane ist auch die Comicadaption, die der Zeichner Paolo Bacilieri vorgelegt hat. „Private Venus“ heißt der Band. Ein Comic mit Bildern, die auch abgebrühte Krimi-Leser*innen tief verunsichern können. Die Krimigeschichte kennt viele ungewöhnliche Ermittlerinnen und Ermittler. Duca Lamberti ist einer besonders ungewöhnlicher. Auch im Gefängnis hatten ihm die Nachtstunden besonders zu schaffen gemacht. Er war zwar gewappnet, erwartete die Welle von Gedanken und Erinnerungen, aber wenn sie dann über ihn hereinbrach, erschütterte sie ihn doch jedes Mal stärker, als er befürchtet hatte. Quelle: Giorgio Scerbanenco, Paolo Bacilieri – Private Venus Ein Arzt als Detektiv Duca Lamberti ist kein Kriminalist, sondern Arzt. Das heißt, er war Arzt, denn er hat während seiner Zeit als Klinikarzt einer totkranken, leidenden Patientin auf deren Wunsch eine tödliche Spritze verabreicht. Drei Jahre musste er dafür ins Gefängnis. Seine Zulassung wurde ihm entzogen. Er hatte alles falsch gemacht. Im Prozess hatten sie ihn gefragt, wie lange Signora Maldrigati gebettelt hatte, bis er einwilligte, ihr die tödliche Spritze zu geben. Er hätte vage bleiben sollen, sich nicht erinnern. Es war falsch gewesen genau zu antworten. Quelle: Giorgio Scerbanenco, Paolo Bacilieri – Private Venus Was treibt ihn an, diesen Arzt ohne Approbation. Es ist schwer zu erraten und die Zeichnungen von Paolo Bacilieri machen es einem nicht leicht. Das Gesicht von Duca Lamberti dominiert den Band, seine großen, mal suchenden, mal entsetzten Augen, die Adlernase, der verdrießliche Mund. Viele gezeichnete Stimmungswechsel in einem Gesicht. War es reines Mitleid, das ihn zur Sterbehilfe getrieben hat? Oder mehr der Abscheu vor seinen ärztlichen Kollegen, die am Bett der Todkranken gefühllos ihren baldigen Tod vorhersagen? Ich komme gerade aus dem Gefängnis, habe ein Urteil wegen Mordes auf dem Buckel. Immerhin mildernde Umstände. Hätte man mich heute Morgen hier mit einem Toten gefunden, nach einem feuchtfröhlichen Abend mit zwei leichten Mädchen… Sie ahnen nicht, wie fantasievoll Journalisten, wie argwöhnisch Polizisten sein können. Man hätte den Arzt ohne Zulassung postwendend wieder eingelocht. Quelle: Giorgio Scerbanenco, Paolo Bacilieri – Private Venus Die Krankheit ist die gesellschaftliche Gewalt Die Story beginnt mit der Entlassung von Duca Lamberti aus dem Gefängnis. Ein befreundeter Kommissar der Mailänder Polizei verschafft ihm einen Job. Er soll auf den erwachsenen Sohn eines Mailänder Unternehmers aufpassen, der ständig trinkt und schon bald einen Selbstmordversuch unternehmen wird. Doch der Arzt und Detektiv Duca Lamberti verbindet nicht nur aufgeschnittene Handgelenke. Er sucht nach den Ursachen der Krankheit. Und die Krankheit, mit der er es hier zu tun hat, ist keine individuelle, sondern eine gesellschaftliche. Der Detektiv und Arzt will vordringen zu den tiefen Wurzeln der Gewalt in der italienischen Nachkriegsgesellschaft. Prostitution verstehen, heißt die Gesellschaft verstehen Diese Gewalt kommt in dem Band „Private Venus“ vor allem aus den Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen. Seine Ermittlungen führen Duca Lamberti bald auf die Spuren eines internationalen Prostitutionsrings. Entscheidende Hilfe bekommt er von Livia Ussaro. Von einer jungen Frau, die nicht auf den Strich geht, um sich über Wasser zu halten, sondern weil sie Soziologin ist. Sie hat die These: Wer die Prostitution versteht, versteht auch die von Männern dominierte Gesellschaft. Hören Sie, allgemeine Fragen finde ich wirklich spannend, aber für meine Arbeit brauche ich mehr Details. Quelle: Giorgio Scerbanenco, Paolo Bacilieri – Private Venus Livia bringt Duca Lamberti auf die Spur des Mörders, der zwei ihrer Freundinnen auf dem Gewissen hat. Sie wird der Lockvogel für einen, der gnadenlos mordet, um seine Geschäftsinteressen zu schützen. Der Mann, den wir suchen, arbeitet ganz anders, auf einem ganz anderen Niveau. Er sucht Mädchen mit einem gewissen Stil. Wahrscheinlich beliefert er erstklassige Edelpuffs in Italien und im Ausland. Genau wie ein Import-Export-Unternehmen. Quelle: Giorgio Scerbanenco, Paolo Bacilieri – Private Venus Zeichnungen, die tief verunsichern Es ist eine Schattenwelt auf der Rückseite des „Dolce Vita“ im Italien der 1960er Jahre, die der Krimiautor Giorgio Scerbanenco beschrieben hat und die der Comickünstler Paolo Bacilieri jetzt zeichnet. Die Prostituierte und Soziologin Livia durchschaut die Verhältnisse schneller und genauer als die Männer um sie herum. Das hilft ihr nichts. Alle Männer, auch der ermittelnde Arzt Duca Lamberti benutzen sie für ihre Interessen. Am Ende des Bandes schauen wir unvermittelt in ihr durch Messerschnitte entstelltes Gesicht – weit aufgerissene Augen und ein Schrei, der in dieser kalten Welt schnell verklingen wird. Dieses Bild ist ein gezeichneter Schockeffekt, aber die Verunsicherung, die dieser Comic erzeugt, ist viel subtiler. Paolo Bacilieri zeichnet das moderne Italien der Nachkriegszeit so, dass man sich in seinen Bildern nie sicher fühlen kann. Große Zeichnungen von Gesichtern und Körpern und Räumen und Straßen werden von kleinen Panels überlagert, die nur Details zeigen – eine fragmentierte Welt. Und auch die Sprechblasen gehen ständig ineinander über. Ein klares Gespräch in Rede und Gegenrede – unmöglich. Das Sprechen über die Welt – ein großes Durcheinander. In dieser Welt helfen nur kleine Schritte weiter. Giorgio Scerbanenco hat vier Krimis um den die Gesellschaft untersuchenden Arzt Duca Lamberti geschrieben. Man kann nur hoffen, dass der Zeichner Paolo Bacilieri sie alle zu Papier bringen wird. Schritt für Schritt.…
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1 Schweigen erwünscht – „The Silent Book Club“ in Heidelberg 3:43
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3:43Immer mehr Menschen fällt es anscheinend schwer, sich längere Zeit auf ein Buch zu konzentrieren – ohne zwischendrin immer wieder aufs Handy zu schauen oder aufzuspringen, um etwas zu essen oder trinken zu holen. Deswegen gibt es jetzt weltweit immer mehr Angebote von Buchhandlungen und Bibliotheken, bei denen Menschen zusammenkommen, um - jede und jeder für sich - eine Stunde lang konzentriert zu lesen, ohne Ablenkungsmöglichkeit und danach miteinander ins Gespräch kommen können. Leseclub in Heidelberg Natürlich kommt dieser Trend aus den USA und nennt sich „Silent Book Club“. Auch in Heidelberg am Deutsch-Amerikanischen Institut (DAI) gibt es einen solchen Leseclub. Die Bibliothek des Deutsch-Amerikanischen Instituts in Heidelberg hat hohe helle Räume mit Bücherregalen bis unter die Decke. Noch sind ein paar Kinder mit ihren Eltern da und einige Studierende, die sich noch schnell vor der Schließzeit ein paar Bücher ausleihen. Aber heute gehen hier um 18 Uhr noch nicht die Lichter aus, sondern – wie jeden zweiten Donnerstag – treffen sich Lesebegeisterte zum „Silent Book Club“. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer stehen schon in kleinen Grüppchen beisammen, andere stöbern noch in den Bücherregalen. Dann begrüßt Mitarbeiter Craig McSkimming alle Gäste: „So, welcome everybody to ,The Silent Book Club'!" Nicht nur das Buch ist spannend, auch die anderen Leser*innen An diesem Abend sind vier Männer und sechs Frauen gekommen, jüngere und ältere. Sie verteilen sich in dem großen Lesesaal. Manche machen es sich in den tiefen Ledersesseln bequem, andere setzen sich um die zwei großen Tische herum. Die meisten haben sich ihre eigenen Bücher mitgebracht. Ich nutze die Gelegenheit und greife zu einem Buch des amerikanischen Politologen Yasha Mounk. Doch es dauert eine Weile, bis ich mich konzentrieren kann. Ich bin neugierig, versuche, einen Blick auf die Buchcover zu erhaschen, möchte sehen, was die anderen so lesen. Und wie sie lesen: Hat die Frau neben mir etwa schon wieder eine Seite umgeblättert? Wie schnell liest sie denn! Rechts von mir schaltet eine jüngere Frau ihr E-Book an – eine andere Frau am Tisch steckt sich ihre Kopfhörer ins Ohr und lauscht ihrem Hörbuch. Der DAI-Mitarbeiter Craig bringt ein paar Kekse und Salzstangen an die Tische – ansonsten ist es ruhig, nur der Straßenlärm dringt in die Bibliothek. Ich vertiefe mich in mein Buch. Die Stunde geht viel zu schnell rum. Craig bittet alle, sich um den einen großen Tisch zu versammeln, er bringt Wein und Käse. Wer möchte, kann jetzt sein Buch vorstellen und seine Meinung dazu äußern. Nach dem Lesen wird geplaudert Nicht alle wollen gleich mitreden, aber am Schluss haben doch alle ihr Buch vorgestellt – die Bandbreite ist groß: ein Sachbuch zur eigenen Fortbildung, der Gewinnertitel des Deutschen Buchpreises, weil überall darüber gesprochen wird und ein eher leichtes, lustiges Buch, was man im Urlaub nicht fertig lesen konnte. Manche lesen auf englisch, andere auf deutsch. Und auch bei der anschließenden Gesprächsrunde spricht jeder in der Sprache seiner Wahl. Immer wieder fragen Teilnehmer*innen nochmal nach einem Titel oder Autor – der „Silent Book Club“ ist schließlich auch eine Möglichkeit, sich Lektüre-Anregungen zu holen. Aus dem „Stillen Lese“-Kreis ist eine muntere Gesprächsrunde geworden. Ein Treffpunkt auch für schüchterne Lesende Seit dem Frühjahr gibt es am DAI in HD den „Silent Book Club“. Bibliotheksmitarbeiterin Ingrid Stolz war am Anfang eher skeptisch als sie von diesem neuen Trend aus den USA gehört hat: „Ich fand es am Anfang gar nicht interessant. Ich habe gar nicht eingesehen, warum man sich treffen sollte, um sein eigenes Buch zu lesen. Aber wir hatten dann eine Praktikantin, die sehr schüchtern war, und die sagte: ,Doch, das ist für die Schüchternen Leute und nicht jeder möchte im Book Club so viel reden und das ist in den USA der ganz große Hype!' Und dann hab ich gedacht, wir probieren es mal aus und das wird gut angenommen. Und es kommen ganz neue Leute, die sonst nicht unbedingt zu den anderen Sachen kommen." Inzwischen hat sich ein harter Kern aus Literaturbegeisterten gebildet, der regelmäßig teilnimmt. Aber es kommen auch immer wieder neue Interessierte dazu, wie Monika, die schon nach einem Abend ein echter Fan des „Silent Book Clubs“ geworden ist: „Ich fand’s super und der erste Gedanke war, endlich eine Stunde ungestört lesen. Ich merk einfach selber, dass ich mich zuhause oft schwer tute, nicht dann irgendwohin zu gucken, den Tee zu machen. Es ist vor allem interessant, was andere Menschen lesen, wie man sich wieder verbindet, wer welche Bücher kennt, die na mir völlig vorbeigegangen sind. Ich werde gern wiederkommen."…
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Das ändert sich mit der neuen Übersetzung im Ecco Verlag, die SWR Kulturredakteurin Kristine Harthauer durch die kalten Herbstwochen tragen wird.
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Ich bin Anja Brockert, und auf meinem Herbst-Stapel liegt „Der Zauberer“ vom Colm Tóibín . Der irische Autor erzählt das Leben von Thomas Mann als Roman, schon vor drei Jahren erschienen, jetzt werde ich es zur Einstimmung ins Thomas-Mann-Jahr lesen: 2025 wird ja der 150. Geburtstag des „Zauberers“ gefeiert. So wurde Thomas Mann bekanntlich von seinen Kindern genannt, Zauberer, und Tóibín erzählt natürlich von der ganzen Familie Mann, vor allem aber von der Zerrissenheit des Schriftstellers, zwischen künstlerischer Arbeit und Bürgerlichkeit, zwischen Familie und homosexuellem Begehren. Ein „großartiger Künstlerroman“, heißt es im Klappentext, manche von Ihnen haben das Buch vielleicht schon gelesen, falls nicht, das sind die ersten 3 Sätze: Seine Mutter wartete oben, während die Dienstboten den Gästen Mäntel, Shawls und Hüten abnahmen. Bis alle in den Salon geleitet worden waren, blieb Julia Mann in ihrem Zimmer. Thomas und sein älterer Bruder Heinrich und ihre Schwestern Lulu und Carlo sahen vom ersten Treppenabsatz aus zu. Quelle: Colm Toíbín – Der Zauberer Da sind wir doch gleich mittendrin im Ambiente der wohlhabenden Lübecker Kaufmannsfamilie, in der Thomas Mann Ende des 19. Jahrhunderts aufgewachsen ist, und winken nicht auch leise die „Buddenbrooks“ im Hintergrund? Am Ende des Romans steht Thomas Mann wieder vor dem Lübecker Haus, das ist jetzt vernagelt. Über das ganze „Dazwischen“ – wie Thomas Mann zum legendären Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger wurde, seine Ehe mit Katia, das Exil, was ihn geprägt, geplagt und auch politisch bewegt hat, das wird mir Colm Tóibín in seinem Roman „Der Zauberer“ noch einmal erzählen, auf seine besondere, einfühlsame Weise. Hoffe ich.…
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Rund um Thomas Mann gibt es derzeit viele Jubiläen: „Der Zauberberg“, sein wohl bedeutendster Roman, ist vor exakt 100 Jahren erschienen. Und am 6. Juni 2025 gilt es dann, den 150. Geburtstag des Zauberers und Literatur-Nobelpreisträgers zu feiern. Ich muss gleich zwei Geständnisse machen. Erstens: Ich habe die klassische bundesdeutsche Thomas-Mann-Bildungskarriere durchlaufen. Mein Deutschlehrer verehrte Thomas Mann und ließ uns, Lehrplan hin oder her, sämtliche Erzählungen lesen. Und an der Universität geriet ich dann an den im Februar verstorbenen Germanisten Hermann Kurzke. Zwei enthusiastische Mann-Leser und Lehrer, deren Begeisterung auf mich abgefärbt hat. Geständnis Nummer zwei: Am „Doktor Faustus“ bin ich krachend gescheitert. Manns 1947 publizierter Roman über den Tonsetzer Adrian Leverkühn hat mich von jeher abgestoßen, von den ersten Zeilen an. Der komplizierte Satzbau, dieses hochtrabende Anheben, all die „Bewandtnisse“ und „Gegenwärtigungen“, der schwere deutsche Stoff – all das erschien mir fast wie eine unfreiwillige Selbstparodie eines großen Autors, ähnlich wie Thomas Bernhards letzter, vollkommen überschätzter Roman „Auslöschung“. Jetzt versuche ich es noch einmal mit dem „Doktor Faustus“: Der Audio Verlag hat Gert Westphals Lesungen der großen Romane Thomas Manns in einer Jubiläumsausgabe auf den Markt gebracht. Entstanden sind die Aufnahmen zwischen 1963 und 1993. Westphals intime Textkenntnis und sein feines Gespür für das Timing werden mir diesen Text nun endlich aufschließen. Hoffentlich. So werde ich in den Herbst und durch den Winter gehen, beim Autofahren, Geschirrspülen und im Fitness-Studio: Mit Gert Westphals Stimme im Ohr.…
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1 Vom Unglück und vom Trost: Katja Lewina und Miriam Böttger im Gespräch 27:37
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27:37Die Autorinnen Katja Lewina und Miriam Böttger im Gespräch (Aufzeichnungen vom 18. Oktober 2024 auf der ARD/ZDF-Bühne Buchmesse Frankfurt)
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
1 Michaela Krützen – Zeitverschwendung. Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur | Buchkritik 4:09
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4:09Mit was sich so alles Zeit verschwenden lässt! Man kann als Alt-Hippie angenehm bekifft und bowlend die Tage vergammeln, in einen Morgenrock gehüllt tagein tagaus auf dem Sofa bzw. Bett liegen oder sieben Jahre lang in einem Schweizer Sanatorium einen ominösen Katarrh pflegen. Sie haben die Zeittotschläger, von denen hier die Rede ist, möglicherweise schon erkannt. Es handelt sich bei allen um fiktive Figuren aus dem Film und der Literatur – um den „Big Lebowski“ gespielt von Jeff Bridges, um Ivan Gontscharows bettlägerigen Helden „Oblomow“ und um Hans Castorp, der erst mit Beginn des Ersten Weltkriegs wieder von Thomas Manns „Zauberberg“ heruntersteigt. Anhand dieser und ein paar Figuren mehr führt uns die Medienwissenschaftlerin Michaela Krützen durch das weite Themenfeld der „Zeitverschwendung“. (…) was als Zeitverschwendung gilt, charakterisiert jeweils das Verhältnis einer gesellschaftlichen Gruppierung zur Arbeit und zum Müßiggang, zum Geldverdienen und zur Muße. Was eine Welt als Zeitverschwendung brandmarkt, sagt aus, wie diese Welt ist. Quelle: Michaela Krützen – Zeitverschwendung. Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur „Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur“ lautet der Untertitel ihres umfangreichen Buches, das seinem Gegenstand mit detailgetreuen Nacherzählungen, genauen Analysen und theoretischem Überbau auf den Grund geht. Jedem Film und jedem Buch, jedem exemplarischen Gammler, jedem erbärmlich Wartenden und haltlosen Drifter stellt sie nämlich einen Theoretiker zur Seite, der nicht nur die jeweilige Figur erläutern helfen soll, sondern auch die spezifischen soziologischen und philosophischen Hintergründe, vor denen sich überhaupt von Zeitverschwendung sprechen lässt. Die Königin als It-Girl Um die Komplexität noch ein bisschen zu steigern, betrachtet sie manche Phänomene über Bande: So handelt das Anfangskapitel über Marie Antoinette und die aufwändigen Zeremonien am Hof Ludwigs XVI. nicht von der historischen Tochter Maria Theresias, sondern von jener Pop-Figur, die Sofia Coppola nach dem Vorbild der It-Girls der 2000er Jahre in ihrem Film über die Königin erschaffen hat. Zu ergründen versucht sie diese mit Norbert Elias‘ Studien zur höfischen Gesellschaft – was fast automatisch überleitet zu ihrem zweiten Gewährsmann, nämlich Patrick Bateman aus Bret Easton Ellis‘ Kultroman „American Psycho“. Dieser Prototyp eines Yuppies und maßlosen Konsumenten, in dessen rauschhaften Killerfantasien die hyperkapitalistische Ideologie zu sich kommt und der nur noch so tut, als gehe er einer Arbeit nach, wird mit Pierre Bourdieus soziologischem Klassiker „Die feinen Unterschiede“ als Lupe gelesen. Zeit entschlüsseln Vom Vergehen der Zeit und von wechselndem Zeitempfinden zu sprechen, braucht ebenfalls Zeit. Es geht immer auch um Verschiebungen in der Bewertung gesellschaftlicher Aufgaben und Verpflichtungen, um Fortschritt und Beharrung, politischen Aufbruch und Stillstand. Dabei schweift Krützen immer wieder zu anderen Kunstwerken und sogenannten „Verbindungsfiguren“ ab, um auf eine wesentliche Erkenntnis dieses Buches zusteuern zu können: Es gibt keine Zeitverschwendung; man kann Zeit lediglich als verschwendet bewerten. Quelle: Michaela Krützen – Zeitverschwendung. Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur Ein Mammutwerk, mit dem sich Zeit gewinnbringend verschwenden lässt Krützens Mammutwerk, mit dem sich Zeit ziemlich gewinnbringend verschwenden lässt, muss übrigens nicht chronologisch gelesen werden. Jedes Kapitel widmet sich einem bestimmten Aspekt der Zeitverschwendung oder einer bestimmten gesellschaftlichen und historischen Perspektive darauf; man kann nach Interesse hin- und herspringen. Ganz in die Gegenwart allerdings wagt sich Krützen nicht vor: Für die unmittelbare Erfahrung einer neuen digitalen Weltordnung von Social Media bis KI fehlen noch wirklich repräsentative Figuren in Literatur und Film. Möglicherweise aber ist gerade irgendwo eine Autorin oder ein Drehbuchschreiber dabei, eine solche Figur zu erschaffen. Zeitverschwendung hört niemals auf.…
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1 Melania G. Mazzucco – Die Villa der Architektin | Buchkritik 4:09
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4:09Plautilla Bricci wurde 1616 in Rom in die Familie eines autodidaktischen Künstlers hineingeboren, der sie in Zeichnen und Malen unterwies und später die Akademie eines berühmten Malers besuchen ließ – zu der Zeit ein seltenes Privileg für eine Frau. Dass diese Künstlertochter dann nicht nur als Malerin tätig wurde, sondern auch eine Villa und eine Kapelle entwerfen und realisieren durfte, war hingegen unerhört: Plautilla Bricci war die erste Architektin Europas, womöglich die erste der Welt. Ich war glücklich. Ich dachte, den Höhepunkt meines Lebens erreicht zu haben. Nie hätte ich etwas Derartiges zu hoffen gewagt. Wie auch? Keine Frau vor mir hatte je ein derartiges Gebäude ersonnen. Ich weiß nicht einmal, ob eine Frau jemals gewagt hatte, davon zu träumen. Quelle: Melania G. Mazzucco – Die Villa der Architektin … sinniert die Romanheldin beim feierlichen Spatenstich der Villa, die sie im Auftrag des Abtes Elpidio Benedetti entworfen hatte. Dass dieser später behaupten wird, die Villa sei ein Werk von Plautillas Bruder gewesen, konnte sie zu dem Zeitpunkt nicht ahnen. Im Roman figuriert Elpidio auch als ihr heimlicher Geliebter und macht dabei eine ziemlich schäbige Figur. Aber nicht nur von ihm wird die Künstlerin zurückgesetzt, weil sie eine Frau ist. Der Fluch der Herkunft und des Frauseins Mit welchen Entbehrungen, Rückschlägen und Demütigungen die Laufbahn der realen Plautilla Bricci verbunden war – das können wird uns nur vorstellen. Genau diese Grauzone zwischen Einbildung und Wahrscheinlichkeit lotet Melania Mazzucco aus – offenbar auch auf der Grundlage eingehender Studien über die römische Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Ihre Plautilla ist schon als Kind ein zartfühlendes und neugieriges Wesen, das die Welt um sich genau beäugt. Als sie einmal der Aufsicht der Eltern entkommt und sich in den Gassen Roms verirrt, stellt sie fest: Bei jedem Schritt laufe ich Gefahr, dass mich eine Kutsche überfährt und mich plattdrückt wie eine Pizza. Denn ich stehe mit offenem Mund da und bestaune die Kutschen. Nur wer eine Kutsche besitzt, ist in Rom wer. Ich habe noch nie in einer gesessen, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, von oben herab die Straße zu betrachten und die Armen, die zu Fuß gehen. Vielleicht gerade so, wie wenn ich die Ameisen betrachte, die am Boden in Reih und Glied marschieren. Quelle: Melania G. Mazzucco – Die Villa der Architektin Ihr Lebtag lang wird Plautilla unter einer doppelten Ungerechtigkeit leiden: jener der niederen Herkunft und jener des Frauseins in einer Welt, die für Frauen nur die Rollen der Gebärerin oder der Nonne vorsieht. Für die Männer, die ihre Zuneigung erwecken, kommt sie als Braut nicht infrage, weil sie keine Mitgift zu bieten hat. Zugleich scheint ihre künstlerische Berufung ein Eheleben auszuschließen. So umweht diese Romanheldin eine zutiefst melancholische Aura: Ihre Zeit verdammt sie dazu, weder ihre Ambitionen noch ihr Gefühlsleben vollends zu verwirklichen. Eine Hommage an das barocke Rom Dennoch: Was wäre Rom ohne jenes Jahrhundert? Ohne Bernini, Borromini und all die anderen Künstler, in deren Umfeld Plautilla Bricci lebte und wirkte? Dieser Umstand gibt der Autorin Gelegenheit, Seitenblicke auf das Leben jener Meister zu werfen, auf den Alltag in Werkstätten, wo Kunstwerke für die Ewigkeit entstanden, auf höfische Intrigen und päpstliche Launen, von denen Aufstieg und Fall eines jeden Künstlers abhingen. So erschafft sie aus Worten ein vielschichtiges, farbenfrohes Gemälde: eine Hommage an den Barock, seine Genies und an Rom, dessen Schönheit zu einem nicht unbeträchtlichen Teil ihr Werk ist.…
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1 Judith Kohlenberger – Gegen die neue Härte 4:09
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4:09Judith Kohlenbergers Domäne ist die Migrationsforschung. Die „neue Härte“, die sie konstatiert, manifestiert sich in ihren Augen vor allem im Umgang mit geflüchteten Menschen: An den EU-Außengrenzen herrscht mittlerweile eine quasi rechtsfreie Zone. Durch Bürgermilizen, (vermummte) Grenzpolizei und die europäische Grenzschutzagentur Frontex, die allesamt in Verdacht stehen, Treibjagden mit Hunden auf Geflüchtete zu veranstalten konnte sich entlang Europas Peripherie ein ,Gürtel der Gewalt‘ etablieren, der alles fernhalten soll, wovon die kontinentale Gesellschaft nicht berührt werden will. Quelle: Judith Kohlenberger – Gegen die neue Härte Abschottung funktioniert nicht Diese Brutalität, mit der sich das saturierte Europa das Elend der Welt vom Leib zu halten versucht, bringt gravierende Probleme mit sich, stellt Judith Kohlenberger fest. Zum einen funktioniert die Abschottung nicht – die Ankunftszahlen gehen nicht zurück – zum anderen verändert der offensive Mut zur Gefühllosigkeit auch die europäischen Gesellschaften selbst, so Kohlenberger, und zwar zu deren Nachteil: Was hat denn diese anhaltende, zunehmende Grenzgewalt vor allem der letzten zehn Jahre mit der Gesellschaft im Inneren gemacht? In der Art und Weise, wie wir unser Zusammenleben gestalten, nehme ich eine immer stärkere Verhärtung, einen stärkeren Rückzug ins Eigene bei gleichzeitiger Abwendung vom Anderen wahr. Und diese Abwendung vom Anderen, diese Abschottung und Härte gegenüber dem Anderen, die wurde an den Grenzen erprobt, eingeübt, kann man sagen – aber die hat sich fortgesetzt in andere Dimensionen unserer Gesellschaft. Quelle: Judith Kohlenberger Absolute Grenzenlosigkeit ist keine gute Idee Judith Kohlenbergers Buch ist ein Plädoyer für menschliche Zugewandtheit, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Neoliberalen Egozentrismus lehnt sie ebenso ab wie den neurechten Trend zur allumfassenden Fortifikation. Aber: Weichheit und grenzenlose Durchlässigkeit allein seien auch keine tauglichen Alternativen, betont die Kulturwissenschafterin: Dieses Buch ist weder ein Plädoyer für endlose Weichheit noch für grenzenlose Offenheit. Grenzenlosigkeit ist im Persönlichen wie im Politischen selten eine gute und nie eine gefahrlose Idee. Statt grenzenloser Offenheit braucht es ein realistischeres Konzept, um der neuen Härte zu begegnen. Die Eigenschaft, zugänglich zu sein, aber ohne dabei das Eigene über das andere oder das andere über das Eigene zu stellen. Offen und durchdringbar zu sein. Quelle: Judith Kohlenberger – Gegen die neue Härte Judith Kohlenberger formuliert in ihrem Buch ein demokratisches Grenz-Konzept. Statt Europa zur „Festung“ auszubauen, mehr noch als bisher, sollten die EU-Außengrenzen zum einen stabil sein, zum anderen aber Austausch und Fluktuation ermöglichen, etwa durch die Schaffung legaler Flucht- und Migrationsrouten: Ich sage immer, es braucht Durchlässigkeit an den Grenzen nach klaren Kriterien, wer kommen darf, wer bleiben darf – Kriterien, die gemeinsam erschlossen werden müssen, die gemeinsam auch aufrechterhalten werden müssen. Und wo klar nachvollziehbar ist für beide Seiten, wie denn Einreise und Ausreise gestaltet sind. Quelle: Judith Kohlenberger Weder starr noch nachgiebig Judith Kohlenberger ist überzeugt davon, dass sich Flucht und Migration deutlich besser managen lassen, als es die EU derzeit tut. Voraussetzung dafür sei allerdings eine „universalistische Empathie“. Von Abschottung und der aggressiven Abwehr von äußeren Einflüssen, wie es die Rechten und Rechtsradikalen fordern, hält Kohlenberger nichts. Übrigens auch auf individueller Ebene nicht. Leben heißt durchlässig sein. Weder starr noch grenzenlos nachgiebig, sondern beides gleichermaßen: hart und weich zugleich.…
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1 Deutscher Buchpreis 2024 | Martina Hefter: „Ich möchte etwas weitergeben“ 11:50
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11:50Die Autorin und Performancekünstlerin aus Leipzig habe einen »klug choreografierter Roman«, geschrieben, so das Urteil der Buchpreis-Jury. Chats mit Love Scammern Es geht in dem Buch um eine Performancekünstlerin und Tänzerin aus Leipzig, die tagsüber ihren an Multiple Sklerose erkrankten Partner pflegt und nachts mit Liebesschwindlern, sogenannten Love Scammern, chattet. Wir haben die Preisträgerin auf der Frankfurter Buchmesse getroffen und erfahren, wie sie mit der neuen Aufmerksamkeit umgeht und für was sie das Preisgeld einsetzen möchte.…
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1 Anne Applebaum: „Um zu verhindern, dass Rußland sein autokratisches politisches System verbreitet, müssen wir der Ukraine zum Sieg verhelfen – und zwar nicht nur für die Ukraine“ 5:38
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5:38Eine illusionsfreie Sicht auf Rußland nach der Krimannexion 2014 hätte vielleicht den Krieg 2022 verhindern können. Ein „Nie wieder“ bedeutet gerade nicht einen Frieden um jeden Preis, sondern einen Einsatz für Friede und Freiheit.
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1 Hey Italien, wie geht es Dir? – Das war die Frankfurter Buchmesse 54:59
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54:59Selten wurde so viel über ein Gastland vor Beginn der Frankfurter Buchmesse diskutiert wie dieses Jahr: Italien präsentiert sich unter dem Motto „Verwurzelt in der Zukunft“. Prominente Autoren wie den Mafia-Experten Roberto Saviano gehörten allerdings nicht zur offiziellen Delegation. Saviano war aber trotzdem da, eingeladen von seinem deutschen Verlag Hanser. Mit dem SWR Kultur lesenswert Magazin hat er exklusiv gesprochen. Roberto Saviano betont: „Die Deutschen müssen sehr aufmerksam die italienische Situation beobachten.“ Denn es könne durchaus sein, dass die Zukunft Deutschlands so werde wie die Gegenwart in Italien. Und die Deutschen müssten sehr aufpassen, dass sie nicht in diese Richtung gingen. Wie politisch aufgeladen war der Messe-Auftritt Italiens? Darüber sprechen wir mit der Italien-Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Karen Krüger. Und Italien ist nicht nur das Land großer Romane, sondern hat auch eine ganz eigene Comic-Kultur. Gerade erschienen ist der Band „Die große Illusion“ von Alessandro Tota, der in Comicbildern die Comicgeschichte erzählt. Unser Buchtipp. Friedenspreis an Anne Applebaum Beendet wurde die Buchmesse am Sonntag mit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Der geht dieses Jahr an die amerikanische Philosophin Anne Applebaum. Wofür sie steht, darüber sprechen wir mit SWR Kultur Literaturchef Frank Hertweck. Deutscher Buchpreis an Martina Hefter Den Auftakt zur Buchmessen-Woche bildete die Verleihung des Deutschen Buchpreises. Der geht dieses Jahr an die Leipziger Autorin Martina Hefter und ihr Buch „Hey guten Morgen, wie geht es Dir?“. Laut der Buchpreis-Jury ein „klug choreografierter Roman“ über moderne Heiratsschwindler. Wir sprechen mit der Preisträgerin. Neu auf der Messe: eine ganze Halle für New Adult New Adult-Bücher – also Bücher für junge Erwachsene, meist über pikante Themen wie Liebe und Sex – sind der Renner unter jungen Leser*innen. Besonders auf TikTok sprechen sie begeistert über Romanfiguren und Plots. Und dekorieren ihre Zimmer mit den farbenfrohen Covern. Ein großer Markt, das haben die Verlage erkannt und jetzt auch die Frankfurter Buchmesse. Die stellt zum ersten Mal der jungen Literatur eine eigene Halle zur Verfügung. Nina Wolf schaut sich dort um. Fazit nach der Messe-Woche Wie war sie nun, die 76. Frankfurter Buchmesse? Wir ziehen Bilanz mit SWR Kultur Literaturredakteur Carsten Otte. Und wir fragen die Besucher*innen: Wann und wo lest ihr am liebsten? Denn eine neue Studie des Statistischen Bundesamts zeigt, dass wir uns weniger Zeit zum Lesen nehmen als noch vor zehn Jahren. Durchschnittlich 27 Minuten in Deutschland pro Tag. Was hingegen stieg, ist die Fernsehzeit. Die beträgt durchschnittlich zwei Stunden und vier Minuten. Das muss sich ändern, finden die Besucher*innen der Buchmesse.…
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1 Roberto Saviano: Regierung Meloni ist rechtsextrem – Europa sollte sie nicht unterschätzen 3:51
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3:51SWR Kultur: Welche Eigenschaft, welche Charakteristik der Regierung Giorgia Meloni ist aus Ihrer Sicht die größte Gefahr für die italienische Demokratie? Roberto Saviano: Viele Dinge. Es ist so, dass diese Regierung systematisch Leute angreift und attackiert und es so unmöglich macht, noch frei zu sprechen. Die Situation entwickelt sich hin zu einer autoritären Verwaltung innerhalb eines demokratischen Staates. Das Sicherheitspaket, das die Regierung ausprobiert hat, erschwert es beispielsweise zu protestieren und verhindert, dass man frei sprechen kann. Was die Intellektuellen betrifft, hat Meloni mich zum Beispiel vor Gericht gestellt. Da zeigt sich ein systematischer Angriff auf Intellektuelle, die sich exponieren, indem sie Stellung beziehen. Das versetzt die italienische Demokratie in Alarmbereitschaft. SWR Kultur: Sie haben auf der Buchmesse gesagt, dass sich die Deutschen auch für die Schattenseiten Italiens interessieren. Interessieren sie sich denn auch für die Schattenseiten Melonis? Roberto Saviano: Die Deutschen müssen sehr aufmerksam die italienische Situation beobachten. Denn es kann durchaus sein, dass die Zukunft Deutschlands so wird wie die Gegenwart in Italien. Und die Deutschen müssen sehr aufpassen, dass sie nicht in diese Richtung gehen. Europa unterschätzt die Regierung Meloni. Sie halten sie für eine einfache konservative Regierung. Dabei ist es eine rechtsextreme Regierung, die die Institutionen manipuliert. Europa muss also aufpassen, dass das nicht zu anderen herüber schwappt. Im Moment hat Europa noch eine Zukunft, denn Italien zeigt, wozu die extreme Rechte fähig ist. SWR Kultur: Die italienische Kultur und vor allem die italienische Literatur hat nach 1945 eine klare antifaschistische Tradition. Wie gefährdet ist diese Tradition? Roberto Saviano: Sie ist sehr in Gefahr. Denn die Strategie dieser Regierung ist es, nicht den Faschismus in seiner Gesamtheit neu zu bewerten. Sie will antifaschistisch sein. Und antifaschistisch zu sein bedeutet, bestimmte Elemente aus der faschistischen Erfahrung zurückgewinnen zu können, ohne der Komplizenschaft bezichtigt zu werden. Sie nehmen einige Elemente des Faschismus und führen diese in die jetzige Gesellschaft, aber eben, ohne dass es dabei auffällt, dass sie faschistisch sind. SWR Kultur: Der Jurist und Mafiajäger Giovanni Falcone wurde 1992 ermordet. Das war eine Zeit großer politischer Umwälzungen in Italien, und 1994 war dann Silvio Berlusconi an der Macht. Hat damals etwas begonnen, dessen Ergebnis wir heute erleben? Roberto Saviano: Falcone hat die Welt verändert und das ist keine Übertreibung. Denn wenn heute irgendwo in der Welt Strukturen von organisierter Kriminalität bekämpft werden, dann nach seiner Methode. Nur leider haben seine Methode und seine demokratische Strenge auch in der Justiz heute in Italien nicht sehr viele Erben. SWR Kultur: Danke für ihre Zeit! Roberto Saviano: Ich danke Ihnen!…
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1 „Die Autorinnen lassen sich keinen Maulkorb verpassen“. FAZ-Journalistin Karen Krüger über Gastland Italien auf der Buchmesse 8:24
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8:24Italien ist das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse und man würde wirklich gern über italienische Literatur sprechen und über die vielen Bücher, die zur Buchmesse auf Deutsch erschienen sind. Das Problem ist nur: Die italienische Kulturpolitik, die ganz im Zeichen der neofaschistischen Regierung von Giorgia Meloni steht. Karen Krüger, Italien-Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, moderierte einige Veranstaltungen mit italienischen Autor*innen auf der Buchmesse. Der Faschismus ist nicht vergessen Sie sagt, nur weil einige der Autor*innen auf der offiziellen Gastland-Bühne saßen, hätten sie sich „keinen Maulkorb“ verpassen lassen. Was viele aber schon beunruhige, sei das Motto das Gastlandes: „Verwurzelt in der Zukunft“. „Viele hatten das Gefühl, vielleicht soll uns da doch irgendwie gesagt werden, dass der Faschismus nicht doch so vergessen ist, wie man uns das Glauben machen möchte“, so Krüger.…
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1 Ukraine-Krieg und Nahost-Konflikt. Debatten von draußen bleiben auf der Frankfurter Buchmesse außen vor 9:41
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9:41Auch SWR Kultur Literaturredakteur Carsten Otte beobachtet auf dieser Frankfurter Buchmesse, dass zunehmend weniger Journalisten und Medien sich für den Stand der Ukraine und deren Veranstaltungen während der Messe interessieren: „Das ist zwar verständlich aufgrund all der anderen Konflikte. Aber es ist auch grauenhaft. Denn wir haben es hier nicht nur mit einem blutigen Konflikt zu tun, sondern auch mit einem Angriff auf eine Sprache, eine Kultur.“ Ein Roman, der mit literarischen Mitteln dagegen ankämpft, sei der dritte Teil des „Amadoka-Epos“ von Sofia Andruchowytsch, den Carsten Otte begeistert empfiehlt.…
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1 Neue New Adult Halle auf der Frankfurter Buchmesse 6:55
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6:55New Adult auf 8000 Quadratmetern Freitagnachmittag, viele junge New Adult Fans warten vor der Halle 1.2. Im Vorjahr brachte die Menge die Messehallen regelrecht zum Überlaufen, meint Dr. Torsten Casimir, Pressesprecher der Frankfurter Buchmesse: „Wir haben im vergangenen Jahr schon gemerkt, dass an denjenigen Verlagsständen, die für diese Zielgruppe auch Angebote haben, der Andrang so groß war, dass wir auf der verfügbaren Hallenfläche kaum noch gut organisieren und abbilden konnten.“ Nach den Besuchertagen im vergangenen Jahr sah sich die Frankfurter Buchmesse mit scharfer Kritik konfrontiert. Nun soll mit der neuen New Adult Halle ein Raum für die junge Leserschaft geschaffen werden, der auch eine Bühne für Diskussionen, Lesungen, Signierstunden und interaktive Fan-Aktionen bietet. Große Wartebereiche, Platz für Signierstunden und lange Warteschlangen Das sei zielgruppengerecht gedacht, so Casimir: „Was man da beobachtet, ist eine junge Leserschaft, die sich nicht nur verhält wie Lesende, sondern wie Fans. Die suchen die Nähe zu denjenigen Autorinnen und Autoren, die sie gerne lesen und die sie bewundern. Und diese Bewegung, die den Buchmarkt in Deutschland, aber auch in vielen anderen Buchmärkten stark wachsen lässt und stark belebt, geben wir einen großen Raum.“ Groß ist das Stichwort: Im Vergleich mit dem Angebot in den anderen Messehallen fällt auf, dass die Gänge im neuen New Adult Bereich extra breit gehalten wurden. Es gibt ausladende Relax-Zonen und Sitzareale. Vieles läuft online: Für Signierstunden und Fantreffen gibt es ein neues digitales Warteschlangen-Konzept. Publikumstickets gibt es nur vorab im Netz zu kaufen. Erfolg mit Dark Romance: Jane S. Wonda und das „Wondaversum“ Um die Stände, die einen besonders großen Andrang erwarten, ist viel Platz für das Schlangestehen eingeplant. Einer davon ist das „Wondaversum“. Die Münchnerin Jane S. Wonda ist Dark-Romance-Autorin, Verlagsgründerin und eine Größe in der Szene. Das „Wondaversum“ betreut am Messewochenende ein 20-köpfiges Team. Wonda selbst ist gespannt, wie ihre Fans das neue Konzept aufnehmen: „Man wird dann bei TikTok diese Videos dazu anschauen können, was denn die Blogger für die Fachbesuchertage sagen und was die Leser vom Wochenende sagen.“ Die gigantischen Dimensionen sind symbolisch für den Erfolg des New Adult Genres. Ob Romance, Fantasy, Dark Romance, queere Liebesromane oder Romantasy – die Nachfrage ist riesig. Die New Adult Community ist nicht nur auf der Suche nach Begegnungen mit ihren Lieblingsschriftstellerinnen, sondern auch nach den neuesten Trends. In vielen neuen Verlagsprogrammen vertreten: „Sports Romance“ – Liebesromane mit sportlichen Protagonisten. Besonders beliebt: Eishockey-Spieler als Love Interests. Viele schöne Bücher, Messeeditionen und schicke Farbschnittausgaben Die kaufkräftige Leserschaft legt Wert auf besondere Messeeditionen ihrer Lieblingsromane oder auf schicke Farbschnittausgaben. Im New-Adult-Kosmos ist vieles auch eine Frage des geschickten Marketings. Das weiß auch Jane S. Wonda, es ist Teil ihres Erfolgskonzepts: „Man muss natürlich als Selfpublisher auch schauen: Was sind die Trends? Was ist das Marketing? Gerade wenn man mit Social Media arbeitet. Jeder Influencer schaut, was passiert da eigentlich. Und das kann ich, denke ich, schon relativ gut in meinen Alltag so integrieren, so dass ich da immer up to date bin. Das war also auch ein bisschen Glück, weil auch dieses Genre von Amerika kommend verlangt wurde, sozusagen dieser Strom und das in Deutschland niemand bedient hat. Und dann konnte ich da Fuß fassen, sozusagen.“ Eine neue, junge Zielgruppe für die Frankfurter Buchmesse Mit der neuen Halle will die Frankfurter Buchmesse auch eine neue und jüngere Zielgruppe für den Buchmarkt gewinnen. So sagt Torsten Casimir: „Man kann ja nicht mit dem Publikum, das schon seit 20, 30 und noch mehr Jahren zur Buchmesse kommt und treu jedes Jahr wieder da ist, gemeinsam alt werden und dann war es eine schöne Zeit. Sondern man muss ja eben auch schauen, dass Buchmärkte auch nachwachsende Leserinnen-Generationen ansprechen. Und dabei müssen auch wir als Frankfurter Buchmesse - und wollen auch - behilflich sein. Das gehört eigentlich zur DNA der Frankfurter Buchmesse, das keine der anderen gleicht. Es passiert jedes Jahr irgendetwas Neues.“ Die drei Säulen der Messe: Publikumsveranstaltung, Fachmesse und Plattform für demokratischen Austausch Trotzdem: Ganz zur Publikumsveranstaltung möchte die Frankfurter Buchmesse nicht werden. Das sei nur eine der Säulen, die die Messe ausmachen. Auch ein wichtiges Element: Das Literaturagenten Zentrum in dem mit Buchrechten gehandelt wird. „Und unsere dritte Säule, über die wir bislang noch nicht gesprochen haben, bleibt ebenfalls ganz wichtig. Wir werden sie nicht kleiner werden lassen. Wir sind eine Plattform für den demokratischen, freien Austausch, für Freedom of Speech, Freedom of Publishing. Hier werden die Debatten geführt, auch die aktuellen Debatten, die uns weltweit beschäftigen,“ betont der Pressesprecher. Studiengänge rund ums Buch Zurück in Halle 1.2. In der Mitte der Halle ändert sich das räumliche Erscheinungsbild: Keine mit Blumen dekorierten Stände. Keine rosaroten Bücherwände. Keine New Adult Bühne. Keine Drachen, keine Romantik. Ein großer Bereich für die schnörkellose Wissenschaft: Aussteller präsentieren hier Ausbildungsberufe und Studiengänge rund ums Buch. Die Betriebe nutzen den New Adult Hype, um die neuen Buchbegeisterten in der Branche zu professionalisieren. Torsten Casimir weiß: „Wir möchten sie natürlich auch auf mittlere Frist an uns binden und als Kolleginnen und Kollegen bei uns haben, weil wir glauben, dass hier die alten Frauen und Männer, die eher zur Boomer-Generation gehören, anders als diese Millennials und die Jüngeren, die Dinge, die da draußen passieren, nicht mehr gut genug verstehen und nicht mehr schnell genug darauf reagieren.“ New Adult auch in Halle drei Die räumliche Abspaltung des New Adult Angebots ist also nur rein praktisch gedacht. Im Geiste möchte die Frankfurter Buchmesse die verschiedenen Lesegenerationen näherbringen. Trotzdem, einige Romance-Big-Player wie der LYX Verlag der Bastei Lübbe sind weiter in Halle drei untergebracht. Egal wo auf dem Messegelände: Um die New-Adult-Community führt kein Weg vorbei.…
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1 Thomas Hüetlin – „Man lebt sein Leben nur einmal“ 4:09
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4:09Marlene Dietrich sitzt vor dem Grand Hotel Excelsior am Lido in Venedig – in Gesellschaft ihres Entdeckers, Förderers und Liebhabers Josef von Sternberg. „Der Blaue Engel“ hatte Dietrich den Weg nach Hollywood geebnet, und als die Nazis um sie warben, blieb sie standhaft und kehrte nicht zurück nach Deutschland, obwohl ihr Stern in den USA schon zu sinken begann. Sie hatte nicht die geringste Lust, eine zweite Leni Riefenstahl und eine Trophäe von Reichsminister Goebbels zu werden. Es ist das Jahr 1937. Und da geschieht etwas, das ihr Leben in den darauffolgenden Jahren prägen wird: Ein gut aussehender Mann trat an den Tisch der beiden. Die Haare streng zurückgekämmt, leuchteten unter einer hohen Stirn zwei blaue Augen. Lebhaft, mit einem Schuss Melancholie, strahlten sie die Weltläufigkeit und Empfindsamkeit eines Gentlemans aus, der nicht durch ein Erbe, sondern eigene Arbeit zu Wohlstand gekommen war. Quelle: Thomas Hüetlin – Man lebt sein Leben nur einmal Der Hass auf die Nazis verbindet Der schmucke Mann heißt Erich Maria Remarque. Mit „Im Westen nichts Neues“ hat er einen Weltbestseller gelandet. Auch wenn er sich nicht als politischen Autor begreift und sich nicht engagiert, hasst er die Nazis und wird von diesen gehasst. Marlene Dietrich ist fasziniert von Männern, die etwas hermachen. Ihre Liste mit Liebhaberinnen und Liebhabern ist lang, aber mit Remarque verbindet sie mehr. Es war ein anderes Deutschland, das dieser Mann verkörperte. Ein Deutschland der Großzügigkeit. Nicht des Größenwahns. Quelle: Thomas Hüetlin – Man lebt sein Leben nur einmal Eine Amour fou, die sich gewaschen hat Was nun in diesem Jahr 1937 beginnt, ist eine Amour fou, die sich gewaschen hat. Der Autor und Journalist Thomas Hüetlin erzählt davon, als wäre er seinerzeit bei den Champagnerorgien oder den Schlafzimmergefechten dabei gewesen. Die Diva und der Intellektuelle sind beide getrieben. Billy Wilder attestierte Dietrich die „romantische Unreife einer 16-Jährigen“, die zuweilen „seelische Leberwurstbrote“ brauchte, wie sie selbst schrieb. Weder Dietrich noch Remarque scheren sich um Konventionen, alles Bürgerliche ist ihnen ein Graus. Sie lieben und fetzen sich. Mal bekocht sie ihn mütterlich mit deftigem Gulasch, mal ignoriert sie seine Liebesbotschaften wochenlang. Marlene verschleißt einen Liebhaber nach dem nächsten, aber auch Remarque hält nichts von Monogamie. Untreue gebe es gar nicht, konstatiert er. Marlenes Ehemann Rudi kümmert sich um die Organisation der komplizierten Liebesarrangements der Schauspielerin; er ist meist mit von der Partie, wenn sie zwischen Amerika und Europa hin- und herreist und neue Intimitäten sich anbahnen. Remarque, der am Hochstaplersyndrom leidet und zugleich selbstbewusst das Glamouröse sucht, zieht sich immer wieder ins Tessin zurück – um zu schreiben oder schmachtende Liebesbriefe nach Hollywood zu senden. Das kann alles nicht gut gehen. Tut es auch nicht. Leidenschaft und Beziehungsschlacht sind immer nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt. Er nannte sie ein ‚ekelhaftes Biest‘, sie schimpfte ihn einen ‚Provinztölpel‘. Quelle: Thomas Hüetlin – »Man lebt sein Leben nur einmal« Ein lohnender Blick durchs Schlüsselloch Die Geschichte dieses berühmten Liebespaares, das nach dem Krieg auch räumlichen Abstand voneinander nimmt, ist nicht unbekannt. Thomas Hüetlin erzählt sie anhand von Tagebucheinträgen und Briefen noch einmal neu und vor dem Hintergrund der Geschehnisse in Nazideutschland. Der dräuende Krieg und der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Nachbarn – das alles bildet die Folie, auf der die beiden ihre dramatisch-amourösen Szenen aufführen. Sie sind sich der politischen Umstände sehr bewusst – zugleich leben sie privilegiert in einem parallelen Kosmos, in dem das Ringen um Glück, die Schönheit der Melancholie und das Suhlen im Kummer mindestens ebenso viel Raum einnehmen wie die Verzweiflung über die Weltlage. Ob die Komposition des Buches – Hüetlin springt zwischen den Jahren und Schauplätzen munter hin und her – nicht nur originell, sondern zwingend ist, sei dahingestellt. Manchmal meint es Hüetlin ein wenig zu gut mit seiner Innensicht. Wenn er auf der Bettkante Platz nimmt, geht auch schon mal der Schmonzetten-Autor mit ihm durch. Aber fesselnd ist die Lektüre zweifellos, man sieht schon die Verfilmung vor sich.…
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1 Zidrou und Arno Monin – Die Adoption: Wajdi | Buchkritik 4:09
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4:09Bunt und schwungvoll gezeichnet nimmt „Die Adoption“ die Lesenden in Empfang. Zusammen mit den beiden Hauptfiguren Wajdi und seiner neuen Mutter Gaëlle betreten wir ein Haus mit großem Garten. Am Eingang der Junge aus dem Jemen, klein, dünn, immer Angst und Misstrauen im Blick. Drinnen die Mittelschichts-Familie, gut gekleidet, selbstsicher, geborgen in ihrem Idyll. Bilder und Dialoge verströmen die für franco-belgische Unterhaltungs-Comics typische Munterkeit. Auch im zweiten Band ihrer Reihe über Auslandsadoptionen lassen der Autor Zidrou und der Zeichner Arno Monin Welten aufeinanderprallen. Diesmal sind die Farben blasser, die Linien etwas schärfer gezogen als im ersten Teil. Denn ihre Hauptfigur, der zehnjährige Wajdi, ist tief traumatisiert. Er hat seine Familie verloren und Tausende Kilometer Flucht hinter sich. Seine neuen Eltern Gaëlle und Romain wollen ihm Gutes tun. Und freuen sich über ein drittes Kind. Doch Wajdi bleibt auf Distanz. Was seine neue Mutter nur schwer erträgt. Yusra: Und sonst ... Läuft alles gut? Hat sich Ihr Sohn schon ein bisschen eingewöhnt? Gaëlle: Mein S... Ach ja, Wajdi! (zögerlich:) Wie Sie sehen, hat er eine recht ausgeprägt Neigung, sein Revier zu markieren! Er ist mitunter etwas wild. Aber mit der Zeit wird sich das geben. Ich vermute, dass das Leben in den Flüchtlingslagern, wo er die letzten zwei Jahre verbracht hat, nicht immer leicht war. Quelle: Zidrou und Arno Monin – Die Adoption: Wajdi Ein traumatisiertes Kind in einer Mittelschichts-Idylle Wie einsam Wajdi sich fühlt, zeigen Autor und Zeichner in Szenen, die in der Nacht spielen, getaucht in kühles Blau. Wajdi ist schlaflos, er streift durchs Haus, während seine tote Mutter und seine Schwester als Geister durchs Fenster zu ihm hereinblicken. Oder er wälzt sich im Bett, eine winzige Gestalt im Panorama seines großen Zimmers. Solche Bilder, die ohne Worte viel erzählen, wechseln sich ab mit Episoden aus Wajdis Alltag. Er wird neu eingekleidet, lernt das Umfeld der Familie kennen. Doch immer wieder zeigt die Normalität Brüche. Wajdi reagiert auf Verhalten, das für seine französische Umgebung zum Alltag gehört, mit Gewalt. Bis hin zur Eskalation, als er rassistisch beleidigt wird. Es waren zwei Erwachsene nötig, um ihn daran zu hindern, dass er weiter auf diesen armen Jungen einschlägt. Das war keine Prügelei, (...), das war Krieg. (...) Wir haben diesen Jungen aufgenommen, wir schenken ihm ein Zuhause, wir schenken ihm all unsere Liebe ... und wie bedankt er sich dafür... ‚Er hat sein halbes Leben in der Hölle verbracht?‘ Tja, also seine Hölle hat er jetzt mit zu uns gebracht. Quelle: Zidrou und Arno Monin – Die Adoption: Wajdi Hier klingt der zentrale Konflikt an. Gaëlle sieht sich in ihren Erwartungen ans harmonische Familienleben enttäuscht. Da erstaunt es nicht, dass sie ein paar Seiten später die Adoption rückgängig machen will. Zidrou und Monin entlarven ihre Zuwendung als Bedürfnis, sich selbst aufzuwerten. Die Geschichte nimmt noch einmal Fahrt auf, als Wajdi aus seinem neuen Zuhause flieht. Die Adoption als Versuch, sich selbst aufzuwerten Spätestens hier entgleitet Autor und Zeichner ihre Geschichte. Sie erzählen von Fremdheit und den Erwartungen wohlhabender Europäer, von Alltags-Rassismus und gleich von mehreren Generationenkonflikten - immer im Bemühen, auch Momente von Komik und Rührung einzuflechten. Dabei bleiben die Bilder glatt und realistisch, nirgends findet sich eine optische Überraschung. Allein, dass Wajdi immer wieder seine tote Familie wie Figuren auf Porträt-Fotografien sieht, erinnert daran, was ein Comic mit nur einem Bild auszudrücken vermag. Aber die Frage, ob oder wie es dem Jungen vielleicht gelingt, trotz seiner Wut und Trauer in die neue Familie hineinzufinden, gerät Autor und Zeichner aus dem Blick. Am Ende geht es vor allem um Gaëlle und ihre Suche nach Wajdi, um ihr Verständnis von Mutterschaft. So flüssig sich „Die Adoption“ liest und so sehr man sich für Wajdi ein Happy End wünscht - es ist etwas zu glücklich und kommt nach all den Konflikten zu schnell. Die vielen kleinen Herzen, die sich über das letzte Bild ziehen, decken zu, was noch lange nicht gelöst ist.…
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Neapel ist die erste große europäische Stadt, die vom Faschismus befreit wird. Am 1. Oktober 1943 treffen die Amerikaner dort ein. Und bringen die „Pest“. Es ist eine Krankheit, die nicht den Körper, sondern die Seele zersetzt. Das faschistische Italien hat den Krieg mit den Deutschen „ruhmreich verloren“, wie es höhnisch heißt, um ihn an der Seite der Alliierten doch noch zu gewinnen. Neapel verwandelt sich in ein modernes Sodom und Gomorrha. Jede Frau scheint sich für eine Schachtel Zigaretten zu prostituieren, Väter bieten ihre Töchter für eine Dose corned beef den stämmigen Schwarzen Soldaten feil, die in der vorzüglichen Neuübersetzung von Frank Heibert nun nicht mehr mit dem N-Wort benannt werden. Aber ungeachtet der sprachlichen Korrektur: Es sind grelle, abgeschmackte, aber auch literarisch packende Szenen. Diese ekelhafte Haut Der Titel „Die Haut“ steht für die schlichte Tatsache, dass Menschen in Kriegszeiten vor allem eins zu retten versuchen: ‚Heute leidet und foltert man, mordet und stirbt, aber nicht mehr, um die eigene Seele zu retten, sondern nur, um die eigene Haut zu retten. (…) Diese ekelhafte Haut, seht Ihr?‘ Während ich dies sagte, kniff ich mit zwei Fingern die Haut auf dem Handrücken zusammen und zog sie hin und her. Quelle: Curzio Malaparte – Die Haut Irritierend und faszinierend ist der Aggregatzustand des Romans zwischen festen Tatsachen, flüssiger Kriegs-Kolportage und gasförmiger Phantastik. Soll man es denn glauben, dass noch während der Kämpfe die „sehnsüchtigen Scharen“ der Homosexuellen ganz Europas ihren Weg durch die deutschen Linien finden, um in Neapel mit den amerikanischen Soldaten Party zu machen? Unter dem Vulkan Soll man es glauben, dass zu allem Übel der Vesuv ausbricht, auch wenn das Inferno so anschaulich beschrieben wird, als wäre Malaparte einst schon in Pompeji dabei gewesen? Man muss wohl, denn im Frühjahr 1944 fand tatsächlich der letzte Ausbruch des Vulkans statt, bei dem achtzig Bomber der US-Air Force zerstört wurden. Und so stellt man es erst gar nicht in Frage, wenn Malaparte den banausischen O-Ton eines amerikanischen Generals wiedergibt, der beim Einmarsch in Rom erstmals das Kolosseum zu Gesicht bekommt: ‚What’s that?‘ schrie General Cork. ‚Das Kolosseum!‘, erwiderte ich. General Cork stand in seinem Jeep auf uns musterte das gigantische Skelett des Kolosseums lange, schweigend. Dann schrie er zu mir, einen Hauch Stolz in der Stimme: ‚Unsere Bomber haben gut gearbeitet, Malaparte!‘ Quelle: Curzio Malaparte – Die Haut Der „Clash“ der Zivilisationen wird als große Komödie inszeniert. Neapel, die „geheimnisvollste Stadt Europas“, ist für Malaparte, den mit allen Sümpfen vertrauten Moralisten, jedoch nicht zu begreifen mit hygienischer amerikanischer Vernunft. Poetik der Verunsicherung Der Erzähler setzt das europäische Grauen in Szene, etwa in den Beschreibungen erhängter Juden in der Ukraine, gespenstisch wispernd im „schwarzen Wind“, oder bei der Schilderung der Höllenqualen der phosphorverklebten Menschen im bombardierten Hamburg. Für Malapartes dunkle Komik steht dagegen das Kapitel über ein Abendessen bei General Cork, wo die Gäste durch die aufgetischte Speise stark verunsichert werden: Zum ersten Mal sah ich ein gekochtes, ein gesottenes Mädchen: und ich schwieg, von heiliger Ehrfurcht ergriffen. Alle um den Tisch waren bleich vor Entsetzen. Quelle: Curzio Malaparte – Die Haut „In Wahrheit“ handele es sich um einen seltenen, im Aquarium von Neapel gefangenen Sirenenfisch. Die Poetik der Verunsicherung hat Malaparte in dieser genialen Szene allegorisch verdichtet: Ist es ein Fisch? Ist es ein Mädchen? „Die Haut“ wurde vom Vatikan auf den Index gesetzt, die Stadt Neapel verhängte einen Bann über den Autor. Heute liest man das fesselnde Buch als düstere Zeitdiagnose und Meisterwerk wahrhaftiger Übertreibungskunst.…
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1 Erasmus von Rotterdam – Die Klage des Friedens 4:09
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4:09Seit fast drei Jahren schienen die Europäer von allen guten Geistern verlassen: Zu Millionen brachten sie sich gegenseitig um, zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Da trat der SPD-Politiker Philipp Scheidemann ans Rednerpult des Reichstages und warb für den Frieden. Ich halte es für die Pflicht aller klar und ruhig Denkenden in allen Ländern, dieses Spiel, das da mit Völkerleben gespielt wird, aufzudecken! Den Regierungen aller Länder zuzurufen: Es ist genug! Quelle: Philipp Scheidemann Der Frieden spricht selbst Philipp Scheidemann brachte auf den Punkt, was Erasmus von Rotterdam genau 400 Jahre zuvor geschrieben hatte: in seiner Klage des Friedens. Auf gut 70 Seiten lässt Erasmus den Frieden selbst sprechen, in der ersten Person Singular. Der Friede argumentiert auf drei Ebenen: Aus Sicht eines kühl berechnenden Menschen sei es unsinnig, Krieg zu führen - denn ein Krieg koste auch den Sieger nur Geld. Aus ethischer Sicht erklärt Erasmus den Krieg für verwerflich – denn nicht einmal Tiere ein und derselben Art brächten sich gegenseitig um. Vor allem aber argumentiert Erasmus auf Basis des Neuen Testaments mit seinem Aufruf zur Gewaltlosigkeit. Wenn jemand Krieg führe - was habe er dann noch beim Abendmahl zu suchen? Darf jemand wagen, zu jenem heiligen Tisch heranzutreten, zum Mahle des Friedens, der einen Krieg gegen Christen plant und sich anschickt, die zu vernichten, für deren Rettung Christus gestorben ist? Quelle: Erasmus von Rotterdam – Die Klage des Friedens Aggressoren rechtzeitig vorbeugen Ausgewichen ist Erasmus freilich der Frage, warum denn christliche Länder Krieg etwa gegen muslimische führten. Kein Wort dazu – nicht einmal der Hinweis auf die Gewaltlosigkeit Jesu selbst gegenüber den Menschen, die ihn seinerzeit schroff ablehnten. Wie sich ein Land verhalten solle, das von einem anderen angegriffen wird – dazu bleibt Erasmus schmallippig: er wünscht sich, der Aggressor möge in die Schranken gewiesen werden. Noch besser aber, wenn man frühzeitig vorbeugt: Die höchste Ehre erweise man denen, die einen Krieg verhindert und die Eintracht wiederhergestellt haben – schließlich auch dem, der alle Hebel in Bewegung setzt nicht dafür, daß er eine riesige Streitmacht auf die Beine stellt, sondern dafür, daß er ihrer gar nicht bedarf. Quelle: Erasmus von Rotterdam – Die Klage des Friedens Krieg sei also zu verhindern, konstatiert Erasmus, indem man zwei, drei Schritte vorausdenke: Wo könnte sich künftig Konfliktpotential zusammenbrauen – und wie macht man diesen Zündstoff möglichst schnell unschädlich? Auf Gegenwart übertragbar Auf heutige Denkansätze der internationalen Politik übertragen, redet der ziemlich pragmatische Erasmus gerade nicht einem blinden Idealismus das Wort – der würde im Interesse seiner hehren Grundsätze mit dem Kopf durch die Wand wollen. An solche Staatslenker, die sich partout im Recht glauben, wendet sich Erasmus unmittelbar: Meinst du vielleicht, es falle dir ein Zacken aus deiner Krone, wenn du eine Rechtsverletzung nachsiehst? Nein, im Gegenteil, es gibt keinen zwingenderen Beweis für eine niedere und ganz und gar unkönigliche Gesinnung, als Rache zu üben. Wenn nun der Frieden irgendeinen in deinen Augen ungerechten Punkt zu enthalten scheint, so denke ja nicht gleich: Das und das verliere ich, sondern: Um diesen Preis erkaufe ich den Frieden. Quelle: Erasmus von Rotterdam – Die Klage des Friedens Erasmus' Ansatz lässt sich also bis in die Gegenwart weiterspinnen: hin zum Neorealismus - einer Denkrichtung, die unter dem Eindruck der beiden Weltkriege entstand. Neorealismus kalkuliert ein, dass Staaten nun einmal gegensätzliche Interessen haben. Er versucht, sie auszubalancieren, bevor es zu spät ist. Wohl der beste Weg, um die unübersichtliche Welt von heute zu befrieden. Und da erscheint die Klage des Friedens des Erasmus von Rotterdam in dieser modern übersetzten Neuedition vielleicht genau zur richtigen Zeit.…
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Das lesenswert Magazin mit neuen Büchern von Richard Powers, Sibylle Berg und George Saunders. Und wir gratulieren Han Kang für die Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis.
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1 Sibylle Berg – Try Praying. Gedichte gegen den Weltuntergang | Buchkritik 3:30
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3:30Ja – try praying – versuch doch, zu beten, spottet Sibylle Berg. Es ist sozusagen das Letzte, was wir noch tun können im Endzeitmodus, den sie seit Jahren schon in ihren Werken nachzeichnet: Klimakatastrophe, Terror, Wirtschaftskrise, digitale Überwachung. Ihre Gebete dieses Mal: Gedichte. Ein freier Tag, ein leerer Tag, die Straßen, die Häuser tot, das Leben klein, das Licht zu hell, die Angst so groß, allein, allein in der Stadt an einem Tag wie feuchte Watte Quelle: Sibylle Berg – Try Praying Wir kennen das: Bei Frau Berg wird gegähnt, geschuftet, gehasst, gestorben, getötet – in den dunkelsten Farben, die die Sprache in petto hat. Für ihren fiesen Ton kann man sie lieben Mit ihren Figuren hat sie kein Erbarmen. Das ist auch in ihrer Lyrik nicht anders. Da überfährt die Tram die trauernde Witwe, der Freund wird im Schrank gefesselt nicht dass er von dem Glück wegrennt Quelle: Sibylle Berg – Try Praying oder eine frustrierte Person gibt sich Gewaltfantasien hin: Ich säble euch die Knie ab. Ich steppe froh auf eurem Darm. Ich press euch das Gesicht ins Grab. Weil ich dann gute Laune hab. Quelle: Sibylle Berg – Try Praying Für ihren fiesen Ton kann man Sibylle Berg lieben. Der hat etwas Schroffes, Echtes, auch erschreckend Welterkennendes. Die erzählerische Wucht, die ihr auf Romanlänge gelingt, funktioniert in ihrer Lyrik allerdings mäßig. Hier fehlt ihr offenbar der Raum, entscheidenden Kontext oder Atmosphäre mitzuliefern, was uns beim Lesen helfen könnte, ihr zu folgen. Vielleicht ist auch das formale Korsett schlichtweg zu eng für sie. Das liest sich wie eine ereignislose Fahrt im Pointen-Karussell. Nur manchmal springt ein Funke über. Etwa beim „Trennungsgedicht“: Der Durst ist nicht mit Tee zu stillen, wir sitzen fern – dazwischen leer. Da könnte man nicht drüber schwimmen, wir sind uns keine Insel mehr Quelle: Sibylle Berg – Try Praying Im Kreis der liebenswerten Looser Es sind gescheiterte, durchweg einsame Gestalten, die diese Gedichte bewohnen. Vom abgestumpften Pflegepersonal, über ausgebrannte Mitarbeiter digitaler Großkonzerne, bis hin zum vergessenen Angelshop-Verkäufer. Einmal bringt Berg es einfach, aber treffend auf den Punkt: „Menschen mit dem Menschenmist“. Und das könnte eine wunderbare Erkenntnis aus dieser Lektüre sein – im Prinzip ohnehin der Schlüssel zum Werk Sibylle Bergs: Wir alle fühlen uns mitgemeint in diesem Kreis der liebenswerten Loser. Doch die Gedichte lassen einen bedauerlicherweise eher kalt. Und so wirkt der letzte Eintrag, der Hidden Track, dann auch eher wie eine Selbstoffenbarung mit Mittelfinger: Muss Sieger sein, mit aller Macht – nicht angerührt, nicht ausgelacht, auch nicht bedrängt und kleingemacht. Ich werde meinen Körper stählen, fickt euch ins Knie und gute Nacht! Quelle: Sibylle Berg – Try Praying Sprachlich überzeugt nur ein Teil der Gedichte Die Ausbeute ist mau: Unter den 40 Gedichten sind höchstens eine Hand voll wirklich gelungen. Mitunter sind die Beiträge sprachlich so gar nicht auf Bergs eigentlichem Niveau: ungelenke Sätze, schiefe Reime, eintöniges Vokabular. Fast könnte man meinen, sie will die Gattung Lyrik als solche ironisieren. Schade eigentlich.…
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Wird die kleine Insel noch einmal zum Spielfeld internationaler Investoren? Vor dieser Frage stehen die 80 Bewohner von Makatea, mitten im Pazifischen Ozean. Bis in die 1960er-Jahre wurde dort rücksichtslos Phosphat abgebaut. Nun könnte eine Basis für ein gigantisches Wohnprojekt auf dem Meer entstehen: Es kann der Insel einerseits Wohlstand bringen, sie gleichzeitig aber tiefgreifend verändern. Die Bewohner sollen über das sogenannte „Seasteading“, den Bau von schwimmenden Wohn- und Lebensstätten auf dem Meer, abstimmen. Fragen für den gesamten Globus Das ist die Rahmenhandlung von Richard Powers‘ Roman „Das große Spiel“. What do you choose? … Of course, Makatea’s political crisis is our political crisis. It is the question of the entire globe. Quelle: Richard Powers im Gespräch Wofür entscheidest du dich? Für ein Krankenhaus und eine Schule? Für ein komfortableres Leben? Oder möchtest du, dass die Insel sich weiterhin erholt von den Folgen des früheren Rohstoffabbaus? Das ist die politische Herausforderung. Makateas politische Krise ist unsere Krise. Es die Frage für den gesamten Globus. Quelle: Richard Powers im Gespräch Das Monster Kapitalismus zeigt sich in Richard Powers Roman in verschiedener Gestalt: In den „Seasteading“-Plänen, in den verlassenen Minen auf der Insel, im Plastik-Müll, der an den Stränden von Makatea liegt. Und ebenso in der Welt, aus der Todd Keane, eine der Hauptfiguren, stammt. Er ist ein Pionier der Computer-Technologie und mit der Entwicklung von Software stinkreich geworden. An einer unheilbaren Krankheit leidend diktiert er einer KI die Lebensgeschichte – eine Erzählebene im Roman. Faszination fürs Programmieren Richard Powers sagt, Todd Keane sei in vieler Hinsicht ein Alter Ego. Wie er stammt auch diese Figur aus der North Side von Chicago. His family is much wealthier than my family… We see it as something holy new meaning of the world. Quelle: Richard Powers im Gespräch Seine Familie ist viel wohlhabender als meine. Wir waren eher Eindringlinge in der North Side. Ich habe mich immer wie ein Spion gefühlt. Wir beide teilen aber auch den frühen Traum, dass wir die Welt unter Wasser erforschen können. Und es gibt eine Verbindung, die mit dem Beginn der digitalen Revolution zusammenhängt. Wie ich war Keane total fasziniert vom Programmieren. Für uns war das eine komplett neue Bedeutung der Welt. Quelle: Richard Powers im Gespräch Später studiert Todd Keane – wie Richard Powers – an der University of Illinois, in Downstate. Ebenso Rafi Young, die zweite Hauptfigur. Er ist Schwarz und stammt aus dem Süden Chicagos, aus einer prekären Welt. Als kleiner Junge wird er von seinem Vater zum Lesen gedrillt, daraus erwächst aber eine große Liebe zur Literatur. Rafi besucht, keineswegs selbstverständlich für ein Kind seiner Herkunft, eine private katholische Schule und lernt dort Todd kennen. Sie werden Freunde und fanatische Schach- und Go-Spieler. „Das große Spiel“ erzählt auch von der Faszination des Spielens. In some ways their intellects are very different… the embrace of an irrational and unconscious that Rafi becomes dedicated to. Quelle: Richard Powers im Gespräch Vom Intellekt her unterscheiden sie sich in einigen Punkten. Todd tendiert zum Technologischen, er profiliert sich in der Informatik. Rafi ist zuallererst ein Humanist. Es ist auch ein Wettstreit zwischen zwei unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt. Hier die technologische und rationale Ordnung. Und dort die Welt der Gefühle, der Selbstbeobachtung, der Kunst. Rafi widmet sich dem Irrationalen und Unbewussten. Quelle: Richard Powers im Gespräch Die Freundschaft zwischen Rafi und Todd zerbricht eines Tages, das Spiel der beiden gegeneinander geht derweil weiter und führt zu den „Seasteading“-Plänen. Pionierin der Ozeanologie Zwei weitere Figuren – und ihre Lebensgeschichten – sind mit diesem Duo verbunden: Ina Aroita, Bildhauerin, Rafis Frau, sie und ihre Kinder leben auf Makatea. Und Evelyne Beaulieu, seit der Kindheit begeisterte Taucherin. Sie zählt zu den Pionierinnen der Ozeanologie und war an den berühmten Tektite-Forschungsmissionen 1969 und 1970 beteiligt. We, humans, live in just the tiniest fraction of the biosphere… If we really want to understand what life on earth is like, we have to say: it is an ocean planet. Quelle: Richard Powers im Gespräch Wir Menschen leben im kleinsten Teil der Biosphäre. Die Geschichte, deren Teil wir sind, seit unvorstellbar langer Zeit, ist zum größten Teil eine Geschichte der Ozeane. Wenn wir wirklich verstehen wollen, was das Leben auf der Erde bedeutet, müssen wir sagen: Es ist ein Ozean-Planet. Quelle: Richard Powers im Gespräch Evelyne Beaulieu, 92 Jahre alt, lebt auf Makatea. Auch sie soll abstimmen über die Zukunft der Insel. Mit ihrer Geschichte, inspiriert durch die Biographie der amerikanischen Ozeanographin Sylvia Earle, führt Richard Powers seine Leserinnen und Leser hinab in die Tiefe des Meeres, ins Herz der großen Ozeanmaschine, auf die Hauptbühne des Lebens, wie es heißt in „Das große Spiel“. Ein vielschichtiger Roman, der daran erinnert, wie beeindruckend dieses Reich unter Wasser ist. Und ebenso daran, dass wir uns sorgen müssen um die Zukunft dieses übergroßen Teils der Erde.…
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1 Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner 4:09
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4:09Schon das Eröffnungsbild von Markus Thielemanns Roman hat etwas Verwunschenes, beinahe Biblisches: Sie erscheinen auf der Oktoberheide, auf einem Rücken der Ebene, hinter dem es nichts zu geben scheint als immerzu treibende Wolkenmaserung: zwei Hundeschemen, dann der Hirte. Den Stecken in der Rechten, bleibt er im Gegenlicht, seine Gestalt so gebeugt, dass man ihn für einen alten Mann halten könnte. Quelle: Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner Der Mann, hinter dem sich eine große Schafherde versammelt hat, ist in Wahrheit gerade einmal 19 Jahre alt. Jannes heißt er. Kurz darauf rollt tatsächlich von Norden her der Donner über die Landschaft. Doch weder der Hirte noch seine Herde reagieren nervös auf das bedrohliche Geräusch, weil sie es kennen: Es ist das Explodieren der Panzermunition, die auf dem nahe gelegenen Fabrikgelände des Waffenherstellers Rheinmetall getestet wird, seit vielen Jahrzehnten bereits. Idylle mit Rissen Dieser Auftakt steht sinnbildlich für den gesamten Roman, in dem alles mindestens doppelt codiert ist und in dem der donnernde Wagner‘sche Götterzorn, die Ästhetik von schauerromantischen Caspar David Friedrich-Szenen und nächtens durch die Landschaft geisternde Frauengestalten bis zur Unkenntlichkeit mit der Gegenwart verschmelzen. Das macht den Reiz von Markus Thielemanns Roman aus – dass er Mythos und Realität nicht als Gegensatzpaar darstellt, sondern das eine als folgerichtige Konsequenz des anderen atmosphärisch stimmig inszeniert. Jannes lebt auf einem Drei-Generationen-Hof in der Lüneburger Heide. Dem Großvater Wilhelm gehört das Land; die Großmutter ist dement und im Heim; auch Jannes‘ Vater Friedrich zeigt erste Ausfallerscheinungen. Der traditionelle Familienverbund zeigt Risse, wie auch die vermeintliche Landschaftsidylle. Thielemann hat seinen Roman geografisch exakt lokalisiert: Der Hof der Familie liegt zwischen Unterlüß und Faßberg. Faßberg ist eine NS-Siedlung. Das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen ist 25 Kilometer entfernt. Das gesamte Terrain ist durchzogen von Sperrgebieten und Truppenübungsplätzen. Vermintes Gelände in jeder Hinsicht. Zugleich aber ist die Heide ein großes touristisches Geschäft; ein deutsch aufgeladener Sehnsuchtsort, den Großvater Wilhelm in einem Interview mit einer NDR-Journalistin entzaubert: Wir sind am Ende auch nichts anderes wie einfache Bauern. Unsere Ernte im Sommer sind die reichen Knacker aus den Städten. Abgerechnet wird hier doch in Kaffeefahrten. Quelle: Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner Wölfe und Heimatschützer Markus Thielemann hat sich ungeheuer viel vorgenommen für einen noch nicht einmal 300 Seiten dicken Roman – und das meiste davon funktioniert. Er beschreibt Strukturwandel und den inneren Konflikt eines jungen Menschen zwischen Bindungen und Aufbruch. Er zeigt in seinem an Zeichen und Spuren reichen Buch, wie fortgeschriebene deutsche Mythen in die Gegenwart hineinwirken: Der Wolf ist in der Gegend unterwegs. So genannte Heimatschützer rüsten auf, um die Scholle zu verteidigen. Das von den Neonazis genutzte Wolfsangel-Symbol taucht da und dort auf. Es erstarkt, wir schreiben das Jahr 2015, eine so genannte Professorenpartei, die die Stimmung in der Bevölkerung erspürt – heute weiß man, wohin das geführt hat. Und nicht zuletzt hat Jannes selbst Visionen von einer Frau; einem Gespenst, das ihm immer wieder in Nächten auf der Heide begegnet und das mit einem lange verschwiegenen Familiengeheiminis zu tun hat. Als eines seiner Tiere eine Fehlgeburt hat, wittert Jannes den Einfluss höherer Mächte: Spuk, denkt Jannes, und erschaudert, betrachtet die verformten Wesen im Stroh. Hier stimmt etwas nicht. Eine tiefe Gewissheit überkommt ihn. Es hat mit ihr zu tun. Sie hat ihn verflucht. Quelle: Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner Hin und wieder verfängt Thielemann sich in seinen Ambitionen. Dann verschwimmen in diesem Roman die Grenzen zwischen moderner Spukgeschichte und Geisterbahn. Trotzdem: „Von Norden rollte ein Donner“ ist ein ungewöhnliches, kluges und literarisch hoch interessantes Buch.…
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„Verdrängung“ ist einer der zentralen Begriffe in Sigmund Freuds Psychoanalyse: ein Abwehrmechanismus, mit dessen Hilfe Gedanken und Gefühle, die wir als schmerzhaft oder unangenehm empfinden, aus dem Bewusstsein gedrängt werden. Darauf bezieht sich Sebastian Moll mit seinem Begriff einer „Architektur der Verdrängung” - auch auf Freuds Diktum „der Mensch sei nicht Herr im eigenen Haus“. Zum anderen meint „Architektur der Verdrängung“ den Wiederaufbau der Stadt Frankfurt am Main nach dem Prinzip tabula rasa. Es wurde so ziemlich alles gesprengt und abgerissen, was nach dem Krieg noch stand. Für die Verarbeitung all dessen, was geschehen war, war das katastrophal. (...) Nur wenn die schmerzhafte Erinnerung Teil eines neuen Lebens, eines neuen Alltags wird, können die seelischen Narben allmählich heilen. Quelle: Sebastian Moll – Das Würfelhaus Gefühle im Keller Sebastian Moll beschreibt auch das Reihenhaus, in dem er Kindheit und Jugend verbrachte, das titelgebende Würfelhaus in Langen bei Frankfurt. Es ist neu, nüchtern, äußerlich ohne jede Spur der Vergangenheit. Aber aus dem Keller dringt die Nazi-Nostalgie des Vaters bis ins vorzeigbare Wohnzimmer, dessen Bücherregal mit Werken von Böll und Grass zeitgemäß bestückt ist. Heinz Moll, in seiner Jugend Flakhelfer und glühender Hitlerverehrer, später leitender Angestellter bei einer Frankfurter Wohnungsbaugenossenschaft, hat sich unter der Erde eine Art Kriegsdevotionalienaltar eingerichtet, darauf Kameradenbriefe, Landser-Heftchen, Pornomagazine. Die Fotos früherer Freundinnen hängen ordentlich gerahmt an der Wand. Sebastian Moll: Und das hat mich dann eben anhand unseres Reihenhauses interessiert, weil ich da ja an der eigenen Person erlebt habe, wie sich trotz dieser rationalen Oberfläche das Unterbewusste sein Recht sucht. Quelle: Zitat von Autor Sebastian Moll Die Wiederauferstehung eines Gespensts Das Psychoanalytiker-Paar Margarete und Alexander Mitscherlich, das Sebastian Moll häufiger zitiert, hatte 1967 das epochemachende Buch über die deutsche „Unfähigkeit zu trauern“ veröffentlicht. Nur Verdrängung war möglich. Es gibt viele Bücher über die Bürde der Generation der Kriegsenkel, der Boomer, zu denen auch der Autor gehört. Aber dieses hat einen neuen Ton: Es ist ehrlich, offenherzig, ratlos, traurig. Im Grunde kann Sebastian Moll nicht begreifen, wer sein Vater war. Als Kind genießt er es, mit ihm zusammen sportliche Männerabenteuer zu bestehen. Aber Sebastian war erst zwölf, da führt der Vater seine junge Geliebte zum ersten Mal ins Haus der Familie und befiehlt seinem Sohn, sie vor den Augen der Mutter zu entkleiden. Die Mutter beginnt zu trinken. Es ist die totale Erniedrigung meiner Mutter, in die ich als Komplize eingespannt werde. (...) Die Szene war zweifellos nur ein Ausschnitt aus einer andauernden sadomasochistischen Vierecksbeziehung, die meine Mutter immer tiefer in Alkohol und Verzweiflung trieb (...) Weitere Szenen geistern noch diffus und verschwommen in meinem Unterbewusstsein herum. Sie zu bergen und zu schärfen, habe ich jedoch weder den Mut noch die Kraft. Es bleibt zu viel, eine lebenslange Überforderung, eine Monstrosität, die verdaubar, Teil meines bewussten Ich zu machen, mich kapitulieren lässt. Quelle: Sebastian Moll – Das Würfelhaus Als Sebastian sich allmählich aus der Familie „extrahiert“ – wie er es nennt – verstößt ihn der Vater. 30 Jahre nach dessen Tod will Sebastian Moll „Das Würfelhaus“ verkaufen. Die Auflösung führt ihn erneut in den Vaterkeller. Er schaut noch einmal ganz genau, ob er vielleicht doch etwas übersehen hat, ob er etwas findet, was die Leerstelle füllen könnte. Das Ergebnis ist dieses kluge, traurige, anrührende Buch. Sebastian Moll hat es geschrieben im Wissen, nicht allein zu sein mit seiner Vatersuche. Ich glaub, die Suche, die hört nie auf und die Auseinandersetzung damit. Das ist vielleicht auch ein bisschen der Fluch unserer Generation. Quelle: Zitat von Autor Sebastian Moll…
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1 Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir? 4:09
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4:09Sie sind ein mythisch vorbelastetes Paar, wie es gegensätzlicher nicht scheinen könnte. Jupiter ist schwer an Multipler Sklerose erkrankt und auf Rollstuhl und Pflegebett angewiesen; der Radius seiner Bewegungen wird immer kleiner. Juno dagegen ist der verkörperte Bewegungsdrang. Tanzperformance und Ballett sind ihr Lebenselixier. Während Jupiter im Nebenzimmer der ramponierten Leipziger Altbauwohnung starr liegt, macht Juno auf der Matte unermüdlich ihre Dehn- und Kraftübungen, und noch immer könnte sie die Nächte in Clubs durchtanzen, wenn sie als Frau über Fünfzig dabei nicht merkwürdig angesehen würde. Frauen über Fünfzig und ihre Sehnsüchte – das ist wiederum das Geschäftsmodell von Benu. Er ist einer jener Love-Scammer in afrikanischen Internet-Cafés, die sich über die sozialen Medien mit blumigen Komplimenten und falschen Identitäten in die Herzen und Konten liebebedürftiger Europäerinnen schleichen. Den Lügner belügen Auf Instagram bekommt Juno ständig solche Kontaktanbahnungsversuche. Sie fühlt sich provoziert von der billigen Masche der emotionalen Kaperfahrer und macht sich in ihren schlaflosen Nächten einen Spaß daraus, sie mit ebenso verlogenen Antworten zu irritieren, bis die Scammer abtauchen. Benu aber ist anders. Er führt den Kontakt weiter, auch nachdem die Illusion geplatzt ist. Wie hast du das gemerkt mit dem Scammen? Wer kann so etwas ernst nehmen. Owen Wilson aus der Ukraine, und dein albernes Profilbild. Das ganze Geschnulze auch noch. Quelle: Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir? Es ergibt sich ein intensives Zwiegespräch, bei dem Junos Misstrauen langsam aufweicht. Bald wechseln die beiden zu Whatsapp und Videotelefonaten. Benu sitzt dabei oft im Kerzenschein, weil in seiner nigerianischen Stadt ständig der Strom ausfällt. Und irgendwann bekennt er seine Liebe; echt jetzt. Juno ist fassungslos. Eine Dreiecksgeschichte anderer Art „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ ist ein zeitgemäßer Text für das Instagram-Zeitalter. Und zugleich liegt diesem Roman eines der ältesten Erzählmuster überhaupt zugrunde, allerdings auf ganz neue Weise interpretiert: die Dreiecksgeschichte. Eine Frau zwischen zwei Männern, was hier heißt: zwischen dem fernen Scammer und dem nahen Sklerotiker. Bei letzterem ist aber weniger von Beziehung als von Betreuung die Rede. Jupiter hätte Grund, sich zu beschweren: Dass Juno mit einem fremden Menschen ausgiebig chattete, mit ihm aber oft nur ein paar hastige Sätze tauschte. Quelle: Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir? Aber Jupiter weiß nichts von Benu. Und dann ist da noch eine dritte Liebe, nämlich die zu sich selbst und zum eigenen Körper, dessen lange, schöne Beine mehr als einmal hervorgehoben werden. Nur im narzisstischen Genuss des Tanzes ist Juno ganz bei sich selbst: Eigentlich schauspielerte sie nur dann, wenn sie nicht auf einer Bühne stand. Da spielte sie, ein normaler Mensch zu sein. Quelle: Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir? Der Text als Performance Die Erzählerin greift nach den Sternen und hadert mit der Schwerkraft der Verhältnisse. Es ist ein kleines Wunder, dass sich das alles zu einer plausiblen Konstellation zusammenfügt: Beschreibungen des oft nicht barrierefreien Alltags mit einem schwerkranken Partner, Reflexionen über Tanzprojekte, Tätowierungen oder Lars von Triers Film „Melancholia“, Erinnerungen an die eigene Kindheit in den Bergen, frühe Erfahrungen von Ausgrenzung sowie ein bisweilen allerdings plakatives Nachdenken über Postkolonialismus, Rassismus, Ausbeutung. ChatGPT wäre überfordert, all diese Zutaten zu einer halbwegs stimmigen Romanhandlung zu verknüpfen, aber Martina Hefter gelingt es, und zwar deshalb, weil sie eben nicht an einem Plot entlangschreibt, sondern den Text selbst als eine Art Performance entwickelt. Als Tanz der Themen und Motive, mit Anmut und Würde und Humor auch in den heiklen Momenten. Man ist gefesselt von dieser eigenwillig welthaltigen Autofiktion bis zur letzten Seite.…
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Samar Yazbek, geboren in eine wohlhabende alawitische Familie, widmet ihr Leben und ihr Schreiben schon lange dem Leiden des syrischen Volks. Beharrlich dokumentiert sie dessen Unterdrückung und die Gräueltaten durch das Assad-Regime. Das gilt auch für ihren neuen Roman „Wo der Wind wohnt“, der uns in die letzten Stunden eines 19-jährigen Soldaten namens Ali versetzt. Es ist nur ein kleines Blatt. Durch seine verklebten Wimpern kann er es unter der Mittagssonne nicht sehen. Nur das Blatt eines Baumes, nichts weiter. Grün und an den Rändern ausgebuchtet, liegt es wie ein Vorhang über seinen Augen, wenn er langsam und unter großer Anstrengung die Lider bewegt. Quelle: Samar Yazbek – Wo der Wind wohnt Zwischen Leben und Tod, Traum und Realität Es sind die ersten Jahre des syrischen Bürgerkriegs, und Alis Patrouille ist soeben in den Bergen von Latakia bombardiert worden. Nun schwebt er zwischen Leben und Tod – und erinnert sich an Menschen und Momente, die sein bisheriges Leben geprägt haben. Yazbek verwischt dafür in ihrem Roman gekonnt die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aber auch zwischen Traum und Realität. Denn wir sind quasi in Alis Kopf gefangen und gleiten mit ihm durch all die Fantasien und Erinnerungen, die wie fieberhafte Halluzinationen in ihm auftauchen. So wird er etwa Zeuge einer Beerdigung. Er hört Weinen, und er nimmt die Schemen einer Frau wahr. Aus der Art, sich seltsam hüpfend fortzubewegen, als wäre sie verärgert, schließt er, dass es seine Mutter ist. Die aufgeregten Stimmen, die er dann vernimmt, scheinen ihm von anderer Art zu sein. Das da ist sein Vater. Und seine verwitwete Schwester mit ihrem dicken Bauch. Quelle: Samar Yazbek – Wo der Wind wohnt Erst allmählich wird klar, dass Ali sich an das Begräbnis seines älteren Bruders erinnert. Freiwillig hatte dieser sich zum Militär gemeldet – ganz im Gegensatz zu Ali, der von Natur aus und zum Missfallen seines Vaters ein Träumer war. Schon als Kind verbrachte er die Zeit am liebsten zwischen den Bäumen seines Dorfes. Humairuna, eine rätselhafte Weise, die in Alis Dorf lebte, lehrte ihn früh ihren mystischen Glauben, vor allem den an die Kraft der Bäume. Und doch kann Ali den bedrohlich anwachsenden Schatten im politischen Klima Syriens nicht entkommen: Eines Tages wird auch er zwangsrekrutiert. Ein Manifest gegen den Krieg – und für das Leben Geschickt beleuchtet Samar Yazbek anhand der Vignetten aus Alis Leben knapp, poetisch und doch präzise zum einen die reiche Tradition der alawitischen Kultur, vor allem ihre starke Verbundenheit mit der Natur. Zugleich fängt sie wie nebenbei die alles umfassende Militarisierung und Brutalisierung ein, die jeden Winkel des syrischen Alltags durchdrungen hat. Und sie macht Ali – der nach dem tödlichen Beschuss nahe einer riesigen Eiche zu Bewusstsein kam – zum Sprachrohr, um die Sinnhaftigkeit all des Sterbens zu hinterfragen. Er glaubt, dass sein vergangenes und sein gegenwärtiges Leben lediglich aus den wenigen Metern zwischen der Einschlagstelle der Granate und dem Baumstamm bestehen. Ein kurzes Leben, ein vollkommenes, ausreichend, um hier zu enden. Und als er spürt, dass diese verbleibenden Meter das komplette, ihm verbliebene Leben darstellen, fragt er sich, was er hier macht. Und gegen wen er kämpft. Und für wen. Quelle: Samar Yazbek – Wo der Wind wohnt Am Ende lässt Samar Yazbek ihren heroischen Antihelden Trost finden in dem, was er am meisten liebt: in der Schönheit der Erde und der Natur. „Wo der Wind wohnt“ ist somit nicht nur ein eindringliches Dokument, das all jenen Stimme verleiht, die für und durch ein mörderisches Regime elend und ungehört sterben. Der Roman – dessen bestechende lyrische Intensität Larissa Bender so behutsam wie kunstvoll ins Deutsche übertragen hat – ist zugleich ein Manifest für das Leben selbst. Und womöglich bis dato Samar Yazbeks bester, ja schönster Roman.…
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1 Delphine Horvilleur – Wie geht's? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober 4:09
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4:09Am Anfang war… das Wort. Delphine Horvilleur zeigt in ihrem jüngsten, sehr persönlichen Buch, wie die Sprache wiederzugewinnen ist, wenn etwas einem die Sprache verschlagen hat. Etwas – das ist der größte und brutalste Angriff auf Jüdinnen und Juden seit der Shoah am 7. Oktober des vergangenen Jahres. Es sind indes nicht nur die Ereignisse an diesem schrecklichen Tag, die der Autorin die Sprache zu nehmen drohten. Unmissverständlich geht die Pariser Rabbinerin, die als Repräsentantin des liberalen Judentums in Frankreich gilt, auf das ein, was nach dem 7. Oktober passierte – und immer noch passiert: Den einen verschlägt es vor Entsetzen die Sprache – den anderen wird ihre Sprache zu einem wohlfeilen Mittel der Relativierung: Am 7. Oktober sind verabscheuungswürdige Taten begangen worden, ABER… – Jüdische Frauen sind vergewaltigt worden, ABER… – Das Schicksal der Kinder im Gazastreifen ist furchtbar, ABER… Quelle: Delphine Horvilleur – Wie geht's? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober Durch dieses ABER und unter dem Vorwand einer Kontextualisierung wird das Grauenhafte relativiert und eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Dabei lässt die Autorin keinerlei Zweifel daran, dass sie seit Jahren für die Rechte der Palästinenser und für eine Zweistaatenlösung eintritt. Und genauso unmissverständlich macht sie im Kapitel ‚Gespräch mit Israel‘ ihre Kritik an der Politik der Machthybris der amtierenden israelischen Regierung deutlich. Ein Land, das Sicherheit verspricht Aber an solchen Differenzierungen seien notorische Antisemiten gar nicht interessiert; das Muster, nach dem ‚der Jude‘ an allem Übel dieser Welt schuld sei, wiederhole sich immer wieder aufs Neue – wie ihre Großmutter im erinnerten ‚Gespräch mit den Großeltern‘ resigniert feststellt: „Was geschehen ist, wird immer wieder geschehen. Die Vergangenheit vergeht nie.“ Die Vergangenheit, das ist die Jahrhunderte und Jahrtausende alte Verfolgung der Jüdinnen und Juden, vor der sie nichts schützt – auch nicht die Integration in ein Land, das ihnen Sicherheit verspricht, und das man deshalb liebt: Hier spricht Delphine Horvilleur mit und von ihrem Großvater, diesem perfekt assimilierten Juden, der Frankreich unendlich dankbar war. Die extreme Dankbarkeit war das leuchtende Gewand, das elegant typisch jüdische Ängste und Schmerzen umhüllte: die Angst, nicht genauso geliebt zu werden wie man selbst liebt. Quelle: Delphine Horvilleur – Wie geht's? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober Antisemitismus und Antirassismus Eine Angst, die sich in der Geschichte allzu oft als berechtigt erwies. So tastend Delphine Horvilleur aus der Sprachlosigkeit in die Sprache zurückzufinden sucht, so analytisch klar ist sie im Kapitel ‚Gespräch mit einem Antirassisten‘; dessen Haltung lasse sich – und das sei das Neue nach dem 7. Oktober – perfekt mit dem Antisemitismus kombinieren: Judenhass, der alles durcheinanderwirft – jüdische Geschichte, jüdische Religion, Israel und seine derzeitige Regierung – Judenhass könne sich antirassistisch gerieren und als Engagement für die Seite der Schwachen, der Opfer und Verwundbaren. Nur die Verwundbarkeit der Jüdinnen und Juden bleibt im Denken der antirassistischen Antisemiten stets einen Nachweis schuldig. Quelle: Delphine Horvilleur – Wie geht's? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober Oder ist der Antisemitismus ein Aufstand gegen die Ursprünge, gegen die Anfänge der eigenen Religion, ja Kultur, die sich der älteren verdankt – und dies nicht will? Es ist deutlich einfacher, sich seiner Herkunft zu stellen, wenn die, die diese Herkunft verkörpern, elegant genug gewesen sind, sich aus dem Staub zu machen Quelle: Delphine Horvilleur – Wie geht's? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober So kommentiert Delphine Horvilleur mit einer Prise Sarkasmus. Im Kapitel ‚Gespräch mit denen, die mir guttun‘ schildert sie ihre Begegnungen mit dem libanesischen Autor und Filmemacher Wajdi Mouawad, die zeigen, dass Brücken und Verständigung zwischen Juden und Moslems möglich und bereichernd sind. „Weißt Du, dass man da, wo ich aufgewachsen bin, alle Araber, die eigenständig denken wollen, als Juden bezeichnet?“, sagt ihr in einem anderen Gespräch der algerische Journalist und Autor Kamel Daoud. Sprechen in Zeiten des Krieges Die zehn Kapitel dieses Buchs tragen jeweils die Überschrift ‚Gespräch mit…‘ und weisen auf den Weg zurück in die Sprache, die am 7. Oktober des vergangenen Jahres verloren zu gehen drohte. In ihrem Buch zeigt Delphine Horvilleur, wie wichtig die Sprache in Zeiten des Krieges der Waffen und Worte ist: Am Anfang, berichtet die Bibel, wurde die Menschheit gleichzeitig mit dem Tierreich erschaffen. Und dahin kehrt sie wieder zurück, sobald sie nicht mehr benennen kann, was ihr widerfährt.…
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1 SWR Bestenliste Oktober 2024 mit Büchern von Nora Bossong, David Wagner, Reinhard Kaiser-Mühlecker und Roman Ehrlich 1:16:09
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1:16:09Die erstmals in Ladenburg aufgezeichnete Diskussion der SWR Bestenliste verlief vor allem bei zwei Büchern kontrovers: Uneins war die Runde beim neuen Roman von Nora Bossong und der Frage, worum es in „Reichskanzlerplatz“ überhaupt geht und welche Figur im Mittelpunkt der Geschichte steht: Die Frau, aus der Magda Goebbels wurde? Oder doch der schwer zu fassende Ich-Erzähler, ein ministerialer Mitläufer im NS-Reich? Zukunft der Literatur? Außerdem entzündete sich bei David Wagners biografischem Portrait „Verkin“ die Diskussion, ob es sich dabei überhaupt um einen Roman handelt oder nicht. Dirk Knipphals, der die taz-Kultur leitet, sieht in Wagners Darstellung komplizierter Figuren die „Zukunft der Literatur“, während Sandra Kegel, Chefin des FAZ-Feuilletons, dramaturgische Schwächen in dem Text sieht, weil die „übergriffige“ Titelfigur das gesamte Textgeschehen dominiere, indem sie ohne Widerspruch zu viele und zu überdrehte Anekdoten erzähle. Einhelliges Lob für „Videotime“ Unter der Leitung von SWR-Literaturredakteur Carsten Otte lobte die Runde in der ausverkauften Ladenburger Zehntscheune außerdem die verstörenden Wendungen in dem Agrarepos „Brennende Felder“ von Reinhard Kaiser-Mühlecker sowie den unheimlichen Familienroman „Videotime“ von Roman Ehrlich. Christoph Schröder, freier Literaturkritiker unter anderem für den Deutschlandfunk, lobte das Ehrlichs Werk als eine formal wie inhaltliche gelungene Vatersuche und Erinnerungsarbeit, die sich mit der Gewaltgeschichte der alten Bundesrepublik beschäftigt. Aus den vorgestellten Büchern lasen Isabelle Demey und Johannes Wördemann.…
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1 Robert Macfarlane – Alte Wege | Buchkritik 4:09
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4:09Kann man, so man auf alten Pfaden in Schottland, England oder anderswo unterwegs ist, beim Gehen auf Gedanken kommen, welche nur in einer ganz bestimmten Gegend möglich sind? Jeder Mensch verfügt über erinnerte Landschaften, in die er gedanklich immer wieder zurückkehrt. Gibt es Orte an denen wir „spürbar anders denken und fühlen?“ Robert Macfarlane, ausdauernder Wanderer und intimer Kenner der Reiseliteratur voriger Jahrhunderte, stellt sich diese Frage. Sie hat auch schon einen seiner Vorgänger umgetrieben, den Schriftsteller Edward Thomas, auf dessen Wegen Macfarlane oft unterwegs ist. Schreiben und Gehen Die beiden verbindet nicht nur die Lust, alte Pfade und ihre Geschichte zu erkunden, sondern auch die Freude Botanik, Mineralien und Erdgeschichte so kenntnisreich wie poetisch vor dem Auge des Lesers zu entfalten: Der Schnee war dicht überzogen mit den Spuren von Vögeln und Tieren – ein Archiv Hunderter Wegstrecken, aufgezeichnet seit dem Ende des jüngsten Schneefalls. (…) Auf der schrägen Feldfläche vertiefte das Mondlicht die näher gelegenen Abdrücke noch, sodass sie wie gefüllte Tintenfässer wirkten. Zu all diesen Spuren fügte ich noch meine hinzu Quelle: Robert Macfarlane – Alte Wege schreibt Macfarlane. Schreiben und Gehen – diese Verbindung treibt Macfarlane an. Beide Wörter haben zumindest im Englischen eine gemeinsame Wurzel. Der Wanderer findet temporäre Begleitung oder besucht gezielt Ortskundige, manch einer seiner Gesprächspartner sammelt systematisch, was er am Wegesrand findet. Natur kann heilen, aber auch, wie Macfarlane schreibt „brutal schweigen und durch ihre Gleichgültigkeit erschüttern“, oft sind depressive Menschen wie Edward Thomas manische Wanderer. Je älter Macfarlane wird, desto weniger interessiert es ihn, unerforschtes Land zu betreten und desto spannender wird es für ihn, Pfaden zu folgen, die vor langer Zeit von unseren Vorfahren hinterlassen wurden. Orientierung ohne Instrumente Bereits dreitausend Jahre vor dem römischen Wegenetz orientierte man sich auf See mit Hilfe des Polarsterns, am Zug der Vögel oder an Wolken, die Land anzeigen. Das Wissen über den Küstenverlauf wird in Erzählungen und über Lieder weitergegeben. Gefährliche Wege durch das Watt wurden oft phantasievoll markiert, so der „Broomway“ in Essex. Besenstiele sind in den Boden gerammt, an denen ein Stein festgebunden ist. Der Wanderer nimmt den Stein und führt ihn an der sechzig Meter langen Schnur bis zum nächsten Stecken bei sich. Hat er sich verlaufen, findet er anhand der Schnur wieder zurück. Auf alten Pfaden zu wandern, bedeutet also immer auch eine Zeitreise: Der Pfad lockt das Auge, das äußere wie das innere. Der Kopf kann nicht umhin, dieser Linie über das Land zu folgen – nicht nur voran durch den Raum, sondern auch zurück durch die Zeit, hinein in die Geschichte des Weges und all derer, die ihn genutzt haben. Quelle: Robert Macfarlane – Alte Wege Historische Fußwege sind in England vom Wegerecht geschützt und werden durch Benutzung erhalten: Im neunzehnten Jahrhundert hingen Sicheln am Rand von Trampelpfaden, die Benutzer schnitten die überhängenden Äste auf dem Weg ab und hingen die Sichel am Ende des Pfades wieder auf. Alte Pfade sind oft ehemalige Viehtriften, so zogen die Siedler in den USA auf den Spuren der Bisons gen Westen und auch Spanien kann ein riesiges Wegenetz ehemaliger Viehpfade aufweisen. MacFarlanes Buch, in all seiner Schönheit der Beschreibungen rauher und für den Ungeübten unwegsamer Landschaften, ist ein Lesegenuss, gerade auch für diejenigen die kaum selbst wandern, aber Landschaftsbeschreibungen lieben. Es weckt ebenso die Lust aufs Schauen wie auf Literatur.…
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Die 1954 geborene Ljuba Arnautovic gehört zu den Spätstarterinnen der österreichischen Literatur. Arnautovic stammt aus dem damals sowjetischen Kursk, sie studierte in Wien Sozialpädagogik und arbeitete unter anderem für das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands. An dieser Biographie zwischen Sowjetunion und Österreich kann man schon ablesen: Ljuba Arnautovic entstammt einer Familie, die in beiden Ländern wurzelt – und die unter den Brüchen des 20. Jahrhunderts zu leiden hatte. 2018 debütierte Arnautovic mit ihrem Roman „Im Verborgenen“, dem ersten Teil einer Trilogie, die von dieser Familie erzählt, genauer: von der Großelterngeneration. Das Buch landete direkt auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis. 2021 dann erschien „Junischnee“, der zweite Band, nun über die Vätergeneration, abermals vielbeachtet und für seinen Erzählstil gelobt. Dritter Band über eigene Generation Jetzt ist Ljuba Arnautovic mit dem dritten Band in ihrer eigenen Generation angekommen: bei sich und ihrer etwas jüngeren Schwester. „Erste Töchter“ heißt der Roman. Ein wenig spröde scheint der Sprachduktus – aber das ist nur eine kunstvolle Form wohlbemessener Distanz. Ljuba Arnautovic erzählt von sich und von ihrer Schwester. Im Roman heißen sie Luna und Lara, geboren 1954 und 57. Sie entstammen einer zerbrochenen Familie. Luna lebt in München beim österreichischen Vater, Lara bei der sowjetischen Mutter in Wien. Spätestens in der Pubertät sind sie einander fremd geworden. Die Schwestern möchten gerne glauben, es läge am Altersunterschied. Doch da ist noch etwas anderes. Beide spüren: Die Schwester lehnt es ab, wie ich lebe. Ich muss mich und meine Welt verteidigen, zugleich die ihre herabwürdigen. Sie spüren es, aber sie werden noch sehr lange keine Worte dafür finden. Quelle: Ljuba Arnautovic – Erste Töchter Luna fühlt sich in München fremd beim Vater und seiner neuen Familie. Lara ist in Wien unglücklich. Die Mutter fristet dort ihr Leben als Haushälterin eines Ukrainers: Grischa hatte sich am deutschen Völkermord beteiligt und musste deshalb aus der Sowjetunion fliehen. Manchmal fängt er grundlos an zu toben. Es steckt so viel Gewalt und Wut und Geschrei in diesem Körper. An solchen Abenden nimmt Lara ihre Mutter und flüchtet mit ihr aus der Wohnung. Sie gehen langsam durch die Straßen der Stadt, bleiben immer wieder stehen und blicken in erleuchtete Fenster. Sie stellen sich vor, wie gemütlich es diese Menschen haben. Sie phantasieren, wie ein Leben ohne Grischa aussehen könnte. Quelle: Ljuba Arnautovic – Erste Töchter Die Gräuel des 20. Jahrhunderts Die Szene illustriert, wie genau Ljuba Arnautovic die Gräuel des 20. Jahrhunderts in ihrem Roman eingefangen hat – man denkt bei Grischa sofort an die ukrainischen Hilfstruppen der SS, die 1944 den Warschauer Aufstand niederschlugen. Aber auch jene Zeitgeschichte, die Luna und Lara erleben, schlägt sich nieder: von den sechziger Jahren bis in die Neunziger. Darin eingebettet erzählt Ljuba Arnautovic ihre Familiengeschichte – wie schon zuvor in ihrer Trilogie geradezu sachlich. Mehr noch als im vorangegangenen „Junischnee“ nimmt die Erzählung Züge einer knappen Chronik an. Gekidnappt von der russischen Mafia Dialoge sind rar, und auch einzelne Szenen werden nur selten ausgemalt - etwa die Reise in einem Nachtzug von Wien in die Sowjetunion, Ende der achtziger Jahre. Hier zeigt die Autorin, wie lebendig sie solch eine Szenerie zu schildern versteht. Die Nachtzugreise leitet auch über zum Schlussteil des Romans. Lunas und Laras Vater Karl ist nach der Öffnung Osteuropas in der Halbwelt Moskaus aktiv. Prompt wird er von der russischen Mafia gekidnappt. Um ihn freizubekommen, müssen Luna und Lara an einem Strang ziehen – und treffen sich nach langer Zeit wieder. Luna spürt plötzlich ein sehr altes Gefühl aufsteigen. Jetzt entdeckt sie zum zweiten Mal dieses verwandte Wesen neben sich. Ihr Vater hatte die Schwestern damals auseinandergerissen, jetzt führt er sie – wenn auch auf eine verquere Art – wieder zusammen. Luna und Lara hatten damals begonnen, eine Distanz zwischen sich zu spannen, eine Schutzvorrichtung gegen den Schmerz der Trennung. Diese Distanz brauchen sie doch längst nicht mehr. Quelle: Ljuba Arnautovic – Erste Töchter Auch hier belässt es Ljuba Arnautovic gekonnt bei Andeutungen. „Erste Töchter“ ist der gelungene Abschluss ihrer Familientrilogie. Für die Handlung selbst sind Nuancen noch wichtiger als etwa in „Junischnee“: Dort ging es etwa darum, wie der Vater in Moskau den Terror stalinistischer Verhöre durchlitt, wie er danach tagtäglich im Gulag zu überleben versuchte. „Erste Töchter“ hingegen bildet ab, wie die Wirren eines Zeitalters eine Familie zerreißen. Und so führt Ljuba Arnautovic in ihrer Trilogie letztlich vor Augen, wie Nationalismus und politischer Extremismus des 20. Jahrhunderts ganze Generationen ins Unglück gestürzt haben.…
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Zwei literarische Anläufe hat Andreas Nöthen bisher unternommen, bevor er jetzt seinen großen Überblick über Brasilien vorgelegt hat. Im ersten Band analysierte er, wie der „Bulldozer Bolsonaro“ das Land ruinierte, um sich dann in seiner Biografie Lula der einstigen politischen Lichtgestalt Luiz Ignácio Lula da Silva zu widmen. Darin verdeutlicht er, dass selbst der gegenwärtige Staatspräsident von der tief in die Politik hineinwuchernden Korruption nicht unberührt blieb. Nun also Brasilien. Geschichte-Kultur-Politik. Das klingt nach einer der üblichen Länderdarstellungen. Andreas Nöthen geht jedoch ganz anders vor. Er will vielmehr anhand einzelner Aspekte ... „Klischees und Stereotype durchbrechen“ und diverse „Schlagworte in den historischen und gesellschaftlichen Kontext stellen“. Quelle: Andreas Nöthen – Brasilien Damit die Leserinnen und Leser ... Brasilien, insbesondere seine Politik und Gesellschaft anhand ausgewählter Beispiele, besser verstehen können. Quelle: Andreas Nöthen – Brasilien Besondere thematische Aspekte In dem Kapitel „Frauen in der Politik“ beschreibt er u.a., wie schwer es die männlichen Strippenzieher Dilma Rousseff machten, 2011 erste Präsidentin Brasiliens zu werden. Und dass rassistische und sexuelle Motive zum Mord an der berühmten Schwarzen Menschenrechtsaktivistin Marielle Franco beitrugen. Denn ... organisierte Kriminalität, Ordnungsmacht und Politik sind in Brasilien eng verwoben. Quelle: Andreas Nöthen – Brasilien Den politischen Machtfaktor der Evangelikalen, heute die Mehrheit der Gläubigen in Brasilien, betont Andreas Nöthen und zeigt, dass selbst ein eigentlich linker Präsident sie in sein politisches Kalkül einbeziehen muss. Insgesamt 13 verschiedene Aspekte behandelt er ausführlich, so z.B. den Rassismus und den Mythos von der Rassendemokratie; die rechtsfreien Räume, in denen Milizen und Drogenbanden ihr Unwesen treiben sowie das damit zusammenhänge Problem der Rechtsstaatlichkeit. Dabei will er jedoch nicht nur die aktuelle Problemlage, sondern auch ihre historischen Wurzeln analysieren. Von besonderer Aktualität ist das Thema „Amazonien – der Naturraum von globaler Bedeutung“, denn es brennt zurzeit in Brasilien wie seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr: in diversen Gebieten und vor allem am Amazonas. Die Problematik des Amazonas Der Autor analysiert die vielfältigen Ursachen wie z.B. ... die internationale Gier nach Rohstoffen in einem der größten und wichtigsten Ökosysteme des Planeten. Quelle: Andreas Nöthen – Brasilien Doch ebenso den nationalen Raubbau. Er verweist auf die Anstrengungen, die vor allem Lula da Silva immer wieder unternommen hat, und auf die kaum zu überwindende Grenze: Denn in der brasilianischen Binnenwahrnehmung ist das Areal nach wie vor in erster Linie ein unerschöpfliches Rohstofflager und ein wirtschaftlicher Entwicklungsraum. Das Thema Umweltschutz hat in der brasilianischen Politik derzeit keine Lobby. Quelle: Andreas Nöthen – Brasilien Deutsche Einwanderung nach Brasilien Ein besonderes Kapitel stellen die Beziehungen zwischen Brasilien und Deutschland dar. Sie begannen vor zweihundert Jahren und erreichten in der Zeit zwischen 1930 und 1950 ihren tragischen Höhepunkt. Damals verweigerte die Regierung Vargas mit rassistischen Gesetzen flüchtenden Juden die Visa. Nur dank des Muts einiger weniger brasilianischer Diplomaten gelang es vielen, in Brasilien unterzukommen. Später mussten sie oft Tür an Tür mit geflohenen Naziverbrechern leben, die problemlos ins Land gelassen wurden. Andreas Nöthen ist mit seiner dritten Annäherung an Brasilien ein außergewöhnliches Werk gelungen, in dem er eine Vielzahl von Aspekten zu einer hervorragenden Gesamtschau zusammenfügt und viele neue Einblicke in die Komplexität der Probleme und die Möglichkeiten dieses großen Landes bietet.…
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1 Hape Kerkeling – Gebt mir etwas Zeit. Meine Chronik der Ereignisse 4:38
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4:38Seit meiner Kindheit wollte ich wissen: Woher kommen meine Vorfahren? Quelle: Hape Kerkeling Deshalb hat Hape Kerkeling seine DNA auf seine Herkunft analysieren lassen und mit dieser Unterstützung Ahnenforschung betrieben. Vor allem hat er seine niederländischen Wurzeln bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgt. Einige der recherchierten Verwandten präsentiert er in seinem neuen Buch „Gebt mir etwas Zeit“: Da war alles dabei vom Seefahrer bis zum großen Händler, bis zum, ja, Sadisten, muss ich wohl leider sagen. Adlige. Also wirklich eine ganz verrückte Truppe. Fastnachtsdichter aus dem 14. Jahrhundert habe ich plötzlich aufgetrieben. Und so habe ich dann so peu à peu mein Familienpuzzle zusammenstellen können. Quelle: Hape Kerkeling Ein Hutgeschäft als getarntes Bordell Das Buch ist zum Glück kein trockenes Werk für Ahnenforscher-Nerds, sondern lebt von den vielen wunderbar anschaulich erzählten Geschichten aus Kerkelings Leben. Zugleich ist es eine Liebeserklärung an Amsterdam. „Gebt mir etwas Zeit“, der titelgebende Spruch, ist an einem Haus aus dem 17. Jahrhundert in Amsterdam zu lesen. Dort lebte der Hutmacher Cornelis Kerkeling. Hape Kerkeling vermutet, dass das Hutgeschäft seines Vorfahren ein getarntes Bordell war: Wir kennen ja diese Coffeeshops, in denen alles verkauft wird, nur kein Kaffee. Und so hatten die Holländer damals Hutläden. Und da der Hut und die Auswahl eines Hutes etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen und da in einen solchen Laden Männer und Frauen gehen können und da man auch mal den Vorhang zuziehen konnte bei der Hut-Anprobe, hat sich dann irgendwann durchgesetzt, dass die Hutläden eben die versteckten Bordelle waren. Quelle: Hape Kerkeling Als Sechsjähriger besucht Hape Kerkeling mit seinen Eltern Amsterdam und will dort gar nicht mehr weg. Später, als er als junger Mann im Fernsehen Karriere macht und darunter leidet, dass er seine Homosexualität nicht offen ausleben kann, besucht er gern das damals, also Mitte der 80er, schon tolerantere Amsterdam. Dort verliebt er sich in Duncan, einen Niederländer. Die beiden werden ein Paar. Aber dann hat Duncan AIDS. Tragische Liebesgeschichte in Amsterdam Der völlige Terror überfällt Duncans Körper. Eine normale Nachtruhe existiert nicht mehr. Als Partner eines Erkrankten entwickelt man im Laufe der Zeit absurde Kosymptome wie Fieber, Atemnot oder Bluthochdruck. Angst verspüre ich allerdings keine mehr. An ihre Stelle ist eine dumpfe Resignation getreten [...]. Quelle: Hape Kerkeling – Gebt mir etwas Zeit. Meine Chronik der Ereignisse 1989 stirbt Duncan. Und so ist für Hape Kerkeling Amsterdam vor allem der Ort einer großen Liebe und einer noch größeren Tragödie: Es hat mich Mut gekostet, darüber zu schreiben, weil das ist natürlich sehr privat. Quelle: Hape Kerkeling Als Menschenfreund vertraut Kerkeling uns Lesern das an. Und so leiden wir mit ihm, aber lachen auch viel über die skurrilen Geschichten. Wie gerne wäre man dabei gewesen, als er als Kind mit seiner Großmutter Bertha, die sich nach dem Suizid seiner Mutter liebevoll um ihn kümmerte, auf der Eckbank saß. Verblüffende Ähnlichkeit mit dem Herzog von Kent Bei Kaffee und Streuselkuchen lasen beide Illustrierte mit den Neuigkeiten zu den europäischen Königshäusern. Dabei fiel Hape Kerkeling auf, dass Herzog Edward von Kent Großmutter Bertha verblüffend ähnlich sah. Das habe ich meiner Großmutter gesagt. Und dann ist sie puterrot angelaufen und hat darüber nicht weiter reden wollen. Und dann hat sich eben im Rahmen dieser Forschung herausgestellt, dass diese Ähnlichkeit kein Zufall ist und dass meine Großmutter tatsächlich ein uneheliches Kind von König Edward VII. ist, der eine Liebschaft hatte mit meiner Urgroßmutter, Omma Agnes, Agnes Sattler, aus Marienbad. Und aus diesem Gspusi, aus diesem Techtelmechtel, ist meine Großmutter hervorgegangen. Quelle: Hape Kerkeling Eine unfassbare Entdeckung, sollte es denn wirklich so gewesen sein. Seine Oma die uneheliche Tochter eines Königs, was bedeutet das für Hape Kerkeling? Wäre sie in der Thronfolge gewesen, dann wäre ich heute in etwa auf Platz 111. Ob ich König werden will? Ja, aber ich werd's nicht. (lacht leise auf) Quelle: Hape Kerkeling „Gebt mir etwas Zeit“ ist ein unterhaltsames und anrührendes Buch über Herkunft und Zugehörigkeit. Nach der Lektüre ist uns der Mensch Hape Kerkeling wieder ein Stück näher gekommen. Und wir ertappen uns bei dem Gedanken, wer wohl unsere Vorfahren waren.…
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„Ach, wir kennen uns wenig, / Denn es waltet ein Gott in uns.“ In diesen Zeilen von Friedrich Hölderlin muss man nur ein Wort ersetzen, und schon ist man bei Sigmund Freud: Wir kennen uns wenig, denn es waltet das Unbewusste in uns. Damit ist zugleich das Sujet des ersten Romans der Britin Jane Campbell umrissen: die Differenz zwischen Selbstwahrnehmung und Realität. Oder, wie es im Buch heißt: Ein Stein, schreibt er, der von einer äußeren Ursache angestoßen worden sei, wäre, wenn er ein Bewusstsein hätte, davon überzeugt, dass er ,nur darum in seiner Bewegung verharre, weil er es so wolle‘. Quelle: Jane Campbell – Bei aller Liebe Das Bild stammt vom Philosophen Baruch Spinoza, der bekanntlich von der Idee des freien Willens nicht viel hielt. Campbells Roman „Bei aller Liebe“ verbindet diesen Gedanken mit den undurchschaubaren Mechaniken unserer Seele, die besonders unrund laufen, wenn es um die Spielarten der Liebe geht, die „interpretations of love“, wie das Buch im Original heißt. Die Gegenwart der Handlung sind die Neunzigerjahre, Auslöser aber sind Dinge, die sich Jahrzehnte zuvor ereignet haben. Es geht um Erinnerungslücken, Reue und Vergebung und einige letzte Dinge. Neben Freud werden Joseph Conrad und C. G. Jung zitiert. „Bei aller Liebe“ ist also kein seichtes Lesefutter, vielmehr die Sorte gut gemachter, anspruchsvoller Unterhaltung, mit der etwa auch Campbells Landsleute Julian Barnes und Ian McEwan ihre Leserschaft fordern und erfreuen. Unter Professoren und Psychotherapeuten Dementsprechend intellektuell ausgestattet sind die drei Protagonisten, die im Wechsel erzählen: der altersdepressive, emeritierte Oxforder Alttestamentler Malcolm Miller, seine geliebten Nichte Agnes Stacey, eine Philosophieprofessorin Mitte fünfzig, sowie der Arzt und Psychoanalytiker Joe Bradshaw, den mehr mit seiner ehemaligen Patientin Agnes verbindet, als er lange Zeit ahnt. Als junge, unglücklich verheiratete Frau hat sie ihn einst so fasziniert, dass er fast die berufsethischen Grundsätze des Therapeuten vergessen hätte. Warum dies fatal gewesen wäre, enthüllt das Buch auf den ersten Seiten, in einem Brief, den Malcolms Schwester Sophy kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs an Joe Bradshaw geschrieben hatte. Sie wollte zu dem jungen Sanitäter, den sie nach einem leidenschaftlichen One-Night-Stand mitten im Bombenhagel aus den Augen verloren hatte, wieder Kontakt aufnehmen. Unter anderem, weil sie, inzwischen Ehefrau und Mutter, annahm, bei der Gelegenheit sei ihre Tochter Agnes gezeugt worden. Ihren Bruder Malcolm beauftragt Sophy mit der Übergabe des Briefs an Joe. Doch als sie am selben Tag tödlich verunglückt, entschließt sich Malcolm nach Lektüre, diese Blätter für sich zu behalten. Erst fünfzig Jahre später rückt er damit heraus. Was im Leben sowohl von Agnes als auch von Joe als Volltreffer einschlägt. Wie geht man damit um, dass die Patientin sich als Tochter, der Therapeut sich als Vater entpuppt? „Es ist alles ein Haufen Mumpitz, und dennoch ...“ Zwar ist das Buch nicht, wie der deutsche Verlag nahelegt, ein Roman voller „Psychotherapeut:innen“. Aber es ist der Roman einer Psychotherapeutin, und man darf getrost annehmen, dass es Jane Campbells eigene Sicht der Dinge wiedergibt, wenn Joe Bradshaw über die Freud’sche Psychoanalyse sagt: Ich denke, es ist alles ein Haufen Mumpitz [...]. Und dennoch ist die Arbeit jenes alten Wiener Magiers unschätzbar, unersetzlich. Sie hat uns allen ein höchst raffiniertes, elastisches Netz komplexer Semantik verfügbar gemacht, in dem wir herumhüpfen und die Bedeutungen des Lebens, denen wir jeweils anhängen, prüfen können. Quelle: Jane Campbell – Bei aller Liebe Natürlich hat der Analytiker Joe diese Prüfung regelmäßig vorgenommen – und sich, dem Stein Spinozas vergleichbar, erfolgreich eingeredet, er sei Herr seiner Entscheidungen. Dabei ist es der Prügel des Begehrens, der ihn ebenso regelmäßig in unabsehbare Richtungen, sprich, zu neuen Frauen geschleudert hat. Doch auch Agnes kennt sich wenig. Am Morgen des Hochzeitsempfangs ihrer Tochter trennt sie sich von ihrem verheirateten Liebhaber, küsst mittags kurzentschlossen einen Mann, der sie seit langem verehrt, und landet am Ende des Tages doch wieder mit dem bisherigen Geliebten im Bett. Schmaler Grat zwischen Selbstsucht und Selbstlosigkeit Malcolm wiederum, der Oxforder Theologieprofessor, muss einsehen, dass es nicht etwa eine selbstlose Tat war, im besten Interesse der verwaisten kleinen Nichte, den Brief seiner Schwester zu unterschlagen, sondern ein Akt der Selbstsucht, weil er die Liebe des Kindes nicht teilen wollte. Damit hat er Agnes nicht nur den leiblichen Vater, sondern auch die Möglichkeit vorenthalten, ihre schmerzhaft vage Erinnerung an die verlorene Mutter zu vervollständigen. Aber ihm wird am Ende verziehen: Und so, wie zum Beweis, dass niemand von uns wissen kann, wie eine Geschichte enden wird, stellte sich heraus, dass ich letztlich doch an meiner eigenen Erlösung, wenn das das richtige Wort ist, mitgewirkt habe. Ausnahmsweise rückte ich einmal von den Rändern meines Lebens in dessen Zentrum, und Agnes, die schöne, kluge Agnes mit ihrer besonderen Bereitschaft, überschäumende Freude zu empfinden und zu schenken, hielt mich und tröstete mich und vergab mir, und ich spürte, wie mein Herz sich wieder bewegte. Quelle: Jane Campbell – Bei aller Liebe Der schonungslose Blick, der an Campbells Erzählungen gerühmt wurde, ist hier nicht selten tränenverschleiert. Zum Glück rumpeln die verschiedenen Beziehungsdreiecke so munter aneinander, dass sich über all den herzzerreißenden Wendungen eine milde Ironie ausbreitet. Es ist die Ironie des Lebens selbst, das ja immer auch ganz anders hätte verlaufen können. Ein paar kleinere doppelte Böden, die Campbell einbaut, lassen das wacklige Fundament aller menschlichen Erinnerung erkennen. Wer sich an ein paar Leerstellen und losen Enden der etwas zu ambitionierten Konstruktion nicht stört, wird einen Roman lesen, der zum Weinen und zum Lachen bringt – und vor allem dazu, sich nicht allzu sehr auf die Weisheit eigener Entscheidungen zu verlassen.…
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1 Zum 100. Geburtstag von Siegfried Unseld 10:18
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10:18Siegfried Unseld war ein mächtiger Mann. Wenn er den Raum betrat, dann war es voll. Der Schriftsteller Rainald Goetz erinnert sich an die erste Begegnung mit seinem Verleger, der ihm mit schwingenden Armen im Seemannsgang entgegengekommen sei. Dabei habe er sich kurz mit der Linken zwischen die Beine gegriffen, um zu heben und zu lockern was dort hing. Goetz war hingerissen von dieser „fein abgezirkelten Unkultiviertheit“: Dass ein solcher König der geistigen Welt, wie es Unseld damals war, in der Erstbegegnung mit einem neuen Autor so entschieden erdig auf seine Physis und deren Vitalität hinweist, mit einer im bürgerlichen Kontext so ungewöhnlich deplatzierten Geste (…), das war ein Hinweis auf die immense Spannung von Unselds Naturell, die ihm in so einzigartig reicher Weise Zugang zu den unterschiedlichsten Welten, Ideen und vor allem eben Menschen ermöglicht hat. Quelle: Stephan Schlak, Jan Bürger - Zeitschrift für Ideengeschichte Herbst 2024: Unternehmen Unseld Rainald Goetz‘ Unseld-Würdigung ist zu finden in der aktuellen Ausgabe der „Zeitschrift für Ideengeschichte“, die – pünktlich zum hundertsten Geburtstag – dem „Unternehmen Unseld“ gewidmet ist. Goetz zeigt damit schlaglichtartig die Spannweite dieses Mannes, der im Suhrkamp-Verlag zwischen den Portalfiguren Hermann Hesse und Bertolt Brecht alles unterbrachte, was Rang und Namen hatte. Max Frisch, Martin Walser, Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger machte er zu seinen engsten Beratern. Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann und später Peter Sloterdijk prägten mit ihren Schriften das Land, in dem es ohne die edition suhrkamp kein 1968 gegeben hätte. Patriarch mit Armbanduhr Dass Unseld ein Patriarch alter Schule und der Suhrkamp-Verlag eine Männerdomäne war, arbeitet Mara Delius in ihrem Beitrag für das Ideengeschichtsheft heraus. Das ist so wahr wie naheliegend. Aufschlussreich sind daneben Texte von Niklas Maak über die Unseld-Villa in Frankfurt am Main, von Detlev Schöttker über die edition suhrkamp und ihre Einbände in Regenbogenfarben, das Gespräch mit dem ehemaligen Hanser-Verleger und Unseld-Bewunderer Michael Krüger oder kleine Beobachtungen von Durs Grünbein, dem es vor allem Unselds imposante Armbanduhr angetan hat: Bei der ersten Audienz / sah ich immer nur / Unselds Uhr / aus Verlegenheit / ging der Blick beiseite / von der Statur / des großen Verlegers / zum Handgelenk / in dieser Sternstunde / war es die Uhr / an Unselds Arm / die mich beruhigte / wie der solide Mann Quelle: Stephan Schlak, Jan Bürger - Zeitschrift für Ideengeschichte Herbst 2024: Unternehmen Unseld Die Bedeutung Unselds für die deutsche Nachkriegsgeschichte ist gar nicht hoch genug anzusetzen. Unseld wurde zum geistigen Patron einer ganzen Epoche und war zugleich ein umtriebiger Geschäftsmann. Linke schmähten ihn als Kapitalisten, der aus Büchern mit kapitalismuskritischer Theorie Rendite erwirtschafte. Doch für Unseld waren geistiger Einfluss und wirtschaftlicher Erfolg keine Gegensätze. Mit dem Tod Peter Suhrkamps 1959 zum Verlagsleiter aufgestiegen, verwandelte er den kleinen Suhrkamp-Verlag zielstrebig ein florierendes mittelständisches Unternehmen, dessen Umsatz 1990 an der hundert Millionen-Marge kratzte. Dabei verstand sich der Verleger immer auch als Förderer und finanzieller Rückhalt seiner Autoren, die er, wenn es sein musste, auch ein Leben lang unterstütze – so wie Wolfgang Koeppen mit seiner legendären Schreibblockade, wohl wissend, dass dessen nächster Roman niemals fertig und vielleicht noch nicht einmal angefangen werden würde. Briefband zeigt Siegfried Unselds Erfolgsgeheimnis Unselds Erfolg beruhte auf seiner Leidenschaft für die Literatur. Seine Arbeit empfand er als Lebensglück, sechzehn Stunden am Tag machten ihm nichts aus. Wissen Sie, dass ich am Morgen, beim Aufstehen, glücklich bin, wieder einen Tag, einen Arbeitstag vor mir zu haben? Quelle: Siegfried Unseld – Hundert Briefe. Mitteilungen eines Verlegers 1947-2002 … schrieb er im Februar 1966 an den „lieben Max Frisch“, nachdem sein Schweizer Star-Autor ihm harsch die Meinung gegeigt und ein zunehmendes „Primat des Kommerziellen“ beklagt hatte. Unseld konnte jedoch für sich in Anspruch nehmen, nicht bloß einzelne Bücher, sondern ganze Werke zu verlegen. Frischs Vorwurf setzte er sein verlegerisches Credo entgegen: Der Verlag, jedenfalls der Verlag, den ich mir denke, mein Verlag, ist eben keine Firma, keine Agentur für Literaturverwertung, da bin ich, Sie haben ganz recht, Romantiker genug. Quelle: Siegfried Unseld – Hundert Briefe. Mitteilungen eines Verlegers 1947-2002 Unselds Antwort an Frisch ist einer von hundert Briefen, die die beiden Herausgeber Ulrike Anders und Jan Bürger in der Bibliothek Suhrkamp vorlegen. Die „Hundert Briefe“ sind ein verschwindend kleiner Prozentsatz des Gesamtkonvoluts, das angeblich mehr als 50.000 Exponate aus mehr als einem halben Jahrhundert umfasst. Die kleine Auswahl bildet Unselds Lebenslauf vom Verlags-Lehrling in Ulm 1947 bis zum Tod des Patriarchen im Jahr 2002 ab, zeichnet ein intellektuelles Panorama und deutet die Verlagsgeschichte an. Als literarisches Großepos sind Unselds Briefe noch zu entdecken, auch wenn die Korrespondenzen mit Uwe Johnson, Peter Handke, Thomas Bernhard und Wolfgang Koeppen bereits in umfangreichen Einzelausgaben vorliegen. Neben dem Briefwerk erhebt sich mit Unselds seit 1970 geführter „Chronik“ ein weiteres Text-Gebirge, das von seiner unfassbaren Produktivität und Umtriebigkeit zeugt. Tag für Tag hat Unseld hier alle Begegnungen, Gedanken, Pläne, Ereignisse, Privates, aber vor allem Geschäftliches festgehalten. Die Begründung dafür lieferte er 1976 selbst: Indem ich diese Chronik schreibe, beurteile, bewerte ich das unmittelbar Vergangene, durch Auswahl oder durch meine Sicht. Ich halte das in der Chronik Geschriebene für die Geschichte des Verlages fest, damit der Hintergrund der Vorgänge nicht verloren gehe. (…) Nichts ist für mich so mächtig wie die Macht des Geschriebenen. Quelle: Siegfried Unseld – Hundert Briefe. Mitteilungen eines Verlegers 1947-2002 Die Chronik gehört heute zum Bestand des Siegfried Unseld Archivs, dem wohl umfangreichsten Nachlass, der im Deutschen Literaturarchiv in Marbach erschlossen wird. Zu Unselds Hundertstem wird sie nun online frei zugänglich. Geduld und Großmut mit den Literatur-Stars Zeigt Unseld sich in der Chronik nachdenklich und unverstellt, so agierte er als Briefeschreiber eher taktisch. Die Briefe bezeugen Kraft und Kalkül, Charme und auch Härte eines Mannes, der immer genau zu wissen schien, was er wollte. Er konnte umschmeicheln und umwerben, ohne dass die Umschmeichelten das merkten. Er konnte Anteil nehmen in schweren Stunden und musste sich doch ständig und reihum den Vorwürfen seiner Autoren stellen, die immerzu darüber klagten, er kümmere sich zu wenig um sie. Ein Ensemble von Stars zu vereinen, gleicht der Quadratur des Kreises. Unseld hat diese Kunst mit der nötigen Geduld und Großmut beherrscht. Seine Briefe setzten die Gespräche fort, bündelten sie, machten Angebote, warben, widersprachen, dienten aber auch der Selbsterforschung und der Festigung der eigenen Position. Wichtiger als die Briefe war diesem Kommunikationsgenie nur das persönliche Gespräch, so auch im Konflikt mit Max Frisch: Es wäre jetzt schöner, säßen wir uns gegenüber, mit oder ohne Wein, lieber mit. Quelle: Siegfried Unseld – Hundert Briefe. Mitteilungen eines Verlegers 1947-2002 Die Einsamkeit des Erfolgs Unseld wollte Freund sein, nicht nur Partner. Das war schwer, weil der Verleger eben immer auch Unternehmer ist und das Geschäftliche die Freundschaft durchkreuzt. In Gelddingen müsse man Freunde wie Feinde betrachten, schrieb er an Ingeborg Bachmann, was bedeutet, man müsse sich „präzise an Abmachungen halten“. So wurde es um den Menschensammler Unseld, der so gerne der Freund seiner Autoren gewesen wäre, immer einsamer. Am 1. Januar 1977, dem 25. Jubiläum seines ersten Arbeitstages im Hause Suhrkamp, notierte er in seiner „Chronik“: Erfolg: das war oft harte Arbeit, aber im Ganzen bedeutete es doch Freude, Glück. Wer Erfolg hat, wird immer einsamer. Man kann Freundschaften empfinden, aber die Zahl derer, auf deren freundschaftliche Empfindung man zu vertrauen glaubt, schrumpft. Quelle: Siegfried Unseld – Hundert Briefe. Mitteilungen eines Verlegers 1947-2002 Eine dieser Freundschaften, an der er über alle Differenzen hinweg festhielt, verband ihn mit dem späteren amerikanischen Außenminister Henry Kissinger, seit er im Jahr 1955 das von ihm geleitete „International Seminar“ in Harvard besucht hatte. Buch über die transatlantische Freundschaft mit Henry Kissinger Der Publizist Willi Winkler hat nun über diese Freundschaft ein ganzes Buch geschrieben, das Kissingers Werdegang vom drangsalierten jüdischen Schuljungen aus Fürth, der im amerikanischen Exil zu einem der einflussreichsten Politiker des Landes wurde, mit Unselds Lebenslauf von der Ulmer Hitlerjugend über die Kriegsmarine zum bedeutendsten Verleger miteinander kurzschließt. Die Geschichte des Suhrkamp-Verlags betrachtet Winkler mit besonderem Schwerpunkt auf die wechselhaften transatlantischen Beziehungen, von Amerikabegeisterung der Autoren bis hin zu schrillen Protesten zur Zeit des Vietnamkrieges. Das ist durchaus informativ, wenn auch ziemlich holzschnitthaft. Unseld hielt auch dann treu zu Kissinger, als der als Berater Nixons mitverantwortlich war für Krieg und Napalm-Einsatz. Gegenüber seinen Autoren versuchte er stets, das Politische zurückzudrängen, jedenfalls nicht zur Richtschnur einer Freundschaft zu machen. Nur so war es möglich, im Verlag die verschiedensten Charaktere und politischen Strömungen nebeneinander bestehen zu lassen. Unselds historische Leistung bestand genau darin, dass er den Verlag als Abbild der geistigen Situation der Zeit begriff und nicht als Stoßtrupp in diese oder jene politische Richtung. Als Verleger suchte er zu dämpfen und auszugleichen. Dafür brauchte es diesen raumfüllenden, vorwärtsstürmenden, wollenden Mann, der Konflikte und persönliche Attacken aushalten konnte und seinen Korrespondenzpartnern auch geistig ebenbürtig war. Das lässt sich vor allem in den „Hundert Briefen“ Unselds noch einmal beeindruckend nachvollziehen.…
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1 Elke Schmitter – Alles, was ich über Liebe weiß, steht in diesem Buch 11:28
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11:28Erzählerin Helena ist Künstlerin, Levin ist Musikphilosoph. Die beiden lernen sich auf einer Party kennen und stürzen sich ineinander. Ein Bildungsroman und zugleich ein Einbildungsroman über das emotionalste Thema, das es geben mag. Warum Elke Schmitter die Liebe der beiden Romanfiguren nicht auf einer Dating-App beginnen ließ und welche Erkenntnisse sie heute über die Liebe ziehen kann, erzählt die Autorin im Gespräch mit Anja Brockert.…
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1 Liebesleid und Leseglück – Neue Bücher von Elke Schmitter, Hape Kerkeling und zum 100. von Siegfried Unseld 54:59
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54:59Diesmal im „lesenswert Magazin“: Ein Gespräch über Liebesleid, Ahnenforschung mit Hape Kerkeling und Neuerscheinungen zum 100. Geburtstag von Siegfried Unseld. „Alles, was ich über Liebe weiß, steht in diesem Buch“ : In ihrem neuen Roman erzählt Elke Schmitter vom Rausch der Verliebtheit und den Qualen, die eine gescheiterte Amour mit sich bringen kann. Amüsant, sensibel und mit scharfem analytischen Blick. Der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld liebte die freundschaftliche Verbindung zu seinen Autorinnen und Autoren. Zu Unselds 100. Geburtstag zeigen jetzt mehrere Neuerscheinungen, wie der große deutsche Verleger die intellektuelle Kultur seiner Epoche mitgeprägt hat. Hape Kerkeling hat ein Buch über seine niederländischen Vorfahren geschrieben – und über eine Liebe im Amsterdam der 1980er Jahre, die durch AIDS tragisch endet. „Gebt mir etwas Zeit“ heißt sein Buch mit berührenden und skurrilen Geschichten. Und die 82-jährige britische Psychotherapeutin Jane Campbell hat jetzt ihren ersten Roman veröffentlicht: „Bei aller Liebe“ . Darin tummeln sich Analytiker und andere kluge Leute, die allesamt nicht erkennen, was sie im Inneren antreibt. Außerdem: Ein Reisebuch von Aldous Huxley und ein kurzer Lesetipp von der Schriftstellerin Katja Lange-Müller. Musik: Amanda Bergman - Your hand forever checking on my fever Label: Cow Cow…
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1 Huxley – Along the Road. Aufzeichnungen eines Reisenden 6:07
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6:07Aldous Huxley ist weltberühmt durch eine Reise ins Jahr 2540. Aus dem dann weltumspannenden Rundum-Wohlfühl-Totalitarismus berichtet sein Roman „Schöne neue Welt“. Huxley ist aber auch viel in der alten Welt, bevorzugt Italien, gereist. Daraus resultierte sein Buch „Along the Road“ – kein Reisebericht üblicher Art, sondern eine zwischen Ernst und Witz changierende Sammlung von Essays zu vielfältigen Reise-Themen. „Warum nicht lieber zuhause bleiben“ lautet der Titel des ersten Stücks. In Wahrheit würden die meisten Reisenden nicht gern reisen, so Huxleys Befund. Deshalb gäben sie unterwegs auch kein erfreuliches Bild ab: Touristen sind im Allgemeinen ein recht trübseliger Haufen. Ich habe schon bei Beerdigungen fröhlichere Gesichter gesehen als auf dem Markusplatz. Quelle: Aldous Huxley – Along the Road. Aufzeichnungen eines Reisenden Warum aber wird dann so viel gereist? Weil es dazugehört, weil es alle tun, weil es Sozialprestige bringt. Und so werden die Mythen des Reisens ein ums andere Mal nachgesprochen, etwa: „Paris ist einfach wunderbar.“ Schwitzende Wandervögel Neben den Touristen aus Konvention gebe es aber noch jene wahren Reisenden, die dem Unterwegssein wie einem Laster frönen. Huxley zählt sich natürlich selbst dazu, wobei er am liebsten bequem im eigenen Auto reist, mit seiner Frau am Steuer. Mit Spott blickt er auf die damals trendige Bewegung der Wandervögel, zumeist schwitzende Deutsche, an denen er entspannt vorbeifährt. Zu Fuß latschen ist seine Sache nicht. Die Liebe zur Natur und zum Landleben ist für ihn eine Erfindung jener Menschen, die in unwirtlichen, kühlen, verregneten Gegenden leben müssen, insbesondere der Engländer also, die diese Passion parallel zur Industrialisierung entwickelten: Es sollte niemanden überraschen, dass die Menschen, die ihre Städte als Erste durch Krach und Dreck unbewohnbar gemacht haben, auch die ersten waren, die ihre Liebe zur Natur entdeckten. Quelle: Aldous Huxley – Along the Road. Aufzeichnungen eines Reisenden Ein wichtiges Thema ist die richtige Reiselektüre. Huxley schmäht den Baedecker. Stattdessen hat er überall einen handlichen Dünndruckband der „Encyklopädia Britannica“ dabei, egal welcher Buchstabe. Die kurzen, abgeschlossenen Einträge seien genau das Richtige für den kleinen Lektürehappen unterwegs. Beim Stöbern in diesem Angebot phantastisch unterschiedlicher Fakten, die der Zufall des Alphabets zusammenführt, fröne ich meinem geistigen Laster. Ein Band der „Encyclopädia“ ist wie das Gehirn eines gebildeten Wahnsinnigen – voll mit richtigen Ideen, zwischen denen es aber keine Verbindung gibt. Quelle: Aldous Huxley – Along the Road. Aufzeichnungen eines Reisenden Das schönste Bild der Welt Mehrere Essays widmet Huxley einzelnen seiner Reisen, etwa in italienische Bergorte abseits der Touristenströme. Auffallend ist dabei, dass er Landschaften mit dem Blick eines Malers wahrnimmt und sie oft mit berühmten Kunstwerken vergleicht. Im Rathaus des toskanischen Städtchens Borgo Sansepolcro stößt er auf das, wie er schreibt, „schönste Bild der Welt“. Es ist Piero della Francescas Fresko „Die Auferstehung Christi“ mit einem athletischen Jesus. Huxleys Schwärmerei hatte außergewöhnliche Wirkung: Weil er diesen Text gelesen hatte, verzichtete im Zweiten Weltkrieg ein britischer Artillerieoffizier auf den Beschuss des umkämpften Ortes. In Siena dagegen triumphiert nicht die gebildete Beschaulichkeit, sondern der Sport – Huxley beschreibt eines der berühmtesten Pferderennen der Welt. Beim Palio rasen die Jockeys auf dem sandbestreuten Pflaster des Hauptplatzes der Stadt im Dreieck, und die gefährlichsten Hausecken sind mit Matratzen gepolstert. Die Fahrradfahrer von Amsterdam Diese skurrile und geistreiche Reportage ist ein Höhepunkt des Buches, ebenso Huxleys pointierter Essay über die geometrischen Niederlande. In Amsterdam irritieren ihn die „korpulenten Kurtisanen“ in den Fenstern und die hunderttausend Fahrradfahrer: Vierjährige Kinder transportieren Dreijährige auf der Lenkstange. Mütter strampeln fröhlich mit schlafenden Säuglingen hinten im Korb auf dem Gepäckträger dahin. Botenjungen finden nichts dabei, zwei Kubikmeter große Pakete auf dem Fahrrad zu transportieren. Quelle: Aldous Huxley – Along the Road. Aufzeichnungen eines Reisenden Zum Reisen gehören die Begegnungen mit Menschen. Größere Geselligkeit ist Huxley jedoch verhasst. Denn er weiß, er macht da keine gute Figur: Ich glänze nicht in Gesellschaft, ja, ich schimmere nicht einmal. Unterbelichtet zu sein und es auch noch zu wissen, ist demütigend. Quelle: Aldous Huxley – Along the Road. Aufzeichnungen eines Reisenden Wenn Huxley dann die Details seiner gesellschaftlichen Inkompetenz aufzählt, schimmert und strahlt immerhin sein Talent zu gewitzten, selbstironischen Formulierungen, die in Willi Winklers frischer Übersetzung gut zur Geltung kommen. Das Freizeitproblem Von dem Autor, der wenige Jahre später „Schöne neue Welt“ geschrieben hat, ist in „Along the Road“ allerdings nur wenig zu spüren – abgesehen vom letzten Essay über Arbeit und Freizeit, der die Zukunft im Zeichen von Automatisierung und „synthetischen Lebensmitteln“ beschwört. Die Verkürzung der Arbeitszeit werde neue Probleme bringen: die Zunahme von nervösen Beschwerden wie Langeweile, Übellaunigkeit, Unruhe oder Verliebtheit. Schöne neue Welt, die dagegen vorsorgt mit Glücksdrogen und Spaßkultur. Denn… …bei den meisten wird der Kopf erst beschäftigt, wenn es gar nicht mehr anders geht. (…) Für einen Großteil der Menschen endet die intellektuelle Entwicklung bereits in der Kindheit, das weitere Leben durchschreiten sie mit den intellektuellen Fähigkeiten von Fünfzehnjährigen. Quelle: Aldous Huxley – Along the Road. Aufzeichnungen eines Reisenden „Along the Road“ ist eine Lektüre für Leser ab sechzehn, amüsant, anregend, mit ein paar Längen bei den Kunstbetrachtungen. Manche Seiten überblättert man, um andere dafür zweimal zu lesen. Im Ernst: Dass es bisher nie eine deutsche Ausgabe dieses charmanten Buches über das Reisen gab, ist beinahe ein Witz.…
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1 Ross Thomas – Die Narren sind auf unserer Seite 4:09
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4:09Der US-amerikanische Politthriller-Autor Ross Thomas ist bekannt für seine sorgsam verwickelten, kaum zusammenzufassenden Plots. Sein längster Roman „Die Narren sind auf unserer Seite“ ist keine Ausnahme. Im Mittelpunkt steht Lucifer Dye. Er ist – sein Name lässt es vermuten – ein etwas zwielichtiger Typ. Gerade erst wurde er von einem halbstaatlichen US-amerikanischen Geheimdienst namens Sektion 2 aus der Haft in Hongkong herausgekauft und gezwungen, seine Arbeit für Sektion 2 einzustellen. Dubiose Berater und Einflussnahme Da erhält er von dem dubiosen Berater Victor Orcutt ein Angebot: In der fiktiven mittelgroßen Stadt Swankerton – irgendwo zwischen Mobile, Alabama und Galveston, Texas – kündigt sich ein wirtschaftlicher Boom an. Deshalb wollen gewisse Geschäftsleute den anstehenden örtlichen Wahlkampf zu ihren Gunsten beeinflussen. Wissen Sie, Mr. Dye, Städte sind faszinierende Mikrokosmen der Welt, in der wir leben. Natürlich zerstören wir sie, und im Gegenzug zerstören sie uns. Ach, ich meine nicht buchstäblich, wenn auch Smog und Verkehr und Feuer und Unruhen durchaus ihren Zoll verlangen. Aber die Rolle der Stadt hat sich in den letzten dreißig Jahren drastisch verändert – zu unseren Lebzeiten. Quelle: Ross Thomas – Die Narren sind auf unserer Seite „Die Narren sind auf unserer Seite“ ist im US-amerikanischen Original bereits 1970 erschienen, dennoch lassen sich mühelos Parallelen in die Gegenwart ziehen: Gentrifizierung, Verödung der Innenstädte, Rassismus und Bestechlichkeit haben ein „Klima der Apathie“ erzeugt – und damit ideale Voraussetzungen, um Menschen und Wahlkämpfe zu korrumpieren. Gierige Politiker, korrupte Cops Gierige Politiker und Cops arbeiten mit dem organisierten Verbrechen zusammen, um sich zu bereichern. Keine Seite ist besser als die andere. Diese Ununterscheidbarkeit von Politik und Verbrechen ist ein wesentliches Merkmal des Werks von Ross Thomas, das seit 2005 in einer editorischen Großleistung im Alexander Verlag neu herausgegeben wird. Der 1926 in Oklahoma geborene Ross Thomas erzählt, wie sich globale Zusammenhänge bis in Kleinstädte auswirken – und seine 25 Romane bestechen mit politischem Scharfsinn, stets nah an der Realität, aber eben doch Literatur. Sechster Roman von Ross Thomas „Die Narren sind auf unserer Seite“ ist sein sechster Roman, auf Deutsch erstmals 1972 in einer verstümmelten Übersetzung im Ullstein Verlag erschienen. 144 Seiten lang. Die Neuübersetzung von Julian Haefs und Gisbert Haefs hat nun 580 Seiten und damit Originallänge. Eine Besonderheit dieses Romans: Der Protagonist Lucifer Dye erhält eine ausführliche Hintergrundgeschichte, in der der japanische Bombenangriff auf Shanghai 1937 wie der Angriff auf Pearl Harbour 1941 zentrale Rollen spielen. Hochkomische Dialoge Sie sorgt für mehr Verwicklungen, mehr Plot, mehr Personen – unterläuft aber auch Ross Thomas‘ perfekte Erzählökonomie der späteren Romane. Dafür entwickelt sich inmitten typischer Ross-Thomas-Machenschaften und bissiger, hochkomischer, tiefsinniger Dialoge die Charakterstudie eines verlorenen Mannes, der sich von der Menschheit entfernt hat. Wir haben einen Job, und Sie wissen, wie der aussieht, weil Sie ihn selbst einmal gemacht haben. Sie waren darin nie sonderlich gut, weil Sie nie wirklich daran geglaubt haben, aber die meisten von uns tun es, und das ist etwas, was Sie niemals begreifen werden, weil Sie nicht wirklich daran glauben, dass überhaupt irgendetwas wichtig ist, nicht mal Sie selbst. Quelle: Ross Thomas – Die Narren sind auf unserer Seite Mittlerweile sind 24 der 25 Romane von Ross Thomas in der Werkausgabe erschienen. Darunter ist kein schlechter. Auch „Die Narren sind auf unserer Seite“ ist ein vielschichtiger, hochinteressanter Politthriller, ein Stück Editions- und Werkgeschichte. Es ist Zeit, Ross Thomas endlich zu entdecken. Er ist einer der besten US-amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Fangen Sie direkt an. Am besten mit Band 1.…
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Seit Jahrzehnten wird seine Musik als tönende Lebenskunst rezipiert. Für viele wurden die Lieder Herbert Grönemeyers zum Soundtrack der eigenen Biographie. Quelle: Michael Lentz In das Leben von Autor Michael Lentz allerdings trat Herbert Grönemeyer verhältnismäßig spät und auch nicht mit seinen Liedern, sondern mit seiner Anfrage. Weil 2003 im Debütroman von Michael Lentz, „Liebeserklärung“, immer wieder Liedzeilen der CD „Mensch“ eine Rolle spielten, lud Grönemeyer den Schriftsteller nach London ein und unterhielt sich mit ihm. Das Gespräch landete auf der DVD des Albums und die Männer wurden Freunde. Grönemeyer und Lentz: Eine fruchtbare Künstlerfreundschaft Und da fast noch nichts Relevantes, Analytisches zu Stimme, Musik und Texten Grönemeyers veröffentlicht war, wie der Lautpoet, Literaturprofessor und Musiker Michael Lentz feststellte, machte er sich daran, eine stattliche, 385 Seiten starke Werkbiografie zu schreiben. Das war eine gewisse Herausforderung, da vielleicht auch ein wenig Neuland zu betreten, fernab auch eines generalisierenden poptheoretischen Zuschnitts, sondern ganz, wie man in der Literaturwissenschaft sagt „close reading“ diesmal dann „close hearing“ ganz nah am Stoff bleiben und den mal, sowohl von den Texten her als auch der Musik bis hin in die harmonischen Analysen auseinanderzunehmen. Quelle: Michael Lentz „Herbert Grönemeyer vertont keine Texte, sondern vertextet Musik. Töne sagen und erzählen bereits etwas, oft schon das Wesentliche. Es entsteht eine Stimmung, ein Bild, eine atmosphärische Temperatur. Der Text erklärt dann, führt aus, ergänzt und passt sich an, indem er an formale Vorgaben wie Takt und Silbenzahl, Rhythmus und Zeiteinheiten gebunden ist.“ (Michael Lentz - Grönemeyer) Aufschlussreiche Analysen und biografische Fundstücke Sich immer wieder einen Grönemeyer-Song zwischen den Zeilen zu gönnen, tut der Lektüre gut – die an vielen Stellen einen musiktheoretisch hoch belastbaren Leser voraussetzt. Man kann die ausgeklügelten wie aufschlussreichen Analysen von Harmonien, einzelnen Texten oder stimmlichen Besonderheiten aber durchaus auch als Anreiz für den interessierten Laien verstehen: nach der Lektüre wird man die Songs neu hören. Oder man widmet sich von Anfang an verstärkt dem biografischen Teil des Buches. Verweilt in der frühen Kindheit des Musikers, geprägt von der musischen Mutter aus baltischem Adel, deren Vorfahren Russen waren. So wurden abends am Bett der drei Grönemeyer-Brüder viele estnische, russische und deutsche Lieder gesungen. Der Vater, promovierter Bergwerksingenieur, lebensfroh, feierfreudig, und humorvoll, pflegte über seine westfälische Mentalität zu scherzen: „Wir sind schlicht, aber sehr ergreifend.“ Herbert Grönemeyer, die gelungene Mischung seiner zielstrebig-sentimentalen Eltern, singt, seit er vier Jahre alt ist. Ich bin Dauersänger, sagt Herbert Grönemeyer von sich. Ich wollte aber nie Sänger werden, ich sang ja bereits. Ein anspruchsvolles Kompendium für Fan und Fachmann Erste Erfolge jedoch feiert er als Schauspieler – 1981 als Leutnant Werner im Film „Das Boot“. Drei Jahre, aber bereits vier weitaus unbeachtete Studioalben später dann endlich auch der musikalische Durchbruch mit „4630 Bochum“ . Es folgen viele Platten, phantastische Konzerte, schwere Schicksalsschläge, neues Lebensstrahlen. Michael Lentz erzählt davon, auch vom politischen Engagement des Künstlers, fokussiert aber auf das Werk Grönemeyers, geht da ins interpretatorische, untersuchende Detail. So ist ein anspruchsvolles Kompendium entstanden, in dem jeder etwas finden kann, das ihn interessiert – ob Fan oder Fachmann. Wer aber ist der ideale Leser? Man muss, sage ich mal recht selbstbewußt, eine gewisse Kompetenz mitbringen, eine textliche, eine musikalische, und diese ganzen einzelnen Komponenten verbindende Kompetenz. Und das war die Herausforderung und deswegen: Der ideale Leser bin ich selber. Quelle: Michael Lentz…
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„Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat“ , meinte Jean-Paul Sartre. Ein schöner, mutmachender Satz. Aber gilt er für alle Menschen und alle Lebenslagen? Jahrelang sexuell missbraucht Oder gibt es Erfahrungen, die so einschneidend und zerstörerisch sind, dass sich aus ihnen schlechterdings nichts Positives machen lässt? Wie ist es zum Beispiel, wenn ein Mädchen jahrelang sexuell missbraucht wird? Neige Sinno antwortet so: Der sexuelle Missbrauch eines Kindes ist keine Prüfung, kein unvorhergesehener Zwischenfall im Leben, sondern eine tiefe und systemische Erniedrigung, die die Grundfesten des Seins zerstört. Wer einmal Opfer gewesen ist, der ist immer Opfer. Selbst wenn man auf die Füße fällt, wird man es nie wieder ganz los. Quelle: Neige Sinno – Trauriger Tiger Menschliche Abgründe Aber die Autorin – und das ist typisch für ihr Buch – hinterfragt sich selbst immer wieder. Das seien „bombastische Sätze“, sie könne sich täuschen. Statt zu verallgemeinern, sollte sie besser von ihrer eigenen Erfahrung sprechen, ermahnt sie sich. Und das tut sie – schonungslos und klug. Mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester und den Hippie-Eltern wächst Neige Sinno in einem kleinen Ort in den französischen Alpen auf. Als die Mutter einen anderen Mann kennenlernt, lässt sie sich scheiden, um mit dem attraktiven Bergführer und den Kindern, zwei weitere kommen bald hinzu, auf einem heruntergekommenen Bauernhof zusammenzuleben. Neige Sinno erzählt klar und pathosfrei Sieben Jahre lang wird Neige Sinno von ihrem Stiefvater während dieser Zeit sexuell missbraucht. Ihr Martyrium beginnt, als sie ungefähr sieben ist, genau kann sie sich nicht erinnern. Mit 21 entschließt sie sich zur Anzeige, um ihre jüngeren Geschwister zu schützen. Ihre Mutter, die sich geweigert hat, etwas zu bemerken, braucht ein Jahr, um den Schock zu verarbeiten und sich von dem Täter zu trennen. Dieser gesteht und wird zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Das sind die Fakten, an denen entlang Neige Sinno klar und pathosfrei ihre Geschichte erzählt. Immer wieder kreist sie um den Gedanken, dass es für ein Missbrauchsopfer nie ein Happy End gibt. Das Buch ist aber nicht nur Zeugnis einer existenziellen Beschädigung, es ist auch der Versuch, menschliche Abgründe auszuloten. Was genau ist ein Monster, wenn nicht ein Wesen so weit außerhalb der Norm, dass man es nicht verstehen kann, dass es sich selbst nicht verstehen kann? Warum sind sie keine Monster, diese Typen, die ihr erigiertes Glied in den Körper ihrer Kinder gesteckt und ihnen dabei ganz leise, damit niemand sie hört, ins Ohr geflüstert haben, sie liebten sie mehr als alles auf der Welt? Sie wollen nicht, dass man sie einzig und allein über ihre Taten definiert. Wahrscheinlich haben sie, wie meine Mutter sagt, auch gute Seiten. Quelle: Neige Sinno – Trauriger Tiger Autorin porträtiert den Täter Die Autorin betrachtet sich als kleines Mädchen und als erwachsene Frau, sie porträtiert den Mann, der sie missbraucht hat, und sie denkt über die „Blindheit“ ihrer Mutter nach. Ausführlich zitiert sie aus Büchern, die absolute Herrschaft und extreme Gewalterfahrungen thematisieren. Sie hat Nabokovs „Lolita“ , Virginia Woolf , Christine Angot, Emmanuel Carrère gelesen. Von William Blake und seinem Gedicht „Der Tiger“ hat sie sich zum Titel ihres Buches inspirieren lassen. Immer wieder räsoniert sie auch über das eigene Schreiben und die Frage, wie sie überhaupt von ihren Erfahrungen erzählen könne. Eine unbegründete Sorge Mir wurde beigebracht, dass die großen Werke der Literatur imstande sind, die einfache und gewöhnliche Erfahrung, die kleine persönliche Geschichte zu übersteigen, sie zu transzendieren, indem sie sprachliche und ästhetische Schöpfungen werden. Ich will ‚in der Sprache sein‘. Das wollte ich schon immer. Andererseits widert es mich an, aus meiner Geschichte Kunst zu machen. Quelle: Neige Sinno – Trauriger Tiger Neige Sinno berichtet auch von der Angst, mit ihrem Buch nur zu Radiosendungen zum Thema Inzest eingeladen zu werden. Die Sorge hat sich jedoch als unbegründet erwiesen. Ihr Buch hat in Frankreich zahlreiche Preise erhalten. Verdientermaßen. „Trauriger Tiger“ ist ein bedrückendes, vor allem aber ein radikal aufklärerisches Buch. Neige Sinno gelingt es, in einer präzisen Sprache von extremen Erfahrungen zu erzählen, über die sich kaum sprechen lässt.…
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1 Clemens Tangerding – Rückkehr nach Rottendorf 4:09
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4:09Dass die Gesellschaft gespalten sei, ist zu einer Standardklage geworden. Jedes Weltproblem, jeder Konflikt, jede Krise reißt neue Gräben auf, gleich ob es sich um Klima, Migration, Ukraine, Antisemitismus oder Corona handelt. Schnell werden Fronten gebildet, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Den Gegnern die Zähne zu zeigen, gilt als Tugend, Gesprächsbereitschaft als sträfliche Schwäche. Diese Stimmung bereitet Clemens Tangerding großes Unbehagen, darüber hat er sein Buch geschrieben. Es trägt den Titel „Rückkehr nach Rottendorf. Von Rechten, Linken und anderen normalen Leuten“. Die Debattenräume und die Wirklichkeit Tangerding ist als Historiker in der politischen Bildung tätig und betreut Geschichtsprojekte über den Nationalsozialismus in Städten und Gemeinden. Dabei hat er beobachtet: Ich fühle mich, als würde ich in zwei verschiedenen Welten leben. Die eine betrete ich, sobald ich im Zug mein Handy einschalte und mir Talkshows oder Bundestagsdebatten ansehe. Die andere Welt ist belebt von Menschen, die sich in irgendeiner Art und Weise in ihrem Viertel oder Dorf engagieren. Quelle: Clemens Tangerding – Rückkehr nach Rottendorf Wie ein roter Faden zieht sich eine Grundthese durch Tangerdings Buch, die sich so zusammenfassen lässt: Die aufgeregten politischen und medialen Debatten mit ihrem oftmals hochtönenden Gesinnungseifer reden an der Lebenswirklichkeit der Menschen im Lande weitgehend vorbei. Lauter Faschisten? Diesen Befund illustriert Tangerding mit zahlreichen Beispielen aus seinem beruflichen Alltag, in dem er viel organisatorische und kommunikative Basisarbeit leistet. So hat er bei seinen Einsätzen für historische Aufklärung und demokratisches Zusammenwirken immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die Frauen und Männer, die ihn bei seinen Projekten tatkräftig unterstützt haben, nicht einfach als „Faschisten“ abgestempelt werden können, wenn sie mit der AfD sympathisieren. Würde ich gefragt werden, welche Trends ich im Konfliktverhalten der Menschen sehe, würde meine Antwort eindeutig ausfallen: Nichts ist derzeit so beliebt wie Distanzierung. Quelle: Clemens Tangerding – Rückkehr nach Rottendorf Obwohl ständig an Dialogbereitschaft appelliert wird, konstatiert Tangerding einen Mangel an Verständigung und einen Überschuss an Brandmauern und Gesprächsverweigerung. Zurück zur sozialen Basis Ohne große Theorien aber mit zahlreichen Details bietet er in seinem essayistischen Erfahrungsbericht einen vielfältigen Befund über die Stimmungen in den ländlichen Regionen jenseits der urbanen Zentren. Dafür steht die „Rückkehr nach Rottendorf“, den Heimatort des Autors, und dieses Eintauchen in konkrete Erfahrungswelten macht die Stärke des Buches aus. Der Autor schreibt: Ich möchte uns allen empfehlen, die Lautstärke der Debatte ab und zu herunterzudrehen. Und zurückzukehren an die Orte, wo die leiseren Töne der persönlichen Erfahrungen stattfinden: in unsere Straße, unser Viertel, auf unsere Arbeitsstelle, in unseren Verein und in unser Wohnzimmer. Quelle: Clemens Tangerding – Rückkehr nach Rottendorf Zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltungen plädiert Tangerding für eine Rückkehr aus den abgehobenen Debattenräumen, wo gerne von „den Menschen draußen im Lande“ fabuliert wird, zurück zur sozialen Basis, kein neuer aber nach wie vor bedenkenswerter Vorschlag. Denn schließlich sind Demokratie und Pluralismus zu wertvoll, um sie allein den Schaukämpfen und Spiegelfechtereien auf den medialen Bühnen der Republik zu überlassen.…
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Sally Rooney ist ein echtes Phänomen: Drei Romane hat die 33-jährige Irin bislang geschrieben – alle Bestseller. Zwei wurden zu Fernsehserien, zwei mit dem Titel „Buch des Jahres“ in Irland ausgezeichnet. Die Autorin scheint – vor allem bei jungen Menschen weltweit – einen Nerv zu treffen. In einem ihrer wenigen Interviews erklärte Sally Rooney 2021 ihre Erzählweise so: „Ich kann nicht über Welten schreiben, die ich nicht gut kenne. Ich bin noch nicht groß herumgekommen, habe noch nie außerhalb Irlands gelebt und wohne seit vielen Jahren in Dublin. Das sind die einzigen Orte, über die ich schreiben kann. Ich glaube, um eine Geschichte zu erzählen, die in einer bestimmten Gemeinschaft spielt, brauche ich das sichere Gefühl, wie sich die Menschen benehmen, wie sie reden und muss wissen, wie die sozialen Regeln in diesem Setting aussehen." Zwei ungleiche Brüder trauern um ihren Vater Diese Herangehensweise verleiht ihren Romanen echte Glaubhaftigkeit. Das setzt sich auch in „Intermezzo“ fort. Sally Rooney erzählt von den Brüdern Peter und Ivan Koubek, die gerade ihren Vater beerdigt haben. Peter, der Ältere, Anfang dreißig, smart und weltgewandt, arbeitet als Anwalt. Ivan, fast zehn Jahre jünger, introvertiert mit einer Zahnspange, tingelt als spätes „Schach-Wunderkind“ durch Irland. Am nächsten Tisch streckt Ivan seinen Arm üben den Kopf, legt die Hand zwischen die Schultern und massiert sich den unteren Nacken mit den Fingerspitzen. Unter den Armen hat er zwei dunkle Schweißflecke. Er ist nicht besonders warm in dem Raum, obwohl es sehr hell ist, also schwitzt er wahrscheinlich vor Konzentration. Quelle: Aus: Sally Rooney – Intermezzo Flucht in die Liebe Ivan lernt eines Abends Margaret kennen, die ein Kulturzentrum in der Provinz leitet, in dem er Schach spielt. Die beiden verbringen die Nacht miteinander und aus dem vermeintlichen one-night-stand entwickelt sich mehr, trotz aller Bedenken. Denn Margaret lebt von ihrem Ehemann getrennt und ist deutlich älter als Ivan. Als Peter von der Beziehung der beiden erfährt, ist er empört. Doch wer im Glashaus sitzt… Peter selbst führt eine Affäre mit der Studentin Naomi und hegt immer noch Gefühle für seine Ex-Freundin. Seine Trauer bekämpft er mit Sex, Drogen und Medikamenten: Morgens, zischendes Eisen, gebuttertes Brötchen, Milligramm Alprazolam, blaue oder grüne Krawatte. Er steht am Esstisch, sortiert seine Papiere, während der Kaffee abkühlt, Gedanken rasen in abgebrochenen Sätzen, Diskussionsfetzen, Ideen strömen auseinander und treffen sich wieder, schweißkalte Hände beim Umblättern der Seiten. Quelle: Aus: Sally Rooney – Intermezzo Das ist die Grundkonstellation dieses Romans. Wenig Handlung, viel Innenschau Und dann? Wer handlungsgetriebene Bücher mag, würde sagen – es passiert nicht viel. Die Protagonisten kreisen in ihrem Kosmos, reden, philosophieren. Wer Sally Rooneys Bücher liebt, sieht hier genau darin die Stärke der Autorin: Die Innenschau, die psychologische Betrachtung ihrer Figuren. Eine Frage, die Rooney immer wieder beschäftigt: „Wie lernen Menschen sich selbst kennen, wenn sie nicht mehr täglicher Teil einer Familie sind?" Ganz klar: Sally Rooney kann wortgewaltig und intelligent erzählen. Ob das jedem Leser und jeder Leserin gefällt, ist eine andere Frage. „Intermezzo“ ist mitunter etwas langatmig geraten. Aber darüber könnte man auch noch hinwegsehen, wenn nicht das überraschend süßliche Ende dieses Romans vollkommen aus dem Rahmen fallen würde. Schade!…
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1 Maria Stepanova – Der Absprung | Buchkritik 4:04
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4:04Den Absprung wagen – eine häufig gebrauchte Wendung, die vom Verlassen einer unhaltbaren Situation und zugleich von einem Neubeginn spricht. „Der Absprung“ heißt das neue Buch der russischen Lyrikerin, Essayistin und Erzählerin Maria Stepanova. Ihr Roman ist eine direkte Reaktion auf die Erschütterung des Krieges, auf jenen Rückfall in die Barbarei des 20. Jahrhunderts. Das Buch beginnt mit der seltsam berührenden Beobachtung, dass die Welt trotz aller Katastrophen weitermacht: Im Sommer 2023 wuchs das Gras weiter, als wäre nichts geschehen: es wuchs, als ginge es gar nicht anders, wie um ein weiteres Mal zu zeigen, dass es an seiner Absicht festhielt, aus der Erde zu sprießen, ganz egal, wie viel auf deren Oberfläche gemordet wurde. Quelle: Maria Stepanova – Der Absprung Das Exil als Ort der Konfrontation Die Schriftstellerin M., das Alter Ego Stepanovas, ist in einem sicheren Land, weit entfernt von ihrer Heimat und doch fortwährend in Gedanken bei den monströsen Ereignissen in der Ukraine. Das Exil ist ein Ort der absoluten Konfrontation mit der zugeschriebenen Rolle, den Zweifeln an der Urteilsfähigkeit, der Verantwortung, sogar der Schuld, obwohl man selbst nicht schuldig ist, weil das eigene Handeln und Denken eigentlich Zeugnisse des Widerstands sind. Die Stadt im Ausland, wo M. jetzt wohnte, war voll mit Menschen, die aus beiden Ländern geflohen waren, und diejenigen, über die M.s Landsleute hergefallen waren, blickten mit Schrecken und Argwohn auf die einstigen Nachbarn, als hätte deren Leben vor dem Krieg, wie auch immer es ausgesehen hatte, keinerlei Bedeutung mehr, als diente es nur zur Tarnung ihrer Verwandtschaft mit diesem Untier, das immer weiter fraß. Quelle: Maria Stepanova – Der Absprung Das „Untier“ namens Putin Das Untier – der Leviathan – das ist Putin. Das Untier ist nicht mehr zu verstehen, gesteht sich M. ein. Sie funktioniert zwar, aber nichts mehr ist an seinem Ort, die Arbeit wird zu einer sinnlosen Angelegenheit, die verständnisstiftenden Einzelteile fügen sich nicht mehr zusammen. Selbst die Sprache, älter als das Untier, scheint kontaminiert. … und doch schien auch sie plötzlich von einer verdächtigen Schleimschicht bedeckt. Quelle: Maria Stepanova – Der Absprung Im Gegensatz zu M., die eine halbtote Maus im Mund zu verspüren meint, wenn sie nach Worten sucht, verfügt Stepanova über Sprache: Sie schickt ihre haltlose Heldin auf eine Reise. Eigentlich ist das Ziel ein Literaturfestival. Aber die Bahn macht ihr einen Strich durch die Rechnung, ein Anschluss wird verpasst; das Handy gibt den Geist auf, die Veranstalter versetzen sie; so werden die Pläne zugunsten eines ziellosen Treibens aufgegeben. Wir durchstreifen nicht nur M.s Gedanken, sondern mit ihr auch eine fremde Stadt, folgen mit ihr einem Mann, der sie fasziniert und den sie später kennenlernt. Es scheint, als würde der geplatzte Termin eine Last von ihr nehmen. Fast ist es, als würde sie sich für einen Moment ihrer Identität entledigen, sich häuten, den Absprung schaffen. Sie heuert als zersägte Jungfrau bei einem Wanderzirkus an, gerät immer weiter in eine märchenhaft anmutende Szenerie, und am Ende scheint sie im Zirkusdirektor Peter Cohn einen blinden Seher vor sich zu haben. Du bist keine Rumänin, sagte Cohn noch einmal; in seinen schwarzen Brillengläsern schaukelten zwei große Glühbirnen. Du bist eine von uns, Liebes, eine Jüdin, ja? Und M., die sich seit Monaten immer nur als Russin bezeichnet hatte, als russische Schriftstellerin, als russischsprachige Person, wiederholte beinahe verwundert: ja. Quelle: Maria Stepanova – Der Absprung Ein Buch wie eine traurige Abschiedsmelodie Maria Stepanova hat einen äußerst dichten Text geschrieben, eine reflektierende, assoziationsreiche Prosa mit leisen Anspielungen, literarischen Verweisen, traumhaft und realistisch zugleich. Vor allem scheint das Buch eine traurige Abschiedsmelodie – ein Abschied vom Selbst, das sich durch das Geschehen ringsum überlebt hat. Auch der Name verschwindet: Aus M. wird A. Ob ihr der Absprung aber wirklich gelingt und damit ein Neubeginn, das bleibt – wie meist im Leben und in der Literatur – erst einmal offen.…
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1 lesenswert Magazin – Neues aus der Mischpoke: Familiendramen und Ich-Suche 55:06
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55:06Ob ihr „Der Absprung“ gelingt? In ihrem neuen Roman erzählt die aus Russland stammende Autorin Maria Stepanowa hellsichtig von einem langen Abschied ihrer Heldin von der Heimat Russland und einem Abschied auch, zumindest in Teilen, von sich selbst. Am 14. Oktober wird in Frankfurt am Main zum 20. Mal der Deutsche Buchpreis verliehen. Diese Woche wurde die Shortlist verkündet: von 20 Romanen auf der Longlist bleiben noch sechs übrig. Wir sammeln einige Reaktionen, die in diesem Jahr erstaunlich unaufgeregt bis zustimmend ausfielen. Leo Tolstoi oder Margret Atwood: Ihre Werke würden wir kaum kennen, gäbe es nicht die wichtige Arbeit von literarischen Übersetzerinnen und Übersetzern. Um sie zu fördern, gibt es den „Deutschen Übersetzerfonds" , finanziert vom Bundesministerium für Kultur und Medien. Nun drohen dem Fonds schmerzliche Kürzungen. Wir sprechen darüber mit Marie Luise Knott, Vorstandsmitglied beim DÜF. Rachel Eliza Griffiths erzählt in „Was Ihr uns versprochen habt“ fesselnd vom Rassismus in den USA der ausgehenden 50er Jahre. „Versprechen“ und Realität klaffen weit auseinander. Eine bewegende Geschichte von Mut und Selbstermächtigung, leider immer noch hoch aktuell. Der Kabarettist, Musiker und Autor Tilman Birr erklärt uns in seinem wunderbar komischen Lied „Gestrandet“ , warum der Inhalt unseres Bücherregals schicksalhaft über unsere Beziehungen entscheiden kann. Wer bin ich eigentlich und wo liegen meine Wurzeln? Das fragt sich die Protagonistin Lou in Olga Grjasnowas Roman „Juli, August, September“ : die Geschichte einer modernen jüdischen Familie, die von der Vergangenheit noch immer eingeholt wird. Aufwühlend und tröstend zugleich erzählt die Irin Sally Rooney in ihrem neuen Roman „Intermezzo" von zwei ungleichen Brüdern: eine Geschichte von Verlust, Schuld, Trauer und Liebe. Musik: Nouvelle Vague – Should I stay or should I go? Label: PIAS…
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Wir vom Lesenswert Magazin auf SWR Kultur sind ja immer bemüht, Ihnen wertvolle und kompetente Lese-Anregungen an die Hand zu geben: Gute Lektüren können das Leben unendlich bereichern - und schlechte: ziemlich verärgern. Dass gute oder eben schlechte Bücher im heimischen Regal auch - quasi schicksalhaft - über sich anbahnende Beziehungen entscheiden können: darüber hat der Kabarettist, Autor und Musiker Tilman Birr ein wunderbares Lied gemacht.…
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1 Finanzielle Kürzungen beim Deutschen Übersetzerfonds - Was sind die Folgen? | Gespräch 8:46
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8:46Leo Tolstoi oder Margret Atwood: ihre Werke würden wir kaum kennen, gäbe es nicht die immens wichtige Arbeit von literarischen Übersetzerinnen und Übersetzern. Um sie zu fördern, gibt es den Deutschen Übersetzerfonds, maßgeblich finanziert vom Bundesministerium für Kultur und Medien. Nun drohen dem Fonds schmerzliche Kürzungen: 650.000 Euro soll es im kommenden Jahr weniger geben. Der DÜF spricht von einem „eklatanten Schaden im Bereich der Übersetzungskunst“. Wir sprechen darüber mit Marie Luise Knott, Vorstandsmitglied beim DÜF.…
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1 Rachel Eliza Griffiths – Was ihr uns versprochen habt | Buchkritik 5:42
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5:42Familie Kindred lebt an der Küste Neuenglands. Eine von nur zwei schwarzen Familien im Dorf Salt Point: zwei traumatisierte Eltern, zwei heranwachsende Töchter, Ezra und Cynthia, fern vom rebellischen Süden. Aber unter der Oberfläche brodelt latente Gewalt. „Mund zu, Augen auf“, ist die Devise des Vaters. Denn: Die Wahrheit ist, sie wollen uns nicht. Quelle: Rachel Eliza Griffiths – Was ihr uns versprochen habt „Sie“, das sind die Weißen: mißtrauische Fischer, die rassistische Lehrerin, der aggressive Polizist, der in seiner Machtlosigkeit mit der Pistole droht, Ruby, das vernachlässigte Mädchen, das, manipuliert und vom Leben betrogen, von der Freundin zur Rivalin wird, und ihr Vater, der im Suff versinkt. Sein Leben war ein frühes Grab. Quelle: Rachel Eliza Griffiths – Was ihr uns versprochen habt Die Weißen als Opfer ihres eigenen Rassismus Die Weißen sind Opfer ihres eigenen Rassismus. Ihnen gegenüber: Die aufrechten Kindreds und ihre Schwarzen Freunde, die Junketts, mit dem Mut und den tröstlichen Mahlzeiten von Miss Irene. Und von fern: die Ahnen. Ein reiches Figurenensemble, skizziert im Herbst 1957 und in Rückblenden. Sie selbst stecke in den Figuren und viele Frauen, die sie traf und fiktionalisierte, sagt Rachel Eliza Griffiths. I think my personality is in all of them and they are also a gathering, fictionalized of course, many women's stories, that I encountered as a little girl and as I grew up. (Rachel Eliza Griffiths) Cynthia hält das Personal zusammen, die jüngere Kindred-Tochter, die sich in der Gefahr an ihren Stift klammert wie an ein rettendes Ruder. Eine kindliche, aber auktoriale Ich-Erzählerin, die in Visionen sieht, wie ihr Urgroßvater vom Ku-Klux-Klan in der Kirche ermordet wurde. Gerade zertrümmerte er eines der Fenster mit einem Besenstiel, als eine Kugel durch seinen Kopf schlägt. Dann fliegen Fackeln durch die zerbrochenen Scheiben. Quelle: Rachel Eliza Griffiths – Was ihr uns versprochen habt Die blutige Geschichte der Schwarzen in Amerika Erzählungen des Vaters sind in Cynthia lebendig, Traumata werden vererbt. Die blutige Geschichte gehört zur DNA der Schwarzen Amerikas. Immer wieder bringt Rachel Eliza Griffiths das Wort „Blut“ ins Spiel. Weißes Blut, kann ein Privileg sein, sagt sie. Das Wort Blut hat aber auch mit der Beziehung von Amerika und der Sklaverei zu tun. Die Gewalt der Sklaverei, die Sprache, die verwendet wurde, das Blut, das in die Erde, ins Land, in die Bäume fließt, ist wie ihre Blutlinie, ihre Familie, ihre Abstammung, wer sie sind, und das fühlt sich für mich, in Bezug auf Amerika, sehr spezifisch an. (Rachel Eliza Griffiths) Es ist das Ende des Sommers, der Kindheit, das Ende des Schweigens und der Beginn der Bürgerrechtsbewegung, als Schwarze Kinder auf dem Schulweg Polzeischutz brauchen. Aus dem Radio tönt die Stimme von Martin Luther King, und Präsident Eisenhower stärkt mit dem Civil Rights Act das Wahlrecht der Schwarzen Amerikaner. Die Nation ist gespalten, wie heute. „Nigger werden abgeknallt“, schreibt Rachel Eliza Griffiths, verwendet das N-Wort als historischen Begriff, sieht ihr Debüt aber nicht als historischen Roman. Hängen heute noch Menschen an Bäumen? Es ist vielleicht nicht mehr wie früher, aber es gibt immer noch Bäume, an denen Leute aufgehängt werden. Soziale Medien können solche Bäume sein. (Rachel Eliza Griffiths) Fesselnde Geschichte von Mut und Selbstermächtigung Was das opulent erzählte Familiendrama so eindringlich, mitunter auch sentimental, macht, sind originelle poetische Bilder der Dichterin, für die Poesie und Prosa ineinanderfließen. Die Psychogramme in den Zwischenkapiteln von „Promise“/ „Was ihr uns versprochen habt“ zeigen die Kluft zwischen Versprechen und Realität; „Versprechen“, ein intimes wie öffentliches, politisches Wort, überlagert von Traumata und Geschichten des Überlebens. Die ältere Schwester sagt: Cynthia, versprich mir, dass du dein Leben lieben und leben wirst, dass du am Leben bleibst, versprich mir das, auch wenn wir uns nie wiedersehen. Das ist eine kraftvolle und andere Art, das Wort zu verwenden. Dass sie ihrer Schwester nichts versprechen kann, weiß sie, aber sie kann ihre Schwester bitten, ihr eigenes Leben und ihre Liebe zueinander zu ehren, das ist ihre Waffe, ihre Rüstung, deshalb geben sie nicht auf. (Rachel Eliza Griffiths) Wir haben heute verlernt, einander zuzuhören, sagt Rachel Eliza Griffiths und ist weniger optimistisch als früher. Sie setzt auf Kamala Harris. Und sieht ihren Debütroman selbstbewußt in der Tradition einer Toni Morrison, eines James Baldwin oder Aimé Césaire. „Was ihr uns versprochen habt“ ist ein Pageturner, eine fesselnde, manchmal auch pathostrunkene Geschichte von Mut und Selbstermächtigung. Einen Fan hat Eliza Griffiths längst: ihren Mann, Salman Rushdie. Er liebt meinen Roman. Ich glaube, er war erleichtert, als er den Entwurf las, weil ich sagte: „Wenn dir mein Roman nicht gefällt, funktioniert das nicht (lacht), dann können wir nicht so zusammenleben.“ Er ist einer meiner größten Cheerleader und Unterstützer. (Rachel Eliza Griffiths)…
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1 Olga Grjasnowa – Juli, August, September | Buchkritik 5:26
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5:26Am Ende dieses Sommers bleiben viele Fragen offen, eigentlich fast alle! Auch nach über 200 Seiten persönlicher wie kollektiver Sinnsuche im Juli, August, September 2023. Wer bin ich eigentlich wirklich: Ludmila, Ljuda, Lou? Sergej war derjenige, der Ljuda, meinen Kosenamen, zu Lou abkürzte, was mir gefiel, denn so hatte er nichts mit mir zu tun und gab mir eine neue Identität. Quelle: Olga Grjasnowa – Juli, August, September Jüdische Heldin mit autobiographischen Zügen der Autorin Eine neue Identität? Aber welche? Ob Ludmila, Ljuda, Lou, fest steht, sie ist liiert mit dem Konzertpianisten Sergej, ist Galeristin in Berlin, in ihren Dreißigern, Mutter der 5-jährigen Rosa. Ludmila, Ljuda, Lou ist Jüdin und vor vielen Jahren als sogenannter „Kontingentflüchtling“ aus Aserbaidschan nach Deutschland gekommen – ihrer Schöpferin Olga Grjasnowa damit sehr ähnlich. Der Roman hat natürlich autobiographische Züge. Und es ist auch etwas, womit der Roman spielt. Es ist nicht wirklich meine Autobiographie, aber es sind sehr viele Dinge, die ich mit Lou gemeinsam habe. Es ist zum Beispiel unser beidseitiges Unverständnis der klassischen Musik, es sind bestimmte biographische Anhaltspunkte. Und ich glaube, im Prinzip ist es einfach so, dass ich den Roman so geschrieben habe, dass ich mir überlegt habe, wie mein Leben unter Umständen auch hätte verlaufen können. Quelle: Interview mit Olga Grjasnowa Im Juli, zu Beginn des Romans, stellt sich Lou und Sergej, dem wohlsituierten Künstlerpaar aus Berlin, immer drängender die Frage, wie jüdisch sie eigentlich seien und ihre kleine Tochter erziehen wollen – als nachgeborene, nicht wirklich religiöse Juden im Land der Täter. Jüdisch sein? Hier? Heute? Tatsächlich hat für mich angefangen, mein Jüdischsein eine größere Rolle zu spielen, als ich selbst Mutter war, weil sich dann die Frage gestellt hat: Was gebe ich weiter? Wie erziehe ich meine Kinder? Und vor allem bin ich nicht wirklich religiös. Das heißt, mein Judentum hat per se etwas von einer kulturellen Performance und nicht etwas von einer Religion. Die Kultur spielt eine sehr große Rolle, aber nicht die Religion. Und wenn das dann so ist, was mache ich dann mit meinen Kindern? Gebe ich ihnen bestimmte Teile der Kultur mit? Kann man überhaupt sagen, was eine jüdische Kultur ist? Was ist denn dann das Spezifische, was ich weitergeben möchte? Quelle: Interview mit Olga Grjasnowa Eine Familie zwischen Erinnern, Lügen und Schweigen Lou stürzen diese Fragen in keine große Identitätskrise. Dazu ist sie viel zu selbstbewusst, viel zu sehr mit sich, ihrem Kind, ihrer Beziehung beschäftigt. Sie stellen sich ihr halt nur, diese Fragen, erst recht, als sie – wir schreiben mittlerweile den Monat August – mitsamt der in alle Welt verstreuten Mischpoke zum 90. Geburtstag ihrer Tante Maya nach Gran Canaria eingeladen wird. Und da sind sie dann, die ganzen noch lebenden Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, deren Söhne und Töchter – und es wird so skurril wie Familienfeiern nun einmal skurril sind Ich glaube nicht, dass es bei jüdischen Familien etwas anderes ist, sondern ich glaube, dass tatsächlich Lügen zum Familienalltag mitunter gehören. Vielleicht auch noch nicht einmal Lügen, sondern in jeder Familie gibt es bestimmte Geschichten, die man im Laufe des Lebens unterschiedlich erzählt. Man fängt an, dass man manche Geschichten zum Beispiel für die Kinder runterbricht, sie einfacher gestaltet, das Traumatische daran wegnimmt oder auslässt. Und irgendwann hat sich dieses Narrativ verfestigt, und nach und nach fangen die Leute an, mehr zu erzählen, oder sie lassen es einfach. Und die Erinnerung ist auch nicht immer gleich. Man erinnert sich mal besser, mal weniger besser, mal erscheinen andere Sachen in der Erinnerung wichtiger zu sein, Manchmal sind es Lügen, manchmal sind es auch einfach nur Auslassungen, manchmal ist es das Schweigen und all das macht eine Familie eben auch aus. Quelle: Interview mit Olga Grjasnowa In Lous Familie ist es – wie bei so vielen jüdischen Familien – die Frage danach, welche Katastrophe der Holocaust unter ihnen angerichtet hat und welche traumatischen Folgen er bis heute hinterlässt. Für Lou ist auf Gran Canaria die Chance gekommen, die Geschichten, die ihre Tante Maya darüber verbreitet, mit denen der Mutter abzugleichen. In meiner Kindheit war der Holocaust allgegenwärtig gewesen, an ihn wurde überall von Nachbarn oder Freunden erinnert. Maya war die letzte Zeugin, und sie veränderte die Geschichte vom Überleben nach ihren Bedürfnissen. Sie stellte sich selbst in den Mittelpunkt, was ihr gutes Recht war, nur hätte das nicht auf Kosten von Rosa geschehen müssen. Sie manipulierte die Erinnerung und war doch zugleich die Einzige, die sich überhaupt noch erinnern konnte. Darum galt nun Mayas Wort, und ich hatte das Bedürfnis, dem etwas entgegenzusetzen. Quelle: Olga Grjasnowa – Juli, August, September Eine Geschichte, die sich im Kreis dreht Für Lou rücken sich am Rande der Familienfeier einige Verdrehungen, Verzerrungen, Verstümmelungen ihrer Familiengeschichte zurecht. Doch statt danach schnurstracks in ihren Alltag, in ihr altes Leben nach Berlin zurückzukehren, fliegt sie außerplanmäßig nach Israel. Etwa auf der Suche nach weiteren Antworten auf die Frage nach ihrer Zugehörigkeit, ihrer Verwurzelung? Das wäre plausibel und folgerichtig. Doch so zwingend scheint es dann doch nicht zu sein. Lou verbringt in Israel ja eigentlich nur ein paar Tage. Sie versucht einfach nur, kurz auszureißen und sich noch ein bisschen mehr Zeit zu verschaffen. In Berlin erwarten sie nicht die schönsten Sachen, sondern ziemlich viele Probleme. Ich glaube, sie sehnt sich einfach nur danach, noch einmal auf die Pausentaste zu drücken und sich eine ganz winzige Auszeit zu verschaffen. Aber natürlich kann sie sich das nicht selber eingestehen, sie tut es vielleicht sogar an der ein oder anderen Stelle, sondern sie flieht einfach nur und möchte etwas Zeit rausschinden. Quelle: Interview mit Olga Grjasnowa Und so kehren Lou aus Spanien bzw. Israel und Sergej von einer Konzertreise mit einem potenziellen Seitensprung fast gleichzeitig nach Berlin zurück. Ende Juli aufgebrochen haben sie sich drei Monaten lang um sich selbst und im Kreis gedreht, ohne irgendwie weitergekommen zu sein. Entwicklung ist nicht erkennbar. Olga Grjasnowas neuer Roman ist zwar so souverän und temporeich wie dessen Vorgänger, aber leider deutlich weniger erkenntnisreich. Wenig, was man über heutiges jüdisches Selbstbewusstsein oder eben auch jüdische Selbstzweifel nicht längst gewusst hätte. Wenig, was man als originelle Wendung oder Einsicht verbuchen könnte. Lous Identitätssuche bringt leider nicht weiter. Sie nicht. Und uns nicht. Schade.…
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Sascha Kowalczuk ist stocksauer. Die Dauernörgelei im Osten, das Wahlverhalten der Wutbürger - in alledem schwingt für Kowalczuk ein Stück Realitätsblindheit mit. Denn: Die deutsche Einheit ist nicht nur längst vollzogen. Sie ist auch eine Erfolgsgeschichte geworden. Das ist nur noch nicht durchgedrungen. Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock Aus Kowalczuks Sicht nämlich haben viele Ostdeutsche nie begriffen, dass Demokratie im Kern nicht D-Mark, Mallorca-Reisen und Rundumversorgung bedeutet. Sondern dass Diktatur-Sozialisierte zu citoyens heranreifen müssen: Freiheit ist eine Angelegenheit, die nur funktionieren kann, wenn sich der Einzelne bewegt und sich in seine eigenen Angelegenheiten einmischt. Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock Freiheit bedeutet Einmischung Mit Einmischen meint Kowalczuk nun keineswegs den tumben Stammtisch um die Ecke oder bei X und Tiktok. Sondern dass man kapiert, dass Demokratie Interessenausgleich und Kompromiss bedeutet. Also sich einmischen, den Mund aufmachen mit Verständnis für die Gegenseite. Aber, so der Autor weiter: Genau das wird einem in der Diktatur mit allen Mitteln abgenommen, abtrainiert, brutal weggenommen. Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock Zwei Gesellschaften trafen aufeinander, die sich längst auseinander gelebt hatten Denn dort gab es nur eine Wahrheit. Was das in den Köpfen hinterlassen hat, haben auch die verbohrtesten Antikommunisten im Westen nie erfasst. 1990 sind zwei Gesellschaften zusammengeführt worden, die sich so weit auseinandergelebt hatten, wie es nur denkbar war. Naiv glaubten viele gelernte Bundesbürger, die Ostdeutschen hätten ja nur auf sie gewartet - denn nach 28 Jahren Gefängnis und 40 Jahren SED-Gängelung lechze man naturgemäß nach genau der Freiheit, die der Westen nun bringe. Umgekehrt dachten die meisten DDR-Bürger genauso naiv. In ihrer einzigen freien Volkskammerwahl im März 1990 votierten sie für den schnellen Beitritt. Vor lauter Euphorie waren sie blind. Kowalczuk konstatiert: Sie erfanden einen Westen, den es nie gab. Sie konstruierten eine Idylle, die sie am 18. März 1990 herbeiwählen wollten. Eine Fehlwahrnehmung, die fast niemand dem eigenen Unvermögen anlastete, sondern dem Westen selbst, der sie angeblich getäuscht, betrogen, belogen hätte. Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock Hier muss man Kowalczuk allerdings entgegenhalten, dass alle bundesdeutschen Parteien außer den Grünen den Volkskammerwahlkampf aktiv gekapert hatten - und mit ihm die eigene Demokratie-Bewegung der DDR. Ost-Oppositionelle wie Rainer Eppelmann, Markus Meckel, Konrad Weiß, Jens Reich - sie bekamen nie wirklich die Chance, ihre Landsleute adäquat mit den Anforderungen der parlamentarischen Demokratie vertraut zu machen. In der großen Unsicherheit danach wurde die DDR bald rosarot verklärt. Und Kowalczuk trifft ins Schwarze, wenn er über diese Verklärer schreibt: Sie repräsentieren eine große ostdeutsche Mehrheit, die mit ihrer unverarbeiteten Diktatursozialisation weder die Vergangenheit verarbeitet, noch die Herausforderungen der repräsentativen Demokratie und die Kraft der Freiheit verarbeitet hat. Es gab keine Demokratie- und Freiheitsschulung im Osten. So etwas wie Re-Education in Westdeutschland fehlte. Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock Dringlicher Appell, viele eingeübte Denk-Schemata endlich abzustreifen Umgekehrt hätten die meisten Westdeutschen nie begriffen, dass drei Vierteln der Ostdeutschen in den 90er Jahren der Boden unter den Füßen weggezogen worden sei: Mit ihrem vertrauten Arbeitsplatz verloren sie ihre gesamte gesellschaftliche Einbindung, den Großteil ihrer menschlichen Beziehungen. Kowalczuk hat völlig recht, wenn er feststellt, dass beide Seiten bis heute viel zu wenig voneinander wissen. Sein Buch Freiheitsschock ist da aber nur ein aktueller Problemaufriss. Um die Dimensionen genauer zu erfassen, sollte man auch zu Kowalczuks Buch Die Übernahme von 2019 greifen. Erst beide Bände zusammengenommen können wertvolle Denkanstöße liefern: indem sie Ost und West aufrütteln und an uns alle in Deutschland appellieren, viele eingeübte Denk-Schemata endlich abzustreifen.…
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1 Pajtim Statovci – Meine Katze Jugoslawien 4:09
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4:09Katzen, immer wieder Katzen. Sie spielen im Leben des rund dreißig Jahre alten Bekim ebenso eine Rolle wie in dem seiner Eltern, die Anfang der 1990er Jahre aus dem albanischen Kosovo nach Finnland emigrierten, als der Kosovokrieg sich schon abzeichnete. Bekim wuchs in Helsinki auf und sah die Heimat nur in den Sommerferien. Fremd ist er dort genauso wie in dem Land, dessen Sprache er jetzt spricht. Soweit decken sich seine Erfahrungen mit denen des Autors Pajtim Statovci. Er kam 1992 im Alter von zwei Jahren mit seinen kosovo-albanischen Eltern nach Finnland und schreibt in finnischer Sprache. Mit Schlange und sprechender Katze In seinem Debütroman „Meine Katze Jugoslawien“ berichtet er abwechselnd aus der Ich-Perspektive von Bekim und seiner Mutter Emine. Bekim lebt alleine, er ist schwul und hat lieblosen Sex mit Männer, die er in Chatrooms kontaktet. Vertrauter ist ihm die Würgeschlange, die er in seiner kleinen Wohnung hält, und eine Katze, die er in einer Schwulenbar kennenlernt. Sie trägt einen Anzug und kann sprechen – ein magisches Menschen-Tier, das bei Bekim einzieht, sich aber bald als verfressener Spießer mit homophoben und fremdenfeindlichen Ansichten entpuppt. Ausländer sind dumm und laut, und wenn sie an einem vorbeigehen, betäubt einen der Gestank, den sie absondern. Wenn man ihnen Arbeit gibt, stehlen sie Geld. Und gibt man ihnen eine Wohnung, machen sie darin alles kaputt, auch wenn sie nicht einmal selbst dafür bezahlen. Quelle: Pajtim Statovci – Meine Katze Jugoslawien Auf der zweiten Erzählebene beginnt Bekims Mutter Emine ihre Lebensgeschichte mit ihrer Verheiratung im Jahr 1980, einem archaischen, kosovarischen Fest, das nach festen Regeln abläuft. Es findet ein abruptes Ende, weil Tito stirbt und das Land in Trauer versinkt. Früher, so erfährt Emine vor der Hochzeitsnacht, sei es Brauch gewesen, dass der Ehemann eine Katze ins Schlafgemach brachte, um sie vor den Augen der Braut zu erwürgen und so seine Macht zu demonstrieren. Erst in dem Moment begriff ich, dass ich mein ganzes restliches Leben mit ihm verbringen würde, und dieser Gedanke schlug in meine Rippen ein wie eine Abrissbirne in ein Haus. (…) Und wenn wir nie lernen würden, uns zu lieben? Was würde dann geschehen? Quelle: Pajtim Statovci – Meine Katze Jugoslawien Verlust der Gewissheiten Bekims Mutter entflieht schließlich nicht nur dem Krieg, sondern auch dieser patriarchalen Welt. Sein Vater ist als Lehrer und Literaturinteressierter fast ein Intellektueller, ist aber auch in Finnland von seiner Herkunft geprägt. Es ist ein weiter Weg aus der traditionsbestimmten Dorfwelt in die anonyme finnische Großstadt. Denn die Befreiung vom Althergebrachten bedeutet zugleich den Verlust der Gewissheiten und des sicheren Bodens. Auch Bekim steckt in den patriarchalen Strukturen fest. Mag sein, dass er sich mit seiner Homosexualität möglichst weit vom Vater und seiner Familie entfernt zu haben glaubt, doch im Verhältnis zu der fiesen Katze aus dem Schwulenclub verhält er sich selbst wie eine unterwürfige Frau, kocht und wäscht und putzt für sie. Vielleicht versucht er damit aber auch die Traumata seiner Kindheit loszuwerden, als Katzen und Schlangen Albträume verursachten. Parallel zu dieser surrealen Tierfabel entfaltet sich in Emines Erinnerungen eine realistisch genau erzählte Ehe- und Migrationsgeschichte. Fremdheit und Heimatverlust Eindrucksvoll schildert Statovci vor allem die Angst und die Scham der Migranten zur Zeit des Kosovokrieges, den sie vor dem Fernseher erleben, ohne zu wissen, was in den Dörfern passiert und wer überhaupt noch am Leben ist. „Die Katze Jugoslawien“ ist ein ungemein politischer und doch spielerischer Roman, der erlebbar macht, was es bedeutet, das Land, die Sprache, das Klima und die Kultur zu wechseln. „Migrationshintergrund“ ist dafür ein viel zu niedliches Wort. Migration ereignet sich immer im Vordergrund. Die Fremdheit ist in jedem Moment spürbar und erfasst den ganzen Menschen. Selten ist davon so eindrucksvoll erzählt worden wie in diesem finnisch-kosovarischen Roman.…
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1 Sara Weber – Das kann doch jemand anderes machen! 4:09
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4:09KI ist heute allgegenwärtig und wird auch im Berufsalltag immer relevanter: Sie übernimmt lästige Aufgaben und beschleunigt so manchen Arbeitsprozess. In „Das kann doch jemand anderes machen! Wie KI uns alle sinnvoller arbeiten lässt“ beleuchtet Autorin Sara Weber Risiken und Chancen der KI. KI, Dampfmaschine, Elektrizität – Technologische Entwicklungen verändern die Arbeitswelt Zunächst verweist sie darauf, dass der technologische Fortschritt die Arbeitswelt schon immer verändert hat: Der mechanische Wecker ersetze den menschlichen Aufwecker und der Beruf der Telefonistin wurde mit der Automatisierung der Ortsnetze obsolet. Allerdings verschlechterten sich mit der Industrialisierung auch die Arbeitsbedingungen und die Löhne sanken. Bessere Technologie sorgt nicht einfach für bessere Arbeitsbedingungen oder bessere Bezahlung. Diese Veränderungen mussten in der Vergangenheit und müssen auch heute noch erkämpft und erstritten werden. Quelle: Sara Weber – Das kann doch jemand anderes machen! Dass das auch in Hinblick auf KI der Fall ist, zeigt Weber anhand des Streiks der Drehbuchautorinnen und -autoren in Hollywood. Die Gewerkschaft forderte unter anderem, dass die KI bei tarifgeschützten Projekten kein literarisches Material schreiben darf. Damit soll sichergestellt werden, dass KI die Autorinnen und Autoren auch in Zukunft nicht ersetzt. Bekannte Schauspieler wie George Clooney unterstützen die Forderungen. Zudem erläutert Weber, welche Strategien verschiedene politische und gesellschaftliche Akteure für den Umgang mit KI entwickeln: Etwa den AI-Act der Europäischen Union, der den Einsatz von KI in Forschung und Wirtschaft regulieren soll. Vieles davon ist weitläufig bekannt und die zugehörigen Argumente nicht unbedingt neu. Doch Webers kompakte Zusammenstellung des Status Quo macht deutlich, wie vielschichtig die KI-Debatte ist. Spannende Recherchen und innovative Konzepte Erfrischend sind die Abschnitte, in denen die Autorin von ihren eigenen Recherchen erzählt: Mit Physiklehrer Patrick Bonner spricht Weber über den Einsatz von KI im Schulunterricht. In der Bäckerei Wildbadmühle schaut sie sich an, wie mithilfe von KI die Nachtarbeit reduziert und Arbeitsprozesse verbessert werden. Am Essener Uniklinikum lässt sie sich vom Ärztlichen Direktor das Konzept ‚Smart Hospital‘ erklären und testet selbst einen KI-Assistenten. Wir fragen die KI: Hat der Patient Vorerkrankungen? Es dauert kurz, dann erscheint ein ausführlicher Satz, der alle Vorerkrankungen beschreibt. Weil die KI nicht nur eine These ausspuckt, sondern auch die Quellen angibt, können die Ärztinnen und Ärzte nachsehen, ob alles stimmt, ohne sich durch Berge an Dokumenten zu wühlen. Eine Zeitersparnis, die gleichzeitig die medizinische Versorgung verbessert. Quelle: Sara Weber – Das kann doch jemand anderes machen! Bei aller Begeisterung für die neuen Möglichkeiten verliert Weber nicht aus den Augen, dass der Einsatz von KI auch höchst problematisch sein kann: Wenn etwa Konzerne wie Amazon mithilfe von algorithmischem Management ihre Mitarbeitenden überwachen oder KI in Bewerbungsprozessen vorhandene Ungleichheiten reproduziert. Denn: Am Ende formalisiert die KI ja nur die Muster, mit denen sie trainiert wird – und wenn diese Muster sexistisch oder rassistisch sind, wird es eben auch die KI. Quelle: Sara Weber – Das kann doch jemand anderes machen! Plädoyer für einen konstruktiven und bewussten Umgang mit KI Die anschaulichen Beispiele machen die Lektüre kurzweilig, und die Autorin verzichtet auf komplizierte Technik-Exkurse. Stattdessen diskutiert sie innovative Ansätze und Ideen und eröffnet interessante Einblicke in verschiedene Berufsfelder, die sich mit dem Einsatz von KI verändern. Ihr Resümee: Wir sollten uns dem technologischen Fortschritt nicht verschließen, sondern KI bewusst und konstruktiv nutzen. Technologien sind kein Selbstzweck. Wir als Menschen, als Gesellschaft müssen aktiv überlegen, entscheiden und umsetzen, wie eine positive Zukunft unserer Arbeitswelt aussehen soll, die gut für möglichst viele von uns ist. Dafür bleibt nicht mehr viel Zeit. Denn die KI-Revolution ist weitreichender als viele glauben – und sie hat längst begonnen. Quelle: Sara Weber – Das kann doch jemand anderes machen!…
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Ein viel beachteter TikTok-Trend in den vergangenen Monaten war eine Umfrage unter jungen Frauen: Ob sie alleine im Wald lieber einem Bären oder einem Mann begegnen wollten, wurden die Frauen gefragt. Die überwältigende Mehrheit entschied sich für den Bären. Die Frage, die in Julia Phillips neuem Buch unter anderem aufgeworfen wird, lautet: Wie lebt es sich, wenn man vor beiden Angst hat, vor Bären und vor Männern? Das zumindest trifft auf Sam zu, eine der beiden Protagonistinnen von „Cascadia“. Wie schon ihren bemerkenswerten Debütroman hat Phillips auch das neue Buch in eine beeindruckend schöne, stimmig gezeichnete Landschaft hineingesetzt: Sam und ihre dreizehn Monate ältere Halbschwester Elena leben auf San Juan, der Hauptinsel einer zum Bundesstaat Washington gehörenden Inselgruppe. Ein Paradies für Touristen, doch das Leben der Schwestern ist in höchstem Maße prekär: Ihre Väter haben sich jeweils schon vor der Geburt der Töchter aus dem Staub gemacht. Die Mutter hat ihre Lunge bei der Arbeit in einem Nagelstudio ruiniert und liegt todkrank in dem herunter gekommenen Haus, das der Familie, so glaubt jedenfalls Sam, noch gehört. Zwei ungleiche Schwestern Sam arbeitet im Schichtdienst auf den Fähren zwischen den Inseln; Elena in einer Bar. Sams ganze Hoffnung richtet sich auf die Zeit nach dem Tod der Mutter: Danach, so glaubt sie, würden die Halbgeschwister das Haus teuer verkaufen und von vorne anfangen können. „Cascadia“ hat einen klassischen novellistischen Kern. Es ist tatsächlich die schon sprichwörtliche unerhörte Begebenheit, die in die starren Verhältnisse Dynamik hineinbringt: Eines Nachts steht ein Bär vor dem Haus. Und es bleibt nicht bei diesem einmaligen Vorfall. Während die in ihren Ängsten gefangene Sam panisch auf das wilde Tier reagiert, baut Elena zum Entsetzen ihres gesamten Umfeldes gegen jede Wahrscheinlichkeit eine Beziehung zu dem Bären auf: Ein Geschöpf, das auf ihrer Insel nicht heimisch war und nicht zu ihrem Leben gehörte, war trotzdem gekommen. Es war meilenweit durch die nasse schwarze Nacht geschwommen, um an ihrer Haustür zu landen. Es galt als aggressiv, war aber eher sanft. Es galt als wild, verhielt sich aber zahm. ‚Ist das nicht toll?‘, fragte sie Sam. ‚Kommt dir das nicht auch magisch vor?‘ Quelle: Julia Phillips – Cascadia Julia Phillips spielt in „Cascadia“ ganz bewusst mit Märchenelementen. Ihrem Roman hat sie ein Zitat aus „Schneeweißchen und Rosenrot“ voran gestellt. Der Bär wird in „Cascadia“ zu einem symbolischen Gefäß, in dem die unterschiedlichen Gefühle der beiden vermeintlich symbiotischen Schwestern gesammelt werden: Sehnsucht, Furcht, Glückserwartung, Zuneigungsbedürfnis. Ein Bär als Gefäß von Sehnsüchten Zugleich ist der Roman aber auch ein harscher Desillusionierungsprozess, vor allem für Sam. In ihr zerplatzt innerhalb kurzer Zeit eine Illusion nach der anderen, vor allem im Hinblick auf das Verhältnis zu ihrer Schwester Elena. Die klärt Sam kurz nach dem Tod der Mutter in einem Streit über die wahren Verhältnisse auf: Wir mussten eine Hypothek auf das Haus aufnehmen, Sam. Du hast keine Ahnung, wie viele Schulden sich durch Moms Arztrechnungen angehäuft haben. Seit Jahren steht uns das Wasser bis zum Hals. Wenn wir verkaufen, hat nur die Bank etwas davon, und wir hätten kein Dach mehr über dem Kopf.‘ Sam hörte Elenas Worte, doch ihre Bedeutung war fragmentarisch, wie Bruchstücke eines Spiegels. Quelle: Julia Phillips – Cascadia Julia Phillips kommt mit „Cascadia“ nicht an die Qualität ihres Debütromans heran. Ja, auch dieses Buch ist passagenweise spannend; die Verbindung von Landschaft und Figuren ist schlüssig. Aber hin und wieder knarrt die Mechanik der Konstruktion allzu laut, und auch das Verhältnis der beiden Halbschwestern ist recht schematisch gezeichnet. Dass eine solche Geschichte nicht gut ausgehen kann, versteht sich: Wie in den Grimm‘schen Märchen liegen Grausamkeit und Erlösung auch hier dicht beieinander.…
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Was sagt Ihnen Vinayak Savarkar, was Madan Lal Dhingra? Mohandas Gandhi? Moment, das war doch der mit dem gewaltfreien Widerstand? Schon richtig. Aber was diese Drei verbindet ist: Sie haben um das Jahr 1906 im Londoner „India House“, einem Studierenden-Wohnheim, gelebt oder sich dort getroffen. Haben konspiriert oder sogar Bomben gebaut. Mitten in Highgate, im Herzen des Britischen Empires, wurde die Unabhängigkeit Indiens von genau diesem Empire geplant. Ein Roman wie ein Mikadospiel Der Roman reist buchstäblich in die Zeit zurück, ins Jahr 1906. Er ist sinnlich und fantastisch, voller Bezüge und Verweise: Wie kommt etwa Sherlock Holmes ins Spiel, und was hat das Ganze mit der Kultserie „Doctor Who“ oder dem Tod der Queen im September 2022 zu tun? Mithu Sanyal baut einen Roman wie das Gewirr von Mikado-Stäbchen, das eine innere Logik zusammenhält. Ein Ziehen bringt alles in Bewegung. Wenn Zeitreisen möglich sind, wird es sie geben. Wenn es sie geben wird, gibt es sie bereits. Aber glaubt ihr im Ernst, dass die Menschen, die die Macht haben, durch die Zeit zu reisen, das verraten würden? Natürlich nicht! Quelle: Mithu Sanyal – Antichristie Es beginnt mit einer Panne, die etwas Tragikomisches hat: Die fünfzigjährige Durga will die Asche ihrer Mutter verstreuen, aber ein Windstoß weht sie ihr und den Trauergästen ins Gesicht, zwischen die Zähne. Durga aus Köln ist Drehbuchautorin. Das Verhältnis zu ihrer deutschen Mutter war schwierig, ihr Vater ist aus Indien. Und die Mutter lässt sie nicht los, die lineare Zeit wird löchrig. Ein schwarzer Detektiv Poirot? Durga reist kurz danach nach London, mit anderen Autorinnen und Autoren soll sie den Plot für einen neuen Film nach einem Roman von Agatha Christie entwickeln, allerdings anti-rassistisch, feministisch. Detektiv Hercule Poirot, ein Schwarzer? Dagegen regt sich Widerstand: Vor dem Gebäude der Filmfirma wird gegen das vermeintliche Auslöschen der britischen Kultur demonstriert. Doch dann - stirbt die Queen. Aus dem Jenseits erreicht Durga eine Nachricht ihrer Mutter. Und völlig unerwartet rutscht sie durch die Zeit, findet sich im Jahr 1906 wieder. Und nicht als Frau, sondern als junger indischer Mann. Ein ekstatischer Moment. Mein Bauch war nicht nur so flach wie seit Jahren nicht mehr, er kurvte auch nach innen zu seidigen Schamhaaren, und darunter … schaute … ein … Penis hervor. Gebannt streckte ich meine Hand aus und tippte vorsichtig mit dem Mittelfinger dagegen. Quelle: Mithu Sanyal – Antichristie Die Lektüre ist kein Spaziergang Der Titel „Antichristie“ bezieht sich auf das Umschreiben von Agatha Christies weißen Figuren, aber auch auf den „Anti-Christ“: Gemeint ist hier der fast dämonische Freiheitskämpfer Savarkar. Ausgerechnet in ihn verliebt sich Sanjeev, so heißt Durga in ihrem neuen Ich. Savarkar, der Jahre später zum Vordenker des radikalen Hindu-Nationalismus wird. Der Roman flimmert vor historischen Bezügen, vor Pop-Zitaten und postkolonialer Debatte, das macht das Lesen nicht zum Spaziergang. Mithu Sanyal legt den Finger in die Wunde der kollektiven Ignoranz des Westens, macht es aber mit Humor. Zusammen mit Sherlock Holmes will Sanjeev ein Attentat im „India House“ aufklären, und immer wieder bricht die Gegenwart in die Vergangenheit. Es wird klar, dass „Antichristie“ selbst ein Kriminalroman à la Agatha Christie ist. Literatur ist ein wildes, neugieriges Gespräch über die Generationen hinweg. Und die Funktion von Krimis ist dabei, Verborgenes sichtbar zu machen. In unserem Fall die unsichtbare Kolonialgeschichte in der Popkultur. Durga war von sich selbst beeindruckt. Quelle: Mithu Sanyal – Antichristie Wie Mithu Sanyal Gandhi hier als gar nicht so sympathische Figur zeichnet, wie sie an die Wurzel von Freiheitskampf und Terrorismus geht, ist elektrisierend. Durgas Zeitreise im Körper eines Mannes ist erotisch, witzig und gleichzeitig von Trauer durchsetzt: Die Asche fliegt uns als Lesenden zurück in den Mund. Als die Geschichte, die wir ignorieren, unterdrücken, nicht sehen wollen. Brillant.…
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1 Wer schreibt, lebt gefährlich (und arm) - Kluge Bücher für den Frühherbst. Mit neuen Büchern von Ulrike Draesner, Mithu Sanyal und Marta Barone 54:47
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54:47Diesmal im „lesenswert Magazin“: Ein Gespräch über die gefährlichen Seiten des Schreibens und die ernüchternden Antworten auf die oft gestellte Frage, ob es sich von der Schriftstellerei leben lässt.
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1 Wie gut lebt es sich vom Schreiben: „Für die Villa reicht es nicht" | Gespräch 6:12
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6:12Im Lesenswert-Gespräch erklärt er, warum Lesungen immer wichtiger werden und warum Neulinge kaum noch eine Chance haben ohne Agentur auf dem Buchmarkt Fuß zu fassen.
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1 Marta Barone – Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand 7:12
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7:12Wenn er im Auto sang, bewegte er die Arme dazu wie Windmühlenflügel, unterstrich einzelne Verse mit feierlichen Gesten und rief: »Verstehst du? ›Le grandi gelaterie di lampone che fumano lente‹ – die großen, qualmenden Himbeereisfabriken. Was für Poesie!« »Lass die Hände am Steuer! Wenn wir draufgehen, ist Schluss mit Poesie«, erwiderte ich trocken. Aber meistens sang ich mit, genauso falsch und mit beinahe genauso wilden Gesten. Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Es ist einer der wenigen unbeschwerten Momente an die sich Marta Barone in „Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“ erinnert. Die beiden teilen die Leidenschaft für die Literatur, die Poesie und das Meer. Und doch erlebte die Autorin ihren 1945 geborenen Vater Leonardo meist als distanzierten, oft rätselhaften Mann. Marta Barone geht auf Spurensuche Nach seinem Tod begibt sich die junge italienische Schriftstellerin deshalb auf Spurensuche. Sie trifft ehemalige Bekannte des Vaters, liest seine Briefe, Presseberichte und sammelt Fotos. Schließlich erfährt sie von Leonardos Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei PCIM-L und von schwerwiegenden Anschuldigungen gegen ihn. Rasch blätterte ich [die Verteidigungsschrift] durch. Sechzehn Seiten, Fotokopien des maschinengeschriebenen, paginierten Originals. ‚In erster Instanz wurde der Berufungskläger der Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung Prima Linea für schuldig befunden, da als erwiesen angesehen wurde, dass „der Barone“ […] der Organisation substanzielle Dienste geleistet hat, indem er die medizinische Versorgung eines ihrer Aktivisten übernahm […]‘ Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Jedes Gespräch und jedes Dokument fördern neue Erkenntnisse zutage – und werfen zugleich neue Fragen auf, die Archivfotos und Akten nicht beantworten können: Warum kehrt der reflektierte junge Mann dem akademischen Leben den Rücken? Was führt dazu, dass der examinierte Arzt einer Parteiideologie folgend als Straßenbahnputzer arbeitet? Marta Barone weiß, dass diese Fragen nach dem Tod Leonardos für immer unbeantwortet bleiben. Und doch versucht sie, sich dem Unbekannten vorsichtig anzunähern. Ihre Gedankenspiele ermutigen auch Leserinnen und Leser dazu, Situationen wie etwa Leonardos Ausharren in der Untersuchungshaft nachzuempfinden. Was mag er da drin wohl empfunden haben, abends, wenn es nichts zu tun gab? Während er in der stickigen Zelle saß und das Tageslicht schräg durch das kleine Fenster fiel? Wenn er auf einen Stuhl stieg, so schreibt er in einem Brief, konnte er die umliegenden Dächer sehen. Fragte er sich, wann er wieder echtes Tageslicht zu sehen bekäme, außerhalb der Mauern? Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Vieles erinnert an heutige Entwicklungen Nach und nach löst sich die Erzählung von der Familienbiografie und widmet sich den gesellschaftlichen Entwicklungen im Italien der 70er und 80er Jahre. Die Autorin erzählt von den prekären Lebensumständen der Arbeiter, von den Sorgen und Nöten der Bevölkerung und der schleichenden Radikalisierung einer Protestbewegung – die am Ende ein ganzes Land in Angst versetzt. Im sogenannten ‚Heißen Herbst‘ 1969 demonstrieren die Fabrikarbeiter des Automobilherstellers Fiat in Turin gegen den übermächtigen Konzern. Sie lösen eine Protestwelle aus, die sich bald über ganz Italien erstreckt. Die Stimmung heizt sich immer mehr auf und bald stehen Messerstechereien und Straßenkämpfe in fast allen Großstädten auf der Tagesordnung. Mit Sorge erkennt man beim Lesen die Parallelen zur heutigen Gesellschaft: Wohnungsnot, finanzielle Sorgen und das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden befeuerten die populistischen Kräfte schon damals. Das macht den Roman hochaktuell – und die Szenen, in denen sich zeigt, wie plötzlich Frust und Wut in Gewalt umschlagen können, umso beklemmender. […] Tonino Miccichè, ein fünfundzwanzigjähriger Sizilianer [...] war ein geschickter Organisator […] und hatte alles so hervorragend geregelt, dass man ihn scherzhaft den »Bürgermeister von Falchera« nannte. Dort, in Falchera, war einem der »offiziellen« Wachmänner versehentlich eine zweite Garage zugeteilt worden, und die Besetzer hatten ihn mehrfach gebeten, sie ihnen für ihre Treffen zu überlassen, damit sie abends nicht immer so viel Lärm auf der Straße veranstalten mussten. Doch der Wachmann blieb eisern. Eines Abends brachen sie deshalb kurzerhand die Garagentür auf und schoben das Auto davor. […] Ein paar Minuten später schnappte der Wachmann sich seine Pistole und kam […] herunter. Miccichè trat versöhnlich lächelnd auf [ihn][…] zu. Der Wachmann schoss ihm genau zwischen die Augen. Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Die Autorin hält sich an Fakten, vergisst aber die Emotionen nicht Marta Barone deckt die dunklen Ecken der jüngeren italienischen Geschichte auf und orientiert sich dabei eng an den Fakten. Sie verzichtet auf aufbauschende, dramatisierende Formulierungen und vermeidet Spekulationen über die persönlichen Motive und Gefühle der Menschen. Trotz der sachlichen Beschreibungen weckt die Erzählung auch Emotionen. Fesselnd und in wunderbaren Sprachbildern erzählt Marta Barone von dem, was sie selbst wahrnimmt und mit Sicherheit sagen kann. Diese detailverliebten, poetischen Skizzen übersetzt Jan Schönherr hervorragend ins Deutsche. Meine Vergangenheit erschien mir wie ein einziger, langer Tag […] Vage, aber deutlich wahrnehmbar, empfand ich völlige Kontinuität zwischen meinem Bewusstsein von mir selbst mit acht, zwölf oder zwanzig Jahren und dem von heute. Das meiste, was ich gesehen und erlebt hatte […], war mir so präsent wie meine gelbe Obstschale, wie die Grille, die den Sommer überlebt hatte und noch immer einsam vor meinem Fenster zirpte, wie das Glucksen des Neugeborenen von nebenan. Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Gastland Italien hält noch viele Entdeckungen bereit Der autofiktionale Roman ist eine vielschichtige Erzählung, die weit über die Biografie des Vaters hinausgeht. Kunstvoll verwebt Marta Barone die persönliche Geschichte des Vaters mit der Geschichte Italiens und Vergangenes mit Gegenwärtigem. Erstmals wurde ein Roman der erfolgreichen italienischen Schriftstellerin ins Deutsche übersetzt. „Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“ zeigt, dass Italien, das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse, nicht nur mit politischen Kontroversen auf sich aufmerksam macht, sondern es dort vor allem literarisch noch viel zu entdecken gibt.…
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1 Sieben Jahre Haft für einen Roman? Gespräch mit Sandra Hetzl (PEN-Berlin) 6:03
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6:03Der Vorwurf: Terrorpropaganda. Sandra Hetzl von der Autorenvereinigung PEN Berlin begleitet den Prozess in Istanbul. Im Lesenswert-Gespräch spricht sie darüber, wie die türkischen Behörden zusammen mit regierungstreuen Medien, unbequeme Autoren, wie Yavuz Ekinci verfolgen. Ein weiterer Roman von Yavuz Ekinci wurde auf Deutsch übersetzt:…
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1 Clemens J. Setz zum Schreiben: Ohne Nebenjobs geht es nicht! 5:56
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5:56„Ich brauche immer mehrere kleine Nebenjobs wie Übersetzungen oder Artikel“, erzählt er im Lesenswert-Gespräch. Über das Thema Geld wird unter Autorinnen und Autoren kaum gesprochen, sagt er, das sollte sich ändern.
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Leserinnen und Leser von Pippi Langstrumpf wissen, wie klug das stärkste Mädchen der Welt ist – auch wenn seine Schulbildung zu wünschen übriglässt. Pippi sagt: „Wenn das Herz nur warm ist und schlägt, wie es schlagen soll, dann friert man nicht.“ Dieses Zitat ist eines von dreien, die Ulrike Draesner ihrem Buch voranstellt: Es bleibt im Gedächtnis und begleitet uns beim Lesen dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte. Draesners Tochter Mary ist drei Jahre alt, als die beiden sich kennenlernen. Eine Adoption in Sri Lanka Bis dahin hat das Mädchen in einem von Schwestern geführten Kinderheim auf Sri Lanka gelebt. Die Autorin und ihr damaliger Mann reisen für die Adoption dorthin: endlich - nach Fehlgeburten und einem langen bürokratischen Verfahren: Sie trug ein hellgelbes ärmelloses Kleid mit schwachem Blümchenaufdruck, es war peinlich sauber, wie wir später sahen, wenn auch nicht neu, und sie drehte sich ein paar Mal zu uns um, als ahnte sie, dass wir ihretwegen gekommen waren. Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben Wie lernen Eltern und Kind sich kennen und lieben? Was bedeutet es, wenn dieses Kind von einer anderen Frau geboren wurde, dazu in einem anderen Land, es zunächst keine gemeinsame Sprache gibt und das alles für Außenstehende ganz offensichtlich ist? Die Bedeutung von Familie Was bedeutet Familie? Ulrike Draesner erzählt eine sehr persönliche Geschichte, doch weitet sie sie klug, und deshalb geht es in „zu lieben“ immer auch um unser sich wandelndes Familienbild und eine Gesellschaft, die auf fremd Erscheinendes oft skeptisch blickt. Ah, adoptiert“, sagt man zu mir. Ein „nur“ schwingt mit. Das Zweiteklassegefühl stellt sich ein. „Aus Sri Lanka“, sage ich. Mein Gegenüber sagt: „Ach deswegen.“ Ich nehme an, er oder sie meint unser „diverses“ Äußeres. Jetzt ist es erklärt.: „Nur adoptiert.“ Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben Draesner widerlegt dieses „nur“ auf knapp 350 Seiten eindringlich. Es geht um Überwindung von anfänglicher Fremdheit mit Liebe, Mut und Zutrauen. Auch das Kind hat Angst. So duldet Mary lange keine Berührung von der Frau, die ihre Mutter werden will und wird. Mary ließ sich gern Dinge zeigen. Wir schwitzten und führten vor, wir waren erschöpft und grinsten, wir sprangen durch den Sand, und die Flöhe bissen uns in Füße und Waden. Wir wurden angelächelt, sie winkte uns zum Abschied vom Arm einer Helferin. Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben Auch formal ist dieses Buch von Ulrike Draesner (wieder) hochspannend. Auf dem Cover steht Roman – allerdings ist das Wort durchgestrichen, beinhaltet also das „Ja“ und das „Nein“, und tatsächlich ist „zu lieben“ beides, autobiographische Erzählung UND Roman. Im Text finden sich ebenfalls ab und zu durchgestrichene Sätze oder Worte, die von der Suche nach dem passenden Ausdruck zeugen sowie am Beginn einzelner Kapitel aus Buchstaben und Worten geformte Vignetten, zum Beispiel eine Fahne aus den Worten schwarz rot gold. Einfluss von Elternschaft auf die Ehepartner Draesner erforscht, was Elternschaft, was Mutterschaft bedeutet. Und während die Liebe zwischen Eltern und Kind wächst, schleicht sich die zwischen den Ehepartnern auf leisen Sohlen davon. Beide, die Ich-Erzählerin und ihr Mann, vereinsamen und können einander in diesem schwierigen Prozess nicht wirklich helfen: Hunter sagte, ich sollte erwachsen sein. Sagte es leise, wie nebenbei, als wäre es nichts. Während er es sagte, verlor ich seine Augen, ich meine, sie wurden leer, es war, als spiegelte ich mich nicht mehr in ihnen, als rutschte ich an ihm ab. Ich rutschte aus ihm heraus. Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben Dieses Buch trifft ins Herz, so dicht, so unmittelbar ist es erzählt, doch immer wieder wechselt die Autorin den Ton, analysiert, reflektiert, fragt: In welcher Gesellschaft wollen wir leben – mit welchem Familienbild? Das Thema Mutterschaft ist ein großes in den Neuerscheinungen dieses Herbstes, hier wird es auf noch einmal andere Weise erzählt. Eine ebenso schmerzhafte wie beglückende Lektüre: Ich sage: „Mary ist meine Tochter.“ Es ist ein sehr genauer Satz. Mein genauester Satz. „Ever“, würde Mary sagen. „Dein genauester Satz, Mama, ever.“ Wir haben ihn uns erlebt. Wir erleben ihn uns jeden Tag. Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben…
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1 Patrick Modiano – Memory Lane | Buchkritik 4:09
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4:09Leben heiße, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren, schrieb Patrick Modiano einmal. Das gilt auch für das Schreiben, zumal für das des französischen Nobelpreisträgers. Die Erinnerungen sind meist leicht vergilbt wie die Seiten eines alten Notizbuches, verblasst wie zu lange dem Licht ausgesetzte Fotografien. Und manchmal sogar ein wenig pathetisch wie das Lied “Memory Lane”, das Patrick Modiano zum Titel eines Buches gemacht hat. Der Refrain geht übersetzt ungefähr so: Memory Lane / Nur einmal traben Pferde die Memory Lane hinunter, / die Spuren ihrer Hufe jedoch bleiben für immer … Quelle: Patrick Modiano – Memory Lane In diesen schlagerhaften Zeilen verbirgt sich das Geheimnis des Erinnerns und die Poetologie Modianos: Die Spuren von Begegnungen und Ereignissen mögen verwischen, aber da sind sie gleichwohl. Manchmal genügt eine unscheinbare Gefühlsregung, um das Verlangen zu wecken, ihnen nachzugehen, ihnen zurück in eine andere Zeit zu folgen, zurück in die Jugend. Das hat etwas Detektivisches, und auch wieder nicht. Denn bei Modiano werden keine Fälle gelöst. Im Gegenteil: Das Mysterium des Verschwundenen, der Toten oder eines längst nicht mehr existierenden Paris wird nur immer größer, niemals jedoch zu den Akten gelegt. Der Nebel der Zeit „Memory Lane“ also. Das Lied wird im Buch zur gemeinsamen Hymne einer Gruppe von mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelten Menschen. Patrick Modianos Erzählung wurde 1979 geschrieben und kam 1981 erstmals zusammen mit realistischen schwarz-weiß Illustrationen des seinerzeit sehr bekannten Zeichners und Grafikers Pierre Le-Tan heraus. Die kongeniale Übersetzerin Elisabeth Edl hat sie nun das erste Mal ins Deutsche gebracht. Modianos Erzähler erinnert sich 15 Jahre nach einem intensiven Sommer an das „Grüppchen“, das sich um das mondäne, längst aber am Abgrund des Ruins stehende Paar Paul und Maddy Contour schart: Paul Contour: sein Leichtsinn, aber auch sein Gesicht, das mir zerfurcht schien in der Sonne von Antibes. Maddy: sie hielt besser stand, dank ihrer schön geschwungenen Brauen, ihrer Augen, in denen Fjorde aufblitzten, und ihres Lächelns. Bourdon: er trug oft eine Seglermütze, hatte seine Pfeife im Mund, und es ging einem zu Herzen, dass er aussehen wollte wie ein Südseekapitän. Quelle: Patrick Modiano – Memory Lane Dazu kommt Bourdons Kindheitsfreund Winegrain mit seinem leeren Blick und dessen Freundin Françoise , schüchtern und ihrem Liebhaber hoffnungslos ergeben. Da ist der alte Antiquitätenhändler Claude Delval. Und der Amerikaner Doug „mit dem roten, pockennarbigen Gesicht“, immerzu „Memory Lane“ vor sich hin singend. Der Krieg ist noch nicht lange vorbei, das Leben muss in vollen Zügen genossen werden, aber es ist ein Vergnügen auf Kredit – hinter der Fassade entdeckt man eine Müdigkeit und Melancholie. Das Alter nagt an den Figuren Das Alter nagt an diesen Überlebenden und sich überlebt Habenden. Der Erzähler, jung und neugierig, ist unversehens in das Grüppchen hineingeraten, und er wird – wie auch Françoise – weiterziehen. Aber doch bleibt etwas aus dieser Zeit bewahrt, ein elegisches Sentiment, auch eine ungelebte Liebe zu Maddy. Erinnerung ist ohne Wehmut nicht zu haben. Ich, der so oft bei den anderen das Älterwerden beobachtete, musste mich nun meinerseits an die Vorstellung gewöhnen, dass meine Jugend zu Ende ging. Quelle: Patrick Modiano – Memory Lane Mit welcher unaufdringlich simplen Eleganz und in welch schwebend-dämmriger Stimmung das erzählt wird, ist wie immer bei Patrick Modiano betörend und schmerzhaft zugleich. Je stärker das Vergangene sich in die Gegenwart schiebt, desto deutlicher spürbar wird die Vergänglichkeit. Pierre Le-Tans Zeichnungen sind realistische Illustrationen von Interieurs und vage bleibender Figuren, versehen mit Unterzeilen, die nicht dem Text entnommen sind, sondern ihn weiterführen. „Memory Lane“ ist zweifelsohne ein Nebenwerk Modianos, schmaler noch als seine üblicherweise schmalen Romane. Aber kondensiert ist auch hier das Besondere dieses Autors zu spüren.…
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1 Thilo Wydra – Alma & Alfred Hitchcock | Buchkritik 3:54
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3:54Was zunächst nach romantischer Liebesgeschichte klingt, entpuppt sich schnell als gut recherchierte und anschaulich erzählte Biografie eines außergewöhnlichen Künstlerehepaars. Thilo Wydra bietet Einblicke in die Entstehungsgeschichte von Filmen wie „Psycho“ oder „Der Mann, der zu viel wusste“. Er zeigt, vor welchen Herausforderungen Alfred Hitchcock, oder „Hitch“, wie er oft genannt wird, dabei stand. Viele dieser Filme sind, so der Biograf, „längst in das kollektive Gedächtnis der Menschen eingegangen“. Allerdings stieß nicht jeder Film sofort auf Begeisterung: Von heute hochgelobten Filmen wie „Marnie“ oder „Topaz“ waren Presse und Publikum zunächst enttäuscht. Ehefrau Alma war Hitchcocks wichtigste Kritikerin Weit wichtiger für Alfred war aber das Feedback seiner Frau Alma. Der hochbegabten Cutterin standen zahlreiche Karrierewege offen. Doch sie widmete sich voll und ganz ihrer großen Leidenschaft: Dem Schnitt. Die Tätigkeit im Hintergrund entsprach wohl auch ihrer scheuen und bescheidenen Art. Zugleich erwies sie sich als selbstbewusste Kritikerin, deren aufmerksamem Blick kein Detail entging. Die Hitchcocks beeinflussen die Filmkultur bis heute: Einige von Hitchs dramaturgischen Mitteln sind heute fest etabliert. Etwa der Suspense, den der Meister selbst einmal so erklärt hat: You see mystery is an intellectual process, like in a „Who-done-it“. But suspense is essentially an emotional process. Therefore you can only get the suspense element going by giving the audience information. Das Geheimnisvolle ist ein intellektueller Prozess, wie in einem Who-done-it. Aber „Suspense“ ist ganz wesentlich ein emotionaler Prozess. Und den bringt man nur in Gang, wenn man dem Publikum Informationen gibt. Im Buch macht Hitchcock seine Idee von „Suspense“ noch deutlicher: Die Bombe ist unterm Tisch, und das Publikum weiß es. Es weiß, dass die Bombe um ein Uhr explodieren wird, und jetzt ist es 12 Uhr 55. Die unverfängliche Unterhaltung wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Szene teilnimmt. Es möchte den Leuten auf der Leinwand zurufen: ‚Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter dem Tisch ist eine Bombe und gleich wird sie explodieren!‘. Quelle: Thilo Wydra – Alma & Alfred Hitchcock Lebendige Collage aus Anekdoten, Filmwissen und Bildmaterial Thilo Wydra lässt nicht nur die Hitchcocks zu Wort kommen. Er zitiert auch Familienmitglieder, Presseberichte, Freundinnen und Kollegen. Tippi Hedrens Äußerungen bieten zum Beispiel Einblick in die Arbeit hinter den Kulissen des Klassikers „Die Vögel“ und Tochter Pat erzählt vom Familienurlaub in St. Moritz. Dabei entsteht eine wunderbare, lebendige Collage aus Anekdoten, Filmwissen und Bildmaterial. Doch das Berufs- und Privatleben der Hitchcocks war nicht nur von Erfolg gekrönt: Krankheit und Verlust kennen Hitch und Alma ebenso. Am Ende seiner Karriere betritt der mittlerweile schwer herzkranke und von Depressionen geplagte Meisterregisseur ein letztes Mal die Bühne: Für sein Lebenswerk erhält er den AFI Live Achievement Award. Unter großen Mühen erhebt er sich vom Stuhl, fällt einmal in diesen zurück, erhebt sich erneut und hält seine Dankesrede. Es ist eine Liebeserklärung vor einem Millionenpublikum. Es hat etwas sehr Ergreifendes, wenn diese pragmatische, selbst so schwerkranke Frau, Alma Reville, kurz ihr Gesicht hinter den Händen verbirgt und die Tränen zu sehen sind, die ihr in den Augen stehen. Quelle: Thilo Wydra – Alma & Alfred Hitchcock Leidenschaftlich erzählte Biographie eines außergewöhnlichen Filmgenies Thilo Wydra erweist sich als leidenschaftlicher Erzähler. Eindrückliche Momente schildert er mit viel Liebe zum Detail, Cliffhanger sorgen für Spannung und skurrile Szenen für Humor - ganz wie in Hitchcocks Filmen. Die informative und zugleich unterhaltende Biografie bringt uns Alfred und Alma näher und macht Lust, sich Hitchcocks Filme erneut anzusehen: Mit neuem Hintergrundwissen und voller Respekt für die leidenschaftliche und präzise Arbeit eines außergewöhnlichen Filmgenies.…
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Auf dem Cover strahlen verschlungene Linien in Blau und Orange, darauf der Schriftzug „Nachtzugtage“. Auch auf dem Vorsatzpapier und nach dem letzten Kapitel hat die Gestalterin diese Linien verwendet. Sie mögen wohl symbolisch stehen für die verschlungenen Wege, auf die uns die Philosophin Millay Hyatt mitnehmen will. Sie hat ein Buch geschrieben, das sich ganz dem Zugreisen bei Nacht und manchmal auch bei Tag widmet. Am Abend auf Reisen zu gehen hat etwas unabweisbar Beglückendes, man kann es sich eigentlich nicht recht erklären, aber da es anhält, vertraut man irgendwann darauf. Quelle: Steffen Kopetzky Zitiert sie den Autor Steffen Kopetzky, der im Buch immer wieder auftaucht. Bevor es aber losgehen kann, gibt es oft jede Menge Hürden zu überwinden: Da gibt es Verbindungen, die im Internet nicht angezeigt, Fahrkarten, die online nicht gebucht werden können, Fahrkartenschalter, die kaum zu finden sind und deren Personal teilweise nicht in der Lage ist, sagen wir, ein Ticket von Berlin nach Istanbul zu buchen. Ungepolsterte Begegnung mit der Welt Dennoch ist die 1973 in Dallas/Texas geborene und in Deutschland aufgewachsene Millay Hyatt eine leidenschaftliche Zugreisende: Es ist der Reiz der „ungepolsterten Begegnung mit der Welt“, wie sie schreibt, der dazu führt, dass sie, wo immer sie kann, der Reise auf der Schiene den Vorrang gibt, vor dem Auto und vor allem dem Flugzeug. Erstens: Die Bewegung des Zuges und mein Ruhezustand innerhalb dieser Bewegung schärfen die Aufmerksamkeit. Zweitens, weil ich hier die Muße habe, meiner Ausdruckslust freien Lauf zu lassen. Quelle: Millay Hyatt – Nachtzugtage In dreizehn Kapiteln, denen jeweils eine Karte der betreffenden Fahrtstrecke vorangestellt ist, umkreist Hyatt verschiedene Aspekte ihrer Nachtzugreisen, die sie unter anderem nach Edinburgh, Valencia, Athen oder sogar ins georgische Tbilissi führen. Eingeschlossensein mit Fremden Mal geht es um die Faszination für Modellbahnen, mal um das Eingeschlossensein mit Fremden in der Kapsel des Abteils, stets in Form anschaulicher kleiner Geschichten: Da ist der Kampf mit dem renitenten deutschen Nachtzugbegleiter, der erst behauptet, in dem Zug seien keine Betten mehr frei, nur um ihr dann nach zäher Diskussion doch ein Schlafabteil aufzuschließen, in dem die Autorin sogar allein nächtigen kann. Da ist die Begegnung mit einer jungen Frau in einem türkischen Nachtzug, mit der sich Hyatt nicht einmal verständigen kann und die dennoch ihr Essen mit ihr teilt. Da ist die Schönheit Belgrads und anderer Städte, die Hyatt beim Umsteigen unverhofft entdeckt. Da ist die improvisierte Fahrt mit einem Nachtbus ins bulgarische Nirgendwo, die ihr den Anschlusszug nach Budapest sichert. Und nicht zuletzt sind da die unzähligen Beobachtungen auf den Bahnhöfen, aus dem Zugfenster, im Abteil, hinter die Hyatt sogar selbst zurücktritt: Ich löse mich auf, werde unsichtbar, es bleibt nichts von mir übrig als mein Beobachtungsvermögen. Quelle: Millay Hyatt – Nachtzugtage Wenn sie dem Streit fremder Paare lauscht oder beobachtet, wie sich eine Frau auf einem Bahnhofsklo verstohlen den Schritt wäscht, ist Millay Hyatt immer auch Voyeurin, aber eine, die stets versucht, sich dies bewusst zu machen und das Bewusstsein für den eigenen Blick zu schärfen. Hyatt gibt darüber hinaus oft Einblick in ihr Leben, etwa wenn sie über ihre Trennung schreibt oder an der Pariser Gare de l’Est einer vor kurzem wieder aufgeflammten Liebe nachspürt. Unüberwindbare Grenzen All diesen Wegen folgt man ihr äußerst gerne, denn das Buch ist locker geschrieben in einem feinen literarischen Ton. Sehr selten stockt die Lektüre in reflektierenden Passagen, wo die Philosophin Millay Hyatt durchscheint und ihr Formulierungen etwas verkopft geraten. Aber das schmälert das Lesevergnügen in keiner Weise. Gleichzeitig ist „Nachtzugtage“ auch ein politisches Buch: Ihrer Sehnsucht, nach Russland zu reisen kann die Autorin aufgrund des Krieges in der Ukraine nicht mehr so nachgehen wie gedacht, in Ankara wird sie an den Putsch von 2016 erinnert und in Griechenland wird sie auf einer Fähre zur Zeugin von Pushbacks der dortigen Polizei gegen Flüchtlinge. Das Überwinden von Grenzen ist eben nicht für alle so mühelos wie für eine weiße Mitteleuropäerin. Das und die zahlreichen literarischen Anspielungen auf berühmte Zugreisen, sei es bei Proust, Schwarzenbach oder Nabokov machen „Nachtzugtage“ zu einer vielschichtigen Lektüre, die Lust macht, sich trotz aller Widrigkeiten selbst auch einmal wieder auf das Abenteuer Nachtzugreise einzulassen.…
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Es ist eine gespenstische Szene, mit der Ulrike Edschmid ihren Roman eröffnet: Die Ich-Erzählerin hat erfahren, dass eine alte Freundin von ihr in Barcelona im Sterben liegt und wird per Telefon in deren Krankenhaus-Zimmer durchgestellt. Das letzte, was sie von der Freundin hört, ist eine flüsternde, ersterbende Stimme. Nach diesem verstörenden Auftakt erfolgt ein Zeitsprung. Wer war diese Frau, die man als Leser in dieser intimen Situation belauscht hat? Im Jahr 1973, so die Erzählerin, die ebenso wie ihre Freundin namenlos bleibt, sei jene Frau in ihre Frankfurter Wohngemeinschaft eingezogen. Drei Jahre verbringen die beiden in einer Wohnung; die aus Luxemburg stammende Frau sei vor ihrem Elternhaus geflohen, so erzählte sie, und absolviert in Frankfurt erfolgreich ein Studium. Lange Jahre der Unrast Doch trotz dieser räumlichen Nähe, die die beiden Frauen verbindet, bleibt immer eine Distanz, eine unsichtbare Wand zwischen ihnen. Schließlich bricht die Luxemburgerin auf in ihre langen Jahre der Unrast, der Heimatlosigkeit. Sie lässt sich durch die Welt treiben oder reist Männern hinterher; Männern, vor denen sie dann aber flieht, wenn eine Bindung zu eng zu werden droht. Das Alleinsein hält sie ebenso wenig aus wie sie zu einer verlässlichen Partnerschaft im Stande ist. Die Ich-Erzählerin zitiert aus einem Brief, den die Freundin ihr aus Mexiko City geschrieben hat: Liebe sei eine Kunst, die sie nicht beherrsche. Jeder ihrer Versuche sei gescheitert. Sie taumele von Affäre zu Affäre. Es sei eine Sucht. Sie sehe keinen Ausweg aus der Grundmelodie ihres Lebens, der Klage, dem Lamento. Für sie gebe es nirgendwo einen Platz, nicht in einer Familie, nicht in einer Gruppe, nicht innerhalb der Gesellschaft oder einer anderen sozialen Ordnung. Quelle: Ulrike Edschmid – Die letzte Patientin Gerade einmal 110 Seiten umfasst „Die letzte Patientin“. Das ist selbst für Ulrike Edschmid ein kurzes Buch. Ein Buch allerdings, in dem die Stärken der mittlerweile 84 Jahre alten Schriftstellerin voll zum Tragen kommen. Auf den ersten Blick erscheint die Ich-Erzählerin nur als Medium, das aus Briefen Telefonaten und Tonbandaufzeichnungen ein Leben rekonstruiert. Doch das, was den Roman ausmacht, seine Kälte und seine ungeheure Verdichtung, ist das Werk derjenigen, die all diese Informationen ordnet und versprachlicht. Kälte und Verdichtung Und die im ersten Teil des Romans die Flucht und die Sinnsuche ihrer Freundin protokolliert: Guatemala, Bolivien, Paraguay, Uruguay oder Argentinien sind nur einige wenige Stationen, die auch den politisch-historischen Kontext der Figur umreißen. Der zweite Teil von „Die letzte Patientin“ ist eine Spiegelung: Nach einer Krebsdiagnose lässt die Freundin sich in Barcelona nieder, absolviert spät ein Studium der Psychologie und praktiziert auch als Therapeutin. Ihre letzte Patientin, die dem Roman den Titel gibt, ist ein Mädchen aus Deutschland: Sie nahm Drogen und war mit vierzehn Jahren von zu Hause zum Sozialamt geflohen und hatte Hilfe gesucht. Die Eltern getrennt. Zur Mutter kein Kontakt. Vater Geschäftsmann mit Unternehmen im Ausland. Sie war sechzehn. Schwer traumatisiert, hatte die Leiterin der Anlaufstelle gesagt, sei ihr Inneres angefüllt mit Schreckensbildern. Quelle: Ulrike Edschmid – Die letzte Patientin Die junge Ausreißerin wird in den letzten Jahren der Luxemburgerin zu deren Lebensthema: N., so wird das Mädchen genannt, spricht nicht. Über zehn Jahre hinweg sitzt N. in der Praxis ihrer Therapeutin und schweigt, unwillig oder unfähig, die eigenen Verletzungen in Worte zu fassen. Eine unheilbar erkrankte Therapeutin Ob das realistisch ist oder nicht, hat keine Bedeutung für den Roman. Viel wichtiger ist, dass sich in diesem Prozess des Schweigens zwei Menschen ineinander erkennen, bis es zu einer Art von kathartischem Ausbruch und zu jenem Moment kommt, in dem die nun unheilbar erkrankte Therapeutin erstmals so etwas wie Geborgenheit spürt. Man darf sich von Ulrike Edschmids kühlem, vermeintlich protokollarischen Tonfall nicht täuschen lassen – dieser Roman ist ein kurzes und scharfes Kunststück.…
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1 Eric Bergkraut – 100 Tage im Frühling | Buchkritik 6:03
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6:03Im März 2023 ereignete sich das, was Ruth Schweikert die „Explosion in ihrem Körper" nannte. Dabei handelte es sich um den erneuten Ausbruch ihrer Krebserkrankung, die sieben Jahre zuvor erstmals diagnostiziert wurde. Von da an verwandelte sich ihr Leben in ein Dasein zum Ende hin. Nun übernahm es ihr Ehemann Eric Bergkraut den unaufhaltsamen Lauf der Dinge festzuhalten. Entstanden ist daraus ein Bericht über extreme Erfahrungen, wie sie auch viele andere machen müssen, über die aber nur wenige öffentlich Zeugnis ablegen. „Hundert Tage im Frühling. Geschichte eines Abschieds" hat der Filmer und Schriftsteller seine Chronik genannt. Grenzerfahrung des Lebens und Schreibens In einer Vorbemerkung beschreibt Bergkraut seine schwierige, oft herzzerreißende Aufgabe folgendermaßen: Meine Aufzeichnungen handeln zunächst von Deinem Willen zum Leben, ich werde nicht einmal die Bezeichnung der Krankheit benutzen, die Dich getroffen hat. Die Aufrichtigkeit rufe ich auf als Begleiterin meiner Reise. Es kann nicht anders sein, als dass ich dabei an Grenzen gehe. Genau wie Du es getan hast. Quelle: Eric Bergkraut – 100 Tage im Frühling So wie hier spricht der Autor seine Gefährtin oft direkt an, er schreibt nicht über sie, sondern gleichsam im Dialog mit ihr. Begründet ist das durch die emotionale Nähe, zugleich ist es aber auch ein Kunstmittel, das diesen Aufzeichnungen ihre lebendige, ergreifende Form verleiht. Die Sinnfrage wird nicht gestellt Wenn ein Mensch den Tod vor Augen hat, führt der Weg dorthin, entlang der Grenze zu jenen ungeheuren Räumen, die uns schaudern machen, um mit dem französischen Philosophen Blaise Pascal zu sprechen. Auf Deutungen jedoch, die ins Transzendente zielen, haben Schweikert und Bergkraut verzichtet. Niemals habe ich erlebt, dass Du versucht hättest, Deiner Erkrankung eine Sinnhaftigkeit abzugewinnen. Oder Dich und andere zu fragen, weshalb sie Dich getroffen hat, warum in dieser Form. Sie war einfach da und es galt, daraus das Beste zu machen. Für Dich und für uns. Quelle: Eric Bergkraut – 100 Tage im Frühling Ruth Schweikert war eine Schriftstellerin der harten Lebensprobleme, der unglücklichen Herkunft, der jugendlichen Nöte, der fortwährenden Konflikte zwischen Rückschlägen und Freiheitslust. Auf ein vergeleichbares Konfliktfeld des nervenaufreibenden Auf und Ab wurde sie durch die Krankheit gezwungen. Über das Werk seiner Gefährtin sagt Bergkraut: Was Du schreibst ist nicht Bekenntnis, es ist Literatur. Deine Erlebnisse flossen in Dein Werk, auch die schlimmen. Quelle: Eric Bergkraut – 100 Tage im Frühling Ähnliches lässt sich über Bergkrauts Buch sagen. In der Konfrontation mit dem Tod verwandelte sich die Intimität der Paarbeziehung in einen schwierigen Balanceakt, von dem der Autor mit Offenheit und sicherem literarischem Feingefühl Zeugnis ablegt. Der lange Abschied - ein letztes Abenteuer In dem SWR Kultur lesenswert Feature „Man stirbt ja nicht so zackbumm“ – Vom Schreiben über die Krankheit Krebs" hat Ruth Schweikert kurz vor ihrem Tod umrissen, welche Besonderheiten solch ein langer Abschied vom Leben mit sich bringt. Sie sagte: „Das hat mir mal ein Schweizer Arzt gesagt: Weißt du, wenn es darum geht, Menschen in dieser manchmal langen Phase des Sterbens zu begleiten, da sind wir nicht sehr gut. Weil wenn jemand nicht als vollwertige Arbeitskraft zurückkehrt, ja, dann ist er oder sie eben nicht mehr so viel wert. Aber sie haben vielleicht Großkinder, sie tun vieles. Und auch ihre Erinnerungen sind durchaus etwas wert, weil sie eben ein bestimmtes Licht werfen auf eine bestimmte Zeit und Lebensgeschichte und so weiter." In diesem Sinn hat auch Bergkraut die letzten hundert Tage von Ruth Schweikert festgehalten. Einmal erwähnt er den Maler Ferdinand Hodler, der Krankheit und Sterben seiner Geliebten Valentine Godé-Darel mit Stift und Pinsel festhielt. Doch in Bergkrauts eigenen Aufzeichnungen bilden solche Porträtmomente die Ausnahme. Für ihn bleibt auch der letzte gemeinsame Weg ein Stück Lebensprozess, „Abschiednehmen ist unser letztes Abenteuer", heißt es einmal. Dazu gehören alle Lebensfacetten, die Stimmungsschwankungen, die Augenblicke der Innigkeit, das Aufbäumen gegen den Tod, Gedanken, Hoffnungen, Ängste und auch die unvermeidlich aufwallenden Affekte. Und dazu gehört natürlich genauso der mühselige Alltag, die Krankenhausbesuche, die Pflegearbeit. Ereignisse, Reisen, Familiengeheimnisse werden in Erinnerung gerufen, die Szenen einer Ehe. Im Wechselbad von Realismus und Zuversicht wird sogar einmal eine „intensive neue Verliebtheit" verzeichnet. Verstehen, was uns widerfährt Manchmal klappe ich auf dem Sofa sitzend den Laptop auf und notiere etwas, mein Gedächtnis lässt nach. Meine Notizen sind auch dazu da, besser zu verstehen, was Dir - und damit auch mir und uns - widerfährt. Quelle: Eric Bergkraut – 100 Tage im Frühling Das Verstehen einer solchen Extremsituation ist das, was Bergkraut auch seiner Leserschaft ermöglicht. Und obwohl er völlig freimütig Einblick gewährt, wird niemand durch die Lektüre in eine voyeuristische Position gedrängt. Mit dieser Geschichte eines Abschieds hat Eric Bergkraut ein leidenschaftliches, klarsichtiges Stück Literatur geschrieben. Es atmet den Geist von Liebe, Empathie und Vernunft. Und zugleich weitet sich dieser Abschied zu einem sehr lebendigen Porträt der Schriftstellerin und des Menschen Ruth Schweikert. Ein schöneres Epitaph lässt sich kaum denken.…
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1 Anna Katharina Hahn – Der Chor | Autorinnen-Gespräch 12:56
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12:56Auf die Zwischentöne kommt es an Für Anna Katharina Hahn ist der Chor ein spannender Handlungsort: „Da kann es Reibungen geben, es kann ungeheure Erwartungen erzeugen“. Manche Frauenfreundschaften entwickelten sich fast wie eine Liebesbeziehung, die in der Geschichte zu starken emotionalen Abhängigkeiten führen. „Der Chor“ ist dabei alles andere als Frauenliteratur, geht es doch vielmehr um die Qualität von Beziehungen, darum, was sie tragfähig oder brüchig macht. Stuttgart als Ort unerschöpflicher Geschichten Wieder einmal ist die baden-württembergische Landeshauptstadt Schauplatz eines Romans von Anna Katharina Hahn, die sich ihre Geschichten mit langen Märschen durch den Talkessel und versteckte Stadtwinkel erlaufen hat. „Der Chor“ zeichnet daher nicht nur ein gruppen- sondern auch ein stadtsoziologisches Porträt, das sehr präzise und vielschichtig ausfällt. Stuttgart gelte vielen Menschen im Land als „hässlich“ und „unsympathisch“, so die Feststellung der Autorin. Für Anna Katharina Hahn war es daher eine besondere Herausforderung, die Stadt als „einen verwunschenen Ort“ darzustellen.…
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1 Neue Bücher von Katja Lange-Müller, Daniel Kehlmann, Eric Bergkraut und Anna Katharina Hahn 54:59
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54:59Neue Bücher von Katja Lange-Müller, Daniel Kehlmann, Eric Bergkraut und Anna Katharina Hahn.
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1 Ansteckend: Daniel Kehlmanns Begeisterung „Über Leo Perutz“ | Gespräch 12:37
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12:37Die Begeisterung sei bis heute geblieben, betont Kehlmann im lesenswert Magazin , der sich in seinem neuen Buch „Über Leo Perutz“ mit einigen ausgewählten Werken des heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Autors beschäftigt. „Einer der großen deutschen Romanautoren " In seiner Auseinandersetzung mit Leo Perutz verzichtet Daniel Kehlmann ganz bewusst auf eine biografische Annäherung. Selbst anhand der Lebensäußerungen und Briefe des Schriftstellers entstehe kein scharfes Bild. Er wollte als Person nicht in Betracht kommen, meint Kehlmann. Ein Grund, weshalb Perutz, „einer der großen deutschen Romanautoren“, in Vergessenheit geraten sei. Als jüdischer Autor von den Nationalsozialisten verfolgt, ging Leo Perutz 1938 mit seiner Familie ins Exil nach Palästina, konnte dort an seinen literarischen Erfolg jedoch nicht mehr anknüpfen. „Wenn es ein Schicksal gibt, dann läuft das ungefähr so wie in den Romanen von Leo Perutz" Hochexperimentell, originell, faszinierend – Daniel Kehlmann gerät ins Schwärmen über die verwegene Erzählkunst des Wiener Schriftstellers, der in seinen Werken immer wieder die Frage nach Schicksal und Zufall stellt. Vor allem begeistert ihn „Nachts unter der steinernen Brücke“, das Hauptwerk von Leo Perutz. Darin sei alles, was einen an Literatur faszinieren könne. Wer sich von Daniel Kehlmanns aufschlussreichem Bekenntnis nicht anstecken lässt, dem ist nicht zu helfen.…
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1 Katja Lange-Müller „Unser Ole“: Vom Los ungeliebter Töchter | Buchkritik 4:54
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4:54Die Geschichte beginnt – nachdem die Autorin uns versichert hat, sie sei wahr, auch wenn sie die handelnden Personen unkenntlich gemacht habe – mit einem populären Lied aus frühen DDR-Zeiten: ' Kleines Haus am Wald/Morgen komm ich bald…' diesen Herbert-Roth-Schlager aus der Zeit ihrer Jugend hatte Ida vor sich hin gesummt, während sie ihren Koffer packte, um am nächsten Tag bei Elvira einzuziehen. Quelle: Katja Lange-Müller – Unser Ole Eine Zweck-WG gezeichneter Figuren Ida und Elvira: Zwei höchst verschiedene alte Frauen, die eint, dass sie von ihren Müttern nicht geliebt wurden. Ida war eine besonders schöne Frau, die ihr Leben an der Seite ebenso wohlhabender wie egoistischer Männer verbracht hat. Irgendwann waren die Herren jedoch stets von ihr gelangweilt und nach der letzten Trennung ist sie ziemlich weit unten angekommen. Im wahren Sinn des Wortes: in einer dunklen Ein-Zimmer-Erdgeschoss-Wohnung. Sie hat eine miese Rente, die sie mit gelegentlichen Auftritten bei Seniorinnen-Modeschauen aufbessert. Auf einer solchen Veranstaltung trifft sie die lange schon verwitwete Elvira, die bis zur Pensionierung mit Leidenschaft berufstätig war. Ihr gehört ein kleines Haus und dort gibt es ein Zimmer für die Freundin. Elviras ‚Eigenheim‘, ein rauputzgrauer Würfel mit Eternitdach, befindet sich auf einem Eckgrundstück am Rande eines Dorfes nahe der Hauptstadt, von der aus es per Auto gut, per Regionalbahn und Bus aber nur bis neun Uhr abends zu erreichen ist. Elvira nannte ihre abgelegene Gegend einmal „das letzte Loch im Berliner Speckgürtel“. Quelle: Katja Lange-Müller – Unser Ole Es ist also nicht direkt das schlagersehnsüchtige „kleine Haus am Wald“, in das die stets perfekt geschminkte, auf Kleidung wertlegende Ida zieht. Sie muss keine Miete zahlen. Als Ausgleich soll sie der Freundin im Haushalt zur Hand gehen und bei der Betreuung des halbwüchsigen, titelgebenden Enkel Ole helfen. Familiengeschichten zwischen Grauen und Humor Zwei alte Frauen, ein hässliches Haus und ein gestörter 15-Jähriger, der sich nur rudimentär verständlich machen kann, der viel und immer das Gleiche isst und am liebsten im Bett liegt. Das ist die Ausgangskonstellation in dem neuen Roman der Berliner Autorin Katja Lange-Müller. Und dann passiert ein Unglück. Ein Sturz. Hat Ole nachgeholfen oder ist die Großmutter gestolpert? Das wird nicht aufgeklärt, auch nicht von den freundlichen Kommissaren, die für kurze Zeit eine wichtige Rolle spielen und nicht wenig Humor in die nicht gerade komische Lage bringen. Entscheidender als die Polizei ist jedoch Oles Mutter, die rechtmäßige Erbin, die jetzt das Spielfeld betritt. Womit das Trio im hässlichen Haus wieder komplett wäre. Nur sind es jetzt eine alte und eine mittelalte Frau, die am Küchentisch sitzen und nicht wissen, wie sie mit dem behinderten Ole zurechtkommen sollen. Sein Intelligenzquotient soll etwa bei vierzig liegen, zudem gilt er als autistisch. Von der allgemeinen Schulpflicht ist er jedenfalls befreit und in die Sonderschule geht er auch nicht. Seine Oma Elvira hat ihn unterrichtet, so gut es ging. Lesen, schreiben, rechnen kann er nicht, dafür hantiert er gern mit Buntstiften und Elvira gefielen seine Bilder… Quelle: Katja Lange-Müller – Unser Ole Oma Elvira war wohl nicht unschuldig an der Behinderung des Neugeborenen. Jedenfalls erzählt Katja Lange-Müller eine ziemlich schreckliche Mutter-Tochter-Geschichte, in deren Folgen ein hirngestörter Säugling auf die Welt kommt. Überhaupt gelingt es ihr, die Lebensgeschichten dieser drei Frauen in Rückschauen lebendig werden zu lassen. Ein leichthändiges Prosadrama mit mysteriösem Ende In der Gegenwart entwickelt sich ein spannendes weibliches Herr-und-Knecht-Verhältnis, das geprägt ist von sozialer Einsamkeit und emotionaler Unfähigkeit. Die Autorin entwirft in diesem Roman traurige Figuren und Konstellationen, zeichnet verlorene Leben, die trotzdem von Widerstand geprägt sind. Und deren Erinnerungen immer wieder Anlass für ziemlich komische Episoden geben. In der Musik wäre es wohl ein Capriccio, „frei in der Form und von lebhaftem Charakter“. Und dann gibt es ja noch Ole, der wie ein Elefant im Erzählraum steht und der für ein mysteriöses Ende sorgt in diesem leichthändigen – wie die Autorin es nennt – Prosadrama. Gerne hätte man eine Auflösung, aber da es eine wahre Geschichte ist, die erzählt wird, müssen wir ohne auskommen. Im Leben geht es eben nicht zu wie im Roman. Und alle Spuren verlaufen sich hier sowieso im märkischen Sand.…
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Hand aufs Herz: Was wäre unsere alternde Gesellschaft ohne all die Haushaltshilfen aus Osteuropa? So manch wacklige Familienkonstruktion mit hilfsbedürftigen Großeltern würde ohne sie zusammenbrechen. So gesehen ist es also sehr zu begrüßen, dass all den Pflegerinnen und Pflegern aus Polen oder Tschechien endlich ein literarisches Denkmal gesetzt wird. Auch wenn man dem Debütroman der 47-jährigen Autorin und Journalistin Mia Raben mit dem Titel „Unter Dojczen“ ein wenig mehr spannungsförderndes Konfliktpotenzial wünschen würde, von seinem fast schon märchenhaften Happy End ganz zu schweigen. Aufopferung bis zum Burn-out Die Protagonistin heißt Jola. Sie ist Polin Anfang fünfzig, Mutter einer erwachsenen Tochter und pendelt seit zwölf Jahren zwischen Łódź und Deutschland. Um ihre Schulden bei Kredithaien abzuzahlen, arbeitet sie als sogenannte „Live-in“, als fest in einem Haushalt lebende Betreuerin. Den Löwenanteil ihres Gehalts kassiert eine dubiose Agentur; dafür muss sie das Mädchen für alles spielen, rund um die Uhr, an sieben Tagen die Woche. Und wenn etwas schiefgeht, darf sie sich von ihren „seniorki“ auch noch antipolnische Vorurteile anhören. Wie beim Ehepaar Weiß, wo die aufopferungsvolle Jola einen Burn-out erleidet. Die Ruhe kam mit den Wochen. Das Ausbleiben ewiger Forderungen war eine Tatsache. Kein schmerzerfülltes Stöhnen von Herrn Weiß, keine gehässige Stimme von Frau Weiß. (…) Kein ‚Schrubb!‘. Kein ‚Saug!‘. Kein ‚Kriech!‘. Kein ‚Trag!‘. Kein ‚Joooohhhlaaa!‘. Quelle: Mia Raben – Unter Dojczen Dass Deutsche Jolas Vornamen partout falsch, nämlich mit einem langen O, aussprechen, wird im Roman zum Zeichen für die fehlende Empathie auf der Gegenseite. Zu Romanbeginn wagt Jola trotzdem einen Neuanfang, bei einer gut situierten Familie in Hamburg, mit Arbeitsbedingungen, die fast zu schön klingen, um wahr zu sein. Weshalb man bei der Lektüre, quasi gemeinsam mit der Protagonistin, immer wieder auf den unvermeidlichen Haken wartet. An der Grenze zur Übergriffigkeit Doch es kommt keiner. Sicher, auch bei den von Klewens gibt es so manche kulturellen Missverständnisse. Die Szene etwa, als die hippe Schwiegertochter Jola zum gemeinsamen Saunieren mit ihren nicht minder hippen Freundinnen drängt, ist hart an der Grenze zur Übergriffigkeit – führt aber dennoch dazu, dass Jola sich und ihren Körper neu entdeckt. Und dann ist da noch Uschi, die zu betreuende Matriarchin, eine Vertriebene aus dem ehemaligen Ostpreußen, die ein rechtes Biest sein kann. ‚Theo … wir fahr’n nach Lodsch!‘, sang Uschi und lachte. Jola hasste es, wenn Deutsche dieses bescheuerte Lied von Vicky Leandros anstimmten, sobald es um ihre Heimatstadt ging. Ihre Lehrerin hatte ihnen damals erzählt, dass Überlebende des Ghetto Litzmannstadt berichtet hatten, dieses Lied sei von SS-Männern an der Rampe gesungen worden, aber Jola fehlte jetzt die Kraft, Uschi darauf hinzuweisen. Quelle: Mia Raben – Unter Dojczen Wie sich trotz aller Unterschiede eine Art Freundschaft zwischen den beiden Frauen entwickelt, ist durchaus anrührend zu lesen und erinnert ein wenig an den Kinohit „Ziemlich beste Freunde“. Zumal die Zeit bei den von Klewens Jola erlaubt, wieder zu sich zu kommen und endlich wieder zu träumen. Etwa davon, eine eigene Vermittlungsagentur zu gründen, mit fairen Arbeitsbedingungen für ihre Kolleginnen. Die Unterstützung der von Klewens macht es am Ende möglich. Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung Jola findet sogar die Kraft, nach jahrelangem schamvollem Schweigen wieder den Kontakt zu ihrer Tochter zu suchen. Gerade rechtzeitig, wie sich zeigt, ist diese doch kurz davor, in eine spanische Großfamilie einzuheiraten. Spätestens hier freilich wechselt Mia Rabens überwiegend flüssig zu lesender Roman einer weiblichen Selbstermächtigung das Genre: Aus einem psychologisch-realistischen Sozialroman wird quasi ein modernes Märchen mit Happy End. Mit einem solchen Ende wird die Autorin ihrem Thema leider nicht gerecht.…
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Was ist das nur für eine Familiengeschichte: beide Großväter waren bei der SS, der Vater spionierte jahrelang „unter acht verschiedenen Namen“ für die DDR-Staatssicherheit im Westen Deutschlands, die Mutter war von vornherein eingeweiht, aber sagte ihren Kindern nichts – und Ines Geipel erfuhr davon erst im Jahr 2003 durch die Akte ihres Vaters, also 14 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer. Welche Nachwirkungen hat eine solche Familiengeschichte? Ines Geipel, die im August 1989 über Ungarn nach Westdeutschland geflohen war, hat die DDR-Diktatur am eigenen Leib erfahren: als Sprinterin war sie in das Drogenprogramm des DDR-Leistungssports eingebunden. Heute ist sie zu einer Schriftstellerin und Hochschullehrerin geworden, die sich aus eigener Erfahrung, aus der Erfahrung mit ihrer Familie, zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den beiden deutschen Diktaturen gezwungen sieht. Verknüpfung von persönlicher Biographie und zeitdiagnostischem Essay Aber Bewältigung der NS-Vergangenheit, Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur, so mag manche Leserin und mancher Leser einwenden, hatte Ines Geipel darüber nicht schon vor fünf Jahren in ihrem sehr guten Buch „Umkämpfte Zone“ geschrieben? Was also ist neu in ihrem aktuellen Buch? Die Kluft zwischen Ost und West ist größer geworden Mehr als noch vor fünf Jahren wird heute klar: Man kann Glück verspielen, das Glück ist dem Zorn gewichen. Klar ist auch: die Kluft zwischen Ost und West ist größer geworden. Wie keine andere hat die bundesdeutsche 68er-Generation die politischen Debatten im Land geprägt. Die Intervention der Jungen hatte Wirkung und war ein Katalysator für die Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft. Und im Osten? Dort hatte der korrumpierte Buchenwald-Komplex die Gesellschaft ins gedächtnispolitische Nirwana geschickt. Quelle: Ines Geipel – Fabelland Die Opfer des Holocaust kamen in der Legende von den kommunistischen Buchenwald-Kämpfern nicht vor. Der instrumentalisierte, rote Antifaschismus kreiste – schreibt die Autorin - „um die 72 deutschen Kommunisten, die in Buchenwald ums Leben gekommen waren. 72 von insgesamt 56.000“. Ines Geipel dagegen geht ganz anders vor: Sie berichtet von ihrer eigenen Familie: von Täterfamilien, von einem doppelten Schweigen, das zu einem doppelten Trauma führte. Anders als der Generation im Westen war es im Osten nicht möglich, sich auf die Siegerseite der Geschichte hinüberzuerzählen. Quelle: Ines Geipel – Fabelland Die Schuldverdrängung macht anfällig für die Rechtsradikalen Seit über 20 Jahren schon, so diagnostiziert Ines Geipel, kommt „etwas Altes“ zurück: „Der Hass, das Nationale, die Identitätsfrage.“ Das „DDR-Schlafdelirium“, das „antifaschistische Entlastungsprogramm“, wie Geipel es nennt, führte zu einem „brachialen Gesellschaftsloch“. Das sogenannte „neue ostdeutsche Selbstbewusstsein“ wurde, so ihre These, von den Rechtsradikalen gekapert. Die erinnerungspolitische Entlastungserzählung, die versucht, den Westen zum Buhmann zu machen, macht ihrer Ansicht nach deutlich, wie sehr die älteren, diktaturbelasteten Ost-Generationen immer noch zusammenhalten. Am Ende, im Gespräch mit der neuen Generation an der Schauspielschule Ernst Busch, stimmt Geipel – wider Erwarten – hoffnungsvolle Töne an: Sie wollen es anders machen. Sie wollen auf der Bühne gemeinsam über Sehnsucht nachdenken. Die Sehnsucht nach Aufarbeitung. Das sagen sie wirklich. Quelle: Ines Geipel – Fabelland Es ist eine aufregende Reise durch das verminte Gelände der Schuldverdrängung, die die Autorin unternimmt. Auf jeden Fall lesenswert.…
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1 Frank Klötgen und Anton G. Leitner (Hg.) – Das Gedicht, Band 31: Laut & Leise 4:09
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4:09Wer sich in der deutschsprachigen Lyrikszene bewegt, kommt an Anton G. Leitner nicht vorbei. Der Dichter, Übersetzer und Herausgeber wurde 1961 geboren. Seit Beginn der Neunzigerjahre schickt er ausdauernd, schier unermüdlich beinahe lückenlos Jahr um Jahr eine neue Ausgabe der Zeitschrift „Das Gedicht“ auf eine der Umlaufbahnen dieses Kosmos. Kraft der Poesie gegen die Ökonomisierung der Welt Die Kraft der Poesie will er stärken, gegen die totale Ökonomisierung der Welt. Auch er, der schier Unermüdliche, ist aber unter den Zeichen der Zeit, unter dem Druck von Krieg und Krisen vor Zweifeln nicht sicher. Im Vorwort zur 31. Ausgabe schreibt er: In solch finsteren Momenten kommt es mir dann fast verrückt vor, zig Stunden, Tage, Wochen, ja schon etliche Monate lang meine ganze Energie darauf gerichtet zu haben, im 31. Jahr in Folge, unter immer schwierigeren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und unter dem wachsenden Druck der ausufernden Bürokratie, eine neue GEDICHT-Ausgabe auf die Beine zu stellen. Aber dann werde ich schnell wieder ganz ruhig und entspannt, wenn ich mich hochkonzentriert und mit allen Sinnen hineingebe in die lyrische Welt meiner Mitpoetinnen und Mitpoeten. Quelle: Frank Klötgen und Anton G. Leitner (Hg.) – Das Gedicht, Band 31: Laut & Leise Klares und deutliches Bekenntnis zur Poesie Mag Leitner auch manchmal zweifeln, seine Arbeit ist ein klares und deutliches Bekenntnis zur Poesie, und sie ist im wahrsten Sinn des Wortes Arbeit an der Basis der Lyrik. Immer enthält sie einen Schwerpunkt mit Gedichten für Kinder, immer ist sie offen für Einreichungen, die dann zwar kuratiert, aber stets mit viel Wohlwollen angeschaut werden. Um die 1000 Einreichungen waren es für die vorliegende Ausgabe von „Das Gedicht“. Neben flüchtigen und manchmal etwas banaleren Versen finden sich in jeder Ausgabe auch immer poetische Perlen: die Stille dort wie der Wind im Glas/ ob es damit zusammenhängt, weiß ich nicht/ im Zimmer meiner Mutter gibt es ein Sofa/ auf dem seit fünfzig Jahren nur eine Puppe sitzt/ ehe ich jedenfalls zu Ende abwäge/ ob die Stille dort wie der Wind im Glas oder/ doch eher wie eine Gegenwartsschleppe ist/ verschwindet der laut dröhnende/ Mittagsflieger über mir und/ Nimmt seinen ganzen Schall mit […] Quelle: Frank Klötgen und Anton G. Leitner (Hg.) – Das Gedicht, Band 31: Laut & Leise Die Verse aus diesem eindrucksvollen Gedicht des 1962 geborenen, noch viel zu wenig bekannten Heinz Peter Geißler herauszugreifen, mag angesichts der Breite dieser 31. Ausgabe von „Das Gedicht“ zwar ungerecht erscheinen. Ohne Basis keine Spitze Andererseits beweisen diese Verse eben, was Leitner in seinem Vorwort schreibt: „Ohne Basis keine Spitze“. Man muss vergleichen, um die Unterschiede zu erkennen. Und es braucht die Geduld von geschulten Lesern von Gedichten, die in manchen weniger gelungenen Texten doch vielleicht schon die Anlagen eines Autors oder einer Autorin ausmachen. Es braucht die Erfahrung eines Lyrikviellesers wie Leitner aber eben auch, um die Qualität von Versen wie die Geißlers zu erkennen. Und es braucht auch besonders die feste Rubrik mit den Kindergedichten, die in dieser Ausgabe „remmi demmi“ heißt. Die Kindergedichte setzen ganz auf die spielerische, rhythmische und frei bewegliche Seite der Sprache, die durch Verse eine so lebendige und gedankenvolle Stille nachhallen lassen kann, wie durch dieses witzige Gedicht von Heike Nieder: Endlich still/ ich ess so gern ein Ei,/ Das ist mein großes Glück/ So beiß ich vom GESCHREI/ Grad ab das letzte Stück. Hab ich mein Ei zerkaut/ Klau ich noch R und GE/ Dann bleibt als letzter Laut/ Ein leises SCHschsch... wie Schnee. Man wünscht Anton G. Leitners Projekt alles Gute und weiterhin Zähigkeit und Leidenschaft.…
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1 Achim Bubenzer – Opa, du hast es doch gewusst! 4:09
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4:09Achim Bubenzer, Jahrgang 1949, appelliert mit seinem Buch an die Verantwortung seiner Generation. Im Hinblick auf die existenziell bedrohliche Klimakrise teilt er sie in verschiedene Kategorien ein: Leugner, Relativierer, Engagierte und Resignierte. Erkenntnisse im Umgang mit diesen Typen – und das macht sein Buch unterhaltsam – zieht er dabei häufig aus seinen Alltagsbegegnungen. Mein berufliches Engagement für die Themen Solarenergie und Nachhaltigkeit ließ bei mir gar nicht erst den Gedanken aufkommen, die Menschheit könnte den Wettlauf gegen die Erderhitzung verlieren. Bis mich auf einer Strategietagung bei einer hitzigen Debatte über Klimaschutz einer meiner engsten Kollegen abends beim Bier mitleidig ansah und meinte: „Du bist doch verrückt. Sei mal realistisch: Der Klimawandel ist nicht mehr aufzuhalten. Genieß Dein Leben und gib Ruh!“ Quelle: Achim Bubenzer – Opa, du hast es doch gewusst! Relativierung statt Klimaleugnung Es sollte nicht der einzige Bekannte bleiben, der so sein Buchprojekt mit inspirierte. Auch wenn sich Achim Bubenzer noch auf einigen Seiten an Klimaleugnern abarbeitet, gesteht er: Klimaleugner haben heute wegen der wissenschaftlichen Sachlage einen schweren Stand. Vielmehr nehme die Anzahl der Resignierten und Relativierer zu, die meinen: Ja, es gibt die Klimakrise. Aber wir müssen pragmatisch bleiben, und deswegen können wir notwendige Maßnahmen zum Klimaschutz nicht im nötigen Umfang umsetzen. Eine Haltung, die auch für viele Politiker und Konzernlenker gelte, meint Bubenzer. Dieses Handlungsmuster des Wegschauens und Augenverschließens ist natürlich zutiefst menschlich und sogar verständlich. Es entspricht den ersten Reaktionen auf eine schlimme Nachricht, die uns überfordert, sei es eine lebensbedrohliche medizinische Diagnose, [..] die Aussicht auf einen ruinösen Rechtsstreit oder eben die Prognose der Klimawissenschaften. Quelle: Achim Bubenzer – Opa, du hast es doch gewusst! Mit gut nachvollziehbaren Zusammenfassungen und Vergleichen appelliert Bubenzer an das Verständnis seiner Leserinnen und Leser, vergleicht die Atmosphäre mit einer Allmende, deren Nutzung ebenso wie zum Beispiel die des Wassers gemeinsamer Regeln bedürfe. Und Eile sei geboten. Es besteht die konkrete und akute Gefahr, dass in 50 bis 100 Jahren weite Teile unserer Erde nicht mehr bewohnbar und Millionen von Menschen auf der Flucht vor Hitze, Überflutung, Hunger und Krieg sein werden. Quelle: Achim Bubenzer – Opa, du hast es doch gewusst! Weder Atomenergie noch CO²-Speicherung Bubenzer benennt auch, was unumgänglich ist: den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern. Atomenergie als Ersatz lehnt er gut begründet und kenntnisreich ab. Mit Solar, Wind und Investitionen in die Entwicklung von Energiespeichern hingegen könnte eine Versorgungssicherheit hergestellt werden, die der heutigen um nichts nachsteht. Um das Ziel zu erreichen, setzt Bubenzer auf staatlich regulierte Marktmechanismen und den Gang durch die rechtlichen Instanzen. Aktionen von Gruppen wie der Letzen Generation hält er für verständlich, aber kontraproduktiv, weil sie die Gräben zwischen Aktivisten und konservativen Kreisen vertieften. Dennoch ist er wie die Letzte Generation auch davon überzeugt, dass Kompromisse nicht zum Ziel führen werden. Mit dem Klima [..] kann man keine Deals aushandeln. Die Natur ist der Boss. Und der ist völlig leidenschaftslos, weder gut noch böse. Aber: er ist fair und berechenbar. Denn er hat seine Regeln, die Naturgesetze, ihre Zusammenhänge und komplexen Wechselwirkungen, unseren Naturwissenschaftlern zur Erforschung offengelegt. Quelle: Achim Bubenzer – Opa, du hast es doch gewusst! Achim Bubenzer setzt auf einen grünen Kapitalismus im Kampf gegen die Klimakrise. Andere bedeutende Ansätze der internationalen Debatte, die den kapitalistischen Markt und seinen Wachstumszwang als Grundproblem betrachten, spielen bei seinen strategischen Erwägungen keine Rolle. Und, anders als es der Titel nahelegt, enthält sein Buch überhaupt keine Dialoge mit der Enkelgeneration. Achim Bubenzer hat das Buch offensichtlich für ein konservativ eingestelltes, älteres Lesepublikum geschrieben, dem es sicher einige Denkanstöße geben kann.…
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Dem passionierten Leser begegnen ja ständig Menschen, die sagen, sie kämen in ihrem Leben gar nicht zum Lesen. Aber dieses Leben sei ja eh so spannend und voller Abenteuer, dass man es auch als Roman bezeichnen könnte, den sie mit Leichtigkeit schreiben könnten, wozu sie jedoch nicht kämen. Das stimmt natürlich überhaupt nicht, denn erst einmal muss jemand in der Lage sein, aus so einer Lebensmasse einen Roman zu schnitzen oder eine Schneise durch diesen Lebensdschungel zu schlagen, eine Perspektive zu finden, hinzuweisen, auf erzählenswerte Details am Wegrand. Und genau darin ist die ostdeutsche Schriftstellerin Katja Oskamp eine echte Meisterin. In ihrem neuen Buch „Die vorletzte Frau“ schlägt sie eine beeindruckende Schneise durchs eigene Leben, und ein bisschen ist es die berühmte Schneise der Verwüstung. Die Erzählung einer Dichterliebe Katja Oskamp erzählt von einer Dichterliebe. Eine ostdeutsche Frau verliebt sich im Studium in den 19 Jahre älteren Dozenten, einen berühmten Schweizer Schriftsteller mit einem Hang zur Hochliteratur wie zu den besseren Kreisen. Er ist unglücklich mit einer hysterischen Schauspielerin liiert, sie hat ein Kind mit einem Generalmusikdirektor, der zur Selbstinszenierung neigt – die Szene, in der er auf einem Arm das gemeinsame Kind und in der anderen eine flammenschlagende Pfanne hält, ist ikonisch. Und auch der Beginn der Liebe zum Schriftsteller ist, sagen wir mal, recht drastisch: Als wir die Kneipe verließen, griff ich Tosch zwischen die Beine. Das war neu. Tosch legte mich vor dem Joseph Pub mit Krawumm auf die Motorhaube eines parkenden Autos. Quelle: Katja Oskamp – Die vorletzte Frau Robert Musils aphrodisierende Wirkung Katja Oskamp schreibt flüssig, sehr leicht, mit einem sicheren Gespür für Komik, Drastik, Peinlichkeit und Spannung. Die literaturhistorische Institution Robert Musil, ja genau, der vom „Mann ohne Eigenschaften“, hat selten in seiner Wirkungsgeschichte aphrodisierende Wirkung gezeigt– aber zwischen der Heldin und Tosch funkt es ausgerechnet über die Erzählung „Tonka“. Sie schneidet eine Kopie der Geschichte zu Papierschnipseln, wirft sie auf den Boden und fischt daraus Schnipsel, um sie zu einer neuen Erzählung zu kompilieren. Sie bückt sich, er sieht ihren Hintern, als er ihr das sagt, erwidert sie: Du verarschst mich. Und damit sind wir beim zentralen Thema: Die Heldin schreibt, nach einem Gespräch mit der Psychotherapeutin: Ich war gern unten. Dr. T tippte das Thema an; verstanden habe ich es erst mit Tosch. Quelle: Katja Oskamp – Die vorletzte Frau Ein Buch ganz nah an Oskamps Leben Die Unterwerfung der Frau, teils gewollt, teils sozialisiert, ist eins der großen Themen im Buch. Sie rutscht vor den Männern herum, bückt sich, will die untere Hälfte vom Brötchen, saugt lieber den Boden, als den Staub von der Lampe zu wischen. Dem Mann dagegen, Tosch bereitete es Freude ganz oben mitzuspielen. … Der Sohn eines Politikers kannte sich aus mit den ungeschriebenen Gesetzen der höheren Kreise. Quelle: Katja Oskamp – Die vorletzte Frau „Die vorletzte Frau“ wirkt beeindruckend ungestelzt und würde als reine Geschichte einer Mesalliance gut funktionieren, aber es gibt noch eine weitere Ebene. Denn gleichzeitig ist das Buch ja nun mal nah am Leben Katja Oskamps. Der Held, der Tosch genannt wird, ähnelt schon sehr Thomas Hürlimann, dem Schweizer Großschriftsteller, der z. B. durch „Fräulein Stark“ bekannt wurde und von dem man weiß, dass er sehr lange mit Katja Oskamp zusammen war. Das Buch erzählt von seiner schweren, mehrfach lebensgefährlichen Krebserkrankung. Biografie, Erzählung oder Autofiktion? Die Erzählung schmiegt sich so eng an die bekannten Fakten ihrer Biografie, dass man beim Rezensieren immer wieder zögert, ob man hier ein Buch oder ein Leben bespricht. Aber das ist natürlich Unsinn. Zu besprechen gibt es nur das Buch. Das destilliert aus dem ganzen Leben eine Geschichte der Liebe, aber auch eine der Krankheit und der fortgesetzten Kränkungen. Das Lesen wird manchmal geradezu zur Zumutung: Will man wirklich wissen, was bei einer Prostata-Erkrankung im Bett passiert – und an welcher Stelle der Werkbiographie ein Blasenverschluss steht? Es ist ein wenig so, wie in einer Backstage-Geschichte aus dem Theater: Vorne läuft die Geschichte, ihre Erzähler aber führen ein von dieser Geschichte getrenntes, in diesem Fall, schwieriges Leben. Die Krankheit tobt, die Heldin wird zur Pflegerin, das oben und unten gilt weiterhin, sie opfert sich, er kämpft heroisch ums Leben. Eine Beziehung zwischen Oben und Unten, Ost und West In dieser Phase fängt sie, zunächst auch aus wirtschaftlichen Gründen und wegen einer Schreibblockade, an, als Fußpflegerin zu arbeiten. Die Geschichten, die sie hört, schreibt sie natürlich auf. Es sind viele, während sie die Füße ihrer Klienten mitten im Plattenbau-Ghetto Marzahn pflegte, daraus wird eine Zeitungskolumne, danach ein veritabler Bestseller: „Marzahn, mon amour“ . Aber da ist die Beziehung zwischen Oben und Unten, zwischen Ost und West, der Oskamp-Figur und der Hürlimann-Figur, kurz zwischen Mann und Frau nach 12 Jahren endlich zu Ende und man erfährt, warum der Roman „Die vorletzte Frau“ heißt. Später, wenn man dieses Buch gelesen hat und anschließend über Katja Oskamps Bestseller stolpert, werden diese Bücher einen Hauch dunkler. Die Erzählung von der Literatenmesalliance verändert die Erinnerung an ihre Bücher, wenn man sie gelesen hat. Manches bleibt sehr lange im Kopf So, und damit kommt noch eine Ebene dazu: Es ist halt auch, muss man in diesen in Ost-West-Dingen aufgeladenen Zeiten noch einmal sagen, so, dass die Erzählung von Oben und Unten auch eine von Ost und West ist, von westlicher Arroganz und östlicher Selbstverkleinerung. Und auf einmal blitzt die Idee auf, dass der Osten evtl. in seinen Ego-Problemen etwas geradezu Weibliches hat, der Westen dagegen hier als untergehendes, altes weißes Männersystem geschildert wird, die kapitalistischen Krisen also solche des Unterleibs sind, aber da gerät das Buch in eine wohl besser literaturwissenschaftlich weiterzuverfolgende Sphäre. Es sind 200 Seiten, über die man auch länger nachdenken könnte – Autofiktion und hochliterarische Verdichtung des gegenwärtigen Deutschlands – beides steckt in Katja Oskamps neuem Buch. Und auch noch ein gutes Stück Liebeskomödie. Man liest es gerne, und manches bleibt sehr lange im Kopf.…
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Unser Wissen über Native Americans in den USA wird oft überlagert von Klischees aus Karl-May-Romanen, US-Western und Winnetou-Filmen der 1960er Jahre. Wir haben ein nostalgisches Bild der Indianer: Sie lebten ein nachhaltiges, naturnahes Leben in weiten Landschaften. Aber das sind romantisierte Bilder aus der Vergangenheit. Der amerikanische Autor Tommy Orange, Mitglied des Cheyenne und Arapaho Tribe, führt uns in seinem zweiten Roman „Verlorene Sterne“ in eine ganz andere Welt ein. Eine Welt jenseits romantischer Klischées „Verlorene Sterne“ erzählt die Vorgeschichte zu seinem ersten Roman „Dort, dort“ und ist zugleich die Fortsetzung. Der Autor entwirft über sieben Generationen hinweg eine Familiengeschichte, die durch Erfahrungen von Unterdrückung, Landraub und Sucht geprägt ist. Dieser Erzählung stellt der Autor einen Prolog voran, der den schockierenden politischen Slogan zur Lösung des sogenannten „Indianerproblems“ auf den Punkt bringt: „Den Indianer töten, um den Menschen zu retten.“ Historischer Ausgangspunkt: das Massaker von Sand Creek Historischer Ausgangspunkt von Tommy Oranges Roman ist das Massaker von Sand Creek in Colorado, wo im November 1864 Milizen 180 Cheyenne und Arapaho-Indianer in ihrem Winterlager niedermetzelten, die meisten davon Frauen und Kinder. Einer der wenigen Überlebenden ist Jude Star, der gemeinsam mit einem jungen Stammesbruder vor der US-Kavallerie in ihren blauen Uniformen fliehen kann. Ich meinte Vögel zu hören, kurz bevor es hell wurde, nachdem ich aufgeschreckt war voller Angst vor Männern so weiß, dass sie blau wirkten. Ich hatte oft Träume von blauen Männern mit blauem Atem, das Vogelgezwitscher wurde zum Quietschen träger Räder, als im Morgengrauen Gebirgsgeschütze auf unser Lager zurollten. Quelle: Tommy Orange – Verlorene Sterne Die Erfahrung des brutalen Massakers schreibt sich in Körper und Psyche der Kinder, Enkel und Urenkel ein. Tommy Orange schreibt über Indianer im Hier und Jetzt . Mit seinem Erstlingserfolg „Dort, dort“ hat Orange ein Thema gefunden, das bisher kaum literarisch bearbeitet wurde: Das Leben der indigenen Amerikaner in den Städten. Von den etwa fünf Millionen Native Americans leben heute circa siebzig Prozent in Städten, nicht in Reservaten. Identitässuche über Generationen hinweg Wie sie dort leben und warum sich die immer gleichen Probleme von Identitätssuche, Sucht und familiärer Instabilität über Generationen fortsetzen, ist das Thema von Oranges zweitem Roman. Aber bevor er in seinem aktuellen Roman in der Gegenwart ankommt, blättert er an den Beispielen von Jude Stars Sohn und der Tochter eines Stammesbruders die deprimierende Geschichte ihrer Nachkommen über die folgenden 150 Jahre auf. Wesentliche Wegmarken sind die Internierung einer Gruppe von Indianern in einer Gefängnisfestung in Florida und die Einrichtung der später berüchtigten Indianerinternate. Jude Stars Sohn gehört zu den Schülern des ersten Internats, das 1879 in Pennsylvania gegründet wurde. Er hegt den Verdacht, dass sich noch etwas Schlimmeres unter seinen schlimmsten Erinnerungen an die Schule verbirgt, unter den Haarschnitten und dem Abbürsten, den Märschen, den Prügeln, dem Hunger und dem Arrest und den zahllosen Bloßstellungen, weil er Indianer blieb, während sie sich fortwährend bemühten, ihn zu bilden, zu christianisieren, zu zivilisieren. (…) Selbst manche der anderen Indianerkinder hänselten ihn, weil er halb weiß war. Quelle: Tommy Orange – Verlorene Sterne Dass die Kinder aus Verbindungen zwischen Indianern und weißen Amerikanern besonderen Anfeindungen ausgesetzt sind, zieht sich als Thema durch den Roman, bleibt aber im Vagen. Verfehlte US-Politik gegenüber der Indigenen Tommy Orange führt Beispiele der verfehlten US-Politik gegenüber der indigenen Bevölkerung im ersten Teil des Romans auf 115 Seiten quasi im Schnelldurchlauf mit verschiedenen Protagonist*innen an, die aber so rasch durch die Jahrzehnte wechseln, dass man den Überblick verliert. Als Personen sind sie kaum ausgearbeitet, weil sie zu bloßen Bedeutungsträgern schrumpfen. Der Autor streift viele wichtige Themen, bleibt aber durch die zeitliche Straffung an der Oberfläche. Erneute Begegnung mit Orvil Red Feather Im zweiten Teil des Romans mit dem Titel „Nach 2018“ wird die Geschichte des jungen Orvil Red Feather weitererzählt, der am Ende von „Dort, dort“ auf einem Powwow-Festival angeschossen wurde. Nachdem bereits Orvils Vorfahren Laudanum, Mescalin und Alkohol konsumierten, wird auch er als Teenager abhängig von Schmerzmitteln. Jung und frei sein klingt wie eine gute Option. Obdachlos sein klingt schon anders und so könnte man Lonys Leben auch beschreiben. Zugang zu gut dotierten Jobs gibt es für die indigene Familie kaum. In einem Nebenstrang der Geschichte driftet der Schüler zeitweise in die Dealer-Szene ab, weil der Vater eines Schulfreundes illegal Drogen im heimischen Labor herstellt, die Orvil dann verkauft. Orvils jüngster Bruder Lony hält zwar durch bis zum Highschool-Abschluss, aber den Schritt ins bürgerliche amerikanische Leben macht er nicht. Jahrelang bleibt der Junge verschwunden, ohne Kontakt zur Familie. Im letzten Kapitel „Unzustellbar“ lesen wir seinen sechsseitigen Brief als erstes Lebenszeichen: Ich habe gelebt, wie die Indigenen damals, als unsere Welt das erste Mal untergegangen ist. Frei sein und umherziehen und es alles verstehen, (…) nur das wollte ich. (…) Ich war kein guter Mensch, habe nichts zur Gesellschaft beigetragen, aber andererseits auch nichts zu den Arschlochkonzernen und der US-Regierung, die mehr Leben zerstören, als man zählen kann, (…) . Quelle: Tommy Orange – Verlorene Sterne Auch wenn der Roman bisweilen unter inhaltlicher Überfrachtung leidet, wird er seinem aufklärerischen Anspruch gerecht. Durch seine historischen Bezüge regt er dazu an, sich die oft vergessenen Grausamkeiten bewusst zu machen, die mit der Vertreibung der Indigenen verbunden waren. Allein das ist Grund genug, um „Verlorene Sterne“ zu empfehlen.…
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Es ist eine Szene, die sich ins Gedächtnis einbrennt: „Da spricht ein Waffenhändler und erzählt seiner Geliebten von ganz romantischen Inseln im Pazifik und er beschreibt so ein Bild vom rosa Himmel und Sonnenaufgängen und nach ein paar Zeilen begreift man, dass er eigentlich Atolle beschreibt, auf denen Atomtests stattfanden." So beginnt Didions „Demokratie“. Die Anfangsszene, die die Übersetzerin Antje Rávik Strubel hier beschreibt, ist dabei emblematisch für den ganzen Roman: Hinter dem, was oberflächlich glatt und schön scheint, verbergen sich dunkle Realitäten und moralische Abgründe, gesellschaftlich und – ganz besonders – politisch. „Demokratie“: Darum geht es im Roman Antje Rávik Strubel übersetzte schon viele Joan Didion Werke ins Deutsche, zum Roman „Demokratie“ hat die Übersetzerin, Autorin und Deutsche Buchpreisträgerin , ein ganz besonders Verhältnis: „Demokratie war der Roman, mit dem ich Joan Didion eigentlich entdeckt hab.“ Besonders auch die Form: Es ist kein klassischer „von vorne nach hinten“ erzählter Roman: „Es ist eigentlich die Recherche einer Journalistin und im Mittelpunkt dieser Recherche steht Inez Victor, die Frau eines Senators, der dann auch für die Präsidentschaft in den USA kandidiert. Diese Recherche ist aber natürlich eine fiktive Recherche, also Joan Didion ist die Erzählerin, die Journalistin, die den Fall quasi recherchiert, und es geht um Inez Victor und ihre Beziehung zu Jack Lovett, dem Waffenhändler, also sie hat eine Affäre mit ihm, die dauert, aber schon seit sie 17 Jahre alt ist.“ Eigentlich sind es intensive Figurenporträts, über die mir etwas über die amerikanische Gesellschaft erzählt wird. Quelle: Antje Rávik Strubel über Joan Didion: Demokratie Der Roman erzählt von Familientragödien, Drogen, Skandale, sogar Mord. All das entspinnt sich vor einem hochpolitischen Hintergrund. Inez Victor ist der Angelpunkt des Geschehens, die Gattin des Präsidentschaftskandidaten. Es ist 1975. „Demokratie“ spielt vor der Kulisse des endenden Vietnamkriegs, auf Hawaii, in New York, in Jakarta. Opulenter Titel und Kampfbegriff „Demokratie“ – was für ein opulenter Titel für einen Roman! Mit Blick auf den laufenden US-Wahlkampf ist dieses große Wort ein Schlüssel- ja vielleicht sogar – ein Kampfbegriff? 1984 erschien Didions Roman erstmals, nun in Neuübersetzung, im Ullstein Verlag. Sehr passend zum Zeitgeschehen, findet Strubel. „Der Titel „Demokratie“ ist ja auch ironisch letztendlich gemeint. Sie beschreibt ja eine Gesellschaft, sie beschreibt die Schattenräume der amerikanischen Politik, wenn man so will. Diese Machenschaften, die im Hintergrund abliefen zum Ende des Vietnamkriegs, die durch diesen Waffenhändler deutlich werden. Man sieht einen ganz desillusionierten Standpunkt und sie blickt nicht besonders optimistisch auf diese Gesellschaftsform. Gleichzeitig, aber das ist bei Didion auch immer der Fall, sagt sie, dass es eine Verpflichtung gibt über diese Schwachstellen und Schattenräume unbedingt zu reden, wenn man denn in einer Demokratie leben will und daran erinnert auch dieser Roman wieder. Quelle: Antje Rávik Strubel über Joan Didion: Demokratie Gekonnte Neuübersetzung von Antje Rávik Strubel Didions sehr präzise Sprache, die Reduktion und den Rhythmus übertrug Strubel gekonnt ins Deutsche. Das sei nicht ganz einfach, meint die Übersetzerin, ohne, dass es eckig oder holprig wirke. „Das ist das eine, das andere ist, dass Didion ihre Figuren hauptsächlich dadurch charakterisiert, wie sie sprechen“, meint Strubel. „Also eins der wesentlichen Gegenstände von Didion ist die Sprache und die Frage, wie wir sprechen. Ihre Dialoge sind so gestaltet, dass man im Sprechen der Figuren den Kern der Figuren versteht.“ Besondere Bedeutung im US-Wahlkampf Die Sprache: Sie ist Didions und Strubels Arbeitswerkzeug. Und Didions Überlegungen zur Sprache sind es, die mit Blick auf den US-Wahlkampf zwischen Trump und Harris nochmal besonders an Bedeutung gewinnen. Denn die politische Rhetorik und ihre Verrohung war ein Thema, das Didion schon zu Lebzeiten thematisierte. So Strubel: „Sie war eine der ersten, die diese Verrohung der politischen Sprache, eigentlich auch mit Newt Gingrich, beobachtet hat und vor der zunehmenden Popularisierung in den 80ern schon gewarnt hat.“ „Das war einfach Didions Methode. Sich selbst zum Seismografen zu machen“ Wie die 2021 in New York verstorbene Didion den aktuellen Wahlkampf und die politische Lage in den USA wohl gerade bewertet hätte? Darauf gibt es keine klare Antwort – ganz Didion-typisch. In ihrem Vorwort zum Roman schreibt Strubel, Didion zu lesen bedeute, sich einer Sache nicht mehr so sicher zu sein. Sie war eine Autorin mit skeptischem Blick. Didions Texte geben keine klaren Antworten, sondern stellen die richtigen Fragen, sagt ihre Übersetzerin: „Das war einfach Didions Methode. Sich selbst zum Seismografen zu machen, für etwas, das sie beobachtet, und das dann in Frage zu stellen. Also an sich ein Gefühl zu bemerken, was sie dann ins Gesellschaftliche hinein überträgt und das dann in Frage zu stellen. Und ich glaube, sie war grundsätzlich ein total desillusionierter Mensch, aber sie hat gesagt, es gibt sowieso keinen Fortschritt in dem Sinne, dass irgendwann alles viel besser ist. Aber gerade aus dieser Sicht hat sie eben diese Verpflichtung abgeleitet, sich das eigene Denken anzugucken und auch die eigenen Vorurteile und alles was damit zusammenhängt anzugucken. Also ganz krass: Sie hat gesagt, jede Gesellschaft ist fehlerhaft, jede Form von Gesellschaft, weil das Herz der Finsternis den Menschen im Blut liegt. Also, alles, was Menschen tun, dort gibt es immer Fehler und deswegen müssen wir sie genau angucken. Quelle: Antje Rávik Strubel über Joan Didion: Demokratie Eine Botschaft von ungebrochener Relevanz Didion fordert ihre Leser und Leserinnen auf, kritisch zu bleiben und sich nicht mit den einfachen Antworten zufrieden zu geben. Oder wie Antje Rávik Strubel in ihrem Vorwort schreibt: „Didion geht nicht davon aus, dass etwas ist, wie es scheint.“ Es ist eine Botschaft von ungebrochener Relevanz. „Demokratie“ erinnert daran, sich mit den unbequemen Wahrheiten auseinanderzusetzen – eine Aufgabe die 40 Jahre nach Ersterscheinen des Romans, genauso ungebrochen wichtig bleibt - damals wie heute.…
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1 100 Jahre Büchergilde Gutenberg – „Vorwärts mit heiteren Augen“ 15:55
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15:55Das Markenzeichen: Leinenbindung und Illustrationen Er schaue mit großer Ehrfurcht auf das Jubiläum, sagt der Büchergilde-Geschäftsführer Alexander Elspas. Dass es sie so lange gibt, hätten sie sicher auch einem Quäntchen Glück zu verdanken. Aber auch ihrer Leidenschaft für schöne Bücher: „Die Buchdrucker hatten von Anfang an ein Auge für schöne Bücher.“ Das erste Buch, das bei der Büchergilde erschien, ist der Erzählband „Mit heiteren Augen“ von Mark Twain . Im Vorwort beschreibt darin Cheflektor Ernst Preczang die Idee hinter der Buchgemeinschaft: „Bücher geben, die Freude machen, Bücher voll guten Geistes und von schöner Gestalt.“ Das Ziel: Bildungsferne Leser:innen erreichen Schöne Form und schöner Inhalt – das klingt bildungsbürgerlich. Dabei wollte die Büchergilde damals vor allem die sogenannte Arbeiterschaft erreichen, „die sich durch die Büchergilde diese schönen Bücher auch leisten konnten. Mit dem Ziel, Bildung in Schichten zu tragen, wo sie damals vielleicht nicht ganz so selbstverständlich angesiedelt war“, sagt Elspas. Kein Mitgliedsbeitrag Die Mitgliedschaft gestaltet sich dabei so: Es gibt keinen Mitgliedsbeitrag, sondern die Pflicht, sich in jedem Quartal aus etwa 20 bis 25 ausgewählten Büchern einen Titel auszusuchen. Sollte man nicht fündig werden, wird ein Vorschlagstitel zugesendet. Dieses Modell hält sich seit hundert Jahren und hatte früher sogar einen speziellen Lieferservice, erinnert sich Alexander Elspas: „Das war historisch tatsächlich so, dass die Büchergilde Leute hatte, die teilweise mit dem Fahrrad in die Betriebe gefahren sind, um den Menschen am Arbeitsplatz ihr Quartalsbuch vorbeizubringen.“ Genau das, vier Bücher im Jahr zu bestellen, sei bis heute ein großer Anreiz, Mitglied der Büchergilde Gutenberg zu werden, sagt Elspas. Lesenachwuchs präsentiert Bücher auf Social Media Dabei sei die Mitgliederzahl mit rund 60.000 Mitgliedern sehr stabil, freut sich der Geschäftsführer. In Zukunft wolle man mit Kinder- und Jugendbüchern und englischsprachigen Titeln den Fokus vermehrt auf ein jüngeres Publikum setzen. Dabei kommt eines der Büchergilde zugute: Ihre aufwendig gestalteten Bücher, die junge Leser:innen auf Social Media gern vor der Kamera präsentieren. Zahlreiche Jubiläumsveranstaltungen Zum Jubiläum zeigt das Museum für Druckkunst in Leipzig eine Ausstellung. Zudem gibt es zahlreiche Feste und Veranstaltungen in den Partner-Buchhandlungen wie zum Beispiel in der Buchhandlung „Erlesenes und Büchergilde“ in Mainz. Außerdem erscheint eine Festschrift mit dem Titel „Vorwärts mit heiteren Augen“.…
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1 Dana von Suffrin (Hg.) – Wir schon wieder. 16 jüdische Erzählungen 17:52
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17:52Alle 16 Autoren und Autorinnen sind sie jüdisch sozialisiert. Mit dabei sind unter anderem Elfriede Jelinek, Dana Vowinckel , Eva Menasse und Maxim Biller . Einer der Schreibenden ist Journalist und Autor Dmitrij Kapitelman. In seinen Romanen „Eine Formalie in Kiew“ oder „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ setzt er sich mit seiner jüdisch-ukrainisch-ostdeutschen Herkunft auseinander. In der Anthologie „Wir schon wieder“ schreibt er über 13 tote Nachbarinnen, denen er sich langsam angenähert hat. 13 tote Nachbarinnen im Berliner Scheunenviertel In seinem Text begegnet Kapitelman dem Mahnmal mit einem Witz. Symbolisch als eine jüdische Überlebensstrategie, meint der Autor im Gespräch. Außerdem spricht der Schriftsteller mit Kristine Harthauer über den Krieg in Israel und Gaza, über Dana von Suffrins Text im Band, Kaffeesahne, die Aiwanger-Affäre, Ostdeutschland, die Ukraine und sein nächstes Buch, das im Februar erscheint.…
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1 Alte Wunden und neue Erkenntnisse: Bücher, die aus der Vergangenheit lernen. Neue Bücher von Tommy Orange, Katja Oskamp und Roman Ehrlich 54:57
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54:57Diesmal im „lesenswert Magazin“: Literarische Reisen in die USA zum Ende des Vietnamkrieges und zu indigenen Stämmen, in eine bayerische Videothek in den 90ern und mit Gesprächen zu jüdischen Erzählungen und 100 Jahre Büchergilde Gutenberg.
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Es beginnt auf einem Parkplatz vor einer Blechbaracke, in der einst die Träume des Ich-Erzählers von Roman Ehrlichs neuem Roman gelagert waren: „Videotime“, so hieß die Videothek in der bayerischen Kleinstadt, in der der Erzähler aufgewachsen ist. Dorthin fuhr der Vater in den 1990er-Jahren mit seinen Kindern regelmäßig, um Videokassetten auszuleihen. Mit einem für damalige Verhältnisse großen technischen Aufwand kopierte der Vater die Filme auf Leerkassetten und baute sich im Keller des Mehrfamilienhauses, in dem die Familie lebte, ein illegales Raubkopienarchiv auf, gesichert durch ein Zahlenschloss, dessen Kombination der Erzähler und sein älterer Bruder selbstverständlich herausgefunden hatten. Parallel zu den Filmen legte der Vater dicke Ordner mit Klarsichthüllen darin an, in denen er schreibmaschinengetippte Beschreibungen der Filme und dazu passende Zeitungsausschnitte sammelte. Ein geheimes Raubkopienarchiv Willkommen im prädigitalen Zeitalter, in dem die Videothek mit ihren neonbeleuchteten Gängen als Ort ebenso eine Aura entwickelte wie die Filme selbst in ihrer nicht selbstverständlichen Dauerverfügbarkeit. Roman Ehrlich beschreibt die Bedeutung, die das Medium Video für seinen jungen Erzähler hat, folgendermaßen: Jede neue Kassette aus der Videothek ist für den Jungen eine Versprechung, dass da noch viel mehr ist auf der weiten Welt als die eine Wirklichkeit, die ihn umgibt. Und dann geht von diesem aufregenden Leben aus dem Filmen auch noch der Reiz des Verbotenen aus. Er schaut ja vor allem Filme, die nicht für sein Alter freigegeben sind, und meint, dass man als einer, der die Prüfung dieses Schauens besteht, mit einer besonderen Macht ausgestattet und dem Leben in der Kleinstadt begegnen kann. Quelle: Roman Ehrlich Ein brillanter und überraschender Roman „Videotime“ ist ein brillanter, überraschender und vor allem unter der Oberfläche einer bundesdeutschen Kleinstadtkindheit und -jugend höchst unheimlicher Roman. Das Buch hat drei Erzählebenen: In der Gegenwart kehrt der erwachsene Ich-Erzähler in seine Heimatstadt zurück, um nach seinem kranken Vater zu sehen, der die Mutter fortgeschickt hat und eine prekäre Außenseiterexistenz führt. Der erwachsene Mann streift durch die Straßen, und jeder Ort, den er passiert – ein Spielplatz, ein Wohnblock, eine Turnhalle oder eben auch der nun leerstehende „Videotime“-Blechcontainer – lösen bei ihm Erinnerungsschübe aus. Zudem scheint es, als würde sich sein Bewusstsein im Lauf des sehr heißen Tages nach und nach trüben. Die dritte Erzählebene ist die präzise und auch ausführliche Beschreibung von Filmen, die der Junge einst gesehen hat. Heimlich zumeist, mit Freunden oder auch mit seinem älteren Bruder. Die Bandbreite reicht von „Die Unendliche Geschichte“ über „Total Recall“ bis hin zu „The Devil in Miss Jones“, einem 1973 gedrehten Arthouse-Porno, der heute ikonisch ist. Das Staunenswerte an diesem Buch ist die Raffinesse, mit der Roman Ehrlich diese drei Ebenen schlüssig und bis zur Unkenntlichkeit miteinander verschwimmen lässt; so lange, bis das eigentlich unscheinbare Setting eines Aufwachsens in der klassischen bundesrepublikanischen Vater-Mutter-zwei Kinder-Sicherheit in ein diffuses Licht des Dämonischen getaucht ist. Endloses Tennistraining Zu dieser Dämonie des Alltags tragen der Vater, ein Kind der Kriegsgeneration, und sein Gebaren in der Familie wesentlich bei: Als Ausbilder bei der Bundeswehr ist er unehrenhaft entlassen worden; nun arbeitet er als Aufseher im Gefängnis. Seinen älteren Sohn drillt er in endlosen Tennis-Trainingseinheiten so lange, bis er sich verletzt. Seine übergewichtige Frau demütigt er gewohnheitsmäßig; seinen jüngsten Sohn, den übergewichtigen und unsportlichen Ich-Erzähler, straft er mit Missachtung. Seine Wertmaßstäbe sind unverrückbar; seine Härte ist undurchdringlich. Roman Ehrlich sagt über die Figur des Vaters: „Diese Unbarmherzigkeit ist ein Erbe der vorangegangenen Vätergeneration. Im Buch wird es auch an einer Stelle explizit gemacht, dass der Vater sozusagen in direkter Linie von der Gewalt abstammt. Er hat eben keinen anderen Zugang als den Militärischen, selbst zu seiner eigenen Familie. Dem Erzähler dämmert irgendwann, dass all die Filme aus der Bibliothek sehr gut zu diesem Zugang gepasst haben; also, dass sie vor allem für Jungs und Männer gemacht waren und dass in ihnen auch ständig ein patriarchales Kräfte- und Machtverhältnis mit aller Gewalt aufrecht erhalten wird." Ein Roman voller Geheimfächer Es gibt großartige Szenen in „Videotime“, die man so tatsächlich noch nicht gelesen haben dürfte. Nur ein Beispiel: Als der Ich-Erzähler sein Schulpraktikum bei einem Fernsehtechniker – wo sonst? – absolviert, besteht seine erste Aufgabe darin, eine riesige Menge an Fernbedienungen aufzuschrauben und mit Methylalkohol und Wattestäbchen von dem Schmutz zu befreien, der die Geräte funktionsunfähig gemacht hat: Popel, Nikotin, Hundespeichel, Pfefferminzlikör. Dieser Roman ist voll von Geheimfächern, verschlossenen Räumen und glatten Oberflächen, unter denen das Unappetitliche lauert. Zugleich ist „Videotime“ auch der Abgesang auf ein Medium, die Hommage an die Gestaltungsmacht kindlicher Fantasie und eine Reflexion über den Entstehungsprozess von Erinnerungen. Roman Ehrlich sagt darüber: Im Kern des Buches steht die Erkenntnis, dass wir Fiktionen erschaffen, wenn wir uns erinnern, und dass Erinnern deshalb immer auch eine Frage des Glaubens an die fantastischen Gestalten und Ereignisse dieser Fiktion ist. Quelle: Roman Ehrlich „Videotime“ gehört zu den Höhepunkten der deutschsprachigen Literatur der vergangenen Jahre. Ein Roman, der auf vielen Ebenen zeigt, welchen Einfluss Prägungen unterschiedlicher Art durch die Jahrzehnte hindurch auf Menschen haben. Ein indirektes und dennoch scharf gezeichnetes Epochenbild. Und ein Buch, das die Kunst und ihre Wirkmacht ernstnimmt. Im Klappentext steht zu lesen, dass die Familie des Autors nicht mit den Figuren im Roman verwandt sei. Das ist eine beruhigende Nachricht.…
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Dieses Berlin hat man im Comic noch nicht gesehen. Straße um Straße nur Plattenbauten, ab und zu ein Gewerbegelände oder Supermarkt, dazwischen Schrebergärten: Lichtenberg, im Nordosten der Stadt. Und obwohl alles in schwarzweiß gezeichnet ist, wird sofort die drückende Hitze des Sommers spürbar. Aber die Graphic Novel „Der verkehrte Himmel“ lässt keine Zeit für Bildbetrachtungen. Zeichner Mikael Ross setzt auf Tempo und sage und schreibe ein Dutzend Figuren, um eine Geschichte über Freundschaft und Verantwortung zu erzählen. Dafür strickt er einen raffinierten Krimi-Plot. Zum Auftakt lässt er das Mädchen Tâm auf seinen neuen Inline-Skates in ein parkendes Auto knallen. Einfach abhauen geht nicht – also hinterlassen Tâm und ihr Bruder Dennis einen Zettel mit ihrer Adresse. Dabei entdecken sie im Wagen eine schöne, junge Frau. Vietnamesin wie sie selbst. Sofort wird klar: Mit ihr stimmt etwas nicht. Weder weiß sie, wo sie sich befindet, noch kann sie die Autotür öffnen. Eine junge Vietnamesin auf der Flucht vor ihrem Schleuser Knapp 100 Seiten später sehen die drei sich wieder. Da ist die junge Frau namens Hoa Binh schon ein paar Tage auf der Flucht. Der Fahrer des Autos ist hinter ihr her. Denn sie ist illegal in Europa und der Fahrer ihr Schleuser. Hoa Binh: Er hat mich gezwungen, einen Schuldschein zu unterschreiben: 25.000 Dollar! Das sollte ich dann abarbeiten. (...) Tâm: Aber warum bist du dann nicht einfach abgehauen? Hoa Binh: Ich hab's versucht. Das erste Mal vor zwei Wochen. Aber er hat mich wieder gekriegt. Er war schrecklich wütend, weil er dachte, ich wäre zur Polizei gegangen. Dann steckte er mich in den Van. Wir fuhren zwei Tage lang bis zu dem Parkplatz, wo ihr mich gesehen habt. Quelle: Mikael Ross –Der verkehrte Himmel Hoa Binhs Flucht ist an sich dramatisch genug. Der Comiczeichner verknüpft sie zusätzlich mit der Geschichte von Alex, einem Mitschüler von Tâm. Der verfolgt seinerseits den Schleuser, aus ganz persönlichen Gründen. Doch als er dabei zusammen mit Tâm einen abgetrennten Finger findet, will er nicht die Polizei einschalten. Viel Stoff für einen Krimi. Und das sind nicht die einzigen losen Enden, die Mikael Ross auf über 300 Seiten immer neu verknüpft. Seine komplexe Dramaturgie hält auch Leserinnen und Leser jenseits der Teenagerjahre in der Spur. Manga, Krimi und Sozialstudie in einem Viel Handlung verlangt nach schnellen Dialogen und einer Bildkomposition wie im Actionfilm. Der Manga, bei dessen Ästhetik Ross sich bedient, eignet sich dafür ideal. Allein wie gekonnt Ross das Tempo bei Verfolgungsjagden durch Bewegungslinien steigert, ist ein optischer Genuss. Und die überzeichnete Mimik der Figuren, auch typisch für den Manga, nutzt er, um komische Akzente zu setzen. Allerdings: viel Action und Komik bergen die Gefahr, dass die Geschichte ihre Glaubwürdigkeit verliert. Aber in „Der verkehrte Himmel“ finden sich auch Momente von Traurigkeit und unverhoffter Nähe. Dann durchbricht Ross das harte Schwarzweiß mit zarten Lichtstimmungen – ein paarmal sogar in Rosa-Rot. Hinzu kommt: Gute Krimis sind auch Sozialstudien. Da Mikael Ross als Hilfslehrer in Berlin-Lichtenberg gearbeitet hat, liefert sein Comic ein ziemlich genaues Porträt des Kiezes. Diskussionen über Herkunft spielen hier keine Rolle, Tâm und Dennis sind als viet-deutsches Geschwisterpaar der Normalfall. In diese Normalität lässt Ross das Verbrechen Menschenhandel einziehen. Was alle Figuren zwingt, sich damit auseinanderzusetzen. Das sorgt für Konflikte, vor allem zwischen dem zurückhaltenden Dennis und der energischen Tâm. Dennis: Damit muss sie zur Polizei! Tâm: Nein! Die würden sie sofort abschieben! Sie ist illegal hier. Dennis: Illegal? Tâm, das ist kein Kinderspiel! Tâm: Sie hat keinen Ort, an den sie gehen kann, okay? Und wir können ihr helfen. Was ist dein Problem damit? Dennis: Dass es uns nichts angeht! (...) Tâm: Aber mich geht es an. Quelle: Mikael Ross –Der verkehrte Himmel Weder Tâm noch den anderen Figuren bietet Mikael Ross ein Happy End. Trostlos lässt einen die Lektüre von „Der verkehrte Himmel“ trotzdem nicht zurück. Selten vereint ein Comic so gelungen Action mit Nachdenklichkeit, Komik und Abwechslung fürs Auge. Auch beim zweiten oder dritten Lesen.…
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Der Krimischriftsteller und Literaturwissenschaftler Dror Mishani ist am 7. Oktober 2023 nicht zu Hause bei seiner Familie in Tel Aviv, sondern auf einem Literaturfestival in Toulouse. Er kann die Dimension des Hamas-Angriffs auf Israel zunächst nicht einschätzen, aber mit jedem Blick auf die Nachrichten- und Social-Media-Seiten wird ihm das Ausmaß der Katastrophe deutlicher. Er reist kurzfristig ab, zurück nach Israel. Er ahnt, dass ein Krieg um „unsere nackte Existenz“ beginnen wird, er sorgt sich um seine Frau und Kinder. Ich versuche zu verstehen, warum ich jetzt Angst habe wie noch nie zuvor. Warum ich das Gefühl habe, durch die Straßen einer zerstörten Stadt zu fahren. Schließlich hat jeder, der lange genug hier lebt, schon Katastrophentage erlebt. Quelle: Dror Mishani – Fenster ohne Aussicht Tagebuch statt Kriminalroman Mishani beschließt, ein Tagebuch zu schreiben – zu notieren, was um ihn herum geschieht, die durcheinanderwirbelnden Eindrücke und Emotionen zu ordnen und dabei nicht selbst von Irrationalem mitgerissen zu werden. Der bezeichnende Titel: „Fenster ohne Aussicht“. An normale Arbeit ist nicht zu denken; der begonnene Kriminalroman bleibt erst einmal liegen. Mishani beobachtet, wie die tiefe Trauer des Landes sich auf politischer Ebene rasch in einen Rachefeldzug verwandelt, wie die Situation eskaliert. Er versucht, Trost in der Literatur zu finden, auch so etwas wie Orientierung. Mit Homers „Ilias“ blickt er auf den aktuellen Krieg, der etwas Apokalyptisches hat. In sechs Tagebuch-Teilen und einem Epilog versucht er, mit seiner Rat- und Rastlosigkeit umzugehen, die Geschehnisse auch für sich selbst in Phasen einzuteilen – „Verwirrung und Furcht“ oder „Atempause“ oder „Flucht und Fantasien“ nennt er diese. Immer wieder sinnt er darüber nach, politische Artikel über die aufgeladene Stimmung zu schreiben, auch über sein Entsetzen, dass zur Bedächtigkeit aufrufende Stimmen herabgewürdigt werden. Die Zahl der Kriegsopfer steigt minütlich, so wie die der Ermordeten am 7. Oktober in Israel. Unter den Hunderten von Toten sind viele Kinder. Eltern tragen ihre Kinder auf dem Arm zu den Krankenhäusern. Auf unseren Nachrichtenkanälen dagegen bekommt man Gaza so gut wie nicht zu sehen, wird nicht einmal darüber berichtet, dass die Bodenoffensive bereits begonnen hat. Quelle: Dror Mishani – Fenster ohne Aussicht Spaltung von Gesellschaft und von Familien Mishani gehört zu jenen Israelis, die an ein Miteinander geglaubt haben, an ein Miteinander weiterhin glauben wollen. Sein beeindruckendes Tagebuch spricht von den sich vermischenden Gefühlen von Angst, Trauer und Wut. Der Spalt, der durch Individuen geht, geht auch durch die Gesellschaft und die Familien. Mishanis Bruder, der bei einer Kampfeinheit gedient hat, prophezeit einen Krieg mit dem Libanon; die Mutter streitet sich mit ihm über Politik, provoziert ihn mit der Aussage, die Hamas-Kämpfer seien schlimmer als Nazis. Aus Sicht meiner Mutter ist die Teilhabe am Krieg durch das Anschauen von Videoaufnahmen des Massakers und den fortlaufenden Nachrichtenkonsum so etwas wie ein Initiationsritus in Israelisch-Sein für unbeschwerte Jungen und Mädchen, die gedacht haben, das Leben bestehe nur aus Katzenvideos auf TikTok oder Taylor-Swift-Songs. So eine Art Bund der Beschneidung, eine nationale Brit-Mila. Quelle: Dror Mishani – Fenster ohne Aussicht Eine Stimme der Vernunft inmitten des Krieges Nicht allein an solchen Sätzen merkt man, welch tiefe Wunden dieser Angriff gerissen hat, wie das Selbstverständnis der Israelis herausgefordert wurde. Mishani aber bleibt in seinem fragenden, vom eigenen Unbehagen erschütterten Tagebuch eine Stimme der Vernunft. Er erkennt hellsichtig, welche Auswirkungen der Krieg haben wird: Nichts, schreibt er, rechtfertige das furchtbare Morden am 7. Oktober. Aber was Israel zum Unfrieden beigetragen hat und beiträgt, müsse mitbedacht werden. Niemand ist ganz unschuldig, Rache kein Fortschritt: Das sagt dieses Tagebuch. Lösungen liefert es keine. Mishani ist so ohnmächtig wie wir alle. Aber die Ohnmacht überhaupt auszusprechen ist der erste Schritt, wieder durch ein „Fenster mit Aussicht“ zu blicken.…
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1 Peter Probst – Was ist afrikanische Kunst? 4:06
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4:06„Afrika“ – das meint Länder wie Senegal, Nigeria, Angola oder Südafrika. Mit „Kunst aus Afrika“ ist zudem die langjährige und düstere Geschichte des Kolonialismus mitgemeint. Der Ethnologe und Kunsthistoriker Peter Probst liefert in seinem Buch „Was ist afrikanische Kunst? Eine kurze Geschichte“ einen Überblick. Und das Wort „kurz“ ist relativ zu bewerten. Denn immerhin hat sein Buch 337 Seiten mit 92 Abbildungen. Ich schlage vor, (Kunst-)Objekte nicht primär als ästhetische, sondern als soziale Objekte zu verstehen. (…) Vielmehr bin ich daran interessiert, auf welche Weise die als ›afrikanische Kunst‹ bezeichneten Werke in jenen historischen Prozessen und sozialen Interaktionen erscheinen, die das Feld der afrikanischen Kunstgeschichte konstituieren. Quelle: Peter Probst – Was ist afrikanische Kunst? Eine Gesamtschau von späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart Das, was Peter Probst mit seinem Buch liefern will, ist eine in die Tiefe gehende Gesamtschau: Der erste Teil dieses Buches behandelt die Periode vom späten neunzehnten Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, in der die afrikanische Kunst sowohl von ethnologischem Interesse war als auch zum musealen Sammlerobjekt avancierte. Teil zwei beschreibt die Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre, wobei die zeitgenössische Kunst aus Afrika – zögernd, aber doch – ins Blickfeld rückt. Der dritte und letzte Teil untersucht das Aufkommen der postmodernen und postkolonialen Theorien, die zu einem eigenständigen Bewusstsein afrikanischer Künstlerinnen und Künstler hinsichtlich ihrer Kreativität, Produktion und Tradition geführt haben. Afrikanische Kunst und Kolonialismus Die Ausbeutung Afrikas durch den Kolonialismus ist die eine, tragische Seite. Die andere ist das ethnologische und kunsthistorische Interesse an afrikanischer Kunst durch die Europäer. Ein schönes Beispiel, das Probst anführt, ist das Königliche Museum in Berlin: Im Gründungsjahr 1873 bestand die Afrika-Sammlung aus 875 Objekten. Und bis 1914 umfasste die Sammlung über 55.000 Objekte. Dieses Interesse zeigte sich auch bei zeitgenössischen Künstlern: Pablo Picasso hatte eine eigene Sammlung und in vielen seinen Bildern kann man Motive afrikanischer Kunst aufspüren. Nur eines macht Peter Probst auch klar: Das Interesse galt der Tradition afrikanischer Kunst, also dem Kunsthandwerk als Kultobjekt. Afrikanische zeitgenössische Kunst als selbstbewusste Manifestation Erst in den 1970er Jahren stieg in Europa und den USA das ernsthafte Interesse an „neoafrikanischen“, also zeitgenössischen Kunstformen. Damit stärkte sich auch das Selbstbewusstsein afrikanischer Künstlerinnen und Künstler. Yinka Shonibare, nigerianisch-britischer Abstammung und in den Bereichen Skulptur, Fotografie, Malerei und Installation tätig, hat es in einem ironisch-provokativen Statement auf den Punkt gebracht: Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Primitiver, und zwar ein echter Primitiver. Ein Primitiver, der jenseits der Zivilisation lebt, ein Primitiver im Zustand eines immerwährenden Genusses, ein Primitiver des Exzesses. Ich glaube, mir würde das wirklich Spaß machen. Quelle: Peter Probst – Was ist afrikanische Kunst? Mit seinem Buch „Was ist afrikanische Kunst?“ leistet Peter Probst einen kaum zu unterschätzenden Beitrag. Auf der einen Seite hat er stets den geschichtlich-sozialen Raum im Blick, in dem afrikanische Kunst sichtbar wird. Andererseits liefert er eine detaillierte Übersicht zu zeitgenössischen Kunstmanifestationen, die in immer stärkerem Maße von kreativer Eigenständigkeit zeugen. Wer über Kunst aus Afrika mehr wissen möchte, wird an Peter Probsts „Was ist afrikanische Kunst?“ nicht vorbeikommen.…
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Manche Freunde ergänzen uns, heißt es in Hua Hsus eindringlichem Erinnerungsbuch . Andere dagegen verkomplizieren uns. Die kurze, allzu kurze Freundschaft zwischen dem damals 18-jährigen Autor und einem Kommilitonen namens Ken im Kalifornien der Neunziger gehörte eindeutig zur zweiten Gruppe. Schonungsloses Selbstporträt Zum Glück für den Autor, muss man sagen. Denn sein schonungsloses Selbstporträt als Student in Berkeley ist das eines verklemmten, egozentrischen Nerds, der um jeden Preis anders sein wollte als der verachtete „Mainstream“. Seine Hemmungen habe er hinter aufgesetzter Coolness und fragwürdigen Prinzipien versteckt. Schon eine schlechte CD-Sammlung galt ihm damals als eine „moralische Schwäche“. Erst sein Freund Ken, der so ganz anders tickte als er, brachte ihn dazu, seine selbstgesteckten Grenzen infrage zu stellen. Er stichelte oft gegen die Persona, die ich mir aufgebaut hatte. Warum bestand ich darauf, so seltsam zu sein? Was veranlasste mich, immer das ungewöhnlichste Gericht auf der Speisekarte zu bestellen? War das nicht alles ein Trick, um andere auf mich aufmerksam zu machen? Insbesondere, sagte er, ‚künstlerisch veranlagte, alternative‘ Mädchen? Quelle: Hua Hsu – Stay True Wie werden wir zu denen, die wir sind? „Stay true“, bleib dir treu, habe unter jeder von Kens E-Mails gestanden, erinnert sich der Ich-Erzähler. Der liebevoll spöttische Insiderwitz dient nun auch als Titel dieses eindrucksvollen Memoirs über die Geschichte einer Freundschaft und die Vielschichtigkeit unserer Identität. Hua Hsus von Anette Grube vorzüglich übersetzte Prosa ist luzide und von einer ganz eigenen Mischung aus Verzweiflung und Humor geprägt. In ihr stellt der Autor Fragen wie: Wie werden wir zu denen, die wir sind? Welchen Einfluss haben Freunde und Herkunft auf unsere Persönlichkeit? Wie sähe unser Leben aus, hätte das Schicksal eine Freundschaft nicht vorzeitig beendet? Und wie lässt sich die Erinnerung an einen Menschen schreibend bewahren? Hua Hsu ist Sohn taiwanischer Einwanderer und wurde 1977 in den USA geboren. Heute schreibt er für den „New Yorker“ und lehrt Englische Literatur. Sein Memoir führt zurück in die Zeit von Nirvana, Bill Clinton und AOL-Chatrooms. Als der Ich-Erzähler Ken erstmals im Wohnheim begegnet, ist sein Urteil über den selbstbewussten Kommilitonen schnell gefällt: Er kann ihn mit seiner Lebensfreude und seiner weißen Freundin „nicht ausstehen“. Dennoch freunden sich die beiden allmählich an, in nächtelangen Debatten auf dem Balkon über Derrida und die Subtexte in Kung-fu-Filmen. Bald schon fahren die beiden, Songs grölend, durch die San Francisco Bay oder machen sich in Internetforen über konservative Vertreter der weißen Mehrheitsgesellschaft lustig. Als Asiate zu wenig „Persönlichkeit“ fürs Fernsehen Denn Ken und der Ich-Erzähler haben einen ähnlichen Hintergrund, sie sind beide asiatischer Herkunft. Es ist nicht zuletzt Kens Suche nach Vorbildern für junge „Asian-Americans“, die beim Ich-Erzähler zu einem erwachenden politischen Bewusstsein führt. Als Ken mit seinem Talent als Komiker eine Castingagentin kontaktiert, lässt die ihn abblitzen; asiatische Amerikaner hätten einfach zu wenig „Persönlichkeit“ fürs Fernsehen. Ich dachte nie daran, meinesgleichen im Kino oder im Fernsehen zu sehen. Wir waren viel zu cool für diesen Mist. Es geht ums Prinzip, sagte er. Unsere Generation ist aufgeklärter und toleranter und bunter als je eine zuvor. Wir hatten Mauern fallen sehen. Und doch gab es in der Version der Realität dieser mächtigen Casting-Agentin keinen Platz für Leute wie uns? Quelle: Hua Hsu – Stay True Zufallstat oder Hassverbrechen? Am Ende sind dieser Freundschaft keine drei Jahre beschieden; eines Nachts wird Ken das Opfer eines Raubmordes. Gleich nach der Tat versucht der Ich-Erzähler, seinen Freund im Schreiben wieder auferstehen zu lassen. Er sammelt Erinnerungsstücke, stellt sich quälende Fragen wie die, ob die Tat wirklich nur Zufall oder doch ein Hassverbrechen war. Oder ob er sie hätte verhindern können, hätte er sich nicht vorzeitig verabschiedet, um früher bei seiner Freundin zu sein. Keine Frage: Mit seinem Memoir „Stay true“ hat Hua Hsu ein Buch von langsam glühender Intensität vorgelegt, dessen Lektüre noch lange nachhallt.…
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1 Clemens Meyer – Die Projektoren | Buchkritik 5:11
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5:11Dieser Cowboy erinnert kein bisschen an die „humpelnden Helden“ aus den Büchern von Karl May. Oder besser von „Dr. May“, wie der Schriftsteller in Clemens Meyers Roman „Die Projektoren“ beständig genannt wird. Der Mann, der wegen seines großen Halstuchs nur Cowboy heißt, steht in den 50er Jahren vor einem verfallenen Haus im jugoslawischen Velebit-Gebirge, das ganze Hab und Gut in einer Holzkiste. Alsbald zeigt sich: dieser Mensch hat eine mehrfach gebrochene Geschichte. Vor der Ankunft im Velebit war er auf „der Insel“, wie es im Roman heißt. Es ist die berüchtigte Gefangeneninsel Goli Otok. Der Cowboy ist mit dem Staat aneinander geraten, mit dem Kommunismus. Aber tragischerweise sagt er immer noch von sich, bis in die 70er, 80er Jahre hinein: Ich bin Kommunist. Was bleibt mir auch anderes übrig? Und er glaubt an Jugoslawien, an die Gemeinschaft der südslawischen Völker. Trotz der Tatsache, dass er auf dieser Insel gesessen hat. Quelle: Clemens Meyer – Die Projektoren Die Welten Karl Mays in Jugoslawien Stück für Stück wird die Geschichte von Cowboys entfaltet. Er stammt aus Belgrad, beim Überfall der Deutschen auf Jugoslawien 1941 hat er, halb noch ein Kind, seine Familie verloren. Er ging zu den Partisanen, wurde Kommunist. Zwanzig Jahre später, im Velebit lebend, wird er Komparse bei den Karl-May-Verfilmungen und darf sogar Lex Barker als Dolmetscher zur Seite stehen. Die in Jugoslawien entstandenen Leinwand-Märchen – wie auch „Dr. May“ – bilden die große Klammer für die unterschiedlichen Geschichten, die Clemens Meyer in „Die Projektoren“ erzählt. Georg, die zweite Hauptfigur, sieht die Filme – 20 Jahre später – im Kino in Leipzig, in einer kaputten und dreckigen Welt. Die Wintermorgen waren sehr dunkel, und er lief durch die Straßen Richtung Schule, Richtung Zeitungskiosk, und er sah die Schemen der anderen Schulkinder auf anderen Fußwegen, in den Seitenstraßen, wie durch einen Nebel, denn die Kälte drückte den Rauch in die Straßen des Viertels, in die Straßen der Stadt, der morgendliche Kohleatem der Häuser, Schornstein an Schornstein, schwarzrote Ziegeldächer, gesprenkelt vom Schnee, den der Rauch der Fabriken schwarz gefärbt hatte im langsamen Fall der Flocken; große Fabriken, Kombinate, Heizkraftwerke lagen um die Stadt herum. Quelle: Clemens Meyer – Die Projektoren Georg, eine Ost-West-Biographie Georg, schließt sich, auch er da noch halb Kind, in Leipzig einer Gang von Neonazis an. Die Eltern verlassen mit ihm in den 80er Jahren die DDR. Georg wird Mitglied einer rechtsextremen Gruppe im Ruhrgebiet und zieht schließlich, im Oktober 1991, als Freischärler in den kroatischen Bürgerkrieg, an der Seite faschistischer Kämpfer. Diese Figur – Georg – ist sieben Jahre älter als ich. Der ist Jahrgang 1970. Aber dass es in der DDR Neonazismus gab, dass diese maroden, kaputten Städte der DDR, dass da auch moralische Kaputtheiten und gesellschaftliche Kaputtheiten unter dem Deckmantel des Sozialismus stattfanden, das war mir immer bewusst. Und das gehörte da für mich hinein. Quelle: Clemens Meyer – Die Projektoren Krieg, Verrohung und Gewalt als Leitmotive Krieg, Verrohung und Gewalt sind Leitmotive in „Die Projektoren“. Die Geschichten von Georg und vom Cowboy – allein jeweils über 150 Seiten lang – sind verwoben mit etlichen anderen Erzählsträngen, mal märchenhaft anmutend, mal komisch, immer wieder eigensinnig konstruiert. Plötzlich findet man sich lesend in einem Register mit Stichworten zu den Karl-May-Verfilmungen, dann wieder wird – in 293 Sätzen – von einer Reise von Pierre Brice und Intschu-tschuna-Darsteller Mavid Popović 1973 in die USA berichtet, zur von Indigenen Aktivisten besetzten Gedenkstätte in Wounded Knee. Und immer wieder führt der Roman in eine fiktive psychiatrische Klinik in Leipzig. Dort untersuchen schräge Dottores ihre von den Kriegen gezeichneten Patienten, darunter auch einige Romanfiguren. Der Vater des Cowboy liest ihm schon in den 40er oder 30er Jahren ein Buch vor – oder zeigt ihm ein Buch, wo erwähnt wird, dass dort angeblich „Doktor May“ gesessen hätte. Denn der wäre ja verrückt. Und den soll er gar nicht lesen. Er soll lieber Kleist lesen, Heine und Büchner – und nicht den Doktor May. Der war verrückt. Der hat schon bei diesem Doktor Güntz gesessen, 1870 oder so. Da taucht das auch schon auf. Die sind überall unterwegs, die verrückten Dottores. Quelle: Clemens Meyer – Die Projektoren Rätsel, Grotesken, Verwirrspiele. Wer „Die Projektoren“, einen Roman von über 1.000 Seiten, in wenigen Sätzen angemessen wiedergeben will, scheitert unweigerlich. Die kühne literarische Konstruktion erlaubt gar nichts anderes. Kurz vor dem deutschen Überfall auf Jugoslawien im Frühjahr 1941 unterhält sich der Junge, der später zum Cowboy wird, mit seinem Vater über den Unterschied zwischen Film und Literatur. Der moderne Roman, so heißt es da, sei ein Monolith, ein Chaos aus Stimmen. Genau das führt Clemens Meyer vor. Und vermag es, das Chaos erzählend lustvoll zu bändigen.…
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Eine Welt ohne lärmende Gitarren und rotzigen Gesang muss für Eckhart Nickel ein Horrorszenario sein. In seinem neuen Roman „Punk“ erzählt er nämlich von einer seltsamen Kraft, die alles, was die Menschen „jemals unter Musik verstanden haben“, durch ein akustisches Nichts ersetzt. Anfangs wissen die Leute nicht, wie sie die Veränderungen einschätzen sollen. Die Ausbreitung des merkwürdigen „Phänomens“ macht zunächst „den Eindruck einer Reihe zufälliger Ereignisse, die gar nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben mussten“. Dann kamen die Einschläge näher. Für eine Stunde fielen die Frequenzen aller beliebten Radiostationen zur Hauptsendezeit aus. Wir konnten nur Informationssender und Dauernachrichtenprogramme anwählen, und mein Vater erzählte uns, wie seine Fahrt im Feierabendverkehr sich wie eine einzige ausgedehnte Gesprächsstunde ohne irgendeine musikalische Untermalung anfühlte. Quelle: Eckhart Nickel – Punk Der weiße Lärm Bald ist ein Name für die globale Klangvernichtung gefunden: „Der weiße Lärm“ wird der akustische Terror genannt, der auch politische Veränderungen zur Folge hat. Kleinste Hinweise auf Musik werden verboten. Im Mittelpunkt der dystopischen Rahmengeschichte, die in naher Zukunft angesiedelt ist, steht die Studentin und Ich-Erzählerin Karen, die gerade auf der Suche nach einer neuen Bleibe ist. Denn abgesehen vom „weißen Lärm“ geht das Leben einigermaßen normal weiter. Wobei die Normalität in diesem Roman grundsätzlich zur Disposition steht. Tatsächlich geschieht in der anspielungsreichen Prosa nichts zufällig, sodass selbst die verrücktesten Wendungen einigermaßen plausibel erscheinen. Karen jedenfalls besichtigt ein Zimmer in der Wohnung der bizarren Brüder Ezra und Lambert. Nachdem die beiden ihre potenzielle Mitbewohnerin schon an der Wohnungstür penibel geprüft haben, betritt Karen ein Reich des Verbotenen. Lambert öffnet feierlich die Tür, winkt uns durch und endlich kann ich einen Blick in den Rest der Wohnung werfen: Der Flur ist an der Wand mit quadratischen Klarsichthüllen gekachelt, in denen Plattencover stecken, und führt am anderen Ende in eine lichtdurchflutete Küche. Er beeilt sich, die Tür hinter uns zu schließen und malt ein Viereck in die Luft. Quelle: Eckhart Nickel – Punk Nur eine Band ist genial genug Das ist leider auch schon die einzige Form von Dekoration, die wir erlauben. Aber Pssst! Derartig verbotenes Zeug zeigen wir sonst niemandem. Es gibt auch nur eine Band, die wir für genial genug halten, um für sie Kopf und Kragen zu riskieren: The Smiths! Quelle: Eckhart Nickel – Punk Karen ist nicht nur ein Fan der britischen Band, die 1982 von dem Gitarristen Johnny Marr und dem Sänger Morrissey in Manchester gegründet wurde. Sie kennt sich auch gut aus in der Geschichte von Punk, Post-Punk, Rock und Independent. Und doch kann sie hier noch etwas lernen, beispielsweise über ein Lied, das ihren Namen trägt. In einem schalldichten Extraraum lagern die wahren Plattenschätze, die hier ohne Angst vorm weißen Lärm und den Kontrolleuren der musikfeindlichen Behörden bewundert werden können. Ezra reicht mir die Hülle, die gar nicht so aussieht wie das, was ich höre. Giftgrüne Äste vor tiefblauem Himmel, in dessen Mitte wie ein blasslila Ufo der Name steht: « The Go-Betweens 1978–1990». Quelle: Eckhart Nickel – Punk Nerdtalk, der zum Nachhören animiert Karen war die erste Single. Schau nur, eine total seltene Tape-Compilation auf Beggars Banquet , wahrscheinlich neben Rough Trade das legendärste Independent Label aus England. Quelle: Eckhart Nickel – Punk Nickels Roman lebt auf vielen Seiten von einem Nerdtalk , der zum Nachhören animiert. Fast erstaunlich, dass es kein Verzeichnis aller erwähnten Titel und eine passende Playlist auf Spotify gibt. Ezra und Lambert suchen aber nicht nur eine Partnerin fürs gemeinsame Plattenauflegen. Sie wollen mit Karen, gewissermaßen als Protest gegen die musikarmen Zeiten, eine Punk-Band gründen. Und sie soll die Sängerin sein! Karens Sorge, sie treffe keinen Ton, entkräftet Ezra mit der nötigen Punk-Expertise. Alison Statton, die Sängerin der Young Marble Giants , hat auch keine Gesangsausbildung gehabt und als Zahnarzthelferin gejobbt, als sie die Band gegründet haben. Und sie ist unser absolutes IDOL. Das einzige Album heißt Colossal Youth und sie haben es im Rekordtempo von nur fünf Tagen in einem idyllischen Studio auf dem Land aufgenommen. Quelle: Eckhart Nickel – Punk Das Publikum hat keine Ahnung! Aus der selbstbewusst-dilettantischen Haltung der Young Marble Giants haben Ezra und Lambert sogar ein Manifest mit den zehn Punk-Gesetzen entwickelt. 1. Das Wort ist draußen. 2. Wer sprechen kann, der kann auch singen. 3. Es gibt keinen Soundcheck. 4. Wer ein Instrument richtig spielt, ist selber schuld. 5. Jeder Auftritt ist eine Katastrophe. 6. Was am Ende aus den Boxen kommt, ist egal. 7. Das Publikum hat keine Ahnung. 8. Ihr könnt das alle genauso. 9. Wir ziehen eine Linie, die Tinte ist Angst. 10. Ausdruck ist nichts, Haltung alles. Quelle: Eckhart Nickel – Punk Lässig, lustig, elaboriert Tatsächlich beginnt das neu gründete Punk-Trio mit der Arbeit an ersten Stücken, nimmt in der Badewanne auch Fotos fürs Cover des entstehenden Albums auf. Wer das Werk jemals kaufen oder gar hören soll, ist völlig unklar. Doch derlei Erwägungen spielen ohnehin keine Rolle. Im geheimen Studio haust auch ein weißer Hase, der wie andere Merkwürdigkeiten dieser Story an „Alice im Wunderland“ erinnert, den Klassiker der Nonsens-Literatur. Die drei Widerstandsmusiker glauben sogar an einen Auftritt bei einem geheimnisvollen „Bewerb“, der angeblich vom „Ministerium für Unterhaltung“ ausgerichtet wird. „Punk“ ist ein musikalisch-satirischer Lesespaß, in dem Logiklücken zum Stilprinzip gehören. In gewisser Weise folgt Eckhart Nickel damit den eigenen Punk-Kriterien. Nur dass am Schluss eben doch nicht egal ist, was auf den Buchseiten steht. Der Roman ist, wie alle Nickel-Texte, auf lässige und lustige Weise elaboriert. „Punk“ ist Eckhart Nickels dritter Roman. Die dystopische Geschichte im Debüt „Hysteria“ – nämlich die genetische Manipulation von Lebensmitteln – ist im Vergleich zu „Punk“ deutlich unheimlicher. Wer das Buch gelesen hat, wird beim sommerlichen Marktbesuch immer an den Einstiegssatz denken: „Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht.“ Mit dem Folgeroman „Spitzweg“ hat Nickel einen rätselhaften und betont artifiziellen Künstlerroman vorgelegt. „Punk“ liest sich nun wie die Mischung aus beiden Büchern, nur dass jetzt die Musik im Mittelpunkt steht und die Tonlage eher heiter-überdreht ist. Unter der amüsanten Textoberfläche aber lässt sich auch in „Punk“ ein ernstes Thema finden, nämlich die Verteidigung einer renitenten Geisteshaltung, die Neues nur hervorbringen kann, wenn die Tradition der kulturellen Rebellion lebendig bleibt und sich nicht im weißen Rauschen auflöst.…
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1 Marie Aubert – Eigentlich bin ich nicht so | Gespräch 10:07
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10:07Marie Aubert erzählt eindrucksvoll und mit großer Sogkraft von der Kompliziertheit der Liebe in allen ihren Konstellationen - und von misslingender Kommunikation.
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1 Margaret Atwood – Hier kommen wir nicht lebend raus | Buchkritik 7:29
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7:29Die gesamte Bandbreite von Atwoods Werk Margaret Atwoods neuer Kurzgeschichten-Band – die erste Story-Sammlung seit 2014 – enthält eigentlich gleich mehrere Bücher: Es gibt da einen langen, zweiteiligen Zyklus mit Texten um das Paar „Tig und Nell“ – und dazwischen stehen acht weitere, bunt zusammengewürfelte Erzählungen, die weder formal noch inhaltlich viel miteinanderverbindet. Die gesamte Bandbreite von Atwoods Werk ist in „Hier kommen wir nicht lebend raus“ abgedeckt: dem Realismus verpflichtete Texte, Science-Fiction (Atwood spricht lieber von „spekulativem Schreiben“), eine postapokalyptische Miniatur, ein Plausch mit George Orwell , eine Lockdown-Episode, eine Kafka-Paraphrase; es geht um Identität und Feminismus, um die Krisen der Gegenwart und die allgegenwärtige Vergangenheit. Der Titel deutet an, was sich als Leitmotiv durch viele der Short Storys schlängelt: Wie lässt sich das Leben angesichts der eigenen Vergänglichkeit und des Verlusts von geliebten Menschen ertragen? Wie geht man als älter werdender Mensch damit um, dass die Reflexionen über das Verschwundene so viel mehr Raum einnehmen als jene über das Jetzt oder gar die Zukunft? Niemand kennt den Ausgang. Der zu Recht so heißt. Alle müssen irgendwann hindurch. Und niemand kommt zurück. ‚Hier kommen wir nicht lebend raus‘, hatte Tig früher immer gewitzelt, obwohl es kein Witz war. Quelle: Margaret Atwood – Hier kommen wir nicht lebend raus Nell und Tig sind ein älteres, innig verbundenes Paar. In der ersten Geschichte erinnert sich Nell an einen Erste-Hilfe-Kurs, Vorbereitung auf eine Kreuzfahrt, bei der sie Vorträge über Naturthemen halten und sich im Notfall auch um ohnmächtig oder seekrank werdende Passagiere kümmern sollen, die meisten um einiges älter als sie selbst. Es sind die späten 80er Jahre, und die Erinnerung an den kauzigen, für alle Lebenslagen gerüsteten Rettungssanitäter Mr. Foote, der sie unterrichtet, hat etwas äußerst Erheiterndes. Der Kurs setzt zugleich Gedanken an „lebensbedrohliche Erlebnisse“ in Gang, eine ironische Bestandsaufnahme des gemeinsamen Lebens, das doch immerzu ziemlich glimpflich und glücklich verlaufen ist. Nell kommt dabei eben jener Satz in den Sinn: „Hier kommen wir nicht lebend raus“. Ja, ein Witz, aber einer der trifft und zugleich dabei hilft, mit der gar nicht so witzigen Unausweichlichkeit des Todes zurecht zu kommen. Kryptische Botschaften der Toten Atwood erzeugt immer wieder solche kleinen Räume, in denen man trotz allen Schreckens Luft holen und Trost finden kann. Selbst als Nell im zweiten Teil dieses Zyklus tatsächlich alleine ist. Tig ist gestorben. Für Nell aber scheint er gar nicht weg zu sein. Sie spricht mit ihm, er spricht zu ihr, und manchmal scheint er ihr Nachrichten zukommen zu lassen – in Form von Zetteln, die er irgendwann geschrieben hat und die unversehens irgendwo auftauchen. Sie streicht den Zettel vorsichtig glatt und verstaut ihn in ihrem Koffer. Es ist eine Botschaft, die Tig für sie hinterlegt hat. Magisches Denken, das weiß Nell genau, aber sie gönnt es sich trotzdem, weil es tröstend ist. (…) Was macht man mit diesen kryptischen Botschaften der Toten? Quelle: Margaret Atwood – Hier kommen wir nicht lebend raus Mit den Toten ist es eine merkwürdige Sache: Obwohl verschwunden, beanspruchen sie Zeit und Raum. In einer Geschichte entdeckt Nell einen Brief im Nachlass von Tigs Vater, den alle den „Lustigen Alten Brigadegeneral" genannt haben, den L.A.B. Der Brief stammt von der berühmten Kriegsreporterin Martha Gellhorn, und dieser unerwartete Fund setzt nicht nur eine Recherche über das Leben des L.A.B. in Gang, ein Gedankenspiel über diese rätselhafte Episode mitten im Zweiten Weltkrieg, als Tigs Vater längst verheiratet war, aber möglicherweise eine romantische Begegnung mit Martha Gellhorn hatte. Sogar Gedichte hat der „Lustige Alte Brigadegeneral" geschrieben, auch die entdeckt Nell in einer Mappe mit der Aufschrift „Vaters Gedichte“. Also hat Tig diese Gedichte gelesen, die sein Vater geschrieben hatte. Was hatte er gedacht? Als sie sie selbst liest, kann sich Nell kein rechtes Bild machen. Die Entdeckung eines vergrabenen Schatzes? Ein Eingriff in die Privatsphäre? Es hat immer etwas Heimtückisches, dieses Ausspionieren der Toten. Quelle: Margaret Atwood – Hier kommen wir nicht lebend raus Was weiß man über die Lebenden, und was können einem die Toten noch von sich verraten? Margaret Atwood hat ein genaues Gespür für die Fragen, Zweifel und Wunderlichkeiten; sie ist unsentimental und manchmal ironisch, aber das erzeugt eine noch größere Nähe zu den Trauernden, zu Nell, den anderen älteren Frauen und Witwen in diesen Texten. Ihr Buch ist unter anderem Graeme Gibson gewidmet, dem kanadischen Schriftsteller und Ornithologen, mit dem Atwood 45 Jahre lang verheiratet war und der vor fünf Jahren starb. Man darf vermuten, dass Tig und Nell viele autobiographische Züge tragen. Charme und Witz Die Verbindung zum Jenseits spielt auch in einem ebenfalls in den Band aufgenommenen Text eine Rolle: In „Interview mit einem Toten“ versucht die Erzählerin dem großen Dystopisten George Orwell unsere Zeit näher zu bringen, eine allerdings etwas vorhersehbare Gesprächs-Fantasie, in der auch die Corona-Krise zur Sprache kommt. Apropos Corona: Csilla und Lynne in der Erzählung „Schlechte Zähne“ treffen sich während der Pandemie regelmäßig im Garten der einen oder anderen. Csilla hat einen Hang zu erfundenen und provokanten Geschichten. Sie schreibt an einem Buch. Und behauptet, Lynne habe vor etlichen Jahren eine Affäre mit einem Journalisten gehabt, dessen hervorstechendstes Merkmal seine schlechten Zähne gewesen seien. Lynne zweifelt kurz an ihrem Erinnerungsvermögen, ist dann aber sicher, dass sich Csilla alles ausgedacht hat. Eigentlich Grund für ein Zerwürfnis. Aber kann denn Lynne ihr allen Ernstes so böse sein? Böse genug, um den Kontakt mit Csilla abzubrechen? Sie ist zu alt für finale Szenen und Türenknallen, sie schafft es nicht mehr, die angemessene Selbstgerechtigkeit und Empörung aufzubringen. Du bist für mich gestorben, das wär’s, was die jüngere Generation vielleicht sagen würde. Aber Csilla ist für sie alles andere als tot. Quelle: Margaret Atwood – Hier kommen wir nicht lebend raus Im Alter relativiert sich alles, und die Schrullen der anderen werden mit Wohlwollen übergangen. Alle Storys haben eine Klugheit und Raffinesse, Charme und Witz und einen besonderen erzählerischen Dreh, aber nicht alle sind so eindrücklich wie jene über „Nell und Tig“. Mehr literarische Neuerscheinungen: Eine große Leseempfehlung Manche hätte Atwood weglassen können, sie hätte dem Band dadurch eine größere Stringenz verliehen. Dazu gehört „Ungeduldige Griseldis“, die Geschichte eines krakenartigen Aliens, der zu verschreckten Menschen spricht. Oder „Metempsychose oder: Seelenwanderung“, in der eine arme Schnecke, die sich gerade an einem Salatblatt gütlich tut, dem Einsatz von Bio-Pflanzengift zum Opfer fällt. Meine klitzekleine Schneckenseele, eine durchscheinende Spirale aus sanft phosphoreszierendem Licht, schoss in die Luft – in die Geisterwelt, wo etwas andere Regeln herrschen, müsst ihr verstehen – und bahnte sich ihren Weg durch irisierende Regenbogenwolken und klimpernde Glöckchen und das Theremin-Gejammer dieser Regionen, um geradewegs im Körper einer Angestellten (mittleres Management) im Kundendienst einer namhaften Bank zu landen. Quelle: Margaret Atwood – Hier kommen wir nicht lebend raus Eine Frau, die sich in die Schneckenhaut zurücksehnt, muss allerhand allzu Menschliches durchleiden – Kafkas „Verwandlung“ verkehrt herum, ein bisschen zu sehr auf Effekt geschrieben. Mäkeleien auf hohem Niveau: Weil Margaret Atwood selbst in ihren schwächeren Texten noch schillernde und erkenntnisstiftende Sätze gelingen, souverän übersetzt von Monika Baark, ist „Hier kommen wir nicht lebend raus“ eine große Leseempfehlung.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
1 Natasha Trethewey – Memorial Drive. Erinnerungen einer Tochter | Buchkritik 5:16
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5:16„Erinnerungen einer Tochter“ ist der Untertitel von Natasha Tretheweys autobiografischem Buch „Memorial Drive“, das sie zum Gedenken an ihre Mutter Gwendolyn geschrieben hat. Zwei Grundfragen versucht sie hier zu beantworten: Wie verlässlich sind Erinnerungen? Und: Wer bin ich, wo gehöre ich hin? Natasha Trethewey wird 1966 in eine sogenannte gemischtrassische Ehe geboren: Ihre Mutter ist eine Schwarze Amerikanerin, ihr Vater ein weißer Kanadier. Was war ich? „Du hast das Beste von beiden Welten“, erklärten sie mir (…) Draußen in der Welt, mit nur einem von ihnen, begann ich ein tiefes Gefühl der Entwurzelung zu verspüren. Wenn ich mit meinem Vater unterwegs war, registrierte ich die höflichen Reaktionen von Weißen, die Art, wie sie ihn mit „Sir“ oder „Mister“ ansprachen. Meine Mutter dagegen nannten sie „ Gal “, nie „Miss“ oder „Ma’am,“ wie es sich doch angeblich gehörte. Quelle: Natasha Trethewey – Memorial Drive. Erinnerungen einer Tochter Eine Spurensuche nach der Schwarzen Mutter Wer ist Natashas Mutter Gwendolyn? Auf dem Titelfoto des Buches lächelt eine attraktive Schwarze junge Frau mit einem hellhäutigen Baby im Arm über die Schulter in die Kamera. Die junge Mutter und Ehefrau hat gerade ihr Bachelor-Studium abgeschlossen. Ihre Tochter Natasha wächst zunächst behütet in der Schwarzen Großfamilie der Mutter im ländlichen Mississippi auf. Natashas Vater setzt sich bald von der Familie ab und beginnt ein Promotionsstudium in New Orleans. Die Ehe der Eltern wird geschieden, als Natasha sechs Jahre alt ist. Spannend sind die Spuren, die die Autorin mit dem Quellenmaterial legt, das sie ihren Erinnerungen zur Seite stellt. Dabei folgt sie keiner strengen Chronologie. Fotos, Schallplatten, Telefonmitschnitte, Gerichtsakten und Aufzeichnungen der Mutter geben Raum für Vermutungen, die sich nicht immer mit den Bildern decken, die Trethewey auf 250 Seiten entwirft. Aufbruch nach Atlanta Anfang der 1970er Jahre, kurz nach der Scheidung, zieht die 28-jährige Gwendolyn mit ihrer Tochter in die Großstadt Atlanta. Tagsüber studiert sie Sozialarbeit, abends kellnert sie – inzwischen mit modischem Afro-Look - im unterirdischen Vergnügungsviertel der Stadt. Ein hautenger schwarzer Body und schwarze Jeans mit schwerem Patronengürtel gehören zur Dienstkleidung. Gwendolyn ist ehrgeizig, taff und gut organisiert. Die guten Schulnoten ihrer Tochter belohnt sie mit Geschenken. Als sie wieder schwanger ist, heiratet sie den Schwarzen kriegstraumatisierten Vietnam-Veteranen Joel. Nach vielen Umzügen und Gwendolyns beruflichem Aufstieg wird der amerikanische Traum endlich wahr: Ein Haus am Stadtrand mit Swimmingpool. Aber das scheinbar intakte Familienleben hat Risse. Tochter Natasha geht auf Distanz zu ihrer Schwarzen Familie. Ihre väterlich geprägte bürgerliche Bildungswelt mit den Sagen des klassischen Altertums steht in scharfem Kontrast zur Musik der Blaxploitation-Filme im Drogenmilieu, die ihren Stiefvater Joel begeistert. Joel ist Hausmeister, ihr leiblicher Vater inzwischen Universitätsprofessor. Die Frage, wo sie hingehört, begleitet Trethewey bis heute. Mein Leben lang haben sich Leute gefragt, „was“ ich bin, welcher ethnischen Zugehörigkeit oder Nationalität. (…) Einmal, in einem Kaufhaus, war der weiße Verkäufer (…) zu ängstlich oder zu höflich, um zu fragen - (…) Ich beobachtete sein Gesicht, als er nach einem (…) Blick auf (…) mein glattes, feines Haar, meine Hautfarbe und meine Kleidung mit sich zurate ging. Er bezog wohl auch ein, wie ich sprach und ob irgendwelche dieser Faktoren seiner Vorstellung von bestimmten Menschen entsprachen – Schwarzen Menschen. Quelle: Natasha Trethewey – Memorial Drive. Erinnerungen einer Tochter Gewalt in der Ehe Natasha will früh Schriftstellerin werden. Sprache und Schreiben sind ihre Zuflucht vor den gewaltsamen Übergriffen ihres Stiefvaters gegen ihre Mutter und sie selbst. Und auch die Mutter findet ein Ventil im Schreiben: „Letzte Worte“ betitelt die Autorin Gwendolyns Aufzeichnungen über ihre Ehe. Ich wusste immer, dass ich aus meiner Ehe rauswollte. Sie gehörte zu den Dingen, zu denen es nie hätte kommen dürfen. (… ) Ich habe meinen Mann nie geliebt und hatte deswegen Schuldgefühle, darum stürzte ich mich in das Bemühen, die beste Hausfrau/Mutter und Arbeitskraft weit und breit zu sein. Er wusste, dass ich ihn nicht liebte … Quelle: Natasha Trethewey – Memorial Drive. Erinnerungen einer Tochter Als Gwendolyn sich nach zehn qualvollen Ehejahren von Joel scheiden lässt, fühlt sich der kontrollsüchtige Kriegsveteran als betrogenes Opfer. Am 5.Juni 1985 erschießt er seine Ex-Frau Gwendolyn. Nach heutiger Definition ein „Intim-Femizid“. In kunstvollen erzählerischen Schleifen, Metaphern und Montagen von Erinnerungen und Aufzeichnungen kommt Natasha Trethewey zur Kernfrage: War der Tod der Mutter unausweichlich? Wie weit hat ihr eigenes Schweigen dazu beigetragen? „Sie hätten sie retten können“, schreibt Trethewey an die Polizei gerichtet. Aber so einfach ist es nicht, weil die Geschichte viel komplexer ist. Und genau deshalb ist dieses Buch über Rassismus, Klassenzugehörigkeit und die Folgen männlich-toxischerGewalt unbedingt empfehlenswert.…
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1 Familienhölle, Punk - und was zum Lachen. Neue Bücher von Clemens Meyer, Eckhart Nickel, Margaret Atwood u. a. 55:07
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55:07Diesmal im lesenswert Magazin: Familienhölle, Punk - und was zum Lachen. Mit neuen Bücher von Sven Regener, Clemens Meyer, Eckhart Nickel, Margaret Atwood und Natasha Trethewey
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1 Steffen Mau – Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt 4:09
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4:09Dass der Osten und der Westen Deutschlands zusammenwachsen, weil sie zusammengehören, das glaubte nach dem Mauerfall nicht nur Willy Brandt . Ganz unrecht hatte der frühere Bundeskanzler sicher nicht. In vielerlei Hinsicht hat der Osten zum Westen aufgeschlossen. Der Aufbau Ost war ein Nachbau West Aber es gibt auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gravierende Unterschiede und Irritationen. Der Soziologe Steffen Mau spricht von einer „andauernden Zweiheit in der Einheit“. Aber warum ist das so? Erstmal haben sich zwei sehr unterschiedliche Gesellschaften verbunden. Und dann war die Wiedervereinigung selbst ein Ereignis der Ungleichheit, in dem der Westen dominant war, auch häufig die Spielregeln vorgegeben hat, und der Osten gesagt hat, wir treten zu euch bei. Und dann hat man im Osten viele Jahre der Transformation mit Massenarbeitslosigkeit, Deindustrialisierung in der Fläche, auch vielen sozialen Disruptionen. Und die haben auch Folgeschäden hinterlassen. Quelle: Steffen Mau – Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt Scharfe, aber trotzdem sachliche und ausgewogene Analyse Der Aufbau Ost war ein Nachbau West, fasst Steffen Mau die Entwicklung nach der Wiedervereinigung pointiert zusammen. Der Osten sei nicht in seiner Eigenheit begriffen worden, sondern nur als Abweichung. Es gibt viele solch einprägsamer Sätze in dem souveränen Buch. Steffen Maus Analyse ist scharf, aber nicht polemisch. Der Ton ist bei aller spürbaren Dringlichkeit angenehm sachlich und ausgewogen. Mau setzt sich dabei auch mit den Bestsellern von Dirk Oschmann und Katja Hoyer auseinander und zugleich deutlich von diesen ab. Er sieht sie als „Mentalpflegetexte“, die die Leser nicht fordern, sondern nur in ihren Alltagsgefühlen bestätigen. Der Soziologe widmet sich ausführlich Aspekten der politischen Kultur und kultureller Mentalitäten. Er schaut aber auch auf Sozialstrukturen und demografische Entwicklungen. Ostdeutschland ist ein Land der kleinen Leute geblieben, auch mit einfachen arbeitnehmerischen Mentalitäten. So eine gehobene Mittelschicht hat sich im Osten nicht ausgeprägt. Das ist extrem wichtig für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung. Was sind die tragenden Milieus? Wie werden soziale Veränderungen verarbeitet? Und das sieht im Osten und Westen jeweils anders aus. Quelle: Steffen Mau – Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt Eigenes Demokratieverständnis im Osten Als demokratieverdrossen sieht Mau die Ostdeutschen nicht. Vielmehr habe sich in Wendezeiten ein anderes Demokratieverständnis herausgebildet. Während die etablierten politischen Parteien im Osten bis heute kaum verwurzelt seien, spiele die Straße eine wichtige Rolle, um Frust abzulassen und sich politisch zu artikulieren. Ich glaube, in Ostdeutschland gibt es so ein Demokratieideal, das an so eine Idee des Volkes Wille anhängt. Dass man das Gefühl hat, man will so unmittelbar seine Interessen vertreten. Das funktioniert in einer parlamentarischen Demokratie, in einer Parteiendemokratie nicht besonders gut. Weil die stark regelgebunden ist, weil es da langwierige Verfahren gibt, Abstimmung, Kompromissfindung. Das bringt viele Ostdeutsche auf die Straße, die denken dann, jetzt muss die Politik das machen, was wir sagen, weil wir Forderungen aufstellen. Der Autor belässt es nicht bei der Diagnose. Der Vormarsch der AfD zwinge geradezu dazu, über eine Frischluftzufuhr für die Demokratie nachzudenken. Steffen Mau empfiehlt, sogenannte Bürgerräte zu etablieren. Der Soziologe meint damit per Losverfahren ausgewählte Gremien, die sich über politische Sachthemen austauschen und versuchen, Kompromisse zu finden. Die Stärke dieses Models ist sicher, dass es immun ist gegen den Vorwurf, dass sich ein Elitenkartell etwas ausgedacht hat. Und dann gibt es die Einübung in die demokratische Praxis, indem man eben einander zuhören muss, indem man sich mit Respekt begegnet Quelle: Steffen Mau – Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt Gerade weil die Not im Osten groß ist, könnte hier auch das Rettende wachsen, hofft der Autor. Steffen Mau betrachtet den Osten als „Labor der Demokratie“, in dem „alternative Formen der Partizipation“ erprobt werden. Solche Modelle in den Westen zu übertragen, könnte ein später Beitrag der Ostdeutschen dazu sein, die Demokratie weiterzuentwickeln. Darin mag viel Wunschdenken stecken. Doch nachdenkenswert sind Ideen, wie sich der Radikalisierung der Gesellschaft entgegenwirken lässt, allemal.…
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Ein Glück, dass Italien in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse ist. Und ein Glück, dass der Schriftsteller Emanuele Trevi 2021 den „Premio Strega“ für „Zwei Leben“ bekam. Sonst wäre dieses Buch, eine Mischung aus Biografie, Memoir und literarischem Essay, vielleicht nie ins Deutsche übersetzt worden. Denn Trevi ist einer dieser Schriftsteller, die im eigenen Land berühmt, im Ausland aber lange ignoriert worden sind. Vielleicht weil seine literarische Form ungewöhnlich, möglicherweise ein bisschen sperrig ist. Vielleicht auch, weil seine Bücher von Personen handeln, die zwar real existieren, aber nicht unbedingt bekannt sind. „Zwei Leben“ erzählt die Geschichte von Trevis Freundschaft zu zwei früh verstorbenen italienischen Schriftstellern, Rocco Carbone und Pia Pera. Der Titel hat eine doppelte Bedeutung. Denn wir leben zwei Leben, die beide dem Ende geweiht sind: Da ist zum einen das physische Leben aus Fleisch und Blut, und zum anderen das, was sich in den Köpfen der Menschen abspielt, die uns geliebt haben. Quelle: Emanuele Trevi – Zwei Leben Freundschaft als Liebesbeziehung Die Liebe spielt in „Zwei Leben“ eine große Rolle, jedoch nicht die romantische. In der sind weder Rocco noch Pia sonderlich begabt. Dafür haben sie ein anderes Talent, ein Talent zur Freundschaft. Das gilt – so darf man vermuten – auch für den Autor selbst. Es kommt nur selten vor, dass Bücher Freundschaft den gleichen Wert beimessen wie der Liebe. Trevi tut das und schreibt über sie wie andere über Liebesbeziehungen. Doch es gibt in „Zwei Leben“ noch ein anderes großes Thema: das Schreiben. Zum einen, weil die beiden Menschen, um die es geht, nun einmal Schriftsteller sind. Und zum anderen, weil Trevi sich in essayistischen Passagen immer wieder die Frage stellt, wie man sich einem Menschen bestmöglich schreibend nähern kann. Je näher man einem Menschen kommt, desto mehr erinnert er an ein impressionistisches Gemälde oder an eine Mauer, bei der im Lauf der Zeit und aufgrund der Witterung der Putz abgeplatzt ist: Irgendwann ist da nur noch ein Wirrwarr aus bedeutungslosen Flecken, Klumpen, unergründlichen Spuren. Entfernt man sich hingegen, ähnelt derselbe Mensch nach und nach unzähligen anderen. Das Einzige, worauf es bei solchen literarischen Porträts ankommt, ist, die richtige Distanz zu finden (…). Quelle: Emanuele Trevi – Zwei Leben Plastische und reale Charaktere Solche Überlegungen mögen auf den ersten Blick für Menschen, die keine Schriftsteller sind, wenig Relevanz haben. Doch Trevi will nicht nur seine eigene Poetik darlegen. Er sieht das Schreiben vielmehr als Mittel, seine Freunde am Leben zu erhalten; sie so plastisch, und real zu schildern, wie sie tatsächlich waren. Das gelingt ihm. Am Ende von „Zwei Leben“ meint man Rocco Carbone und Pia Pera zu kennen, ja regelrecht vor sich zu sehen, wie Figuren eines Romans. Schon ihre Namen klingen ja wie ausgedacht. „Carbone“ bedeutet „Kohle“, „Pera“ ist die Birne. Passend deshalb, weil Pia sich im Lauf ihres Lebens immer mehr ihrem Garten widmet. Und über Rocco heißt es gleich zu Beginn: Er war einer von diesen Menschen, die dazu bestimmt sind, ihrem Namen im Lauf der Zeit immer ähnlicher zu werden. Ein unerklärliches Phänomen, aber gar nicht mal so selten. Rocco Carbone klingt tatsächlich nach einem geologischen Gutachten. Und viele Facetten seines wahrhaftig nicht einfachen Charakters sprachen deutlich für eine Sturheit, eine Härte aus dem Reich der Mineralien. Quelle: Emanuele Trevi – Zwei Leben Wahrnehmung des Individuums mit all seinen Facetten und Besonderheiten In mancher Hinsicht ist „Zwei Leben“ ein unzeitgemäßes Buch. Denn Trevi, das schreibt er explizit, glaubt nicht daran, dass uns biografische Eckdaten, wie unsere soziale Herkunft, zu denen machen, die wir sind. Es geht ihm nicht darum, wie etwa der französischen Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, am Schicksal des Einzelnen eine bespielhafte oder kollektive Geschichte zu erzählen. Sondern um das Individuum mit all seinen Besonderheiten. Rocco und Pia stehen deshalb – zumindest in seinen Augen – nur für sich selbst. Warum also über sie schreiben? Und warum von ihnen lesen? Weil Trevis Buch, auf sehr berührende Weise, trotzdem von etwas Allgemeingültigem erzählt. Wie wir, verschieden wie wir sind, zueinanderfinden. Wie wir Freundschaften führen, mit dem Tod umgehen und uns an einander erinnern.…
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1 Philipp Schönthaler – Wie rationale Maschinen romantisch wurden 4:08
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4:08Im Februar 2020 reiste der Schriftsteller Daniel Kehlmann ins Silicon Valley, um in Kooperation mit einem Computerprogramm eine Erzählung zu verfassen. Viel kam dabei jedoch nicht heraus, weil Kehlmann sich im Grunde wenig für computergenerierte Textproduktion interessierte. So sieht es jedenfalls Philipp Schönthaler, der diese Anekdote zum Besten gibt, bevor er sich in seinem Essay „Wie rationale Maschinen romantisch wurden“ mit aller Gründlichkeit daran macht, die Geschichte und Entwicklung der Künstlichen Intelligenz und der maschinellen Literaturerzeugung in einer kenntnisreichen Analyse aufzurollen. Die Überwindung der menschlichen Subjektivität Angefangen hat alles, Schönthaler zufolge, mit einem Gegenentwurf zu der herkömmlichen Auffassung, dass Literatur allein als ein menschliches Geistesprodukt anzusehen sei. Max Bense dagegen, der hier als „Cheftheoretiker der Konkreten Poesie“ vorgestellt wird, wollte seit den 1950er Jahren Kunst und Literatur von den Unwägbarkeiten menschlicher Subjektiviät befreien und auf ein „naturwissenschaftlich-mathematisches Fundament“ stellen. Schönthaler erklärt: In der maschinellen Programmierbarkeit von Texten, erkennt Bense nun das theoretische Ideal einer mathematisch-rationalen Texterzeugung, mit der das individuelle Autorsubjekt ausgeklammert werden kann. Quelle: Philipp Schönthaler – Wie rationale Maschinen romantisch wurden Schnell wurde jedoch klar, dass sich Innovation, Genie oder Originalität nicht durch maschinensprachliche Programmierungen herstellen ließen. So entstand die Frage, wie sich Kreativität in die künstliche Texterzeugung hineinbringen ließ, ein Problem mit vielen Antworten, doch nach wie vor ohne befriedigende Lösung. Die Kreativität soll den Nachweis liefern, dass Maschinen mehr sind als ihr Code, was der Kreativität die Rolle zumisst, die dem Genie in der Romantik zugekommen ist. Quelle: Philipp Schönthaler – Wie rationale Maschinen romantisch wurden Eine Ideengeschichte der KI Schönthaler referiert die verschiedenen Positionen und Theorien, die in den letzten Jahrzehnten zum Verhältnis zwischen Menschen und intelligenten Maschinen entwickelt wurden, und kommentiert ihre Besonderheiten und Konsequenzen. Wird Künstliche Intelligenz eines Tages besser denken können als der menschliche Verstand? Wird sie den Menschen als „Subjekt der Geschichte“ ablösen? Werden die Maschinen so normal und selbstverständlich werden wie die natürliche Umwelt und damit so komplex, magisch und geheimnisvoll, dass sie romantische Eigenschaften annehmen können? Dann könnte die Zukunft so aussehen: Die Normalisierung der romantischen Maschine ist auch ein Zeichen dafür, dass die digitalen Technologien tief in die Gesellschaft und Lebensrealität der Einzelnen eingedrungen sind und sogar die computergenerierte Literatur mainstreamfähig geworden ist. Quelle: Philipp Schönthaler – Wie rationale Maschinen romantisch wurden Gedankenreich und hochinteressant Natürlich ist das alles kein leichter Lesestoff, zumal sich der äußerst sachkundige Autor nicht sonderlich bemüht, seine sehr verdichteten Überlegungen leichter zugänglich zu machen. Doch wer sich einliest, wird durch Gedankenreichtum und hochinteressante Ausblicke belohnt. Denn Schönthaler schaut über den engen Horizont der aktuellen Diskussionen um Geschäftsmodelle und Gefahren der KI weit hinaus auf die großen Perspektiven. Und dazu gehört die faszinierende und beunruhigende Frage, wie sich das menschliche Selbstverständnis einst verändern könnte, wenn die intelligenten Maschinen erst einmal zu einem quasi natürlichen Teil unserer Umwelt geworden sind.…
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1 Rob van Essen – Hier wohnen auch Menschen 4:09
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4:09In Nettetal am Niederrhein, dem Sitz des Elif Verlags, ist die Grenze zu den Niederlanden nur zehn Kilometer entfernt. Vielleicht war es auch diese geografische Nähe, die den Verleger Dinçer Güçyeter bewogen hat, eine Auswahl kurzer Prosa des Niederländers Rob van Essen übersetzen zu lassen. Ein Dutzend Erzählungen zwischen fünf und 40 Seiten, entstanden zwischen 2010 und 2020, umfasst der Band „Hier wohnen auch Menschen“, und gemeinsam haben sie, dass sie sich jeder vorschnellen Einordnung entziehen. Die jungen Herrchen sind alle tot Viele warten mit krassen Überraschungen und zuweilen dann doch absehbaren Wendungen auf. Bei einigen schleicht sich, ähnlich wie bei Margriet de Moor oder Connie Palmen, ein mystisches Element ins Alltägliche ein, bei anderen herrscht von Anfang an eine alternative Realität. So im zweiten Text, betitelt „All die toten Herrchen“, der mit den ersten Sätzen mitten hineinspringt ins zunächst rätselhafte Geschehen: Heute Nachmittag bin ich zu Johanna gegangen, um ihr mit den Hunden zu helfen. Ich habe einen kleinen Umweg gemacht, weil ich zum Martin-Luther-King-Park wollte, um mir das Monument für die Grippeopfer anzusehen. Quelle: Rob van Essen – Hier wohnen auch Menschen In dieser dystopischen Geschichte sterben an der sogenannten Grippe ausschließlich junge Menschen, nur die Alten überleben. Die Pandemiefolgen sind auf die Spitze getrieben, von Restaurantschließungen und Regierungskrise bis zu Übergriffen und Plünderungen. Die entleerten Kitas werden von Johanna zu Tier-Asylen umfunktioniert, denn die Herrchen sind ja alle tot. Ungeheuerlichkeiten knapp neben der gewohnten Realität Der Reiz dieser Erzählung liegt nicht etwa in einer konventionellen Spannungskurve, sondern in der Beiläufigkeit, mit der der Ich-Erzähler Ungeheuerlichkeiten streift, die knapp neben unserer gewohnten Realität liegen. Angesiedelt ist sie, wie alle Texte des Bandes, in teils wiedererkennbaren Schauplätzen in den Niederlanden, am Martin-Luther-King-Park in Amsterdam oder in x-beliebigen Vororten. Viele der Geschichten greifen philosophische Probleme auf. Etwa das Zeitreiseparadox, konkret: die Frage, ob und, wenn ja, wie ein depressiver Zeitreisender aus der Zukunft seine Eltern davon abhalten könnte, ihn zu zeugen. Darum geht es im Text „Der lästigste Gast aller Zeiten“. Ein Besucher namens Erik nistet sich bei einem jungen Paar ein und verschwindet irgendwann spurlos. Er hinterlässt einen Brief, der die Ich-Erzählerin und ihren Mann aufklärt, er sei ihr späterer Sohn und in die Vergangenheit gereist, um die Familienplanung zu durchkreuzen, was ihm gelungen zu sein scheint. Nachträglich versuchen die beiden, die verhinderte Fortpflanzung doch noch hinzubekommen. Ich dachte, es würde schwer werden, nach all dem Wein einen hochzukriegen, aber nein, die Vorstellung, Erik zu zeugen, macht ihn offensichtlich an, und mich auch, und nicht nur in dieser Nacht, wir haben eine Mission, wir vögeln in dieser Nacht und in den folgenden, als ginge es um unser Leben, oder zumindest um das von Erik. Quelle: Rob van Essen – Hier wohnen auch Menschen Das Schillern zwischen Tragik und Komik, Unheimlichem und Banalem, Realismus, Fantastik und Absurdität ist das Charakteristikum dieser Geschichten. Auch formal spielt Rob van Essen auf unterschiedlichen Registern, von scheinbar ganz einfacher Szenenfolge bis zu ambitionierter zeitlicher Verschachtelung. Manche erstrecken sich geradezu episch über viele Jahre oder sogar Jahrzehnte. Das Glück, ein Leben lang verpasst So die Erzählung „Ich versprech’s dir“, in der ein junger Mann kurz das Glück erfährt und es durch passives Zuwarten lebenslang verpasst. Diese traurige Pointe ist allerdings ein bisschen durchsichtig, und auch im längsten Text der Sammlung, „Das Haus an der Amstel“, ahnt man früh, dass ein liebevoll gepflegter Kult um eine extrem aufwendige, angeblich koreanische Meditationstechnik den Realitätscheck vor Ort nicht überstehen wird. So bleibt der zwiespältige Eindruck eines bemerkenswert eigenständigen Autors, der bei allem Einfallsreichtum zuweilen unter seinen erzählerischen Möglichkeiten bleibt.…
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1 Arno Geiger – Reise nach Laredo | Buchkritik 4:46
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4:46Karl, Carlos, Charles V, Kaiser des Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation, ein Habsburger, bei dem gleich vier Erbreiche zusammenkamen, katholischer Führer des Abendlands zwischen Osmanenkriegen und Reformation. Ein einsamer, alter Mann, der kein König mehr ist Dieser Karl interessiert Arno Geiger nicht . Oder jedenfalls nur als Vorleben des Menschen, der schließlich diese seine höchste Position freiwillig aufgab. Was dann? 1556 zog Karl V. sich von seinen Ämtern in ein Kloster im spanischen Cuacas de Yuste zurück. Und dort treffen wir ihn als die zentrale Figur in „Reise nach Laredo“: einen ausgelaugten, mürrischen, von sieben Krankheiten zerfressenen und einsamen alten Mann, der kein König mehr ist. Arno Geiger: Ich glaube, es ging ihm um seine Person. Er wollte sich selber retten. Das ist mein Karl. Er ordnete sich diesen Ämtern unter und dann sagt er: Schluss, ich mag nicht mehr. Und das sind schwere Kronen, die er da vom Kopf herunternimmt. Quelle: Arno Geiger Er erkennt nur, dass er nichts Wichtiges über sich weiß und dass wenig Zeit bleibt, dahinterzukommen. Manchmal meint er, das Königtum habe ihn verbraucht und besitze weiterhin alle Macht, und er selbst ist abgereist nach Yuste als leerer Knochen. Quelle: Arno Geiger – Reise nach Laredo Die Fallhöhe ist kaum zu übertreffen für dieses Thema: das Loslassen nämlich. Das Zurücktreten. Die Frage, was danach kommen kann. Tizian, Karls Hofmaler, von dem mehrere Porträts des Kaisers existieren, hat seine eigene Weisheit dazu, die er seinem Herrscher bei einer Porträtsitzung mitgibt. Der letzte Pinselstrich, meint Geigers Tizian, sei eigentlich immer überflüssig. Und er ist dem Autor da sehr nahe. Als Künstler muss man eben auch loslassen können, an einem bestimmten Punkt seines Lebens. Also ich bin kein Freund des Überarbeitens / ... mache dann schon noch diese zwei drei Pinselstriche, aber dann ist das Aufhören wichtig, um die Lebendigkeit des Geschaffenen zu bewahren. Quelle: Arno Geiger Karl und Geronimo ergreifen die Flucht Und dann ist sie da, die Chance für das Neue. Arno Geiger lässt den 58jährigen, todgeweihten Karl, um den sein Hofstaat nur noch abwartend herumschleicht, eines Nachts die Flucht ergreifen. Das ist zwar medizinisch völlig unplausibel und beim Lesen wird man lange im Ungewissen gelassen über den Charakter dieses Ausbruchs, aber am Ende ist der auch ganz unwichtig. Wichtig ist die Freiheit, die Geiger dem pflichtverknöcherten Karl zuwachsen lässt. Gemeinsam mit dem 11 jährigen Geronimo, der nicht weiß, dass er ein illegitimer Sohn des Alten ist – schickt er ihn ins Abenteuer, in gefährliche Schlägereien und brutale Gegenden, sie retten zwei Unschuldige, erreichen die tote Stadt, finden ein Wundertier und eine unheimliche Herberge, bis sie schließlich ans Meer kommen. Das ist ein schöner Kontrast, dieser Mann, der immer an Vergangenheit und Zukunft denken muss, und dieser 11jährige, der sich jeden Morgen freut auf das was der Tag bringt. Quelle: Arno Geiger Karl sagt sich: So war ich nie, so frei, so unabhängig. Vielleicht könnt ich’s jetzt, für einige Augenblicke, für drei Tage, das wäre immerhin etwas. Kann man Unbeschwertheit lernen? Wird man so geboren? ... Wäre das gut? Will ich tanzen oder kotzen? Quelle: Arno Geiger – Reise nach Laredo Die Begegnung mit der Welt hilft dem früheren König Arno Geiger beantwortet diese Frage im Roman durch den Roman mit JA, Ausrufezeichen! Tanzen, und Kotzen auch. Nicht der Rückzug in Kontemplation und Selbstbefragung, den Karls Beichtvater ihm nahelegt, hilft dem König ohne Krone weiter mit sich selbst, es ist die Begegnung mit der Welt. Das macht die „Reise nach Laredo“ erneut zu einem sehr persönlichen Buch dieses ungewöhnlichen Autors. Man kann das einen historischen Roman nennen, denn er ist ja fraglos im 16. Jahrhundert verortet, historische Figuren treten auf, und Tizians Gemälde lassen sich im Museum anschauen. Aber das Herz dieses Buchs schlägt zeitlos.…
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1 Colson Whitehead – Die Intuitionistin | Buchkritik 5:46
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5:46Lila Mae Watson ist Fahrstuhl-Inspektorin, die erste Schwarze Frau in diesem Job und stolz auf ihren Aufstieg. Aus den Südstaaten ist sie in die Stadt gezogen, die wie keine andere für Aufbruch und Modernität steht. New York, der Name fällt nicht, wie auch das Jahr der Handlung nicht klar benannt wird. Und doch ist klar, dass Lila Mae genau hier, in New York, einen neuen Anfang wagt – und das in einer Zeit, in der rassistische Begriffe wie „colored“ ganz selbstverständlich gebraucht werden. Weiße sind Weiße, sagt ihr Vater Der jungen Frau steckt dabei die Kindheit im Süden der USA noch in den Knochen, und der Vater im Ohr, der ihr vor dem Umzug zuraunte, sie solle sich doch nichts vormachen. Weiße seien Weiße, im Süden wie im Osten. Mit dieser Prägung bewegt sich Lila Mae nun also durch New York. Sorgt sich um die Sicherheit von Aufzügen. Und um die eigene: Lila Mae war ab und zu im O’Connor’s, wenn ein Baseballspiel oder ein Boxkampf übertragen wurde, und bei jedem Jubeln sah sie sich nach einer potenziellen Waffe um. Da hilft es wenig, dass der Wirt stets mit einer großen Messingglocke läutet, wenn ein Gast kein Trinkgeld gibt; sie erschrickt jedes Mal. Sie erschrickt bei diesem Geräusch und auch bei dem der Startpistole, mit der hier Streit unterbunden wird, etwa hitzige Debatten über die diversen Vor- und Nachteile der Kühlung der Bremssysteme von United Elevator. Die Leute können jederzeit tollwütig werden; das ist das wahre Resultat verbesserter Integration: Der sichere Ausbruch von Gewalt wird durch den verzögerten Ausbruch von Gewalt ersetzt. Quelle: Colson Whitehead – Die Intuitionistin Empiristen versus Intuitionisten Colson Whitehead hat sich für diese Protagonistin ein irrwitziges Szenario ausgedacht: Er verstrickt sie in einen Kriminalfall, lässt einen Fahrstuhl – just von ihr überprüft – im freien Fall abstürzen. Ausgeschlossen, dass sie etwas übersehen hat, denn: Sie irrt sich nie. Quelle: Colson Whitehead – Die Intuitionistin Also muss detektivisch alles andere durchgespielt werden: Wer könnte ihr schaden wollen? Einer Schwarzen Frau, die aufsteigt? Was hat dieser Fall mit den zwei Lagern unter den Fahrstuhl-Experten zu tun? Es gibt die Empiristen – die jede Schraube von Aufzügen kontrollieren – und die Intuitionisten – die das Kontrollieren intuitiver angehen – und gerade stehen sich die beiden Seiten so verfeindet gegenüber wie heute Demokraten und Republikaner. Ich bin in New York City aufgewachsen und da gab es ein Gesetz, nach dem Aufzüge dieses Inspektions-Zertifikat aufweisen müssen, das ich im Buch beschreibe. Und ich dachte: Wäre es nicht witzig, wenn ein solcher Aufzugs-Inspektor einen Kriminalfall lösen müsste? Also bin ich in die Bibliothek, habe nachgelesen, was ein solcher Inspektor an Fähigkeiten für einen Kriminalfall mitbringen würde. Und die Antwort war – natürlich – keine. Der inspiziert halt Aufzüge. Also dreht sich das Mysterium jetzt um Aufzüge und ich musste eine Welt erfinden, in der Aufzüge sehr wichtig sind. Eine alberne Idee, nüchtern durchgezogen. Quelle: Colson Whitehead Albern nur auf den ersten Blick, denn je länger Colson Whitehead diese Idee durchzieht, umso vielschichtiger und produktiver wird sie. Das Spiel mit Hell und Dunkel, schwarz, weiß, oben, unten, Absturz und Höhenflug steckt im Aufzug. Man denkt an „racial uplift“ Gleichzeitig ist es das Symbol der Großstadt, ein Vehikel, ohne das modernes urbanes Leben nie möglich wäre, was einerseits an die Hybris des Menschen – des Menschen oder: des Weißen – denken lässt, sich über alles zu erheben. Und andererseits an „racial uplift“, diesen enorm ambivalenten Begriff, der die afroamerikanische Elite an der Schwelle zum 21. Jahrhundert antrieb und die Idee beschrieb, sie, die Elite, müssten die Schwarzen im Ganzen „upliften“, materiell und moralisch nach vorne bringen. Ein Konzept, das selbst tief verstrickt ist mit dem Klassismus und Rassismus der Zeit, aus der es stammt. Eine banale Entscheidung also: Wäre das witzig, eine postmoderne Detektivgeschichte mit einem Aufzugsinspektor als Protagonisten? Aber als ich begann, darüber nachzudenken, wurde der Aufzug keine rhetorische Spielerei, sondern eine Quelle von Metaphern ganz verschiedener Art. Quelle: Colson Whitehead Whitehead sprengt die Form Überhaupt entwickelt der Roman „Die Intuitionistin“ eine enorme Tiefenstruktur. Eine Detektivgeschichte ist er nur auf den ersten Blick, nur oberflächlich: ein lustvolles Spiel mit dieser hoch-regelhaften Literaturform. Denn Colson Whitehead sprengt die Form – lässt seine Detektivin, Lila Mae, am Ende keinen Kriminalfall lösen – eigentlich gibt es da nämlich keinen Fall –, sondern wenn schon, dann den Fall Lila Mae aufklären: Lässt sie ihre eigene Identität neu anschauen, lässt sie Fragen nach race , nach Orientierung, nach Aufstieg und Solidarität, neu stellen. Ein Bildungsroman also vielleicht, oder ein Künstlerroman, eine Emanzipationsgeschichte, getarnt als neue Variante der Watson-detective-story. In jedem Fall: ein großes Debüt! Je älter ein Buch ist, umso mehr scheue ich mich, es nochmal in die Hand zu nehmen. Aber ich fühl mich gut damit – der junge Colson hat getan, was er konnte. (lacht) Er war 29, klar, würde ich heute was anders machen, aber: Ich hab das Beste gegeben und so werde ich das auch beim nächsten Buch machen: Das Beste geben, es nicht verderben. Quelle: Colson Whitehead…
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1 Meteoriten jagen in Brandenburg - Neue Bücher von Sven Pfizenmaier, Sandra Newman, Colson Whitehead, Daniela Krien und Arno Geiger 54:52
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54:52Diesmal im lesenswert Magazin: Meteoriten jagen in Brandenburg. Mit neuen Büchern von Sven Pfizenmaier, Sandra Newman, Colson Whitehead, Daniela Krien und Arno Geiger
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1 Daniela Krien – Mein drittes Leben | Buchkritik 3:32
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3:32Der Name Linda, die Sanfte, scheint nicht zu passen zu der Frau, die sich in ein trostloses Dorf zurückgezogen hat. Die gut bezahlte Stelle in einer Kulturstiftung hat sie gekündigt und ihren entsetzten Mann in Leipzig zurückgelassen. Ihr Leben zerbrach, als Sonja starb Seit zwei Jahren kämpft sie sich jetzt auf einem abgewirtschafteten Hof durch die Tage, nur die Hühner und den Hund hat sie behalten. Verzweifelt sucht sie den größtmöglichen Abstand zu ihrem früheren Leben. Es zerbrach, als ihre Tochter Sonja starb. Eine Ampel schaltete auf Grün, eine siebzehnjährige Fahrradfahrerin mit blondem Pferdeschwanz und lauter Musik in den Ohren trat in die Pedale ihres Rennrads, ein LKW-Fahrer, der vergessen hatte, in den Seitenspiegel zu schauen, bog über den Radweg nach rechts ab. Quelle: Daniela Krien – Mein drittes Leben Linda quält sich mit Selbstvorwürfen Anfangs trauern Linda und Richard gemeinsam. Aber weil in Leipzig alles an die Tochter erinnert, ist Linda in die Einöde geflohen. Sie quält sich mit Vorwürfen: immer fand sie Sonja zu angepasst, zu unsportlich, ohne Ehrgeiz. Beim Holzhacken verausgabt sie sich, müde wird sie trotzdem nicht, nur starke Schlaftabletten verschaffen ihr einige Stunden Ruhe. Richard bittet sie inständig zurückzukommen, meist weist sie ihn schroff ab. Daniela Krien erzählt die Geschichte aus der Perspektive von Linda, sie ist die Ich-Erzählerin, die lieber sterben als leben möchte. Nur einmal steht sie neben sich, sie rutscht in die 3. Person als Richard ihr von einer neuen Frau erzählt, einer Schriftstellerin, die ihn aus der Einsamkeit befreit. Linda verstummt. Nur eine Bekannte findet noch Zugang zu ihr. Sie wollen, dass er sich ebenso aufgibt, wie Sie es tun. Aber er lebt weiter. Und das nehmen Sie ihm übel…Auf dem schmalen Grad zwischen Leben und Tod hat er sich für das Leben entschieden, während Sie versucht haben, ihn zu den Toten hinüberzuziehen. Quelle: Daniela Krien – Mein drittes Leben Zuviel Moral für Kriens Heldin Richards neue Partnerin ist eine energiegeladene selbstbewusste Schriftstellerin namens Brida. Die trauernde Linda beobachtet sie skeptisch, sie guckt inzwischen kritisch auf Menschen, die besonders sein möchten, aber in der eigenen Blase ziemlich uniform wirken. Die Freunde der alten Linda trugen Sneaker zu teuren Leinenkleidern oder lässigen Anzügen, fuhren Rennrad und hängten sich Taschen aus recycelten Tetra Paks über die Schulter…und sobald sie Kinder bekamen, pachteten sie einen Schrebergarten, in den sie ein schwedisch anmutendes Holzhäuschen stellten . Quelle: Daniela Krien – Mein drittes Leben Daniela Krien lädt ihrer Heldin eine zu große Portion Moral auf. Ein Beispiel: Nach dem Verkauf der alten Familienwohnung steht ihr plötzlich viel Geld zur Verfügung. Einleuchtend, dass sie Menschen unterstützt, die ihr in der Verzweiflung Halt gegeben haben. Aber dass sie an lauter fremde Hilfsorganisationen spendet, passt nicht zu ihrem nüchternen Wesen. Zuviel des Guten. Zum Glück gibt es Richard, die heimliche Hauptfigur in diesem Roman. Niemand tue Gutes, ohne etwas dafür zu bekommen, sagte Richard, und sei es das Gefühl von Überlegenheit. Quelle: Daniela Krien – Mein drittes Leben Linda zieht zurück nach Leipzig, sie sieht Lichtblicke im Leben und lässt es Richard wissen. Als er ihre Hilfe braucht, steht sie ihm bei. Daniela Krien erzählt von einem unerträglichen Verlust. Aber sie erzählt auch von einer großen Liebe. Was sie in einem früheren Roman angerissen hat, wird hier lebendig: „Liebe ist keine Romantik. Liebe ist eine Tat. Man muss die Liebe vom Ernstfall aus betrachten.“…
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Als es passiert, als ihr Sohn und ihr Ehemann von einer Sekunde auf die nächste an einem Augustabend verschwinden, bemerkt es Jane nicht. Um 19:14 Uhr passierte ein intensives Nichts, ein Taumel, der nicht von den Nerven oder dem Gehirn herrührte. Es würde mir später als eine Art Drogenrausch im Gedächtnis bleiben. Als es vorbei war, hatte ich das Gefühl, Leo und Benjamin wären verschwunden, doch ich tat es schnell als Albernheit ab. Ich sah zum Zelt, wo das Tablet leuchtete, ein belebter Flecken. Ich rief nicht nach ihnen. Ich wollte Benjamin nicht wecken und gab mich wieder meinen Gedanken hin. Quelle: Sandra Newman – Das Verschwinden Alle Menschen mit einem XY-Chromosom verschwinden Jane ist mit ihrem Mann Leo und ihrem 5-jährigen Sohn Benjamin in den kalifornischen Bergen zelten. Sie verbringt die Nacht draußen auf der Hängematte und merkt erst am nächsten Morgen, dass die beiden verschwunden sind. Und nicht nur sie: Alle Menschen mit einem Y-Chromosom. Alle Männer, trans Frauen und nicht binäre Menschen. Auch alle ungeborenen Föten mit einem Y-Chromosom verschwinden und mit ihnen ganze Regierungen und Sportmannschaften. Flugzeuge stürzen ab, weil das Cockpit leer ist, Raffinerien und Kraftwerke schließen, weil qualifizierte Arbeitskräfte fehlen, Strom- und Wasserversorgung stürzen in der ersten Zeit nach dem Schock ein. Und noch etwas ist weg: Das Patriarchat. Herrenclubs. Männerrechte. Frauenzeitschriften. Feminismus. Verschwunden. Die breite Hand auf deiner Schulter. »Du bist wunderschön«, gesprochen mit dieser bestimmten Autorität. Vorbei. Oder wenn du an einer Straßenecke auf eine Gruppe von Männern triffst. Wie sie verstummen und dich anstarren. Deinen Körper, nicht dein Gesicht. Schritte hinter dir in der Dunkelheit. Große Hände um deinen Hals. Ihn nicht aufhalten können. Vorbei. Quelle: Sandra Newman – Das Verschwinden Eine Welt ohne Patriarchat – eine Idylle? Ganz unmittelbar zeigt Autorin Sandra Newman die Folgen des Verschwindens auf: Plötzlich sind die Zurückgebliebenen befreit von den Zwängen der patriarchalen Gesellschaft. Der erste Eindruck dieser neuen Welt: eine Idylle, gleichzeitig ist die aber auch nicht frei von Schmerz und Trauer. Denn natürlich gab es auch Männer, die geliebt wurden. Eine Gleichzeitigkeit, die für Jane mitunter schwer auszuhalten ist und die sie von Anfang an spürt. Sie trifft auf eine Gruppe von Frauen und Mädchen. Die Kinder spielen, es läuft Musik, die Frauen unterhalten sich angeregt und helfen sich gegenseitig. Eine liebliche, märchenhafte Szene. Eine Welt ohne Wölfe, denkt Jane. Und da war der Moment – in dem mich die Erkenntnis traf, dass die neue Welt die bessere war. Schon jetzt war sie besser. Es gefiel mir hier. Der Gedanke brachte mich zum Weinen. In meinem Kopf behauptete ich Gott gegenüber das Gegenteil. Ich sagte Gott, dass ich in einer Welt ohne Männer nicht leben wollte, selbst wenn meine eigene Familie wundersamerweise verschont geblieben wäre. Dieser Welt würde eine ganze Dimension von Erfahrung fehlen. Quelle: Sandra Newman – Das Verschwinden Sind Frauen die besseren Menschen? Schnell wird man in diese neue Welt, die Sandra Newman in ihrem Roman „Das Verschwinden“ zeichnet, hineingezogen. Was auffällt: Die große Frage des Warums steht zunächst nicht im Vordergrund. Newman liefert erst gegen Ende des Romans eine mythische Erklärung für das Verschwinden, die einen etwas unbefriedigt zurücklässt. Viel wichtiger und anregender ist, wie Newman die Hintergrundgeschichten der Frauen mit den aktuellen Ereignissen im Roman verwebt. Und so im Laufe der Geschichte mit zwei Behauptungen aufräumt: Frauen seien die besseren Menschen. Und eine Welt ohne Männer automatisch eine bessere. Da ist etwa Evangelyne, eine schwarze Politikerin. Sie ist die Gründerin und Anführerin einer Partei, die schnell das Machtvakuum für sich nutzt und im Raum Los Angeles von der Müllabfuhr bis zum Elektrizitätswerk die Dinge wieder in Gang bringt. Wie eine Messias wird sie von ihren Anhängerinnen verehrt. Auch Jane wird von ihr angezogen. Sie schließt sich Evangelynes Partei an und wird zur Liebhaberin und Unterstützerin der Politikerin. Ambivalente und komplexe Figuren Die beiden verbindet eine alte Freundschaft, die auf einer geteilten Erfahrung beruht: Beide waren in der alten, patriarchalen Welt sowohl Opfer als auch Täterin. Jane ist eine verurteilte Sexualstraftäterin. Ihr Ballettlehrer manipulierte sie und brachte sie dazu, Sex mit minderjährigen Jungen zu haben. Evangelyne hingegen hat als junge Frau zwei Polizisten erschossen, die ihre Familie auf dem Gewissen haben. Es sind ambivalente und komplexe Figuren, die Newman hier in einem reduzierten, fast nüchternen Stil zeichnet. Und die ihren Roman zu einem Lesevergnügen machen, weil mit ihnen die utopischen und politischen Ideen mit Leben gefüllt werden. Später in dem hübschen Hotel, nach Mitternacht und nachdem wir stundenlang gevögelt hatten, stand Evangelyne auf und stellte sich nackt ans Fenster. Natürlich liefen die Frauen zu dieser Zeit oft nackt herum; die ganze Welt war eine Mädchenumkleide. Quelle: Sandra Newman – Das Verschwinden Die ganze Welt eine Mädchenumkleide Doch wie in jeder Mädchenumkleide, gibt es auch in dieser männerlosen Welt Missgunst, Neid und Geheimnisse – und ein großes Gesprächsthema: Die Männer. Die sind nämlich zu sehen in kurzen Videoclips, die im Netz auftauchen und von denen keine weiß, wer dahintersteckt. „The Men“ heißen diese verstörenden Clips. Sie zeigen Gruppen von verschwundenen Männern, die zombie-haft durch eine apokalyptische Landschaft wandern. Zuschauerinnen erkennen in den Videos Angehörige wieder und nach einiger Zeit auch die verbrannten Landschaften und zerstörten Städte. Den Frauen wird klar: Was sie hier sehen, wäre die ausgebeutete, verbrannte Zukunft einer patriarchalen Welt gewesen. Wir schauten „The Men“, während Nord- und Südkorea wiedervereinigt wurden und die ersten weiblichen Kardinäle die erste weibliche Päpstin wählten. Kanada wurde von Waldbränden und Südamerika von Dürre heimgesucht. Die Fischpopulationen im Atlantik erholten sich, und auf Moskaus Straßen wurden Elche gesichtet. Quelle: Sandra Newman – Das Verschwinden Politische Parabel mit fein erdachten Figuren Eine Welt ohne Männer, ohne Sexismus, ohne Patriarchat und Unterdrückung – ist das eine feministische Utopie? Newman gibt darauf vielschichtige Antworten. Ihre Figuren hadern mit dem Verlust der Männer, ebenso wie mit den neuen ambivalenten Verhältnissen. Zu denen gehört auch eine neue Politpopulistin wie Evangelyne, die ein ähnliches Macht-Monopol anstrebt wie die dominanten Männer vor ihr. Sandra Newmans politische Parabel überzeugt. Denn hier erschlägt die politische Fantasie nicht die Literatur. Vielmehr öffnet Newman mit ihren fein erdachten Figuren und ihren Lebensgeschichten das Denken. Und das ist gerade in den verhärteten Debatten unserer Zeit besonders wichtig.…
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1 Karlsruher Verlag Edition Converso: Monika Lustig im Gespräch 7:35
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7:35Viel mehr als Pizza, Pasta und Dolce Vita: Das Gastland der Frankfurter Buchmesse In der Edition Converso, einem unabhängigen Karlsruher Verlag, erscheinen literarische Schätze aus Italien in deutscher Übersetzung. Werke, jenseits der deutschen Klischees über das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse . Gegründet hat den Verlag Monika Lustig. Sie lebte viele Jahre an verschiedenen Orten in Italien, bewunderte die Sprache mit ihren vielen Dialekten und war bei der Entstehung italienischer Literatur aus nächster Nähe dabei. Wie das Buch des Autors Santo Piazzese, „Blaue Blumen zu Allerseelen" , ein Palermo-Krimi, Lustig den Anstoß zum Projekt Verlagsgründung gab, verrät sie Theresa Hübner im „lesenswert Magazin". Literatur aus dem Mittelmeerraum Der Schwerpunkt der Edition Converso liegt zwar auf Literatur aus Italien, allerdings verlegt Monika Lustig auch Werke aus dem gesamten Mittelmeerraum. Im Gespräch empfiehlt Monika Lustig den Roman „Tief ins Fleisch“ der marokkanischen Autorin Yasmine Chami.…
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Wie das alles zusammenpasst erklärt Sven Pfizenmaier im Lesenswert Gespräch. Sein neuer Roman „Schwätzer“ ist ernster als sein viel gelobtes Debüt, hat aber genau soviel absurd-komische Passagen.
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1 Christian Drosten, Georg Mascolo – Alles überstanden? 4:09
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4:09Nach wie vor fehlt es an einer überzeugenden Aufarbeitung der Covid-Pandemie. Doch angesichts der großen gesundheitlichen wie auch gesellschaftlichen Schäden wäre es fatal, wenn aus der Pandemie keine allgemein akzeptierten Lehren gezogen würden, sei es für das Gesundheitswesen, sei es für Medien und Wissenschaft, sei es für das politische Krisenmanagement. Aus diesem Grund hatte der Virologe Christian Drosten die Idee, zusammen mit dem Journalisten Georg Mascolo ein Gespräch zu führen, in dem nachträglich – ohne Hektik und Aufgeregtheit – ein Resümee gezogen werden sollte. Was können wir aus der Pandemie lernen? Was also können wir lernen? Zunächst einmal sollten wir uns vergegenwärtigen, dass Pandemien immer überraschend kommen und dass die anfängliche Situation immer von zahlreichen Unsicherheiten bestimmt wird. Natürlich kann man es sich bei der weiteren Beurteilung leicht machen und sagen, alles lief falsch, aber wenn man jenseits von Voreingenommenheit und Parteilichkeit urteilen will, fällt das Urteil nicht leicht. Deutlich arbeiten aber Christian Drosten und Georg Mascolo in ihrem Gespräch heraus, dass die Voraussetzungen in verschiedenen Ländern unterschiedlich waren: dass Schweden sich eher einen lockeren Umgang leisten konnte als Deutschland und Großbritannien aufgrund eben dieses lockeren Umgangs sehr, sehr viele Tote zu beklagen hatte, mit anderen Worten: dort eine hohe Übersterblichkeit aufgrund von Covid zu verzeichnen war. Klar wird in dem Gespräch auch, dass Schulschließungen – jedenfalls im März 2020 – nicht nötig gewesen waren, aber umgekehrt schnelle Impfungen sehr nützlich waren, je schneller, desto wirkungsvoller. Selbstkritisch gesteht Christian Drosten ein, dass er zunächst allzusehr auf Freiwilligkeit gesetzt hatte: Ich habe gedacht, das läuft rein über die Kommunikation und übers Erklären, jeder erkennt die Gefahr und verhält sich entsprechend. Ich lag bei meiner persönlichen Einschätzung zur Freiwilligkeit von Verhaltensänderungen komplett falsch. Quelle: Christian Drosten, Georg Mascolo – Alles überstanden? Das Präventionsparadox bleibt ein Problem Ein Problem bleibt – nicht nur bei den Impfgegnern und den Corona-Leugnern – das sogenannte Präventionsparadox. Gerade weil die Maßnahmen Erfolg haben, erkennt man deren Wirkung nicht. Christian Drosten: Man sieht die Krankheit nicht, die man verhindert hat, und ist dann blind für die Folgen, die ohne Präventionsmaßnahmen eingetreten wären. Man sieht also nur den Schaden der Präventionsmaßnahmen und übersieht den Nutzen. Quelle: Christian Drosten, Georg Mascolo – Alles überstanden? Wissenschaftler wie Drosten, die sich damals öffentlich exponiert haben, wurden durch ihre klaren Stellungnahmen verschiedentlich belästigt, angegriffen und mit Hassmails überschüttet. Die Charité schickte die Mails gleich weiter an eine Anwaltskanzlei, sodass inzwischen viele der Absender angezeigt bzw. schon verurteilt sind. Wir sollten in Sachen Pandemie klüger werden und nicht erregter Inzwischen wissen wir, dass man zwar nicht verhindern kann, dass sich viele Menschen infizieren, aber durch die Impfungen vermeiden kann, dass sie daran sterben. Das sollte man sich, so Drosten und Mascolo, für künftige Infektionen merken. Klar ist aber auch, dass durch das Vordringen in tropische Regenwälder, durch Wildtiermärkte, die Art und Weise der Nutztierhaltung und durch den weltweiten Reiseverkehr ziemlich perfekte Voraussetzungen für das Entstehen neuartiger Viren und damit Krankheiten geschaffen werden. Das Gespräch von Drosten und Mascolo ist zwar keineswegs alarmistisch, lässt aber insofern keine Zweifel offen. In jedem Fall sollte eine mediale Polarisierung vermieden werden, es geht also darum, einen Journalismus zu praktizieren, der klüger macht und nicht erregter.…
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1 Paul Lynch – Das Lied des Propheten | Buchkritik 4:09
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4:09Europa hat Zukunftsangst. Im Zentrum stehen dabei politischer Extremismus, die Angriffe auf Demokratie und Rechtsstaat, eine gespaltene Gesellschaft und zunehmende Gewalt. Was passieren kann, wenn all diese toxischen Elemente zur vollen Entfaltung kommen, das hat der Ire Paul Lynch in seinem Roman „Das Lied des Propheten” ausgemalt. Es passiert in einem EU-Land Der erste dramaturgische Kunstgriff seines dystopischen Romans besteht darin, dass er die Handlung in Irland ansiedelt. Damit stößt er seine Landsleute also gleichsam von den Tribünenplätzen, von denen wir Europäer das Unglück der Welt zu betrachten pflegen, hinab in eine Arena der Grausamkeiten. Dort geht es bald genauso zu, wie in den Ländern, die von Tyrannei und Krieg heimgesucht werden. Es beginnt mit der klassischen Urszene, die aus allen Diktaturen bekannt ist. Es klingelt, zwei Männer mit Hut verlangen Mr. Stack zu sprechen. Stack ist der Generalsekretär der Lehrergewerkschaft. Bei der Vernehmung durch die Geheimpolizei wird er beschuldigt, zum Hass gegen den Staat aufzustacheln. Larry Stack schweigt lange. Damit ich Sie richtig verstehe, sagt er, Sie fordern mich auf, Ihnen zu beweisen, dass mein Verhalten nicht staatsgefährdend ist? Ja, das ist korrekt, Mr. Stack. Quelle: Paul Lynch – Das Lied des Propheten Diktatur, Not, Bürgerkrieg Larrys Frau Eilish wird ihren Mann nie wieder sehen. In Irland regiert eine Partei namens National Alliance, durch Notverordnungen hat sie sich diktatorische Vollmachten verschafft. Unter diesen Umständen muss sich Eilish mit ihren vier Kindern und ihrem dementen alten Vater allein durchschlagen. Die Hoffnung der Protagonistin, dass es in einem EU-Land ja wohl nicht zum Äußersten kommen wird, fegt der Autor mit einer unbarmherzigen Eskalation der Handlung hinweg. Eilish wird zum Opfer von Sippenhaft, sie verliert aus politischen Gründen ihren Job als Biotechnikerin, auf Ämtern wird sie schikaniert. Sie sieht vor sich das Bild einer zerschlagenen Ordnung. Die Welt ergibt sich dem Chaos, der Boden, auf dem man geht, fliegt in die Luft. Quelle: Paul Lynch – Das Lied des Propheten Gegen das diktatorische Regime erhebt sich eine Rebellenarmee, der sich Eilishs ältester Sohn anschließt. Die Städte werden zum Schlachtfeld mit wechselnden Frontlinien. Als Eilish in den Krankenhäusern nach ihrem verletzten jüngeren Sohn sucht, gerät sie in das Visier von Heckenschützen. Das Lied vom Unglück der Welt Paul Lynch schildert das Geschehen Schritt für Schritt in aufwühlenden Bildern und gedrängten Satzfolgen, die Eilishs Überlebenskampf bei zunehmender Panik nachzeichnen. Sie sieht ihre Kinder in eine Welt von Hingabe und Liebe geboren und sieht sie verdammt zu einer Welt des Terrors, und sie sieht, dass aus Terror Mitleid entsteht und aus Mitleid Liebe. Quelle: Paul Lynch – Das Lied des Propheten So geht, durchaus in biblischer Tradition, „Das Lied des Propheten”, auf das der Titel des Romans verweist. Wie es zu dem totalitären Regime in Irland kommen konnte, das lässt der Autor weitgehend im Dunkeln. Umso ausführlicher hebt er die Parallelen zu Krisenregionen wie dem Nahen Osten hervor, deren Bewohner durch Krieg und Gewaltherrschaft zur Flucht gezwungen werden. Die Botschaft des Romans lautet: Das Unglück der Welt kann überall zuschlagen. Paul Lynch entfaltet diese Einsicht mit beklemmender Intensität und erzeugt damit genau das, worauf es bei jeder dystopischen Schwarzmalerei ankommt: Hochspannung, Schrecken und Anteilnahme.…
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1 Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder 8:58
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8:58Anfangs brennen noch keine Felder. Es regnete den ganzen September, den ganzen Oktober und den ganzen November lang. Quelle: Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder Über diesen etwas eintönigen Satz denkt Luisa Fischer seit geraumer Zeit nach, weil es vor ihrer Tür offenbar dauernass ist. Das Wetter und die sogenannte Wirklichkeit bieten Luisa den Stoff für einen ersten Roman. Sie ist zurückgekehrt in die oberösterreichische Heimat und möchte sich als Schriftstellerin neu erfinden. In der von landwirtschaftlichen Betrieben geprägten Region sieht sie auch ihre Halbbrüder Alexander und Jakob wieder, die in Kaiser-Mühleckers Prosawerken „Fremde Seele, dunkler Wald“ bzw. „Wilderer“ im Mittelpunkt standen: Während der ehemalige Soldat Alexander unter den psychischen Nachwirklungen eines Auslandseinsatzes leidet, hat Jakob den verschuldeten Bauernhof der Eltern übernommen. Beide Söhne schaffen es nicht, sich von familiären Prägungen zu lösen und ein glückliches Leben zu führen. Weil Luisa lange Zeit im Ausland lebte, stand sie bislang am Rand der Verwicklungen im heimischen Rosental. Sie hat zwei Kinder, die in Schweden und Dänemark bei unterschiedlichen Vätern leben und die in Luisas Gedankenraserei gar nicht gut wegkommen. Ihre beiden Ex-Männer, die Väter ihrer Kinder waren schrecklich gewesen, der eine wie der andere, in gewisser Hinsicht eigentlich richtige Monster, von denen sich zu trennen ihr im Innersten nicht schwergefallen war. Quelle: Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder Unzuverlässige Erzählerin Reinhard Kaiser-Mühlecker hat sich für eine personale Erzählperspektive entschieden: Die Geschehnisse werden ausnahmslos aus der Sicht Luisas vorgetragen, die zwar von Beginn an nicht zuverlässig, aber eben doch so reflektiert wirkt, dass man ihr manche Übertreibung durchgehen lässt. Andere Menschen waren schon eigenartige Wesen, und wie war man selbst eigentlich? Sich kannte man schließlich auch nicht besonders gut, wenn man ehrlich war. Quelle: Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder Das Spiel mit Fremd- und Eigenzuschreibungen, die Projektion eigener Leiderfahrung auf andere Familienmitglieder ist ein zentrales Thema in „Brennende Felder“. Nach dem Scheitern der Ehen beendet Luisa ihre amourösen Eroberungsfeldzüge keineswegs. Auf die „Liste ihrer Liebhaber“ gerät auch Robert Fischer und damit jener Mann, der sie zwar aufgezogen hat, aber nicht ihr leiblicher Vater ist. Die Mutter hatte einen One-Night-Stand , und der Erzeuger war noch in der ersten Liebesnacht verschwunden. Kein Wunder, dass Luisa oft im „Nebel der Erinnerung“ herumirrt und selten zur Ruhe kommt. Kaum hat sie einen Typen verführt, wird ihr auch schon wieder langweilig. …allmählich spürte sie, wie diese Unrast und diese Unzufriedenheit zurückkehrten. Quelle: Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder Ökonomische und emotionale Verwerfungen in einer Bauernfamilie Es ist nicht leicht, die emotionalen Wirrnisse und wirtschaftlichen Verwerfungen in der Familie Fischer immer nachzuvollziehen. Im Mittelteil des Buchs fragt man sich, worauf die Geschichte hinauslaufen mag. Auch Luisas Ausführungen zu dem Roman, an dem sie gerade arbeitet, lesen sich alles andere als erhellend. Die Vermutung, man lese das Werk, das Luisa gerade schreibt, wird sich als Trugschluss erweisen. Fest steht: Die Härte des Bauernlebens hat alle Mitglieder der Familie Fischer schwer gezeichnet. Eine gewisse Rücksichtslosigkeit, die im betrieblichen Überlebenskampf nötig ist, scheint auch Luisas Handeln zu bestimmen. So unklar die Motive der Hauptfigur nämlich sein mögen, so dominant zeichnet Kaiser-Mühlecker ihr Verhalten: Mit Robert, den Luisa nun liebevoll Bob nennt, bezieht sie eine Villa am Rande des Heimatdorfs. Das ungleiche Paar wird von den Nachbarn skeptisch beäugt. Vor allem Halbbruder Jakob, der unter den nicht nur ökonomisch waghalsigen Aktionen des Vaters immer gelitten hatte, lehnt die seltsame Liaison ab. Eines Tages kommt Bob schwerverletzt nach Hause. Seine eine Gesichtshälfte war völlig zerschlagen, am Jochbein war die Haut abgeschürft und nässte, es sah aus, als wäre er mit dem Gesicht über Asphalt geschleift worden. Quelle: Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder Der Tod ist immer präsent Bob will sich zu den Hintergründen der brutalen Auseinandersetzung nicht äußern, spricht lediglich von einer „alten Geschichte“. Was in diesem Setting nicht ungewöhnlich ist. Alle haben hier irgendwelche Leichen im Keller. Schließlich kommt Robert Fischer auf sehr mysteriöse Weise ums Leben. War es ein tragischer Unfall oder doch Mord, wie Luisa vermutet? Der Tod ist allgegenwärtig in Kaiser-Mühleckers agrarischen Romanmilieu. Mal stirbt ein Bauer in einem „Futterautomaten“, dann nimmt sich die Frau eines Landwirts das Leben. Luisas Partnerjagd aber geht unverdrossen weiter: Sie lernt Ferdinand kennen, einen Bauern in der Nachbarschaft, den sie zwar erst für Bobs Tod verantwortlich macht, ihn dann aber an sich zu binden weiß. Ferdinand hat einen autistischen Sohn, was nicht nur in der Schule zu Problemen führt. Der alleinerziehende Vater bewirtschaftet allen Widrigkeiten zum Trotz den Familienbesitz, arbeitet fürs Landwirtschaftsministeriums in Wien und schreibt Fachartikel über „trockenresistente Kulturpflanzen“. Luisa setzt alles daran, sich in die neue Umgebung einzufügen, emotionale Abhängigkeiten zu etablieren. Sie hilft Anton bei den Mathe-Aufgaben, unterstützt Ferdinand im Haushalt. Doch die Stimmung kippt abermals. Luisa stört sich zunehmend am schwer zugänglichen Anton, der wohl immer auf Hilfe angewiesen sein wird. Auch Ferdinand kann es der Frau, die um mehr Aufmerksamkeit bettelt, nicht länger recht machen, vor allem … …seit er sich so viel mit dem Thema Wasserrückhaltung und Wasserspeicherung beschäftigte und überall auf der Hofstätte, an den Fallrohre der Dachrinnen, aber auch andernorts, hässliche Wassertonnen und Wassertanks aufstellte. Quelle: Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder Brennende Mähdrescher Nach den Regenmonaten herrscht nun auch in Oberösterreich eine für die Landwirtschaft bedrohliche Trockenheit. Mit der mühsamen Arbeit der Bauern möchte sich Luisa aber nicht beschäftigen. Fasziniert schaut sie in die Ferne und bewundert das vermeintliche Naturspektakel: Es sieht aus, als würden die Felder brennen. Die Mähdrescher und Ballenpressen sind bei den hohen Temperaturen tatsächlich in Brand geraten, das Feuer hat aber noch nicht auf die trockenen Äcker übergriffen. Die Wahrheit interessiert Luisa nicht. Im Grunde freut sie sich, dass das Werk der Bauern, unter deren Lieblosigkeit sie in Kindertagen gelitten hat, nun in Flammen steht. Luisa lebt zunehmend in einer Wahnwelt, was sich auch in der Sprache des Romans niederschlägt. Mit unheimlicher Konsequenz hat Kaiser-Mühlecker die regendurchnässte Prosa, die zunächst von dunklen Wäldern und vereinsamten Seelen handelte, in brennende Wortfelder überführt. Überall lodern nun die Lügen, die sich auf überraschende Weise zu einem stringenten Gesamtbild fügen. Aus einer triebfixierten Narzisstin ist ein Engel des Todes geworden, der Empathie zu simulieren weiß, um die hergestellte Nähe kaltblütig auszunutzen. Luisa wartet nur noch auf die passende Gelegenheit, um Anton aus dem Weg zu räumen. Ja, Hass. Und wann war er aufgekommen in ihr, dieser Hass, über den sie seit Wochen, ja Monaten Abend für Abend wieder nachdachte, weil sie ihn nicht verstand? Den sie gar nicht wollte. Den sie nicht einmal kannte. Nie empfunden hatte (…). Und jetzt auf einmal doch? Quelle: Reinhard Kaiser-Mühlecker – Brennende Felder Abschluss einer herausragenden Familientrilogie Ob Luisa auch ihre ehemaligen Gatten, die sich inzwischen mit allen Mitteln von ihr fernzuhalten versuchen, mit solchen Hassgefühlen verfolgte? Selbst die eigenen Kinder verweigern sich den Spontanbesuchen in Dänemark und Schweden. Ob sie insgeheim ahnen, wie gefährlich der Umgang mit der Mutter ist? Die erstaunlichen Wendungen dieser Geschichte lassen auch die beiden vorangegangen Romane von Kaiser-Mühleckers Familientrilogie in einem anderen Licht erscheinen, vor allem das Drama des Bauern Jakob im Vorgängerbuch „Wilderer“. Der Autor führt seine Figuren zwar grundsätzlich in den Abgrund. Aber Luisas Lebensweg ist besonders schrecklich. Was über viele Seiten als weibliche und literarische Selbstbehauptung daherkommt, hat sich zu einem pathologischen Zerstörungsprogramm entwickelt. „Brennende Felder“ ist der überzeugende Abschluss einer dreiteiligen Familiengeschichte, die als Psychogramm einer bäuerlichen Gesellschaft am wirtschaftlichen und auch kulturellen Abgrund zu lesen ist. Der Schriftsteller und Landwirt Reinhard Kaiser-Mühlecker kann die Nöte seiner Figuren so anschaulich beschreiben wie kaum jemand in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Empathische Introspektion trifft bei ihm auf metaphorischen Realismus. Die präzisen Naturbeschreibungen kommen dabei ohne Verklärung aus; charakterliche Defizite und verwerfliche Handlungen werden nicht mit moralinsauren Erklärungen entschuldigt. Insofern sind die Stoffe, die der Schriftsteller in langen Spannungsbögen und mit schwarzem Humor auszubreiten vermag, nichts für zarte Gemüter. Reinhard Kaiser Mühlecker hat mit seiner Romantrilogie um die Bauernfamilie Fischer ein herausragendes Werk vorgelegt.…
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1 Oliver Schlaudt – Zugemüllt. Eine müllphilosophische Reise durch Deutschland 4:09
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4:09Der Philosophieprofessor Oliver Schlaudt unternimmt eine Bildungsreise durch Deutschland: Nicht Kirchen, Museen, reizvollen Landschaften gilt sein Interesse, sondern den Müllbergen und unserem Verhältnis zu dieser Hinterlassenschaft. Müll ist in der Moderne immer komplexer und gefährlicher geworden. Wir haben allzu lange verdrängt, dass Schadstoffe überall zu finden sind, von den entlegensten Regionen der Erde bis zum Ungeborenen im Mutterleib. Eine Deutschlandreise zu den Müllhalden Oliver Schlaudt besucht Bitterfeld, das Ruhrgebiet, die Insel Flotzgrün, wo BASF seinen Sondermüll ablud, und Gorleben. Als Physiker beschreibt er die überaus kritische Lage mit naturwissenschaftlich geschultem Blick, als habilitierter Philosoph mit kulturhistorischem Interesse: Der Leser kommt in den Genuss beider Betrachtungsweisen. Analysiert wird der unvermeidliche Müll, den jeder Organismus mit seinem natürlichen Stoffwechsel produzieren muss. Zum einen als eine naturhistorische Tatsache (…) als unvermeidliche Folge der Entstehung komplexer Systeme und schließlich des Lebens im All. Quelle: Oliver Schlaudt – Zugemüllt. Eine müllphilosophische Reise durch Deutschland Mit der Herstellung von Feuer aber wird erstmals ein Energiestrom zum Kochen genutzt, ohne dass man ihn selbst körperlich verzehrt. Mit dem Verbrennungsrückstand ist auch der Müll in der Welt. Schlaudt spricht von einem „unheilbaren Riss“: Die Moderne ist dreckig – dreckig wie noch keine Zeit zuvor. Dahinter (…) steckt die Entwicklung des „exosomatischen“ Stoffwechsels, also die Auslagerung körperlicher Funktionen in externe Technologien, mit der erstmals in der Natur- und Kulturgeschichte Müll anfällt, der von der Biosphäre nicht mehr resorbiert werden kann. Quelle: Oliver Schlaudt – Zugemüllt. Eine müllphilosophische Reise durch Deutschland Müll als mahnende Altlast Betrachtet man indes den Müll philosophisch, so ist er in Form und Ausdehnung ein weitgehend unbekanntes Gebiet. Ein Beispiel dafür sind die toxischen Hinterlassenschaften des Chemiekombinats in Bitterfeld. 5000 Chemikalien sind im Boden gelagert, deren untereinander eingegangene Verbindungen unbekannt sind. Ohne ständiges Abpumpen und Klären des Grundwassers wäre dort in weitem Umkreis kein Leben möglich. Die Schadstoffschleuder Bitterfeld, so schlägt Schlaudt vor, sollte als mahnende Altlast in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen werden. Was also tun? Stellt sich sowohl als philosophische, wie auch als technische Frage. Paradoxerweise entsteht Müll dort, wo Sauberkeit und Ordnung besonders großgeschrieben werden. Schon nach kurzem Gebrauch im Alltag sortieren wir industriell gefertigte Gegenstände aus, da sie nicht mehr den aseptischen Glanz des Neuen und Perfekten ausstrahlen und übergeben sie dem Müll: Der industrielle Dreck ermöglicht uns die Illusion von Reinheit, und diese lässt uns umgekehrt jenen übersehen. Hygiene ist die Form, in welcher unser Müllregime sich selbst verhüllt. Diese Einsicht ergänzt die Kritik der Hygiene um eine ganz neue Dimension: Hygiene als Ideologie (...) ohne die die Müllmoderne nicht funktionieren würde, weil der Müll dann als das erschiene, was er ist: ein unhaltbarer Skandal Quelle: Oliver Schlaudt – Zugemüllt. Eine müllphilosophische Reise durch Deutschland Recycling ist nur bedingt eine Lösung. Ein Buch wie guter Humus, das Privates und Hochtheoretisches mischt Schlaudt sieht mit dem Künstler Friedensreich Hundertwasser das Prinzip des Humus als metaphorischen Gegenpart zum Recycling. Beim Humus gibt es keine Trennung der Substanzen und keine Vorkehrung für die Zukunft: Jedes neue Leben wächst heran auf dem Humus der alten, abgestorbenen Lebewesen. Was das für die Müllberge bedeuten mag, bleibt offen. Empfehlenswert ist das Buch vor allem, da es wie guter Humus verschiedene Denkweisen und konkrete Eindrücke vor Ort miteinander vermengt. Es wird analysiert und erzählt, Privates und Hochtheoretisches finden zueinander, das kurzweilige Vorgehen schafft für das bedrückende und gerne verdrängte Thema die notwendige Aufmerksamkeit.…
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Es kommt nicht oft vor, dass eine Autorin mitten im Text eine Warnung ausspricht: Vielleicht sollte ich als Untertitel hinzufügen: Nicht während des Essens lesen! Quelle: Hiromi Itō – Hundeherz Tatsächlich geht es über weite Strecken dieser autobiographischen Erzählung von Hiromi Itō um Fäkalien in diversen Aggregatzuständen. Der nett-niedliche Titel „Hundeherz“ führt in die Irre. Denn vor allem macht sich hier der Hundedarm geltend. Kaum erstaunlich, denn es geht ums Altern und Hinsterben. Heldin des Buches ist die vormalige 40-Kilo-Schäferhündin Take. Am Ende ist sie – in Menschenjahren gerechnet – eine abgemagerte Hundertjährige, dement und inkontinent und kaum noch fähig zu laufen. Und dennoch ein unverzichtbarer Teil im Rudel der Schriftstellerin. Dazu gehören weitere Hunde, darunter ein an Epilepsie leidender Papillon, ein bissiger Schuppenpapagei, drei Töchter und der zweite Ehemann, ein erklärter Hundefeind, der hier viel zu erdulden hat. Von Hunden und Menschen Wenn Hiromi Itō von Hunden erzählt, erzählt sie zugleich von Menschen. Das hat bisweilen fast etwas Magisches. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Kalifornien, alle paar Wochen macht sie die weite Reise in die japanische Stadt Kumamoto, wo ihr hochbetagter Vater zum Pflegefall geworden ist. Aber sie kann nicht ständig bei ihm sein, wie es ihr Gewissen eigentlich von ihr fordert. Die unendlich geduldige Fürsorge, die sie der siechen Schäferhündin zukommen lässt, ist nicht nur eine rituelle Kompensation für das Versäumte. Vielmehr scheint es ihr, als würde die Liebe, die sie Take entgegenbringt, irgendwie doch auch dem Vater zugutekommen. Menschlicher und tierischer Pflegefall werden eins: Mein Vater ist so schwach, dass er mit offenem Mund schläft, wie eine Mumie kurz vor der Vollendung. Take liegt mit schlaffen Gliedmaßen da, wie ein toter Kojote am Straßenrand. (…) Ihre hilflose Haltung, wenn sie gestürzt ist, ihr trauriger Gesichtsausdruck, das alles sieht so sehr nach meinem Vater aus, als sei mein Vater in sie gefahren. Quelle: Hiromi Itō – Hundeherz Die Philosophie der Ausscheidung Der inkontinente Vater trägt eine Windelhose, beim Hund geht das nicht. Da sich Take überall unwillkürlich entleert und die anderen Hunde sich daraufhin auch keinen Zwang mehr auferlegen, gibt es ständig etwas einzusammeln und aufzuwischen. Immer unerträglicher wird der Gestank im Haus und der beißende Uringeruch auf der Terrasse. Die Autorin entschuldigt sich für den „total verkoteten Text“, aber so sei das eben, wenn man mit alten Hunden lebe. Auch mit dem Vater ist es ein Dauerthema: Wenn ich mit meinem Vater telefoniere, sprechen wir meistens über Durchfall und Stuhlgang; manchmal rührt es mich, wie wesentlich die Ausscheidung das menschliche Leben bestimmt. Es fängt mit der Ausscheidung an und endet mit der Ausscheidung. Quelle: Hiromi Itō – Hundeherz Hiromi Itō erscheint die tätige Hilfe bei der Notdurft als größte Probe auf die Liebe zu einem Wesen, ob Mensch oder Hund. Take einschläfern? Das kommt für sie nicht in Frage. Komik und Elend Zum Charme des Textes gehören die scherzhaften Einwürfe und die raffinierten Perspektivwechsel von Mensch zu Hund. Gerade weil das Schreiben aus Tier-Sicht heikel ist, bedarf es des Humors, der sich besonders schön im Kapitel „Take ist hetero und sexistisch“ entfaltet. Erstaunlicherweise richten sich die Gefühle der Hündin für das andere Geschlecht auch auf gut aussehende Menschenmänner, denen gegenüber sie sich in ihren vitalen Jahren kokett und schmeichelnd verhielt. Das habe ich häufiger erlebt. Ein Ausdruck, der besagte, sie wäre jederzeit bereit, eine Ehe zwischen Mensch und Tier einzugehen, wenn die Männer es nur wünschten. Quelle: Hiromi Itō – Hundeherz „Hundeherz“ ist ein Tierbuch wie kein anderes, ungemein ehrlich und erfahren, voller scharfer Beobachtung und freundlichem Verzeihen; Elend und Ekel mit Komik bändigend. Und es ist mehr als ein Tierbuch: eine tabulose Reflexion über Gebrechlichkeit und Fürsorge.…
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1 Clemens J. Setz – Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie 6:38
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6:38Kritik an Clemens Setz Du postest nur noch Hasenbilder Von Löffelohrn und Pfoten Du bist wie diese Bodybuilder Die sich nur selbst promoten Du schreibst von Ziegen sehr genau Der Rest bleibt unerwähnt Wo bleibt die Politik du Sau Wer hat dich so verwöhnt Quelle: Clemens J. Setz – Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie Ein Clemens Setz-kritisches Gedicht von Clemens Setz. Es steht im wirklich beeindruckenden Buch „Das All im eigenen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitter-Poesie.“ Achtung: Man muss hier zwischen Poesie und Lyrik unterscheiden. Es geht nicht immer um Gedichte, es geht darum, dass Dinge eine poetische Wirkung haben, dass sie den Lesenden mit seltsamer Paradoxie überraschen, mit Unstimmigkeiten, über die man nachdenkt – dadurch wird der Kopf frei, selbst zu denken. Und das ist etwas, was man im Netz gut gebrauchen kann, bei stundenlangem Gedaddel an Handy oder PC. Im Netz ist man schnell verloren, die Erfahrung hat wahrscheinlich jeder schon mal gemacht. Ein Zappelphilipp im Sinfonieorchester Die „Bibliothek Suhrkamp“ ist ein spannender Ort für solche Überlegungen, sie ist immerhin Heimat des ehrwürdigen Kanons der literarischen Moderne. Am Ende des Buchs von Clemens Setz findet sich, sozusagen in der Nachbarschaft, noch ein Verzeichnis früherer Bücher, von Kafka, Thomas Brasch, James Joyce und Elke Erb. Darein reiht sich jetzt das Buch von Clemens Setz wie ein ADHS-kranker Zappelphilipp ins Sinfonieorchester. Kurze Texte, äußerste Geschwindigkeit, Präzision, extreme Leser-Orientierung - Ungeduld liegt über allem, passend zum im Buch erwähnten Motto der Twitterpoetin Carla Kaspari. Ein Jahr im Internet sind sieben Menschenjahre Die Einsamkeit des Kanarienvogels ist zum Heulen Clemens Setz liefert mit der kurzen Geschichte der Twitterpoesie eigentlich gleich zwei Bücher – seine eigene Geschichte als Twitter-Autor und die höchst unvollständige Literaturgeschichte der Poesie auf dem Kurznachrichtendienst. Zunächst geht es um Clemens Setz selbst, und um das, was er von 2015 - 2022 auf Twitter postete. Er, als ordentlicher, auf den Büchner-Preis zusteuernder Schriftsteller mit einem Anrecht auf das Marbacher Literaturarchiv, er speicherte seine Tweets natürlich akkurat ab und kann so jetzt aus den Vollen schöpfen. IDEE FÜR KINDERBUCH Ein Mann breitet abends ein Tuch über den Vogelkäfig. Nachts kommt er daran vorbei und sieht ein Glühen dahinter. Er hebt das Tuch und sieht: Der Kanarienvogel strampelt auf einem winzigen Fahrrad, das Licht erzeugt, um in der Dunkelheit keine Angst zu haben. Quelle: Clemens J. Setz – Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie Man muss schon poetisch sehr unterbelichtet sein, um keine Bilder im Kopf zu entwickeln und sich Gedanken, um das Schicksal des strampelnden Kanarienvogels zu machen. Die Einsamkeit ist zum Heulen, es ist aber auch ein Akt des Empowerments, der Selbstermächtigung. Kurz – es ist ein Bild des Menschen, der conditio humana schlechthin, ein geradezu faustisches Bild des Satzes: „Wer immer strebend sich bemüht, den werden wir erlösen“ – und das auf 276 Zeichen komprimiert. Man will gleich noch ein Gedicht – bitte schön. Da postet Setz ein Bild seines Knies, in dem man mit etwas Phantasie eine seltsam unheimliche, wie von einer Strumpfmaske überzogene, Visage erkennen kann. Es wohnen neue Wesen in meinem rechten Knie Bei ihrem Anblick sinkt man in Allmelancholie Geschnäbelt wie die Geier wie Venen aufgestaut verharren sie und atmen stumm unter meiner Haut Warum sind sie in mir Warum in meinen Knien? Ich fühle ihre Schnäbel und gehe so durch Wien Quelle: Clemens J. Setz – Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie Dutzende eigene Tweets hat Clemens Setz für den Band zusammengestellt und kommentiert. Die Gedichte verlieren nichts dadurch, im Gegenteil, sie sind ikonisch geworden – und endlich kann man sie lesen, ohne immer das Handy vor dem Gesicht zu haben. Die Poesie ist auf der Strecke geblieben Die zweite Geschichte ist die offizielle „twittersche“ Literaturgeschichte. Das ist ein melancholisches Unternehmen für nicht-Twitterer. Elon Musk nämlich hat den zwitschernden Vogel, wie Twitter heißt, bekanntlich angekettet, in eine Galeere gesperrt, damit er nicht nur eine Glühlampe, sondern seine ganze E-Auto-Tesla-Flotte erhelle. Die Poesie ist dabei gründlich auf der Strecke geblieben, auch Clemens Setz hat aufgehört dort zu schrieben. Jetzt heißt das Ding „X“, und wer immer literarisch etwas auf sich hält, hat sich zurückgezogen. Aber es muss einmal herrliche Zeiten auf Twitter gegeben haben, als DJ Lotti, Computerfan 2001 und Carla Kaspari zum „Sprachwettstreit“ antraten und Twitter mit Kürzesttexten fluteten. Ich las sie jeden Tag, sogar mehrmals, das heißt, ich las zusammengerechnet weit mehr von ihnen, als ich von meinen herkömmlichen Lieblingsautor:innen in Buchform konsumieren könnte, und zugleich wusste ich praktisch nichts über sie, meist nicht einmal, wie sie heißen oder wie sie aussehen. Ihr Profilbild könnte weiß Gott wen darstellen Quelle: Clemens J. Setz – Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie Davon ist heute nichts mehr übrig – außer ein paar versprengten Dateien auf alten Festplatten bei Setz oder irgendwelchen Sammlern. Twitter selbst hat sie gelöscht, die Reste trägt Clemens Setz hier zusammen – und endet melancholisch mit zwei Bots, die sich gegenseitig in Kochrezepten adressieren, die, weil sie immer nur die Fehler des anderen replizieren und variieren, einsam in die Depression versinken. „Alle zerplaten“, so heißt eine der letzten Nachrichten, für das Z war beim Zerplatzen schon keine Zeit mehr. Armer Doombot. Ich kann ihn nicht mehr ohne Mitleid lesen. Tapfer ersinnt er Tag für Tag neue Variationen über das Weltende. Und er ahnt dabei nicht, dass sein eigener Verstand nachzulassen beginnt, dass ihm von jenen, die ihn erschaffen haben, die eigene Auflösung mitgegeben wurde Quelle: Clemens J. Setz – Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie Clemens Setz hat mit „Das All im Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie“, Literaturgeschichte geschrieben. Wie quasi alles, was er anfängt, baut das Buch Brücken in eine Welt, die alles Digitale immer noch als etwas minderwertig abstempelt. Mancher glaubt ja mit Kafka, Bücher müssten immer Äxte sein für das gefrorene Meer in uns. Dieses gefrorene Meer aber ist längst in der Klimakrise geschmolzen, meint Setz. Im Fluiden der Poesie von Heute wenigstens einmal schwimmen kann heute, wer dieses kleine, kluge Buch liest.…
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1 Mario Vargas Llosa – Die große Versuchung 4:38
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4:38„Die große Versuchung“ heißt Mario Vargas Llosas jüngster Roman – und sein letzter, wenn man der Schlussbemerkung im Buch Glauben schenken darf. Er handelt von dem abgehalfterten Musikkritiker Toño Azpilcueta, der sich in den Kopf gesetzt hat, der kreolischen Musik endlich den ihr gebührenden Rang zukommen zu lassen. Kreolische Musik wird auch „peruanischer Walzer“ genannt, es ist eine Variante des europäischen Walzers im ¾ Takt - für Toño Azpilcueta eine identitätsstiftende, zwischen Arm und Reich vermittelnde Kunst. Die tiefsten Schichten dessen, was Peru als Nation ausmachte, dieses Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, zusammengehalten von ein und denselben Nachrichten und Verordnungen, sie waren durchdrungen von volkstümlicher Musik und volkstümlichen Gesängen. Quelle: Mario Vargas Llosa – Die große Versuchung Toño , der proletarische Intellektuelle Toños Universitätskarriere endete einst in einer Sackgasse. Er schlägt sich nun mit Artikeln für kleine Zeitschriften durch, hat geheiratet und eine Familie gegründet, die er nicht ernähren kann; er sucht den Dunstkreis der Musiker, die er verehrt, und liebt heimlich die Sängerin Cecilia Barraza. Eines Tages hört er einen unbekannten, aber höchst virtuosen Gitarristen namens Lalo Molfino. Es war Weisheit, Konzentration, meisterliche Beherrschung, ein Wunder. Quelle: Mario Vargas Llosa – Die große Versuchung Dieses geradezu erleuchtende Erlebnis weckt neue Energien: Toño schreibt nun über Jahre an einem Buch, das ihm schließlich mindestens so viel Begeisterung wie Spott einträgt. Immer mehr verrennt er sich in seine Idee, Peru sei Dank der Huachafería entstanden – ein Wort mit schillernder Bedeutung, das eigentlich so etwas wie Kitsch oder Affektiertheit bedeutet, mit dem Toño aber die eigentümliche Sentimentalität der kreolischen Musik zu beschreiben sucht. Der „proletarische Intellektuelle“ Toño ist einer jener in Vargas Llosas Werk öfter auftauchenden Träumer und Utopisten –obsessiv, sich unverstanden fühlend, leidgeprüft. Toño will Peru mit seinen Thesen einigen Es sind die 1980er und 90er Jahre in Peru. Eine Zeit, als die kommunistische Partei „der Leuchtende Pfad“ zum bewaffneten Kampf aufruft und das Land zerrissen scheint. Toño hat die überhebliche Vorstellung, diesen Riss durch seine Thesen zu kitten. Nicht zuletzt aber gehen Risse durch ihn selbst, lauern in ihm gefährliche Dämonen. Als wären da Ratten, die an meinem Rücken knabbern. Und dann möchte ich das Hemd ausziehen, die Hose. Und mich kratzen, bis ich tot umfalle. Quelle: Mario Vargas Llosa – Die große Versuchung „Die große Versuchung“ ist der Roman über einen Mann, dessen Leidenschaft mit seinem Hang zur Depression konkurriert. Dazu ein Künstlerroman, den Toño dem musikalischen Erneuerer Lalo Molfino widmet, einer schemenhaften Gestalt. Und es ist eine Geschichte der kreolischen Musik – zahlreiche Namen bekannter Interpretinnen und Interpreten tauchen auf. Bald merkt man: In eingefügten Kapiteln lesen wir den Essay, den Toño schreibt, in dem er den Spuren Felipe Pinglo Alvas folgt oder den Liedern der gefeierten Sängerin Chabuca Grande lauscht. In Essays und Artikeln hat der Literaturnobelpreisträger immer wieder den Niedergang der Hoch- und den Siegeszug der Massenkultur angeprangert. In seinem Roman versucht er nun mit seiner Hauptfigur in der Musik des Volkes eine alle Unterschiede überwindende Kunst heraufzubeschwören – ein romantischer Gedanke, ein naiver auch, denn die Kraft der Musik reicht kaum aus, alle Gegensätze zu überwinden. Diese Ambivalenz – das Überschwängliche und Unbedarfte – ist dem Buch durchaus eingeschrieben. Und eine Trauer darüber, dass Peru den Weg der Einheit immer wieder verfehlt. Der Abschiedsroman eines 88-jährigen Literaturstars? Vargas Llosa ist mit diesem Roman ein durchaus würdiger Abschluss seines literarischen Werks gelungen, ein strahlender Abgesang. Gewiss wären einer strengeren Lektorin so manche erzählerische Umständlichkeit und Redundanz aufgefallen, auch gewisse Längen und Verästelungen hätten sich vermeiden lassen. Aber wer würde einem inzwischen 88-jährigen Literaturstar mit dem Rotstift kommen wollen? Gerade im Moment des Abschieds. Einmal zitiert der Erzähler den früh verstorbenen Gitarristen Lalo Molfino, der zu Cecilia Barraza einen bedeutsamen Satz sagt, der dem Roman „Die große Versuchung“ auch zu seinem viel passenderen Originaltitel „Le dedico mi silencio“ verhalf: Ihnen widme ich mein Schweigen. Quelle: Mario Vargas Llosa – Die große Versuchung Fast scheint es, als sei Vargas Llosas Buch um diesen auch an uns Leser gerichteten Satz herum geschrieben worden.…
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1 Twitterpoesie, Nietzsche in Venedig und Weltliteratur to go 54:53
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54:53Diesmal im lesenswert Magazin: Weltliteratur to go und Nietzsche in Venedig. Mit neuen Gedichten von Clemens J. Setz und neuen Büchern von u.a. Nora Bossong
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Frühe Begegnung mit Magda Quandt Von einem Friedhof stammt das Motto, das dem Buch vorangestellt ist: „Was Ihr seid – das waren wir; was wir sind – das werdet Ihr“. Etwas Bedrohliches geht von diesen Worten aus und legt sich als Grundstimmung über die ganze Lektüre. Der fiktive Ich-Erzähler Hans Kesselbach entführt uns in die Zeit zwischen 1919 und 1945. In der Schule freundet er sich mit Hellmut Quandt an, dem Sohn des sehr wohlhabenden und einflussreichen Industriellen Günther Quandt. Bei ihm zu Hause lernt er auch Magda kennen, Hellmuts sehr junge Stiefmutter, die später in zweiter Ehe zu Magda Goebbels wird. Feine Nuancen von Nora Bossong Wie sich das gesellschaftliche Klima und mit ihm die Menschen in den 1920er allmählich verändert, das zeichnet Nora Bossong in sehr feinen Nuancen nach. Von der Uhlandstraße herunter marschierten einige Männer mit Fahnen und im Gleichschritt. Dieses Bild sah man jetzt häufiger, seit das Verbot der SA aufgehoben worden war, und ich hatte mich schon daran gewöhnt, wie man sich mit Baulärm oder zankenden Nachbarn abfindet. Wenn jemand bereit sei, sein Leben für ein Idee zu opfern, ob man dafür, fragte Magda, nicht doch mehr Achtung empfinden müsse als für jene, die im ewigen Einerlei immer weitermachten wie Zirkustiere, die dressiert im Kreis liefen.(…) Sogar Hellmut sah sie verwundert an, denn ihre Bemerkung passte so gar nicht zu dem, was man in Neubabelsberg zu sagen pflegte. Quelle: Nora Bossong – Reichskanzlerplatz Psychologische Entwicklung verknüpft mit gesellschaftlichen Veränderungen Wie in ihren früheren Büchern „Webers Protokoll“ und „Schutzzone“ schafft es Nora Bossong, die psychologische Entwicklung ihres Protagonisten mit den gesellschaftlichen Veränderungen zu verweben. Hans entdeckt seine homosexuellen Neigungen schon als Jugendlicher. Um der Strafverfolgung nach Paragraph 175 zu entgehen, pflegt er später auch sexuelle Kontakte zu Frauen. Als die Ehe zwischen Günther Quandt und Magda in die Brüche geht, wird er ihr Geliebter: Magda bat mich, das Licht zu löschen. Im Halbdunkel öffnete ich den Rückenverschluss ihres Kleides, und sie ließ es von ihren Schultern hinuntergleiten. Sie stand in schlichter Unterwäsche vor mir, setzte sich aufs Bett, um die Seidenstrümpfe anzurollen, hielt inne und wartete, bis ich mich entkleidet hatte. (…) Kurz öffnete sie die Lider und erschrak, als sie merkte, dass ich ihr ins Gesicht blickte. Ich habe sie nie wieder derart nackt gesehen, und später, als sie für die Zeitungen posierte, ihre Kinder vorzeigte als Beweis ihrer gewonnenen Kämpfe, dachte ich wieder daran. Sie wollte so unbedingt gesehen werden, und sie hatte so unbedingte Angst davor erkannt zu werden. Quelle: Nora Bossong – Reichskanzlerplatz Täter bleiben Täter, Verbrecher, Verbrecher Die Autorin umschifft bei der literarischen Gestaltung der historischen Figuren erfolgreich jede Kitsch- und Cliché-Klippe. Täter bleiben Täter, Verbrecher, Verbrecher und zugleich werden sie zu Blaupausen für Persönlichkeitsentwicklungen, die weit bis in unsere Gegenwart reichen und die mit dem Ende des Nationalsozialismus keinesfalls untergegangen sind. Stellvertretend dafür steht die Geschichte der Familie Quandt. Ihren Wohlstand hat sie im Ersten Weltkrieg begründet und in den Nazi-Jahren gnadenlos ausgebaut. Und bis heute gehört sie, wie Bossong am Ende schreibt, zu „den reichsten und wirtschaftlich mächtigsten Familien Deutschlands“. Was geschah etwa während der Wirtschaftskrise 1929? Quandt tat noch einmal, was er im Frühsommer getan hatte, er setzte Menschen vor die Tür. Anders als bei Magda trauerte er ihnen nicht nach, und er zahlte ihnen auch keine Abfindung. Er handelte wie fast jeder Unternehmer in diesem Herbst, und die Stadt war plötzlich überfüllt mit Zeit. Niemand brauchte noch die Minuten und Stunden und Jahre der Arbeiter, sie waren keine Sekunde eines Günther Quandt mehr wert, und die Entlassenen drängten sich vor den Volksküchen oder saßen mit einer Flasche Bier in der Hand auf dem Bordstein und blickten ins Nichts. Quelle: Nora Bossong – Reichskanzlerplatz Der Blick in die Vergangenheit erhellt unsere Gegenwart Der Berliner Reichskanzlerplatz, der dem Roman den Titel gibt, heißt heute übrigens Theodor-Heuss-Platz und hieß von 1933 bis 1945 Adolf-Hitler-Platz. Dort lebte Magda Goebbels nach ihrer Scheidung von Quandt und brachte wohlhabende Industrielle mit Hitler in Verbindung. Den schleichenden Prozess, in dem eine instabile Demokratie, erst allmählich und dann explosiv, auseinanderbricht und dann das daraus erwachsende faschistische Regime eine globale Katastrophe auslöst, schildert Bossong sehr eindringlich. Durch die Folie der Vergangenheit lässt sie uns unsere Gegenwart besser erkennen. Einfach grandios!…
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1 Renate Müller-Buck – "...zitternd vor bunter Seligkeit". Nietzsche in Venedig 7:08
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7:08Im Lesenswert Magazin spricht er über die Liebe des Philosophen zur Lagunenstadt und seine komplizierte Beziehung zu Richard Wagner.
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1 Literaturvermittlung mit Playmobilfiguren 7:14
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7:14Alte Klassiker von Shakespeare und Schiller, aber auch zeitgenössische Werke wie die von Arno Geiger oder Elfriede Jelinek stellt Michael Sommer in seinen Videos mit Playmobilfiguren nach. Mit seinen bereits über 500 Videos auf YouTube hat Sommer eine Marktlücke gefüllt. Deutsch-Abitur gerettet Auf spielerische und unterhaltsame Weise macht Michael Sommer größtenteils Studierenden, Schülerinnen und Schülern die Inhalte von Literatur-Klassikern zugänglich. Vor allem vorm Deutsch-Abitur steigen die Abrufzahlen. Im Lesenswert Gespräch erklärt Michael Sommer, wie er mit seinen Clips für Literatur begeistert.…
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1 Mit Göttinnen auf Monsterjagd – Antike Mythen in der Jugendliteratur 54:48
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54:48Zeus, Hermes und Athene – in modernen Jugendbüchern sind die antiken Göttinnen und Götter quicklebendig.
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1 Jason Stanley – Wie Faschismus funktioniert 4:09
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4:09Auch wenn einige seiner Leser dächten, er übertreibe: Jason Stanley will die Sache beim Namen nennen: Faschismus. Nicht: Populismus, Extremismus, Rechtsradikalismus. Nein, Faschismus. Trump ist ein Faschist, Bolsonaro, Le Pen. Faschisten. Dieser Begriff sei nicht für Hitler und Mussolini reserviert, denn „Faschismus ist eine ständige Versuchung“, so Jason Stanley. Der Philosophieprofessor der US-Elite-Universität Yale liefert mit seinem Buch „Wie Faschismus funktioniert“ einen knappen, kompakten, auch meist lehrreichen Überblick zum Thema, leider in einer weitgehend formelhaften Sprache. Aus seiner 10-Punkte-Aufstellung mit den markanten Erkennungsmerkmalen des Faschismus sollen hier nur drei Aspekte wiedergegeben werden: Faschismus, die immerwährende Versuchung Zum Beispiel: Der Anti-Intellektualismus. Menschen, die ihre Arbeitszeit mit Denken, Abwägen, präzisem Formulieren verbringen, verachtet der Faschist. Faschistische Anführer sind ‚Männer der Tat‘, die für Beratungen und Überlegungen nichts übrighaben. (...) In der gegenwärtigen Phase der US-Politik, in der Trump und seine Anhänger die Klimaforschung verspotten und verhöhnen, erleben wir einen Siegeszug der Verunglimpfung wissenschaftlichen Sachverstands. Quelle: Jason Stanley – Wie Faschismus funktioniert Der faschistische Anführer ist ein Mann, ein Patriarch. Denn die Frau gehört wie früher an Heim und Herd. Dass allerdings gerade ein paar weibliche Rechtsaußen in Europa an der Spitze ihrer Parteien stehen, ist ein Widerspruch, den Stanley nicht weiter beachtet. Die Rache der Provinz an der Stadt Im Kapitel „Sodom und Gomorrha“ fasst Stanley die Dynamik zwischen Stadt und Land ins Auge. Denn der Rechtsruck kommt vom Land. Peter Sloterdijk sagte kürzlich in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“, gemünzt auf die Situation in Frankreich: „Der Populismus ist größtenteils die Rache des Landes an der Stadt.“ Stanley neigt nicht zu solch griffigen Thesen. Aber er sagt auf kompliziertere Art das Gleiche. Sinngemäß etwa: Von den Städtern wirtschaftlich und kulturell abgehängt, fantasiert sich der Faschist vom Land als der wahre, der ehrliche und fleißige Amerikaner und beschere den als faule Schmarotzer empfundenen Städtern eine faschistische Regierung. Stanley zitiert Trump in einer Rede an seine Anhänger aus der Provinz: „Schauen Sie nur die Innenstädte an, da gibt es keine Bildung, da gibt es keine Arbeit, da wird man auf der Straße erschossen." Obama, der angebliche „Agent Allahs“ und andere Geschichten Im Kapitel namens „Unwirklichkeit“ behandelt Stanley die absurd klingenden aber viral gegangenen Lügen der Faschisten, etwa die, Präsident Obama sei in Wahrheit Muslim. Solche Verschwörungstheorien sind wirksam, weil sie rationale Erklärungen für ansonsten irrationale Emotionen wie Ressentiments oder fremdenfeindliche Ängste angesichts einer vermeintlichen Gefahr liefern. Die Vorstellung, Obama sei in Wirklichkeit ein Muslim (...) begründet das irrationale Gefühl der Bedrohung, das viele Weiße bei seinem Amtsantritt hatten. Quelle: Jason Stanley – Wie Faschismus funktioniert Stanleys blinder Fleck Zusammenfassend lässt sich sagen: Stanley beschreibt den „alten“ Faschismus von rechts zutreffend. Wovon sein Buch jedoch nicht handelt, das sind die aktuellen Spielarten eines Faschismus von links. Beispiel: Der Anti-Kolonialismus, unter dessen Banner linke Aktivisten und Studenten, auch in Yale, die Judenhasser, Frauenverächter und Schwulenfeinde der Hamas unterstützen. Der Jude und frühere Nazi-Jäger Serge Klarsfeld machte im Juni mit einer schockierenden Wahlempfehlung von sich reden. Er habe Angst vor den französischen Linken. Würden sie stärkste Kraft in der Regierung Frankreichs, fühle er sich seines Lebens nicht mehr sicher. Deshalb wähle er zum ersten Mal Le Pen. So gesehen sollte Jason Stanley sein Buch „Wie Faschismus funktioniert“ unbedingt noch einmal überarbeiten und dem Faschismus-Begriff auch eine linke Facette hinzufügen.…
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Ein Chor aus acht Stimmen – laut, pulsierend, fast wie ein Sprechgesang. Sidik Fofana, Sohn westafrikanischer Immigranten, lässt in seinem Short-Story-Zyklus „Dünne Wände“ acht Mieter*innen aus einem Hochhaus in Harlem ihre Geschichten erzählen. Sie machen uns zu Zeugen einer erbarmungslosen Gentrifizierung. Acht Nachbarn aus Harlem erzählen Mit Einfallsreichtum, Kampfgeist und Wohlfahrtsschecks halten sich die meisten Mieter*innen hier knapp über Wasser. Mimi, Mitte zwanzig und alleinerziehende Mutter, ist genervt von dem Gerede über das Haus. Mit welchen Nachbarn sie hier wohnt, stellt sie in der ersten Geschichte „Handbuch für Mieter“ klar: Manche leben von Kindergeld. Ihre Onkel sind im Gefängnis, ihre Tanten auf Crack, ihre Cousins in Gangs, ihre Schwestern auf dem Strich. Das sind die Geschichten, auf die alle geil sind. Der Scheiß, der vielleicht einmal im Jahr passiert. Da quatschen die niggas heut noch von, als wäre es gestern gewesen. Quelle: Sidik Fofana – Dünne Wände Wer das liest, braucht keinen Stadtplan, um zu wissen, wo die Geschichten spielen. Sidik Fofana schreibt über das Leben in einer Schwarzen Nachbarschaft und der Übersetzer Jens Friebe hat das N-Wort politisch korrekt im englischen Original belassen. Für diese authentischen, frischen Stimmen wünscht man sich sofort ein Hörbuch, das die forschen Töne ebenso zum Klingen bringt wie die bedrückende Hilflosigkeit. Man hat die Protagonist*innen also im Ohr und fast vor Augen, während man ihre Geschichten liest, die alle aus der Ich-Perspektive erzählt werden: Da ist zum Beispiel Mimis Ex-Freund Swan, der kaum Geld für den gemeinsamen Sohn abdrückt und bei seiner Mutter wohnt, die mit zwei Jobs die Miete finanziert. Oder der schwule Nachbar Dary, der die Kellnerin Mimi bei ihrer Schwarzarbeit als Haarstylistin unterstützt. Ein bisschen Glamour im trüben Alltag. Der amerikanische Traum vom sozialen Aufstieg lässt die Mieter*innen in dem verwohnten Hochhaus mit kaputten Waschmaschinen und defekten Aufzügen nicht aufgeben. Mahnschreiben und Mieterhöhungen: Gentrifizierung droht! Dramaturgisch werden die eng verzahnten Geschichten durch die drohende Gentrifizierung des Viertels vorangetrieben. Mit Mahnschreiben und Mieterhöhungen versucht ein Investor, die Bewohner*innen hinauszudrängen. Solidarität, Kreativität und Mut sind die Basis einer Resilienz, die den Menschen am Rand der Gesellschaft hilft, der Macht der Verhältnisse zu trotzen. Auch wenn sich beim Lesen einzelner Geschichten Resignation einschleichen mag, überwiegt doch der Respekt vor der Widerständigkeit der bedrängten Mieter*innen mit ihren unterschiedlichen Biografien. Fofanas Perspektivwechsel sind sprachlich gewagt, denn eine gestandene fünfzigjährige Schulbegleiterin spricht und denkt anders als ein Zwölfjähriger, der zwar verblüffende Dance-Moves beherrscht, aber keine Rechtschreibung. Den Brief an die Mutter seines toten Freundes schreibt der Junge nach Gehör. Gelungene Übersetzung des amerikanischen Slangs Dem Übersetzer Jens Friebe gelingt es, die Mischung aus Black English mit doppelter Verneinung, Umgangssprache und Jugend-Soziolekt in ein Deutsch zu übertragen, das den Alltag in einem New Yorker Sozialbau zumindest annähernd vermittelt. Dass Friebe auch Musiker ist, kommt der vibrierenden, rhythmisierten Sprache des Buches zugute, denn Fofanas Schreibstil ist von literarischen Vorbildern ebenso geprägt wie von HipHop und Rap. Besonders aufrüttelnd sind die Geschichten, in denen junge Protagonist*innen sich aus der bitteren Realität hinausträumen. „Luxuswohnungen in den Wolken“ plant der Investor, während Mimis Nachbar Dary überlegt, ob er als Stricher die nächste Miete finanzieren soll. Kann man sich nicht vorstellen, man würde es einfach aus Spaß machen? Seit meiner Geburt war mir klar, aus mir wird mal was Großartiges. Ich hab das volle Paket, einnehmendes Wesen, Talent, fotogen bin ich auch. Weißt du, wie viele Menschen da draußen keinen Traum haben, für den sie leben? Du musst immer bereit sein für den großen Durchbruch. Quelle: Sidik Fofana – Dünne Wände „Das Thema, das die Geschichten verbindet, ist der amerikanische Traum und die Enttäuschung des amerikanischen Traums“, sagt Sidik Fofana. Das ist ihm literarisch so überzeugend gelungen, dass man dieses realitätssatte Buch mit dem gleichen Erkenntnisgewinn liest wie eine gut recherchierte Reportage.…
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1 Simon Sahner, Daniel Stähr – Die Sprache des Kapitalismus 4:09
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4:09In vielen gesellschaftlichen Bereichen spielt Sprachkritik eine immer größere Rolle. Sie basiert auf einer Grundüberzeugung der modernen Sprachphilosophie: Realität werde durch Sprache erst geschaffen oder zumindest stark mitgeformt. Wer die Sprache ändert, ändert auch die Realität, so der Glauben. In diesem Sinn haben sich der Literaturwissenschaftler Simon Sahner und der Ökonom Daniel Stähr nun die Sprache des Kapitalismus vorgenommen. Sie wollen den Bildern, Mythen und Selbsterzählungen unserer Wirtschaftsform auf den Grund gehen. Preise, die keine sind So kritisieren sie die Rede von den „steigenden“ oder gar „explodierenden“ Preisen. Das klinge so, als handelte es sich um einen Automatismus. In Wahrheit würden die Preise jedoch von den Unternehmern erhöht. Die oft katastrophischen Metaphern dienten dazu, davon abzulenken. Sahner und Stöhr sehen – nicht nur hier – die Notwendigkeit staatlichen Regulierens: „Die ‚Tsunamis‘ der Finanzwelt lassen sich verhältnismäßig einfach aufhalten. Wenn wir Angst vor einer ‚Flut‘ an Preiserhöhungen haben, hat die Regierung die Möglichkeit, durch Preisobergrenzen zu reagieren. Dadurch wird aus dem vermeintlichen Tsunami eine harmlose Welle.” Das mag in einzelnen Fällen funktionieren. Erstaunlich aber, dass die beiden Sprachkritiker nicht mitbedenken, dass staatlich festgesetzte Preise im Wortsinn gar keine Preise mehr sind. Preise bilden sich per definitionem auf Märkten. Die Heldengeschichten der Finanzwelt Interessant sind die Ausführungen über die Helden-Narrative der Finanzwelt, etwa in den Selbstdarstellungen erfolgreicher Börsenhändler oder in Filmen wie „Wall Street“, die vordergründig die Gier kritisieren, deren skrupellose Helden aber vielfach zu Idolen junger Börsenhändler wurden. Auch im Silicon Valley ist der geniale Einzelkämpfer der Protagonist vieler Heldenreisen ins Reich der Milliardäre. Steve Jobs zum Beispiel. Sahner und Stähr relativieren sein Genie mit Thesen der linken Mode-Ökonomin Mariana Mazzucato, die dargelegt habe, “…dass keines der technischen Bestandteile des iPhones tatsächlich von Apple geschweige denn von Steve Jobs persönlich erfunden wurde. Vielmehr handelt es sich bei allem, was Smartphones so nützlich macht, um staatlich geförderte und innerhalb staatlicher Strukturen entwickelte Neuerungen: der Touchscreen, der Zugang zum Internet oder auch das GPS. Steve Jobs ist kein technischer Visionär, sondern eher ein Marketing-Genie, das staatlich finanzierte Innovationen in die richtige Kombination gebracht hat und so zum Multimillionär geworden ist.” Eine interessante Perspektive. Allerdings zeigt sich auch hier, dass das Vertrauen der Autoren in staatliche Lenkung und staatliche Institutionen ebenso groß ist wie ihr Misstrauen gegenüber marktwirtschaftlichen Akteuren. Über weite Strecken ihres Buches stellen sie wirtschaftsliberale Formeln auf den Prüfstand, wie die von „Leistungsträgern der Gesellschaft“, der „unsichtbaren Hand des Marktes“, der „Gratismentalität“ oder der schwarzen „Welfare Queen“. Manchmal ist das eher banal als augenöffnend, etwa wenn die Autoren uns von der Fragwürdigkeit des Begriffs „Arbeitnehmer“ überzeugen wollen, weil die doch eigentlich ihre Arbeitskraft „geben“. Ideologische Schlagseite Am Ende wird die „Sprache des Kapitalismus“ als Hindernis beim Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel kritisiert. Wohllautende Formeln wie „grünes Wachstum“, „Technologieoffenheit“ oder das Konzept der „Klimaneutralität“ würden hinwegtäuschen über die massiven Transformationen, die die Autoren für nötig erachten. Spätestens, wenn sie eine postkapitalistische Zukunft beschwören und sich dabei auf Theorien wie Ulrike Hermanns „Überlebenswirtschaft“ oder den „Degrowth-Kommunismus“ des japanischen Marxisten Kohei Saito beziehen, wird die ideologische Schlagseite ihres ostentativ gegenderten Buches offenkundig. Wenn man es jedoch kritisch liest, kann man dennoch einige Orientierung für die aktuellen ökonomischen Debatten gewinnen.…
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Mit „Maror“ hat sich Lavie Tidhar etwas vorgenommen: Die Geschichte Israels von 1974 bis 2008 erzählen – und zwar als Geschichte der Gewalt, Korruption und Skrupellosigkeit. Es kamen immer mehr. Die Diebe, die Vergewaltiger, und hatte Bialik – oder war es Ben Gurion? – nicht geschrieben: »Erst wenn wir unseren eigenen hebräischen Dieb, unsere eigene hebräische Hure und unseren eigenen hebräischen Mörder haben, haben wir wahrhaftig einen Staat.« Hier wurde es wahr, dachte Benny. Hier wurde es Wirklichkeit. Quelle: Lavie Tidhar – Maror Das denkt der Verbrecher Benny auf der Party eines russischen Milliardärs in Tel Aviv 1994, auf der Politiker und Armee-Generäle mit Callgirls feiern – und fasst damit das programmatische Anliegen dieses Romans zusammen. Ein brisantes Vorhaben: In Israel ist der im Original auf Englisch geschriebene Roman bisher nicht erschienen. Bislang sicherheitshalber nur auf Englisch erschienen In einem Interview mit dem „Spiegel“ sagte Lavie Tidhar dazu, das Land sei noch nicht so weit, in israelischen Krimis gehe es immer darum, mit der Aufklärung der Tat die Welt vor dem Verbrechen wiederherzustellen. In „Maror“ lässt sich nichts wiederherstellen, das System läuft, ist im Innern aber kaputt. Eine streitbare, in sich aber stimmige Darstellung. Manches lässt sich unmöglich verhindern. Krieg. Drogen. Aber man kann sie verwalten. Und das machen wir. Wir halten die Stellung. Wir wahren den Frieden. Quelle: Lavie Tidhar – Maror Das ist die Überzeugung des korrupten Chief Inspector Cohen, der in diesem gewaltigen Epos im Hintergrund alle Strippen zieht. Ein Mann mit eiskalten Augen, stets ein Bibelzitat auf den Lippen. Ein Polizist, der auch fürs organisierte Verbrechen arbeitet, um die Stabilität des Landes zu wahren. Nach seiner Auffassung. Ob Attentat, Waffenschmuggel oder Landbesetzung, er tut, wovon er glaubt, was getan werden muss. Als der Libanonkrieg die Drogengeschäfte stört, sorgt er für einen neuen Lieferweg. Ab den 1980er Jahren führt ihn der Handel mit Drogen und Waffen bis nach Lateinamerika und Kalifornien. Nie zweifelt er, nie ist er zu fassen. Auch erzählerisch bleibt er im Hintergrund. Eine kluge Entscheidung: So spiegelt die Erzählung sein Wirken, wird er von den Figuren mal als eiskalter Mörder, mal als manipulierender Helfer wahrgenommen. Knapp 40 Jahre Kriminalitätsgeschichte In den knapp 40 Jahren, die die Handlung umfasst, steigt Cohen innerhalb der Polizei auf. Aber „Maror“ ist kein linear erzählter Roman: Episodisch springt er durch Raum und Zeit, in 18 Teilen tauchen Figuren auf und verschwinden wieder. Bis auf Cohen. Der bleibt. Die Verbrechen haben Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten und Personen. Dazu reichert Tidhar seine Verbrechensgeschichte mit vielen Alltagsbeobachtungen an. Wir laufen durch die Straßen von Tel Aviv, besuchen an der Seite von Polizisten, einer Reporterin oder auch einer Dealerin Nachtclubs und Bars. Oft läuft irgendwo Musik, die die Figuren hören und kommentieren. Im Mittelpunkt aber stehen stets die Verbrechen. Lavie Tidhar wuchs in einem Kibbuz auf Der 1976 in Israel geborene, in einem Kibbuz aufgewachsene und in London lebende Lavie Tidhar – bisher für seine Science-Fiction-Romane bekannt – ist nicht der erste Autor, der die Geschichte eines Landes anhand seiner Verbrechen erzählt. James Ellroy etwa hat das in seiner „Underworld USA“-Trilogie gemacht. Im Gegensatz dazu ist „Maror“ aber keine Verschwörungserzählung. Tidhars Erzählung folgt ausschließlich der knallharten Logik von Gier, Korruption und Macht. Es geht nicht um Ideologie, sondern um Kontrolle. In „Maror“ ist Israel ein Staat wie jeder andere – ein Staat, in dem Armeeangehörige unantastbar sind, Politiker, Polizisten und das organisierte Verbrechen zusammenarbeiten. In jeder Generation werden die Hoffnungen junger Menschen auf Frieden und Normalität aufs Neue zerstört. „Maror“ übt brachiale und provokative Kritik am israelischen Staatsapparat, ist aber niemals moralisierend, sondern mit viel Tempo und Härte erzählt. Fertig ist Tidhar mit seiner erschütternden Gegenerzählung der Geschichte Israels noch nicht: Mindestens einen Teil, der weiter in die Vergangenheit Israels hineinreicht, wird es noch geben.…
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1 Was liest Kamala Harris? Und wie couchsurft man durch die Ukraine? – Wir wissen es! 55:07
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55:07Diesmal im lesenswert Magazin: Was wir schon immer wissen wollten – Was liest Kamala Harris? Und wie couchsurft man durch die Ukraine? Hier kommen die Antworten!
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Havanna im März 2016: Kubas Hauptstadt ist im Ausnahmezustand. US-Präsident Barack Obama wird zu einem historischen Besuch erwartet, wenige Tage später wollen die Rolling Stones zum ersten Mal in dem sozialistischen Inselstaat auftreten. Als wäre all dies nicht schon genug Arbeit für die Polizei, wird ein ehemaliger hochrangiger Funktionär – ein gefürchteter Kunst-Zensor – tot aufgefunden. Grausam verstümmelt liegt er in seiner Luxuswohnung in einem Hochhaus mit Panorama-Blick. Mit diesem fiktiven Mord in einem realen zeithistorischen Kontext beginnt Leonardo Paduras Roman „Anständige Leute “. Wieder einmal wird der Ex-Polizist Mario Conde mit dem berühmt-berüchtigten siebten Sinn von seinen ehemaligen Kollegen um Hilfe gebeten, ein Verbrechen aufzuklären. Kurze Zeit später kommt noch ein zweiter Toter hinzu: Ex-Schwiegersohn des ersten Mordopfers. Beide hatten unter Fidel Castro viele Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Die Geschichte eines Kunst-Zensors unter Fidel Castro In Paduras Roman heißt der Zensor Reynaldo Quevedo. Personen wie ihn gab es tatsächlich im sozialistischen Castro-Regime. Quevedo verfolgte Künstlerinnen und Künstler wegen „ideologischer Abweichung“ und stellte Homosexuelle und Christen an den Pranger. Im Roman nimmt sich eine Dichterin deswegen das Leben. Nicht nur werden die Geächteten hart bestraft und dürfen ihre Kunst nicht mehr ausüben – Quevedo reißt sich auch Werke seiner Opfer unter den Nagel. Leonardo Padura schreibt: In den düsteren siebziger Jahren verkörperte Quevedo für die Künstlerkreise des Landes das Böse schlechthin. Er war ein bestenfalls mittelmäßiger Dichter, hatte einen ebenfalls bloß mittelprächtigen militärischen Dienstgrad inne und entsprach in jeder Hinsicht dem Typus des unerbittlichen Politikers, der krank vor Hass und Neid gegen alle Andersdenkenden vorgeht und seine Macht dabei rücksichtslos missbraucht. (…) Offensichtlich wegen seiner ausgeprägten inquisitorischen Neigung und angeborenen Boshaftigkeit hatte man ihn zum Anführer einer mit der Verfolgung, Schikanierung und Ausgrenzung von kubanischen Schriftstellern und Künstlern beauftragten Gruppe bestimmt, die jahrelang ungehindert ihr Unwesen trieb. Quelle: Leonardo Padura – Anständige Leute Mit der Unterdrückung der kubanischen Kunstwelt, die in den 1970er Jahren besonders brutal war, berührt Leonardo Padura ein kaum aufgearbeitetes Kapitel der jüngeren Geschichte seines Landes. Dass die beiden Morde in seinem Roman etwas mit diesen schmerzhaften Geschehnissen zu tun haben, wird rasch klar. Der berühmte kubanische Zuhälter Alberto Yarini (1882-1910) tritt auf Aber in „Anständige Leute “ gibt es auch noch einen zweiten, nicht minder fesselnden Erzählstrang. Padura vertieft sich in das abenteuerliche Leben einer kubanischen Legende: Alberto Yarini, Zuhälter-König und charismatischer Patriot mit politischen Ambitionen, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Havanna vom Volk verehrt wurde. Auch sein Leben endete nicht gut. Auf den ersten Blick haben die beiden abwechselnd erzählten Geschichten nichts miteinander zu tun, aber nach und nach offenbaren sich Berührungspunkte. Anständig, was für ein schönes Wort, nicht wahr? Auch ich war zeitlebens ein anständiger Mensch. (…) Ach ja, und vergessen Sie nicht: Die Vergangenheit lässt sich nicht auslöschen, und die Geschichte geht nie zu Ende. Quelle: Leonardo Padura – Anständige Leute schreibt der Mörder des Kunst-Zensors, nachdem er aufgeflogen ist, an den Ermittler Conde. Paduras Roman kommt immer wieder auf den Begriff der Anständigkeit zurück. Kann man einen Mord begehen und trotzdem anständig sein – weil das Opfer ein skrupelloses Monster war? Oder: Wie bleibt man anständig, wenn Doppelmoral und Korruption alles beherrschen? – ob nun in der heutigen Diktatur oder vor 100 Jahren, als Prostitution, Drogenhandel und Glücksspiel auf Kuba blühten und auch Polizei und Politik durchdrangen. Leonardo Padura schlägt mit diesen Fragen gekonnt einen Bogen zwischen beiden Handlungssträngen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ermittler Conde wirft einen luziden und desillusionierten Blick auf Kuba Er lässt sein Alter Ego , den chronischen Pessimisten Mario Conde, luzide und desillusionierte Blicke auf seine Heimat werfen. Gerade auch auf die Prostitution, allgegenwärtig im vorrevolutionären Havanna, aber auch heute für viele Kubanerinnen und Kubaner ein Ausweg aus ihrer wirtschaftlichen Misere. Wir erleben durch die Augen Condes, der abends in einem angesagten Restaurant als Security-Mann jobbt, die krassen Gegensätze im Land: Da sind die Pechvögel, die im realexistierenden Sozialismus kaum über die Runden kommen, und die Glücklichen, die Devisen ergattern und sich viele Annehmlichkeiten leisten können. In den Tagen rund um den Obama-Besuch und das Stones-Konzert, in denen Leonardo Padura seinen Roman ansiedelt, herrschte bei vielen Kubanern Euphorie und Hoffnung auf mehr Freiheiten und wirtschaftliche Besserung. Dass das nicht anhalten würde, sieht Ermittler Mario Conde voraus: Die Leute tun so, als wäre die Schule aus, dabei ist das hier bloß die kleine Pause. Die Lehrer und ihre Helfer stehen immer noch mit dem Stock in der Hand da und überwachen alles, aber das scheinen die Leute überhaupt nicht mitzubekommen. Quelle: Leonardo Padura – Anständige Leute Ein unterhaltsamer und traurig aktueller Roman „Anständige Leute “ ist ein traurig aktuelles Buch, denn die Kunst-Zensur auf Kuba gehört nicht der Vergangenheit an. Auch heute werden unabhängige Kulturschaffende gegängelt. 2018 erließ die Regierung ein Dekret, das Zensur und Einschränkungen der Kunstfreiheit festschrieb. Auf Proteste aus der Kulturszene folgten Verhaftungen und Verurteilungen. Künstler sitzen im Gefängnis, andere sind ins Exil gegangen. Padura packt das schwere Thema in einen unterhaltsamen, allerdings etwas ausschweifenden Krimi, vor allem aber ist „Anständige Leute “ ein Gesellschaftsroman mit erhellenden Einblicken in Kubas Abgründe und Umbrüche.…
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Buchempfehlungen von Politprominenz sind meistens dreierlei: Fast immer geht es um Imagepflege, nicht selten um die Darstellung intellektueller oder politischer Positionen und oft auch um echte persönliche Interessen. Bei Kamala Harris treffen alle drei Aspekte zusammen. Und seit Präsident Joe Biden sie als demokratische Präsidentschaftskandidatin ins Spiel gebracht hat, ist das Interesse an ihren bevorzugten Lektüren umso größer. Da kommt das „Börsenblatt des Deutschen Buchhandels“ gerade recht, indem es uns verrät, was die Hoffnungsgestalt aller Trump-Gegner gerne liest und weiterempfiehlt. Neu ist das allerdings nicht, denn die fünf Titel, die Kamala Harris als ihre All-Time Favourites bezeichnet, sind seit rund zehn Jahren die gleichen. Was also steht auf dieser Bücherliste? Was lässt sich daraus ablesen? Fulminante Einwanderergeschichten Sofort ins Auge fällt der Roman „Drachenläufer“ des afghanischen Diplomatensohnes Khaled Hosseini, dessen Familie 1980 Asyl in den USA erhielt. Der Roman handelt vom Niedergang Afghanistans unter den Taliban und von der Emigration in die USA. Er wurde nach der amerikanischen Erstausgabe 2003 zum Weltbestseller, es folgte die Verfilmung, der Autor gewann Prominentenstatus. Zu den Migranten mit fulminanter Einwanderungskarriere gehört auch die Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie. Sie zählt mit ihrem Erzählband „Heimsuchung“ ebenfalls zu den Auserwählten von Kamala Harris. Mit 19 kam die Professorentochter zum Studium in die USA und absolvierte erfolgreiche Abschlüsse an den Ivy-League-Universitäten Princeton und Yale. Gute Voraussetzungen also, um aus feministischer Sicht über Erfahrungen zu schreiben, bei denen sich Identitätsprobleme und postkoloniale Verhältnisse reibungsvoll überlagern. Auch Harris‘ Eltern gehören zur migrantischen Oberklasse Anders als Donald Trump, der für einen Kapitalismus der ungebremsten persönlichen Bereicherung steht, zeigt Kamala Harris viel Empathie für Zuwanderer und ihre Herkunftsgeschichten. Unverkennbar ist sie aber auch fasziniert von sozialem Aufstieg und Erfolg. Denn der Afghane Hosseini und die Nigerianerin Adichie stehen für die Literatur einer migrantischen Elite. Dasselbe Erfolgsmuster bestätigt auch Amy Tans Roman „Töchter des Himmels“, die dritte Buchempfehlung mit Migrationsthematik. In diesem Fall handelt es sich um die chinesische Variante einer Aufstiegsgeschichte in den USA. Parallelen mit Kamala Harris eigener Biographie sind leicht zu erkennen. Auch ihre Eltern gehören zur migrantischen Oberklasse. Die Tochter machte standesgemäß eine steile Karriere als Juristin und Politikerin. Rassismus, Polizeigewalt und Justizwillkür Das andere große Thema der Reading List von Kamala Harris ist der Rassismus gegenüber Afroamerikanern. Dazu nennt sie zwei Bücher: Zum einen den afroamerikanischen Klassiker „Sohn dieses Landes“ von Richard Wright aus dem Jahr 1940 über den unaufhaltsamen Weg eines jungen Schwarzen vom armseligen Ghetto-Alltag bis hin zum elektrischen Stuhl. Wie ein aktueller Kommentar dazu liest sich die fünfte Empfehlung: Das ist ein Erfahrungsbericht des Strafverteidigers und Bürgerrechtlers Bryan Stevenson, der sich unter dem Titel „Ohne Gnade“ mit „Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA“ auseinandersetzt. Diese Empfehlung könnte bedeuten, dass eine Präsidentin Kamala Harris der Verbesserung eines ethnisch ungerechten Justizsystems besondere Aufmerksamkeit widmen möchte. Mehr menschliche Anteilnahme im Weißen Haus? Kamala Harris setzt mit ihren Buchfavoriten starke Signale. Dazu gehört auch dieses: Alle fünf der genannten Bücher stammen von People of Colour. Weiße Literatur kommt nicht vor, die Liste all dessen, was Kamala Harris bei ihren Lektüren ignoriert, wäre lang. Das könnte zu einem Problem werden. Denn die schwierigen Wählergruppen der Modernisierungsverlierer, gleich ob schwarz oder weiß, werden sich in diesen Lektüreempfehlungen kaum wiedererkennen. Trotzdem verraten die literarischen Vorlieben von Kamala Harris einen großen Sinn für menschliche Anteilnahme. Und der wäre im Weißen Haus auf jeden Fall gut zu gebrauchen.…
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1 Stephan Orth – Couchsurfing in der Ukraine 14:31
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14:31Jetzt hat Stephan Orth, der früher Redakteur im Reiseressort von Spiegel Online war, die Ukraine bereist. Seine erste Reise in ein Land im Krieg. Ausgehend von Kiew, wo seine Freundin lebt, hat er große und kleine Städte im Norden, Westen, Süden und Osten der Ukraine bereist. Überall waren die Auswirkungen des russischen Angriffs spürbar, besonders natürlich in den Städten nahe der Front. Davon erzählt Stephan Orth in seinem neuen Buch „Couchsurfing in der Ukraine“. SWR-Literaturredakteurin Katharina Borchardt hat mit ihm über seine Reiseerfahrungen gesprochen.…
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Der Rhein und die Donau sind oft besungen worden. Das haben der zum Mythos verklärte Vater Rhein und die schöne blaue Donau, die im Walzer von Johann Strauss gefeiert wird, der Elbe voraus, dem drittgrößten, aber weit weniger beachteten deutschen Strom. „Warum ist es am Rhein so schön?“, fragt das Volkslied. Warum es an der Elbe so schön ist, das fragt nun der Journalist Burkhard Müller. Seine knappe Antwort: Weil dieser Fluss ein so weites, reiches und tiefes Land durchfließt; und weil so wenige, auch wenn sie schon mal in Hamburg eine Hafenrundfahrt gemacht oder die Dresdner Semperoper besucht haben, ihn wirklich kennen. Quelle: Burkhard Müller – Die Elbe Unbekanntes und Übersehenes Über das zweite „weil“ stutzt man zunächst. An der Elbe soll es schön sein, weil wenige den Fluss kennen? Vermutlich meint Müller damit, dass gerade in der Abgeschiedenheit vieler Elbe-Regionen deren besonderer Reiz liegt. Die unklare Formulierung ist eine Ausnahme in einem Buch, das in einer flüssigen, pointierten Sprache geschrieben ist. In seinem „Porträt eines Flusses“ holt der Autor viel Unbekanntes und Übersehenes ein. Müller hat für das Buch zehn Reisen an die Elbe unternommen. Er war mit dem Auto, zu Fuß und auf Schiffen unterwegs. Er berichtet von der Gegenwart und taucht mit langem Atem ab in die Geschichte. Überhaupt, was für Berufsbilder es damals am Strom gab! Jedes Schiff hatte seine Mannschaft. Es gab Wassermüller, die auf Schiffsmühlen arbeiteten (diese schwammen auf dem Fluss, hoben und senkten sich mit ihm und waren daher immun gegen Hoch- und Niedrigwasser), Waschfrauen, die heftig scheuernd ihre Wäsche im Fluss reinigten, auch sie ausgerüstet mit eigenen Waschschiffen, Fischer, Gastwirte, Blumenverkäuferinnen ... Die Elbe muss damals ein anderes Bild geboten haben als heute, wo sie über die längsten Strecken so gut wie menschenleer ist (immer die Elbradler abgerechnet). Quelle: Burkhard Müller – Die Elbe Die Elbe, so hält Müller fest, war einmal „die Achse Preußens“ und des Kaiserreichs. Die Bedeutung, die ihr aufgrund der Mittellage einmal zukam, entfiel jedoch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Russen und Amerikaner trafen sich 1945 als Verbündete an der Elbe. Aber nur wenige Jahre später wurde ein Teil des Flusslaufs zur innerdeutschen Grenze und zugleich zur Grenze zweier Machtblöcke. Für den Rheinländer Adenauer begann östlich der Elbe die asiatische Steppe. Jahrzehntelang lag der Hauptteil des Flusslaufs in der DDR, die Mündung aber in der Bundesrepublik. Als wichtiger Schiffsweg fiel die Elbe deshalb größtenteils aus, und so ist es bis heute geblieben. Abstecher ins Umland Burkhard Müller folgt der Elbe von der Quelle im tschechischen Gebirge, die offenbar nur schwer aufzufinden ist, bis zur Mündung, wo der breite Strom hinter Hamburg beinah einem Meer gleicht. Kapitel über Dresden, Magdeburg und Hamburg dürfen in einem Buch über die Elbe kaum fehlen. Aber reizvoller ist die Begegnung mit den ländlichen, weniger bekannten Räumen. Immer wieder unternimmt der Autor auch kleinere, lohnende Abstecher ins Umland. Zum Porträt des Flusses gehört für Müller auch dessen Einzugsgebiet. Bitterfeld verfügt heute über eine Weiße Flotte, die über die alten Kohlelöcher fährt; das tief im Binnenland gelegene Leipzig hat sich eine weitgefächerte Badezone zugelegt. So ungeheuer sind die Abmessungen dieser Umwälzung, dass noch längst nicht alles davon entwickelt worden ist. Manche der alten Tagebaue laufen erst allmählich voll und werden dafür noch Jahre brauchen. Quelle: Burkhard Müller – Die Elbe Burkhard Müller ist nicht der erste Fluss-Biograf. Es gibt Biografien der Donau und des Rheins. Und auch über die Elbe wurde schon geschrieben. Es sind Reisen in den Raum und in die Zeit, zu denen all diese Autoren einladen. Einem so kenntnisreichen und eloquenten Führer wie Burkhard Müller vertraut man sich gerne an.…
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1 Barbara Bleisch – Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre 4:09
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4:09In den mittleren Jahren, also zwischen fünfunddreißig und fünfundsechzig, stellt sich oft ein Gefühl innerer Leere ein. Man blickt auf das bisher Erreichte zurück und fragt sich, ob das nun alles gewesen sein soll oder ob da noch etwas ganz Neues kommen kann. Die Philosophin Barbara Bleisch, Jahrgang 1973, lässt keinen Zweifel daran, dass sie die Lebensmitte für eine Zeit großer Fülle hält. Die mittleren Jahre können sich als eine Zeit erweisen, in der wir hoffentlich von unserer Lebenserfahrung profitieren und gefestigt im Leben stehen, zugleich aber den jugendlichen Übermut abgelegt haben, weil wir bereits erfahren konnten, dass sich Langmut, Sorgfalt und Geduld auszahlen. Sie werden damit – aristotelisch verstanden – zu ‚Jahren des Mittleren‘, in denen wir zu den besten Versionen unserer selbst heranzuwachsen vermögen. Quelle: Barbara Bleisch – Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre Die Landschaft der eigenen Möglichkeiten Die mittleren Jahre sind eine Art terra incognita. Die früheren Entscheidungen sind oft nicht mehr stimmig, aber neue Wege sind noch nicht in Sicht. Eine gute Ausgangssituation für eine philosophische Untersuchung, findet Barbara Bleisch und zitiert Ludwig Wittgenstein, der die Einsicht, sich nicht auszukennen, als Grundform jedes philosophischen Problems ansah. Barbara Bleisch erteilt keine wohlfeilen Ratschläge. Sie hat vielmehr eine, wie sie es nennt, „Landkarte für die Wanderung durch die Landschaft der eigenen Möglichkeiten“ geschrieben. Mit Barbara Bleisch auf diese Wanderung zu gehen, ist faszinierend und erhellend. Während wir in der Jugend lernen mussten, uns gegen Autoritäten abzugrenzen und eine eigene Stimme zu finden, müssen wir uns in der Lebensmitte aufrichtig mit uns selbst befassen ... …indem wir uns die Freiheit nehmen – aber auch immer von Neuem den Mut aufbringen -, uns dem zuzuwenden, was uns überzeugt, begeistert und erfüllt. Dabei ist dieser Prozess stets ein suchender, schrittweiser, ein Vor und Zurück, nicht zuletzt auch weil das, was wir erfahren, uns seinerseits wieder prägt und formt und wiederum anders und neu wählen lässt. Quelle: Barbara Bleisch – Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre Endlichkeit bedeutet Bedrohung, aber auch Intensivierung Im Sinne Sokrates’ dreht und wendet Barbara Bleisch jedes Argument und fragt, ob nicht auch das Gegenteil zutreffen könnte. Unsere Endlichkeit zum Beispiel bedeutet sowohl Bedrohung, lässt sich aber auch als Intensivierung erleben: In der uns noch verbleibenden Zeit müssen wir unsere Entscheidungen bewusster treffen, lernen aber das, was wir erleben, mehr zu schätzen. Für Heidegger war das Nachdenken über den eigenen Tod sogar eine „Bedingung des gelingenden Lebens“. Die mittleren Jahre sind allerdings auch anfällig für Krisen, denn die vorläufige Bilanz des gelebten Lebens enthält Erfolge und Höhepunkte ebenso wie enttäuschte Hoffnungen. Barbara Bleisch empfiehlt, Umwege und Abwege nicht zu bereuen, denn oft fehlten uns zum Zeitpunkt der Entscheidung wichtige Informationen oder der eingeschlagene Weg hat uns so verändert, dass wir die Entscheidung heute anders bewerten. Gerade die Umwege, schreibt Bleisch, gehören zu unserem wichtigsten Erfahrungsschatz. Ein inspirierender Wanderführer Dieses Buch bietet eine Fülle an Fragen und Einsichten und ist ein inspirierender Wanderführer durch eine Lebenszeit, die voller Stolpersteine ist. Welches Fazit zieht Barbara Bleisch aus dieser Lebenszeit, in der sie sich selbst befindet? Lieber überschäumend vor Träumen und Sehnsüchten sein und einsehen müssen, dass nicht alles gelebt werden kann, was einen reizt, als ein langweiliges Schalentier oder eine deprimierte Person, die gar keine Sehnsucht kennen. Quelle: Barbara Bleisch – Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre…
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1 Joann Sfar – Der Götzendiener | Buchkritik 7:00
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7:00Natürlich hat der Comic-Autor Joann Sfar mehrere Götter. Einer von ihnen ist Serge Gainsbourg. Am 2. März 1991 erfuhr ich in einer Seilbahn vom Tod Serge Gainsbourgs. Ich bin in dem Wintersportort, in dem meine Mutter siebzehn Jahre zuvor gestorben ist. Ich nehme Gainsbourgs Tod zu ernst. Irgendwas läuft hier schief. Ich wusste kaum etwas vom Tod meiner Mutter, also weine ich um Serge Gainsbourg. Quelle: Joann Sfar – Der Götzendiener Comic über die Leere nach dem Tod der Mutter Über Serge Gainsbourg hat Joann Sfar 2010 einen Spielfilm gedreht. Doch die Trauer um das tote Idol steht hier für eine andere Trauer: Joann Sfars Mutter ist gestorben als er drei Jahre alt war. Jahrelang verschwieg ihm sein Vater, ein angesehener Rechtsanwalt in Nizza, ihren Tod. Die Mama sei verreist. In seinem neuesten autobiografischen Band „Der Götzendiener“ setzt sich der Comic-Zeichner Joann Sfar mit der Leere auseinander, die der Tod seiner Mutter hinterlassen hat. Ein Elefant im Raum. Ich kann ohne Ende essen. Ich fühle mich nie voll. Manchmal tusche ich sogar schwarze Flächen mit einer Schreibfeder. Das ist sehr befriedigend. Aber es hört nie auf. Quelle: Joann Sfar – Der Götzendiener Gespräche prägen diesen Band, Gespräche von Joann Sfar mit seinem Psychotherapeuten und einem Rabbi in Nizza. Aber Theologie und Psychoanalyse bilden nur einen Rahmen. Wirklich persönlich ist dieser Comic, weil Joann Sfar sich auf die Suche macht, nach den Ursprüngen seiner Kunst. Warum ist er Zeichner geworden? Mit dem Zeichnen und Malen haben jedenfalls die wenigen Erinnerungen an seine Mutter zu tun. Suche nach den Ursprüngen seiner Kunst Zum Beispiel Asterix: Meine Mutter lebt da noch. Ich male mit dem Kugelschreiber in ihren Asterix-Erstausgaben herum. Nicht, um sie zu beschädigen. Sondern, weil ich betört bin von Uderzos Zeichnungen und davon träume, das auch zu können. Oder besser, mich auf die eine oder andere Weise an seinen Zeichnungen zu beteiligen. Aber diesmal bekomme ich wenige Komplimente. Und auch nicht, als Mama geweint hat, weil ich die weißen Tiere auf einer Kinderdecke ausgemalt hatte. Ich sehe meine Mutter mit hochgekrempelten Jeans im Bad, wie sie weinend die Decke reinigt. Ich weiß, dass es meine Schuld ist, und es macht mich noch heute traurig. Denn es ist eine der lebendigsten Erinnerungen an sie. Quelle: Joann Sfar – Der Götzendiener Wenn sein Therapeut ihn auf das Fehlen der Mutter anspricht, antwortet Sfar, dass er lieber ein Buch darüber zeichnen würde. Das Zeichnen, das Leben in Bildern, das Leben als Bildermacher: Wenn es die Leere füllt, wird es dann zum Lebensersatz, eine Flucht vor dem Leben? Wenn du ein Bild mehr liebst als die Wirklichkeit, bist du verloren. Hier ein konkretes Beispiel: Ich bin bei einer Brünetten und verschüchtert. Sie will unbedingt, dass ich mit ihr schlafe. Wir haben uns gerade kennengelernt. Ich fühle mich unwohl. Sie anzusehen, würde mir reichen. Sie macht alles viel schneller als ich. Sie ist vor mir nackt. Das stresst mich. Ich ziehe mich mental zurück. Ich fange an, sie in meinem Kopf zu zeichnen. Wussten Sie das? Dass ein Zeichner sogar ohne Stift in der Hand zeichnet? Wenn ich zeichne, krieg ich keinen hoch. Mit einer Autorität wie der von Francois Mitterand oder meiner Großmutter väterlicherseits, erklärt sie: Und doch wird es passieren müssen! Schließe die Augen! Und sobald ich die Augen schließe, krieg ich einen hoch. Verstehen Sie? Zeichnen und Leben, beides gleichzeitig ist nicht so einfach. Quelle: Joann Sfar – Der Götzendiener Der Comiczeichner – ein Götzendiener? Eine typische Joann Sfar Szene. Auch, was den Humor betrifft. Denn unten auf der Seite mit der Sex-Szene, die von der Kunst handelt, die dem Leben in die Quere kommt, zeichnet Sfar eine Katze, die einen Vogel gefräßig anschaut und ihm zuraunt: Schließ die Augen! Und vom kleinen Witz springt Joann Sfar dann unvermittelt zum nächsten großen Thema: Neben der Trauer und dem schwierigen Verhältnis von Kunst und Leben befragt Sfar auch seine jüdische Identität. „Götzenanbetung ist, wenn man sich lieber einem Bild anvertraut als der Welt.“ Sagt der befreundete Rabbi zu dem jungen Comiczeichner. Das zweite Gebot Moses, das Bilderverbot: vielleicht folgt es auch der lebensklugen Einsicht, dass ein Glaube, der sich perfekte Bilder macht und in der bildlichen Perfektion erstarrt, das Leben mit erstarren lässt. Bin ich als Comiczeichner dann ein Götzendiener, der „sich in eine Welt flüchtet, die nicht diese Welt ist“? Fragt sich der junge Joann Sfar. Und die existentialistische Frage zieht sich durch den Band. Joann Sfar hat Philosophie studiert. Aber so grundsätzlich er die Fragen von Tod und Leben und Kunst stellt, so spielerisch sind seine Antworten. Denn alle Antworten liegen in den Zeichnungen selbst. Sfar ist für seinen ungenau-krakeligen, expressiven Stil berühmt. Die Rahmen der Panelbilder sind nicht präzise geometrisch gezogen, sondern mit freier Hand und erinnern an die Form von Sprechblasen. Das heißt, jedes Bild ist gewissermaßen eine große Sprechblase. Deutlicher geht es kaum, wenn man als Comicautor vor allem seine Zeichnungen sprechen lassen will. Zeichnen ist Leben Mitten im neuen Band stellt Joann Sfar die Frage, ob das Zeichnen selbst seine Religion ist. Und die Antwort enthält den ganzen Joann Sfar. Denn er erzählt mit wilden Strichen, wie im Mittelalter ein paar anarchistische Mönche, den altfranzösischen Fuchsroman, den „Roman de Renart“, mit seinen humoristischen Parabeln verfassen. Das ist so kindlich wie ironisch, so abenteuerlustig wie fantasievoll. Man versteht sofort, warum die klassischen Superhelden und B-Movie-Monster für Sfar so wichtig sind, wie seine philosophischen Studien. „Schreiben wir, was wir sehen. Also Quatsch!“ ist das Motto der mittelalterlichen Klosterschreiber. Und ganz in diesem Sinne antwortet Joann Sfar auf die Frage, ob es schlimm sei, sich in eine Welt zu flüchten, die nicht diese Welt ist: Nein! Ich liebe es! Man muss in der Küche arbeiten, oder im Wohnzimmer, inmitten seiner Liebsten. Man braucht Cafés, Bänke, den Wind und dass man unentwegt gestört wird. Das Zeichnen wird nicht abhandenkommen. Zu versuchen, weniger zu zeichnen, wenn man es so sehr liebt, ist morbid. Wenn Du das Gefühl hast, bei deinen Toten zu sein, wenn du schreibst, brich alles ab. Zeichnen, das ist das Leben! Quelle: Joann Sfar – Der Götzendiener…
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1 Ausbruch aus dem Leben mit Mitte Vierzig – Furioser Roman von Miranda July „Auf allen Vieren“ | Gespräch 9:32
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9:32Das Buch erkundet die komplexen Sehnsüchte von Frauen jenseits von Hochzeit und Familiengründung und widmet sich einem Lebensabschnitt, der sonst in der Literatur kaum Beachtung findet: der Perimenopause, der Dekade vor dem Einsetzen der Wechseljahre. Ein Buch, das selbstbestimmt und wahrhaftig von Sexualität und vielfältigem Begehren handelt, das sich von den Konventionen der Ehe nicht mehr bändigen lässt. Ein utopisches Nachdenken über den Raum, den Frauen brauchen, um ihr Leben neu zu definieren – meint Eva Marburg im Gespräch.…
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1 Jessica Lind – Kleine Monster | Buchkritik 5:55
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5:55Man darf sich Pia, Jakob und ihren kleinen Sohn Luca eigentlich als eine glückliche Familie vorstellen. Bis zu jenem Tag, an dem Lucas Grundschullehrerin die Eltern zu einer Unterredung in die Schule bittet. Etwas ist passiert. Ein Zwischenfall mit einer Mitschülerin, als Luca mit ihr allein im Klassenzimmer war. Mädchen, so sagt die Lehrerin, denken sich so etwas nicht aus. Der Vorfall, dessen Details Jessica Lind ganz bewusst im Vagen lässt, hat Folgen. Zunächst einmal werden Jakob und Pia stillschweigend aus der Eltern-WhatsApp-Gruppe der Klasse entfernt. Dort, so wissen sie, wird nun über ihren Sohn geredet, ohne dass sie ihn verteidigen können. Was hat der eigene Sohn getan? Vor allem aber in Pia, der Ich-Erzählerin von „Kleine Monster“, nisten sich Zweifel gegenüber ihrem Sohn ein. Verschweigt Luca den Eltern etwas? Sind Kinder so unschuldig, wie die Eltern stets glauben? Oder stecken in ihnen tatsächlich, wie der Romantitel suggeriert, manipulative „Kleine Monster“? Jessica Lind beschreibt den Wandel, der in ihrer Ich-Erzählerin schleichend vonstatten geht, folgendermaßen: Jessica Lind erzählt : „Zu Beginn ist Pia eine ganz normale Mutter, die ihren Sohn Luca über alles liebt, doch durch diesen Vorfall in der Schule beginnt sie ihn mit anderen Augen zu sehen und fragt sich, ob er irgend etwas vor ihr verbirgt. Gleichzeitig erinnert sie sein Verhalten an ihre eigene Kindheit und das Aufwachsen mit ihren Schwestern. Sie sieht vor allem ihre Adoptivschwester Romi in ihm, und um Romi war immer ein Geheimnis. Ihre Schwester hatte sie irgendwie nie ganz verstanden, das ist aber keine Frage der Liebe an sich. Pia fühlt sich für Luca verantwortlich und deswegen sieht sie es als ihre Aufgabe, hinter sein Geheimnis zu kommen.“ „Kleine Monster“ ist ein raffiniert gebauter, doppelbödiger Roman. Denkt man zunächst, dass Jessica Lind wieder einmal den Versuch unternehmen könnte, das Zeitgeistthema „Regretting Motherhood“ einem Roman überzustülpen, zeigt sich bald, dass es Lind um etwas Anderes geht. Der zweite Handlungsstrang des Romans erzählt von Pias Aufwachsen und von ihrem Verhältnis zu den eigenen Eltern. Pia war die älteste von drei Schwestern. Romi, die mittlere Schwester, kam als Adoptivkind in die Familie und versuchte seit der frühen Kindheit ihren eigenen Weg zu gehen. Linda, die jüngste Schwester, der Pias Sohn Luca verblüffend ähnlich sieht, ist im Alter von vier Jahren in einem See in der Nähe ihres Elternhauses ertrunken. Pia lag zu diesem Zeitpunkt krank im Bett; Romi hat, so wird es erzählt, noch versucht, die Schwester zu retten. Tragischer Unfall ist das Herz des Romans Dieser tragische Unfall ist das heimliche, traumatische Zentrum des Romans. Er bestimmt Pias Blick auf Erziehung, Partnerschaft und ein Familiengefüge, das nach dem Tod der Schwester zu implodieren drohte. Die Eltern wurden hart, peinigten die Kinder, vor allem Romi, so lange mit Strafen, ellenlangen Verbotslisten und Züchtigungen, bis diese sich lossagte und das Haus verließ. Jessica Lind hat an der Wiener Filmakademie Drehbuch studiert. Und auch wenn sie hin und wieder etwas überexplizit wird und die Handlungsmotive ihrer Figuren eine Spur zu deutlich kommentiert, hat Lind andererseits ein gutes Gespür für den Aufbau von Szenen und auch für Dialoge. Sei es in Pias Kommunikation mit ihrer Mutter, sei es in der Auslotung ihrer Beziehung zu Jakob oder auch im Umgang mit ihrem Sohn Luca – Lind inszeniert die Institution Familie als eine permanente Konkurrenzsituation. Um ein Buhlen um Zuwendung, Aufmerksamkeit, Zeit und Status. Zugleich aber bewertet Pia ihre Erinnerung an ihre Kindheit noch einmal neu, wie Jessica Lind erklärt: „Ich glaube, Pia ist am Anfang gar nicht bewusst, wie sehr sie das Trauma ihrer Kindheit begleitet und wie sehr es auch ihr Verhalten prägt. Dieser Prozess, dass sie sich mit der Vergangenheit beschäftigt, sich ihre eigene Kindheit noch einmal anschaut und beginnt, Sachen neu zu bewerten – das passiert erst im Laufe des Romans und ist auch das Zentrum der Geschichte. Ich glaube, dass wir in unserem Dreißigern, egal ob wir Kinder haben oder nicht, plötzlich mit anderen Augen auf unsere Kindheit blicken und vielleicht draufkommen, dass manches, was wir sicher geglaubt haben, doch zumindest mit einem anderen Beigeschmack, mit einer anderen Note auch noch betrachtet werden kann.“ Ein Text voller Falltüren Auch diese Einsicht hebt „Kleine Monster“ über eine rein privatistische Geschichte heraus ins Allgemeingültige. Der Roman wirft auch die Frage auf, inwieweit Generationen untereinander fair und gerecht übereinander urteilen. Das Geschehen bekommen wir ausschließlich durch den Filter von Pias Weltsicht präsentiert. Eine Weltsicht, in der durchaus auch finstere, zerstörerische Tendenzen Platz haben. Vor dem Spiegel übt Pia das Lächeln, denn wenn sie lächele, so sagt sie es, sehe man ihr ihre Gedanken nicht an. Auf engem Raum von rund 250 Seiten ist „Kleine Monster“ ein an der Oberfläche eher distanziert-kühler Text, in dem sich immer wieder Falltüren öffnen. Das weiß auch die Autorin: „Generell ging es mir bei „Kleine Monster“ darum, dass große Gefühle in Familien eben sehr nah beieinander liegen können. Liebe und Hass, Nähe und Distanz sind nur zwei Beispiele, und sich das anzuschauen in diesem Schmelztiegel Familie, wo das Ganze auch hochkochen kann, das interessiert mich sehr und deswegen mache ich das auch gerne zum Schauplatz meiner Geschichten.“ Einer Geschichte, die im Fall von „Kleine Monster“ auf hintergründige Weise zu überzeugen vermag.…
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1 Alle sieben Jahre eine Plage. Comic „Alles Gute“ von Lena Steffinger | Gespräch 7:56
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7:56Zwischen Hysterie und Kommerz Von diesem Zustand zwischen Vorbereitung und Unwissenheit, Hysterie und Kommerz erzählt die Stuttgarter Comiczeichnerin Lena Steffinger in ihrem Band „Alles Gute“. Inspiriert dazu hat sie das Leben in der Corona-Pandemie: „Ich mir hab mir gedacht, es wäre ganz praktisch, wenn ein Unglück nur alle sieben Jahre passiert, aber gleichzeitig habe ich mich gefragt, ist das wirklich eher gut oder eher schlecht. Es ging um die Regelmäßigkeit und die Vorhersagbarkeit und was das mit den Menschen macht“ sagt Lena Steffinger im Gespräch mit SWR Kultur.…
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1 „Wir machen Bücher aus Leidenschaft“ – Der Klaus Wagenbach Verlag wird 60 12:37
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12:37Kunstgeschichte und Netzphänomene Im Gespräch mit SWR Kultur sagt Schüssler, es sei bis heute das große Anliegen des Verlages, Bücher aus Leidenschaft zu machen: „Wir brennen für bestimmte Themen und versuchen, diese Themen und diese Bücher durchzusetzen. Und neben einer Vasari-Gesamtausgabe mit den Texten des „Vaters der Kunstgeschichte“ machen wir auch leichte Dinge und spielerische Dinge. Und wir machen Dinge, die auch in die Zukunft gucken. Also nicht nur nach hinten.“ Ein Beispiel. Die Reihe „Digitale Bildkulturen“ mit Texten über Phänomene wie Emojis, Memes oder Netzfeminismus. Italien-Reise prägte Klaus Wagenbach Ein anderer wichtiger Schwerpunkt: italienische Literatur. Kaum ein anderer deutschsprachiger Verlag hat so viel italienische Literatur im Programm wie der Klaus Wagenbach Verlag. Der Grund dafür sei eine sehr persönliche Geschichte. Klaus Wagenbach radelte von Frankfurt aus mit dem Fahrrad durch ganz Italien. Sein Interesse sei zu einem die Kunstgeschichte gewesen und zum anderen ein politisches: „Es hat ihn interessiert, wie eine Nation mit der faschistischen, mit der nazistischen im deutschen Falle, Vergangenheit umgeht. Also der Unterschied zwischen Italien und Deutschland, und es hat ihn dann nicht mehr losgelassen, und so ist er bei Italien geblieben“, so Schüssler. 60 Jahre Wagenbach heißt 20 Jahre Susanne Schüssler 2003 übernahm Susanne Schüssler die Verlagsleitung. Was auffällt: Viele junge italienische Autorinnen prägen das Programm des Wagenbach Verlages. Der Verdienst von Susanne Schüssler? Das ist so passiert, sagt die Verlegerin: „Die italienische Literatur wie wahrscheinlich alle Literaturen war sehr männlich geprägt, über lange Zeit und ohne es zu wollen oder zu forcieren, ist uns plötzlich aufgefallen, dass wir hauptsächlich Frauen ins Programm genommen haben, nicht nur in Italien, sondern auch in anderen Sprachen. Wir sind sehr, sehr weiblich in unserem Programm geworden, und es macht Spaß. Und es sind andere Erzählerinnen, die ein bisschen anders schreiben und auch andere Themen haben.“…
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1 Erhitzte Gemüter – Wetter, das literarische Heldinnen auf dumme Gedanken bringt 55:07
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55:07Wir gratulieren zu 60 Jahre Verlag Klaus Wagenbach, sprechen über den neuen Comic von Joann Sfar und über Miranda Julys Roman „Auf allen Vieren".
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1 Sommer-Lesetipp: Raymond Chandler – Roter Wind 2:37
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2:37Red Wind, deutscher Titel: Blutiger Wind, ist eine Story von Raymond Chandler. Wie immer bei Chandler geht es um die verworrenen Verhältnisse im kapitalistischen Wahnsinn. Aber eines ist diesmal anders. Chandlers Geschichte wirbelt die Figuren und ihre Beziehungen so durcheinander, dass alles möglich scheint: Man kann den Boden unter den Füßen verlieren oder einen freien Kopf bekommen. Mehr wettergeprägte Bücher…
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Der Mistral ist ein fieser Wind. Er kann zu jeder Jahreszeit auftreten und quält vor allem Südfrankreich. Was überrascht: Er kommt nicht vom Mittelmeer, sondern zieht übers Festland. Deswegen ist er auch so trocken. „Mistral“ erschien schon 1930, ist also fast hundert Jahre alt. Gerade wird Maria Borrély wiederentdeckt. Was für ein Glück! Denn „Mistral“ erzählt nicht nur von einem jungen Mädchen, sondern auch von einer alten, sich verändernden Landschaft. Man kann „Mistral“ auch als frühen Klimaroman lesen.…
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1 Sommer-Lesetipp: Caroline Wahl – Windstärke 17 1:53
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1:53Bereits mit ihrem Debüt „22 Bahnen“ erzielte Caroline Wahl große Erfolge. Der klare und rhythmische Erzählstil der Autorin überzeugt viele Lesende. Das prägende Element in beiden Romanen: Wasser. In der Fortsetzung, „Windstärke 17“, zieht sich der Himmel nochmal mehr zusammen und das unruhige Inselwetter kommt dazu. Für Katrin Ackermann ist die Geschichte um Ida mitreißend, nah am Leben und trotz der traurigen Momente auch erfrischend. Ihr stürmischer Lesetipp für den Sommer: „Windstärke 17“ von Caroline Wahl. Mehr wettergeprägte Bücher…
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1 Sommer-Lesetipp: Martin Mosebach – Der Mond und das Mädchen 1:25
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1:25Das Buch erschien 2007, als Martin Mosebach den Büchner-Preis bekam und wurde damals für den ersten Deutschen Buchpreis nominiert. Mehr wettergeprägte Bücher
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1 Sommer-Lesetipp: T. C. Boyle – Blue Skies 1:31
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1 Sommer-Lesetipp: Albert Camus – Der Fremde 2:08
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1 Ruth Hoffmann – Das deutsche Alibi | Buchkritik 4:09
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4:09So richtig verwunderlich ist es nicht, dass man sich in der frühen Bundesrepublik recht schwer tat mit der Bewertung des Widerstands gegen das Dritte Reich. Die Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen wurde rasch ad acta gelegt; ehemalige Nazis waren schon kurz nach Kriegsende entlastet und ins neue System eingebunden worden – nicht nur für diese galten die Elsers, Scholls und Stauffenbergs als Landesverräter. Zudem gab es ja einen neuen Feind, dem man sich mit bewährten Kräften entgegenstemmen musste – den Kommunismus. Eine allzu starke Beschäftigung mit den zahlreichen Tätern und Mitläufern, den Opfern oder Oppositionellen passte da nicht ins Bild. Der Widerstand als Stachel im Fleisch der deutschen Nachkriegsgesellschaft Die Journalistin Ruth Hoffmann untersucht in ihrem ausgezeichnet recherchierten Buch „Das deutsche Alibi“ diesen blinden Fleck sowie den später politisch instrumentalisierten Mythos „Stauffenberg-Attentat“. Noch bis in die 50er Jahre hinein… …standen mit wenigen Ausnahmen also nicht die Verfolger und Henker am Pranger, sondern ihre Opfer. Während für die einen Pensionen gezahlt, Rechtsbeistand geleistet und Ehrenerklärungen abgegeben wurden, waren die anderen weiterhin Verleumdungen ausgesetzt – und die Regierung ließ es geschehen. Quelle: Ruth Hoffmann – Das deutsche Alibi Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus war ein… …Stachel im Fleisch der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Quelle: Ruth Hoffmann – Das deutsche Alibi Absolution fürs „verführte Volk“ Die Unfähigkeit zu trauern verband sich mit dem Unwillen, Scham angesichts der begangenen Verbrechen zu empfinden. Nur langsam änderte sich daran etwas. Die Helden des 20. Juli 1944 hätten den Versuch unternommen, „den Staat der mörderischen Bosheit zu entreißen“, sagte Theodor Heuss zum zehnjährigen Jubiläum des Attentats; dem „verführten“ Volk erteilte aber auch er die Absolution. Angesichts der vorangegangenen Scheuklappenmentalität war Heuss‘ Bekenntnis jedoch schon ein Fortschritt: Konservativen Kreisen fiel es zwar nicht leicht, den Widerstand zu würdigen – zu sehr stand der im Ruch des Landesverrats; aber mit den Offizieren rund um Stauffenberg konnten sie einigermaßen leben. Immerhin ließ sich deren Haltung gut in ein bürgerliches Narrativ von deutschem Geist und patriotischer Gesinnung integrieren. Wie um die Deutung dieses Ereignisses und des Widerstands insgesamt gerungen wurde, wie die Beurteilung auch den Kalten Krieg zwischen West- und Ostdeutschland bestimmte, wie man um Worte feilschte und Redner sich wanden, wie die Hinterbliebenen der Widerständler ihre je eigenen Kämpfe gegen das Vergessen oder das richtige Gedenken führten – das zeigt Hoffmann penibel genau auf. Die Kultur des Erinnerns bettet sie in die jeweiligen politischen Kontexte ein und würdigt einzelne Protagonisten. Über die Jahre verfestigte sich so das immer gleiche Muster: Widerstand, das war der 20. Juli 1944. (…) und von einer Schuld der Deutschen war praktisch nie die Rede Quelle: Ruth Hoffmann – Das deutsche Alibi Historische Erkenntnisse jenseits ideologischer Ambitionen fehlen Selbst nach dem Fall der Mauer änderte sich nicht viel – die Instrumentalisierung des 20. Juli für konservative Zwecke setzte sich fort. Der Widerstand linker Gruppen wurde kaum betrachtet, er passte noch immer nicht ins Bild eines konservativen Geschichtsverständnisses, das während Helmut Kohls Regierungszeit neue Konjunktur erfuhr. Dass der zivile Teil des 20. Juli und das politisch höchst heterogene Netzwerk der Verschwörer bis heute unterbelichtet bleiben und inzwischen die AfD und die Neue Rechte das Datum ungeniert für sich reklamieren können – als Aufstand echten deutschen Patriotismus – scheint nach Hoffmanns Ausführungen fast folgerichtig: Über Jahrzehnte wurde versäumt, historische Erkenntnisse jenseits ideologischer Ambitionen in die offizielle Erinnerungsrhetorik einzubringen. Das ist das große Verdienst von Ruth Hoffmanns dazu noch exzellent geschriebener Studie – aufzuzeigen, wie der Mythos vom „Stauffenberg-Attentat“ die Komplexität des Widerstands überlagert hat und zum „selbstgerechten Narrativ der Konservativen“ geworden ist.…
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Jetzt ist Montag ½ 11 Uhr vormittag. Seit Samstag ½ 11 Uhr warte ich auf einen Brief und es ist wieder nichts gekommen. Quelle: Franz Kafka Das schreibt Franz Kafka an seine künftige Verlobte Felice Bauer am 4. November 1912. Eine leichte Verzweiflung ist in diesen Zeilen enthalten, aber auch ein behutsamer Vorwurf. Unzulänglichkeiten des "analogen" Postwegs Die Unzuverlässigkeit des Fräulein Bauer ist das eine. Das andere ist die Post: Briefe haben einen langen Weg zurückzulegen, und es kann ihnen etwas dazwischenkommen – ein verpeilter Postbeamter, eine Schlamperei, ein ungeplanter Umweg durch fremde Städte, undurchschaubare Briefverteilungszentren. Wenn das Schreiben nicht bis zu einer gewissen Stunde zugestellt ist, dann heißt es warten bis zum nächsten Tag. Im bürgerlichen Zeitalter des ausgiebigen Briefeschreibens musste man Geduld erlernen und gute Nerven besitzen, gerade wenn es um Liebesdinge ging. Ein falsches Wort, eine skeptische Anmerkung, eine bohrende Beunruhigung konnte erst zeitverzögert, möglicherweise Tage, wenn nicht Wochen später bereinigt oder geklärt werden. In ganz dringenden Fällen blieb einem nur das Telegramm, in dem man sich kurz zu fassen hatte. Die erste telegrafische Leitung gab es allerdings nicht vor Mitte des 19. Jahrhunderts. In den frühen 1990er Jahren, als ich bei der Deutschen Bundespost als Eilbote jobbte, war das Telegramm schon vom Faxgerät verdrängt worden – aber ein- bis zweimal am Tag kam es doch noch vor, dass ich ein Fernschreiben mit meinem VW-Post-Golf zustellen durfte, meistens einen Glückwunsch zum Geburtstag oder die Nachricht eines Todesfalls. Dass ich einer in Kürze aussterbenden Tätigkeit nachging, der des Eilboten, war mir wohl sehr viel weniger bewusst als vielen meiner Generationsgenossen, die bereits ihren Commodore C64 gegen einen Macintosh eingetauscht hatten und die digitale Zukunft am Horizont aufleuchten sahen. Die erste elektronische Post im Jahr 1971 Ich hingegen schrieb Briefe mit der Hand, Hausarbeiten mit einer Schreibmaschine und las Goethes „Werther“ oder Kafkas schön-schmerzliche Briefe. Spät kapierte auch ich, was das ausgehende Jahrhundert geschlagen hatte: Bereits 1971 hatte der US-amerikanische Informatiker Roy Tomlinson ja den ersten elektronischen Brief verschickt, von einer größeren Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Am 3. August 1984 um 10:14 Uhr wurde in Deutschland dann die erste Internet-E-Mail empfangen: Michael Rotert von der Technischen Hochschule Karlsruhe erhielt eine Grußbotschaft von der Internet-Pionierin Laura Breeden. Die saß in Massachusetts, also auf einem anderen Kontinent, und hatte irgendetwas in ihren Computer getippt, was nur Sekunden später seinen Empfänger fand. 360 Milliarden E-Mails täglich Heute, 40 Jahre danach, werden weltweit jeden Tag gut 360 Milliarden E-Mails verschickt. 360 Milliarden! Täglich! Die E-Mail-Kommunikation ist beruflich und privat inzwischen so selbstverständlich geworden, dass wir uns ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen können. Selbst SMS und WhatsApp konnten der E-Mail bislang nichts anhaben. Das hat nicht zuletzt literaturhistorische Folgen: Das Literaturarchiv in Marbach, in dem Hunderte von Dichternachlässen und selbstverständlich auch Briefwechsel wie in einer heiligen Grabkammer verwahrt werden, muss sich nun auch mit den neuen technischen Gegebenheiten arrangieren. Es werden Verfahren entwickelt, wie digitale Nachlässe – wozu auch E-Mails gehören – dauerhaft archiviert werden können. Der Briefroman des 18. Jahrhunderts erfährt ebenfalls eine Aktualisierung – als E-Mail-Roman. So hat Daniel Glattauer etwa mit „Gut gegen Nordwind“ im Jahr 2006 einen großen Publikumserfolg gefeiert; Zsuzsa Bánk lässt in „Schlafen werden wir später“ zwei Freundinnen von Computer zu Computer schwermütige Nachrichten austauschen. Im Prinzip aber sind solche Bücher dem klassischen Briefroman verhaftet, auch wenn E-Mail drübersteht – eine ausschweifende, wohlformulierte, auf Antwort und Erwiderung basierende Schriftverkehrs-Prosa. Schnelligkeit auf Kosten der Sprachfeinheit Für den Großteil der heute täglich versandten 360 Milliarden Mails trifft weder ausschweifend noch wohlformuliert zu: Das Medium treibt uns zur Eile an, die Feinheiten der Sprache gehen dabei meist verloren. Mails sollen kurz, schnell beantwortet und ohne formalen Schnickschnack verschickt sein. Manchmal provozieren sie impulsive Reaktionen, die uns später durchaus reuen können. Quillt das Postfach über oder ist man unkonzentriert, vertut man sich auch schon mal im Adressfeld und antwortet dem falschen Empfänger – was fürchterliche Verwicklungen nach sich ziehen kann: Aus Versehen schickt man einem Bekannten eine gehässige Beschreibung von dessen Charakter, die eigentlich in lästerlicher Absicht an einen gemeinsamen Freund gerichtet sein sollte. Oder ein grammatikalisch zweifelhaftes Liebesbekenntnis landet – einer Freudschen Fehlleistung geschuldet – bei der falschen Frau respektive dem verkehrten Mann, die oder der daraus wiederum verhängnisvolle Schlüsse ziehen wird. Die Bedächtigkeit, die sich durch das Schreiben eines Briefes, das Adressieren, das Frankieren, das Zum-Postkasten-Bringen notwendigerweise ergibt, fällt bei der E-Mail dem elektronischen Eilverfahren zum Opfer. Ein Klick auf Senden – und das Unheil ist da. Schriftliche Kommunikation in Echtzeit Die Rasanz hat natürlich auch Vorzüge, aber die liegen eher im Ökonomischen. Zeit wird gespart, Porto wird gespart, Schreibarbeit wird gespart. Schriftliche Kommunikation findet in Echtzeit statt, Räume werden in Windeseile überwunden, Wegstrecken sind auf digitalen Autobahnen eigentlich nur noch abstrakte Entfernungen. Selbst Kafka hätte das wohl als höchst zwiespältig empfunden. Die Gleichzeitigkeit regiert. Keine Postkutsche, kein Flugzeug, kein VW-Post-Golf kann da jemals mithalten. Wer heute noch von einem Dasein als Eilbote träumt, ist der Gegenwart irgendwie verloren – so viele E-Mails er zu den 360 Milliarden auch täglich beitragen mag.…
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1 Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir? 1:45
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1:45Ein Chat mit einem Love Scammer Wenn Juno sich langweilt, chattet sie mit Männern. Es sind so genannte „Love Scammer“: meist afrikanische Männer, die einsamen Europäerinnen erst Liebesschwüre schicken und sie dann um Geld bitten. Eines Abends chattet sie mit dem Nigerianer Benu, mit dem sich nach und nach ein unerwartet ehrliches Gespräch entwickelt. Vertrauen entsteht und ein echtes Interesse am anderen. Trotzdem bleibt Wahrheit ein unsicheres Terrain. Juno weiß das. Deswegen dreht sie den Spieß um, denkt sich lustige Biographien aus und spielt ihrerseits mit den fernen Männern. Sie braucht Ablenkung, denn im Hinterzimmer ihrer Leipziger Wohnung liegt ihr schwerkranker Mann Jupiter. Ein Lesetipp von Anne Weber „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ heißt der neue Roman von Martina Hefter. Ein Titel so locker wie ein Chatbeginn. Die Autorin Anne Weber, die selbst einmal in ihrem Roman „Luft und Liebe“ über einen Liebesbetrug schrieb, mag Hefters Internet-Roman sehr. Sie empfiehlt ihn auf SWR Kultur. Hefters neuer Roman sei ein erstaunlicher Roman, so Weber. Eine Geschichte „von großem Ernst und existenzieller Wucht und Schönheit“.…
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Ein Buch der chinesischen Autorin Can Xue zu lesen, ist als würde man Achterbahn fahren und gleichzeitig halluzinogene Drogen konsumieren. Immer meint man, irgendetwas wie eine Realität zu erkennen – da wird man schon weiterbefördert in eine neue Dimension von Zeit und Raum. Trotzdem haben Can Xues Geschichten immer eine Basis in der Gegenwart: Ihr geht es um das urbane China – das sich seit Jahrzehnten radikal und schnell verändert, rücksichtslos, teils auch gnadenlos. Von diesem China handeln auch die 16 Erzählungen, die ursprünglich in den Jahren 1996 bis 2018 erschienen und die nun unter dem Titel „Schattenvolk“ von Eva Schestag nuancenreich ins Deutsche übertragen worden sind. Der Titel ist programmatisch. Denn Can Xue – die ihre Geschichten bewusst nicht zeitlich verortet – zeichnet ein eher düsteres Bild vom fortschrittsverliebten China, indem sie uns mitnimmt in dessen Unterleib: Ihre Figuren navigieren durch verschmutzte Tunnel, klaustrophobische Räume, durch Höhlen und Abwasserrohre. Sprich: durch ein Welt gewordenes Unterbewusstes. Gleich die erste Geschichte spielt im Slum einer namenlosen Stadt, von der man einzig erfährt, dass sich dort eine große Chemiefabrik befindet. In diesem Slum lebt auch der Ich-Erzähler. Für die Menschen ist dieser Ort eine Qual, besonders die Kinder finden nachts kaum Schlaf. Sie schreien vor Schreck auf, springen aus dem Bett und rennen barfuß aus dem Haus. Sie laufen und laufen durch die engen Gassen, sobald sie stehen bleiben, erstarren sie vor Kälte. Ihre Eltern kommen erst im Morgengrauen, um sie einzusammeln. Die Väter und Mütter sind ganz schwarze, ganz magere Leute, solche, in deren Gesichtern man nur noch die Augäpfel hin und her rollen sieht. Quelle: Can Xue – Schattenvolk Rabenschwarzer Humor, märchenhafte Elemente Gefahren lauern an diesem Ort überall, auch für den Ich-Erzähler: Der Hausherr versucht, ihn zu vergiften, nachts wird er Zeuge, wie ein Mann wieder und wieder einen schwarzen Kater umbringt. Und dann ist da noch die Hausratte, die sich eines Tages an den Fersen eines Großväterchens festbeißt: Ich hörte etwas an einem Knochen nagen und dachte, es sei die Katze. Also sprang ich vom Ofen hinunter und lief hin, um nachzusehen. Ah, es war nicht die Katze, es war eine Hausratte, sie war doppelt so groß wie eine gewöhnliche Hausratte. Verdammt! Sie nagte an Großväterchens Ferse. Ich sah den nackten weißen Knochen, doch kein Blut. Die Hausratte war freudig erregt, zitterte am ganzen Körper, als knaknakna-knabbere sie am besten Knochen der Welt. Quelle: Can Xue – Schattenvolk Solch rabenschwarze und zugleich märchenhafte Elemente sind immer wieder kunstvoll in Can Xues Geschichten eingestreut. Subtiler Horror wirkt da, aber auch dezenter Humor. Auch Träume und Alpträume, Fakt und Fiktion, Surreales und Reales – wie etwa der Verweis auf Hunger und Not – gehen darin Hand in Hand. Das macht die Lektüre so rätselhaft wie spannend. Lange fragt man sich etwa in dieser Geschichte, wer und was eigentlich der Ich-Erzähler ist: ein Mensch – oder ein Tier? Blick in die menschliche Seele durch den Spiegel der Tiere Kafka – einer von Can Xues favorisierten Autoren – lässt tatsächlich in mehreren Erzählungen grüßen: Verwandlungen durchlaufen viele der Figuren. Und viele von ihnen sind sowieso Tiere: Eine ältere Elster etwa – die jeden Tag fürchtet, dass ihr Nest von böswilligen Menschen zerstört wird. Zikaden, die in der Abenddämmerung singen, notgedrungen von den Menschen geduldet: Was konnte man schon tun? Die Zikaden, Pappeln und Weiden wuchsen und gediehen zusammen, und die Zikaden waren nicht auszurotten, es sei denn, man fällte die Bäume. Dann aber würde die Temperatur im gesamten Wohnviertel um mindestens drei Grad steigen. Quelle: Can Xue – Schattenvolk Can Xue spielt damit womöglich auf die 1958 von Mao ausgerufene Kampagne „Ausrottung der vier Arten“ an, die einst mit zur Großen Hungersnot beitrug. Vor allem aber erzählt sie von den Abgründen der menschlichen Seele im Spiegel der Tiere. Diese durchleben das ganze Register an Leid, Verzweiflung und Gewalt, das allen widerfährt, die unter die Räder des sich modernisierenden Chinas geraten. Wie die Menschen sind auch die Tiere konfrontiert mit dem Verlust von Heimat und Zugehörigkeit. Die Landschaften in allen Erzählungen sind entsprechend feindlich gezeichnet: extrem heiß oder heimgesucht von sintflutartigen Unwettern; gleißend grell oder beklemmend dunkel. Leben, so macht Can Xue in solchen Bildern deutlich, bedeutet hier eher Überleben. Statt Konstanz herrscht Kontingenz: durch Entwurzelung, durch Umsiedelung, ob erzwungene oder freiwillige. So gesteht gleich zu Beginn der titelgebenden Erzählung „Schattenvolk“ der Ich-Erzähler, dass er falschen Verheißungen von einem besseren Leben in der Stadt aufgesessen ist: Es war ein langer und mühsamer Weg in die Feuerstadt. Bis heute erinnere ich mich an den Durst, die Sehnsucht, die ich unterwegs verspürte. Mir war, als ginge ich zum Kristallpalast! In den Sagen und Märchen ist der Kristallpalast der allerschönste Ort. Ich kam nachts an. Ich erinnere mich, wie mich zwei Hände in ein altes Haus zogen, wo es nach Fleischbrühe roch, und dann irgendjemand sagte: »Der läuft uns nicht weg.« Quelle: Can Xue – Schattenvolk Schattenwelten, Parallelwelten: zwischen Himmel und Hölle Und doch sind die Sinnesorgane aller Lebewesen in diesen Erzählungen mit feinem, ja feinstem Radar ausgestattet. Sie nehmen Kontakt auf mit Geistern, Verstorbenen und Ahnen – und damit mit all jenen, die den verdrängten vergessenen Humus bilden für die von Can Xue beschriebene Gegenwart. Kurz: Das Sichtbare ist in dieser Welt so real wie das Unsichtbare. Diese Form der Wirklichkeitswahrnehmung prägt die vorliegenden Erzählungen ebenso wie das daoistische Konzept des Wu Wei, das Nichthandeln als Handeln begreift. Das stille Glück aller Figuren liegt genau hierin: zu akzeptieren, was ihnen widerfährt. An Aufbegehren denkt jedenfalls keine von ihnen. Ist das weise – oder totale Resignation? Zudem schließt der Band mit Geschichten, in denen der Erdenschwere eine erträumte Flucht entgegensteht: Die Erzählung „Glück“ etwa spielt in einem Haus, das kein Oben und Unten besitzt, sich aber unverkennbar zum Himmel hin öffnet. Und mit einem Sturz in den Himmel endet auch die letzte der Geschichten. Dante – ein weiterer literarischer Ahnherr der Autorin – dürfte Pate gestanden haben für den formalen Bogen, den auch Can Xues Erzählungen vollzieht: von der Unterwelt hin zu einem nicht verortbaren Anderswo. Tatsache ist: Mit ihren mesmerisierenden Geschichten lotet Can Xue die Abgründe und Verwerfungen des modernen China aus – und bietet zugleich Erzählkunst auf höchstem Niveau.…
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Der Ort, in den ich hineinpasse, wird nicht existieren, bis ich ihn schaffe. Quelle: James Baldwin Ein Satz von James Baldwin . Seine Zitate trenden in den sozialen Medien, Madonna ist Fan, es gibt Kinofilme über ihn – und trotzdem: Man muss James Baldwin auch heute noch vielen Menschen vorstellen, gerade in Deutschland. Dabei war er eine wirklich wichtige Figur der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. 1924 in den ärmlichen New Yorker Stadtteil Harlem geboren. Sein Stiefvater, ein Baptistenprediger, ungeheuer streng und selten da. Seine Mutter neunmal, also eigentlich immer schwanger. Es ist die Zeit der strengsten Rassentrennung, des Antikommunismus, der Homophobie. Ein Realist mit klarer politischer Haltung James Baldwin begann früh mit dem Schreiben von Rezensionen mit Ende 20. Dann der erste, vielbeachtete Roman mit dem programmatischen Titel: „Von dieser Welt“. In Filmdokumenten merkt man ihm die Herkunft bis heute an: Seine intensive Art zu reden, seine Überzeugungskraft, sein Appell an sein Gegenüber, seine Anrufung der Liebe als universaler Kraft. Unscharfe Sonntagsreden hielt er nie – er war jemand, der tatsächlich Wärme und Genauigkeit miteinander verbinden konnte – und dabei noch Platz hatte, um aus der Analyse heraus eine klare politische Haltung zu entwickeln. René Aguigah ist Leiter des Literaturressorts im Deutschlandfunk. Er hat das Leben Baldwins und sein Werk in einem Buch zusammen gedacht. Sein Baldwin-Porträt schreibt Aguigah entlang des Werks, an den Romanen und Essays entlang, vom frühen Bericht „Von dieser Welt“ (der sich in drei Wochen 250.000 Mal verkaufte) über die bisexuelle Liebesgeschichte „Giovannis Zimmer“ hin zu „Ein anderes Land“ oder „Beale Street Blues“. Baldwins Literatur ist immer nah an seinem eigenen Leben. Und sie ist vor allem nah an der Wirklichkeit. Baldwins Realismus ist keine Behauptung – er lässt seine Figuren tatsächlich mit ihren Widersprüchen leben. Baldwin, meint Aguigah, wechselte zwischen zwei unterschiedlichen Modi der Wahrnehmung, des Sprechens, der Arbeit: ein Modus der Entschiedenheit, ein Modus der Ambivalenz. Quelle: René Aguigah – James Baldwin. Der Zeuge Baldwin war ein Wanderer zwischen den Welten James Baldwin war immer ein Wanderer zwischen den Welten. Schwarz und Schwul, Schriftsteller und Aktivist. Als Schriftsteller auch noch zerrissen zwischen Essays und Romanen. Und als Schwarzer spürte er in Amerika und Europa gleichermaßen eine Art von Unzugehörigkeit. Diese Zwischenstellung ist so etwas wie ein zentrales Motiv. In dem beeindruckenden Buchporträt bezeichnet Aguigah Baldwin als einen “Zeugen”. Denn im Zeugen verbinden sich die Gegensätze. Bezogen auf die Aufgabe an der Schreibmaschine betont die Zeugenschaft, dass es dem Schreiben nicht um Kunst um der Kunst willen, sondern um etwas in der Welt geht. Bezogen auf den politischen Protest rückt sich der selbsternannte Zeuge ein wenig an den Rand der Arena: Er war dabei, aber nicht im Zentrum; er lief mit, aber mit dem Notizbuch in der Hand. Quelle: René Aguigah – James Baldwin. Der Zeuge Damit ist auch ein bisschen erklärt, warum James Baldwin fast 40 Jahre nach seinem Tod so eine Bekanntheit erlangt in Deutschland? Er macht uns verständlich, was wir lange geahnt haben: Nämlich, wie die weiße Dominanzgesellschaft große Teile der Gesellschaft außen vor lässt. Baldwin meinte: Die Welt ist nicht mehr weiß, und sie wird nie mehr weiß sein Quelle: James Baldwin James Baldwin ist unser Zeitgenosse Die Blackpower-Bewegung fremdelte mit Baldwins Queerness und die schwule Bewegung mit seiner Hautfarbe. Die Stars im politischen Kampf wurden in den 50er Jahren Martin Luther King und Malcolm X – die sich beide auf die Politik festlegten und keine Romane schrieben. James Baldwin ging nach Paris, glaubte, in Europa besser leben zu können. Man muss ihn trotzdem als dritte große Figur der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung dazu zählen. Am Anfang seiner Biographie steht der Satz: James Baldwin ist unser Zeitgenosse. Quelle: René Aguigah – James Baldwin. Der Zeuge Das glaubt man, wenn man Baldwins Romane gelesen hat, und man versteht es nach diesem Buch noch sehr viel besser.…
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Wann fühlen wir uns der Realität besonders nah? Im Storyband „Glückscollage“ der US-Amerikanerin Ling Ma heißt es einmal, es seien gerade die surrealen Situationen im Leben, die den Eindruck von Präsenz erzeugen. An solch surrealen, unheimlichen Momenten ist in den acht Storys dieses Bandes kein Mangel. Wendungen ins Fantastische Egal, ob es um einen One-Night-Stand geht, eine Schwangerschaft oder um eine Reise ins Heimatland des Ehemannes, stets kommt es zu verblüffenden Wendungen ins Fantastische. Ein Unbekannter aus der Bar entpuppt sich zuhause als sagenumwobener Schneemensch. Ein Arm des Fötus baumelt schon lange vor der Geburt außerhalb der Fruchtblase zwischen den Beinen der Protagonistin. Und ein Ehemann will nur deshalb sein Heimatdorf besuchen, um sich einem alten Ritus folgend über Nacht lebendig begraben zu lassen, in der Hoffnung, anderntags seiner Frau als neuer Mensch wiederzubegegnen. Verblüffend sind diese Wendungen aber nur für die Leserschaft. Denn die weiblichen Hauptfiguren dieser Storys nehmen das Übernatürliche mit auffallender Selbstverständlichkeit hin. Ihr allenfalls von leichter Neugier durchsetzter Gleichmut manifestiert sich nicht zuletzt sprachlich, in einem für diese Erzählungen typischen trocken-sachlichen Ton, den Zoë Beck vorzüglich ins Deutsche übertragen hat. Ihr abendliches Ritual nach dem Duschen bestand darin, den Babyarm anzuziehen. […] Der Arm war jetzt dick und kräftig, die Muskulatur fester als zuvor. Sie massierte ihn ein wenig. Jede Woche schnitt sie ihm die Fingernägel. Quelle: Ling Ma – Glückscollage Hellsichtiger Debütroman Diese zum erzählten surrealen Inhalt gleichsam querstehende sachliche Prosa kennt man bereits aus dem gefeierten Debütroman der 1983 in China geborenen Autorin, der Postapokalypse „New York Ghost“. In ihr wurde die Welt schon 2018 von einer in China ausbrechenden Seuche heimgesucht. Der amerikanische Literaturbetrieb feierte übrigens auch Ling Mas neues Buch „Glückscollage“, und das durchaus zu recht, so eindrucksvoll und originell sind diese Storys, so viel verraten sie über die gesellschaftspolitischen Verhältnisse der Gegenwart. Toxische Mädchenfreundschaft Ihre Protagonistinnen sind, wie die Autorin, junge Amerikanerinnen chinesischer Herkunft. Von den Erwartungen ihrer Mütter und Community versuchen sie sich ebenso zu befreien, wie sie sich in der weißen Mehrheitsgesellschaft zu behaupten suchen, mit Jobs in Regierungsbehörden oder, wie Ling Ma heute selbst, an der Uni. Der Titel des Bandes „Glückscollage“ ist übrigens die Übertragung eines Begriffs aus der Filmwissenschaft: Als „Bliss Montage“ bezeichnete einst die Filmhistorikerin Jeanine Basinger ein wiederkehrendes Hollywoodmotiv, wenn sich Frauen für einen kurzen Moment als Herrinnen ihres Schicksals fühlen dürfen. Das Glück von Ling Mas Heldinnen ist nicht minder doppelbödig. In der stärksten, aber auch abgründigsten Geschichte des Bandes mit dem Titel „G“ – der Buchstabe steht für Gravitation – geht es um eine toxische Frauenfreundschaft und um eine Droge, die die Protagonistinnen gleichermaßen schweben lässt wie unsichtbar macht. Ein befreiendes Erlebnis, jedenfalls so lange man bei der Dosierung aufpasst: Weißt du, wie sich die Welt dir fügt, wenn du dich in einem unsichtbaren Kokon durch sie hindurchbewegst? Niemand sieht dich an, niemand beurteilt dich. Der kleine Amboss der Unsicherheit hebt sich. Du kannst überall hingehen, ungehindert von den Mikroaggressionen Fremder, den gezwungenen, bleischweren Höflichkeiten von Freunden und Bekannten. Quelle: Ling Ma – Glückscollage Nach dem Muster der Traumlogik Andere von Ling Mas Ich-Erzählerinnen erleiden auch handfeste Aggressionen, geraten etwa an gewalttätige Partner, die sie auch nach der Trennung nicht loswerden. Wie in der Story „Los Angeles“, in der die Ich-Erzählerin in ihrem Haus mit ihren 100 Ex-Liebhabern nicht nur lebt, sondern mit ihnen auch nachmittags zum Shoppen fährt. In ihrem Porsche, wohlgemerkt. Dass die Vergangenheit oft länger lebendig ist, als einem lieb ist, ist eine Erfahrung, die wohl jeder schon einmal gemacht hat. In Mas Erzählung wird sie nach dem Muster der Traumlogik einfach wörtlich genommen und voller Erzähllust bis ins absurdeste Detail ausbuchstabiert.…
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1 James Baldwin – Ich weiß, wovon ich spreche 4:09
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4:09Die Wiederentdeckung des 1987 gestorbenen Autors James Baldwin in den letzten Jahren ist ein erstaunliches Phänomen. Der Romancier und Essayist wird vor allem von einer jüngeren Generation gelesen. Seine Rolle in der Bürgerrechtsbewegung und sein mutiges Auftreten als Schriftsteller machen ihn nicht nur zur Ikone der Black-Lives-Matter-Bewegung, sondern weltweit zu einer Stimme gegen Rassismus. Spricht man mit jüngeren Autor:innen, dann wird das sehr deutlich. Rowan Ricardo Phillips, Lyriker, Übersetzer und Präsident des New York Institute for Humanities, fasste das im Interview kürzlich so zusammen: Wenn man an die 70er und frühen 80er Jahre denkt, (...) bin ich mir nicht sicher, ob seine Botschaft und seine Präsenz so sehr durchgesickert sind wie jetzt, wo er im Grunde das Zentrum darstellt, wenn wir an Studien über schwarzes Bewusstsein oder sogar an Schriften über die schwarze Diaspora denken. Baldwin steht dabei im Mittelpunkt. Ungeheuerlich. (...) Baldwin wurde uns in der Schule als Romancier nahegebracht, weniger als Aktivist. Ich denke, das hat sich jetzt völlig geändert, denn Baldwin ist in erster Linie ein Aktivist.] Quelle: Rowan Ricardo Phillips Schwarze und Weiße sind aneinander gebunden Seinem Denken, seiner Präsenz als public intellectual, seiner Emphase und Empathie kommt man in seinen Essays nahe – und nicht zuletzt auch in den zahlreichen Gesprächen, die er zu Lebzeiten vor der Kamera oder auf dem Papier geführt hat. Einige davon versammelt nun der Band „Ich weiß, wovon ich spreche“ aus Anlass seines 100. Geburtstages am 2. August. Als Schwarzer in diesem Land – und das hat Ralph Ellison sehr treffend formuliert – wirst du eigentlich nie gesehen. Was weiße Leute sehen, wenn sie dich anschauen, ist nicht sichtbar. Was sie sehen, wenn sie dich anschauen, sind ihre Zuschreibungen. Und das sind Qual und Schmerz, Gefahr, Lust und Pein. Sie wissen schon, Sünde, Tod und Hölle – davor fürchtet sich jeder in diesem Land. Quelle: James Baldwin – Ich weiß, wovon ich spreche Die Gespräche drehen sich um dieses Nicht-gesehen-Werden. Sie drehen sich um die Entwicklung schwarzen Bewusstseins, um die Identität als Amerikaner, um das unverbrüchliche Aneinandergebundensein von Schwarzen und Weißen, um die eigene Rolle als Wortführer, um eine Revolution, die das ganze Land verändern sollte, die Unterdrücker sogar noch stärker als ihre Opfer. Befreit werden müssten, laut Baldwin, nicht die Afroamerikaner, sondern die Weißen selbst. Wütende Unbedingtheit Von den Schrecken, die sie plagen, von ihrer Unwissenheit, von ihren Vorurteilen und vor allen Dingen von dem Recht, Unrecht zu tun, auch wenn man weiß, dass es Unrecht ist. Die Weißen in den Südstaaten sind, glaube ich, die ärgsten Opfer und die traurigsten Geschöpfe auf der ganzen Welt. Sie wissen, dass es unrecht ist, sie wissen, dass man nicht einen Hund auf ein Kind hetzen oder einen Wasserstrahl auf ein Kind richten kann, ohne sich bewusst zu sein, dass man etwas Unrechtes tut. Quelle: James Baldwin – Ich weiß, wovon ich spreche Das Großartige an diesen Gesprächen – ob mit Margaret Mead oder Audre Lorde, mit Nikki Giovanni oder Fritz J. Raddatz – ist die äußerst sorgfältige Auseinandersetzung mit Argumenten, Geschichte und Vorurteilen. Man kann den Sprechenden bei ihrer sorgsamen, tastenden Suche nach Wahrheiten und Erkenntnissen förmlich zuhören, aber auch die wütende Unbedingtheit im Reden spüren. Baldwin ist ein mitreißender, genauer, immer wieder seine Punkte deutlich und prägnant hervorhebender Intellektueller, der sich selbst gerade in den Diskussionen mit jüngeren Vertretern des Schwarzen Kampfes hinterfragt oder um Verständnis für eigene Positionen wirbt. Die Interviews decken gründlich das öffentliche, gesellschaftliche Engagement Baldwins ab. Der Schriftsteller, der Künstler, der sich davon nicht trennen lässt, kommt lediglich am Rande vor. Wer ein komplettes Bild dieses Lebens erhalten will, sollte etwa auf die neue Biographie von René Aguigah zurückgreifen – und neben den Essays und Gesprächen Baldwins auch dessen Romane lesen.…
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1 Urs Engeler – nicht nichts. Gedichte 1984 bis 2024 4:09
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4:09Zu Beginn der Schöpfung formt Gott den Menschen aus Erden-Staub und haucht ihm den Atem des Lebens ein. Dieser Atem macht den Menschen zu einer lebenden Seele und ist unter dem Namen Pneuma auch einer der zentralen Begriffe in der Geschichte der Philosophie, der Wissenschaft und Medizin in der Antike. In seiner Verwendung als poetisches Bild kommt dem Atem eine entsprechend wichtige Bedeutung zu. Auch Urs Engeler greift ihn in seinem neuen Lyrikband „nicht nichts“ auf: Auf, Atem, den andern ein-, das andere Haus atmen. Quelle: Urs Engeler – nicht nichts. Gedichte 1984 bis 2024 Nur wenige Verse genügen Engeler, um mit kleinsten Mitteln eindrucksvoll wirkende Verse entstehen zu lassen, die deutliche Anklänge an das bekannte Gedicht „Im Atemhaus“ der jüdischen Lyrikerin Rose Ausländer aufweisen, das vom Spannen unsichtbarer Brücken zu Menschen und Dingen spricht, und an dessen Ende sich das lyrische Ich vorstellt, im Atemhaus zu wohnen, eine Menschenblumenzeit. Wie das Gedicht der berühmten Vorgängerin, richten sich auch Urs Engelers Verse allesamt auf ein Gegenüber. Dieses Gegenüber kann ein geliebter Mensch oder ein besonderer Gegenstand sein, eine Blume oder eine Katze. Es kann die Flüchtigkeit, die Vergänglichkeit, selbst das Sterben sein, also gewichtige philosophische Entitäten oder Existenzialien, denen sich das sprechende Subjekt meist vertrauensvoll, zugleich aber mit Behutsamkeit nähert, langsam, in winzigen Sprachgesten: Ganz nun aufgegangen im langen Schatten – –so ganz verstummt und nur mehr Aug Quelle: Urs Engeler – nicht nichts. Gedichte 1984 bis 2024 Die starke Neigung dieser Verse zum Verstummen, die schon Paul Celan dem Gedicht der Moderne in seiner Büchnerpreis-Rede „Der Meridian“ attestierte, kulminiert im Titel des Englerschen Bandes. „nicht nichts“ ist in seiner doppelten Verneinung zwar etwas, aber nicht eben viel. Und doch prägen sich diese kleinen, vorsichtigen, fast scheuen Gedichte ein, die manchmal nur aus einem einzigen Vers bestehen. Er fasst sich kurz dieser Dichterverleger, der mit großem Enthusiasmus und organisatorischem Geschick viele bedeutenden Lyriker und Lyrikerinnen durch sein Wirken bestärkt und befördert hat. Doch trotz ihrer Kürze, oder besser gesagt aufgrund ihrer Kürze: Urs Engelers Gedichte sind etwas, in ihrer Luftigkeit erinnern sie an den göttlichen Lebensatem, sie verneigen sich vor Ariel, dem Luftgeist aus William Shakespeares „Der Sturm“, der den Geist der Poesie verkörpert, sie bezaubern in ihrem gestischen und kreatürlichen Ton, der Worte bewegt wie Gräser im Wind. Oder wie seltene, unauffällige Nachtschattengewächse, die in lyrische Prosa übergehen: Man möchte ein Haus haben mit vielen Zimmern nur mit Pflanzen und den Stimmen von Vögeln und Bewegungen von Schmetterlingen und einen Tisch an dem man schreibt und ein Bett in dem man liegt und liest und liebt. Man bewohnte ein Treibhaus und wäre selber ein Pflänzchen und würde ein dunkles Leben führen tief unterirdisch und in der Wärme der Erde und in der Weite der Nacht. Man würde Blüten treiben und ein bisschen bunt sein in dem vielen Grün und ein bisschen weich und feucht bis in alle Ewigkeit. Quelle: Urs Engeler – nicht nichts. Gedichte 1984 bis 2024 Urs Engelers „nicht nichts“ ist ein Gruß an die Sterblichkeit und ein leises Zwinkern hin zu der Ewigkeit, nach der sich das dichterische Wort nun einmal sehnen muss, um überhaupt aufgeschrieben zu werden, um Jahr um Jahr aufzublühen wie der Flieder, dem die abschließenden beiden Verse des Bandes gewidmet sind, die nur aus zwei Wörtern bestehen: wieder flieder Quelle: Urs Engeler – nicht nichts. Gedichte 1984 bis 2024…
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1 Lawrence Ferlinghetti – Notizen aus Kreuz und Quer 9:25
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9:25Der Band „Notizen aus Kreuz und Quer. Travelogues“ versammelt Texte, die Ferlinghetti zwischen 1960 und 2010 unterwegs geschrieben hat. Eine Fundgrube für Freundinnen und Freunde der Beat-Literatur.
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1 Kerstin Kohlenberg – Das amerikanische Versprechen 4:11
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4:11Die US-Wahlen im November entwickeln sich zur Zitterpartie. Nicht nur für Amerika, sondern auch für Europa. Kerstin Kohlenberg erzählt in ihrem Buch „Das amerikanische Versprechen“ anhand von drei Lebensgeschichten vom „Streben nach Glück in einem zerstrittenen Land“. Es sind Geschichten vom Rand der amerikanischen Gesellschaft in 27 Kapiteln, in denen Kohlenberg den zeitlichen Bogen von 1987 bis zur Gegenwart spannt. Nichts scheint die drei Hauptfiguren zu verbinden: Der Krankenpfleger Stephen aus dem ländlichen Kentucky gehörte zu den Erstürmern des Kapitols im Jahr 2021. Der Schwarze Black-Lives-Matter-Aktivist Walter wächst in der New Yorker Bronx auf. Die Latina Magali wird als Siebenjährige über die mexikanische Grenze nach Iowa geschmuggelt, wo ihre illegal eingewanderten Eltern in der Fleischindustrie arbeiten. Die Orte, an denen Kohlenbergs Protagonisten leben, spielen eine ebenso große Rolle wie die Herkunftsfamilien und die Zeitumstände. Kentucky und die Opioid-Krise Der Krankenpfleger Stephen ist der einzige weiße Protagonist im Buch. Der Sohn einer früh verstorbenen drogenabhängigen Mutter wächst in instabilen Familienverhältnissen auf; Hilfe durch ein unterstützendes Sozialsystem erfährt er nicht. Kerstin Kohlenberg nutzt immer wieder biografische Etappen ihrer Protagonisten, um den Blick auf das größere Ganze zu lenken. Kentucky war schon immer der Vorbote für die Drogenprobleme Amerikas gewesen. Die Opioid-Krise hatte hier ihren Ursprung, das Opioid OxyContin war … von Ärzten massenhaft … verschrieben worden . … In den Jahren darauf stieg die Zahl der Abhängigen und Toten massiv an, der Hersteller … hatte das hohe Abhängigkeitsrisiko verschwiegen. Quelle: Kerstin Kohlenberg – Das amerikanische Versprechen Als abstrakten Fakt mag man sich solche Informationen nur schwer merken, aber verbunden mit Stephens deprimierender Familiengeschichte brennen sie sich ins Gedächtnis ein. Dass der junge Südstaatler im Januar 2021 schließlich die Absperrung zum Kapitol niederreißt, ist einer Kette von Zufällen geschuldet und seiner politischen Radikalisierung. Kohlenbergs Reportagekunst ist es zu verdanken, dass wir uns vom Klischee des gewaltbereiten, stupiden Kapitolstürmers verabschieden können und den verlorenen Menschen Stephen sehen, dem das Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten nie eine wirkliche Wahl ließ. Wahlkampf und Migration Warum der Schwarze politische Aktivist Walter 2024 nicht mehr zur Wahl gehen will, ist besonders vor dem Hintergrund des aktuellen US-Wahlkampfs interessant. Die amerikanische Politik-Maschine wird von unvorstellbar hohen Geldsummen angetrieben, von denen sie aber auch abhängig ist. Walters politische Karriere nährt nachhaltige Zweifel an einem System, in dem der Einfluss von Lobbygruppen eine heiße, käufliche Ware ist. Wer die Bedeutung des Themas Migration im US-Wahlkampf verstehen will, wird den Weg der jungen Latina Magali von der Illegalität in die amerikanische Mittelschicht mit Spannung verfolgen. Geschickt verknüpft die Autorin die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie in der Kleinstadt Denison mit der Rolle der Gewerkschaften und der Einwanderungsgeschichte von Magalis mexikanischer Familie. Kerstin Kohlenberg spricht vom „amerikanischen Evangelium des Wohlstands“, und Magali macht es sich zu eigen. Ein wichtiges Aufklärungsbuch über die USA Magalis Eltern waren nicht wegen der Idylle nach Iowa gekommen. Denison war schon lange keine beschauliche Kleinstadt mehr. … In Denison wurden jeden Tag 10.000 Schweine geschlachtet, dazu Rinder und Hühner, …. Wenn der Wind von Westen blies, konnte man … den Gestank der Tierexkremente überall riechen. Quelle: Kerstin Kohlenberg – Das amerikanische Versprechen Kerstin Kohlenberg hat ein wichtiges Aufklärungsbuch über Amerika geschrieben, in dem sie mit einer Mischung aus Distanz und Empathie auf ein Land blickt, das uns zunehmend fremd geworden ist. Das Ergebnis der anstehenden Wahlen kennen wir nicht. Aber wer Kohlenbergs Buch liest, wird es einordnen und besser verstehen können.…
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Alles beginnt mit einem Regentropfen. Im siebten Jahrhundert vor Christus fällt er in Ninive, der blühenden Metropole Mesopotamiens, auf den Kopf des Herrschers. Der Tropfen wird Zeuge, wie der assyrische König Assurbanipal, ebenso belesen wie grausam, vor der Tür seiner sagenhaften Bibliothek seinen alten Lehrer als Verräter verbrennen lässt, bei lebendigem Leib. Und mit ihm seine eigenen Kindheitserinnerungen. Der Tropfen bleibt im Haar des Königs verborgen, bis er verdunstet. Doch er wird nicht verschwinden. Über kurz oder lang wird die durchsichtige kleine Wasserperle wieder zum Himmel aufsteigen und dort auf den rechten Augenblick zu warten, um erneut auf die Erde zu fallen ... und wieder und wieder. Das Wasser erinnert sich. Nur die Menschen vergessen. Quelle: Elif Shafak – Am Himmel die Flüsse Derselbe Tropfen landet viele Jahrhunderte danach in London als Schneeflocke im Mund eines Neugeborenen. Die kleine Wasserperle wird im Irak die Lippen einer verdurstenden Jesidin netzen und später als Träne aus dem Auge einer jungen Wasserwissenschaftlerin rinnen. Drei Lebensgeschichten – wie die drei Atome des H2O-Moleküls Drei Hauptpersonen verbindet Elif Shafak in ihrem neuen Roman „Am Himmel die Flüsse“ mit dem einen Wassertropfen. Drei Handlungsstränge bewegen sich über 600 Seiten aufeinander zu, vom Tigris an die Themse. An deren verdrecktem Ufer kommt in einer kalten Nacht des Jahres 1840 Arthur Smyth zur Welt, der „König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere“, wie er bald genannt wird. Inspiriert von einem historischen Vorbild erzählt der Roman von dem hochbegabten Jungen aus ärmlichsten Verhältnissen, dem es nach einer David-Copperfield-haften Jugend als Autodidakt gelingt, die assyrische Keilschrift zu entziffern. Bei der Arbeit an den Tontafeln aus der Bibliothek des Assurbanipal im British Museum entdeckt Arthur, die ersten Fragmente des lang verschollenen Gilgamesch-Epos: Der die Tiefe sah ... Einen weiten Weg legte er zurück, müde und erschöpft. All seine Mühsal ist niedergeschrieben auf einem Gedenkstein ... Quelle: Elif Shafak – Am Himmel die Flüsse Fasziniert von der Dichtung, deren Sintflut-Erzählung viel älter ist als die des Alten Testaments, setzt Arthur alles daran, zu den Ausgrabungen in Ninive zu reisen. Während seine Entdeckungen zu Hause in England als Sensation gefeiert werden, taucht er tief ein in die Rätsel Assyriens und die Geheimnisse der Jesiden, die dort seit Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden siedeln. Wo einst Bewässerungssysteme die Gärten Ninives speisten, findet Arthur um 1870 eine Wüste vor. Kein Verständnis für deutsche Wannenbäder Die Dürre hat in unseren Tagen weitere große Teile des Fruchtbaren Halbmonds erobert. In dieser Region verweilt das Buch mit der zweiten Hauptfigur, springt aber ins 21. Jahrhundert. Flussaufwärts des Tigris, in der Türkei nahe Hasankeyf, dem antiken Castrum Kefa, ist die Heimat von Narin. 2014 ist das jesidische Mädchen neun Jahre alt. Als Nachfahrin einer Familie von Heilerinnen und Seherinnen wächst Narin bei ihrer Großmutter auf. Sie bringt dem Mädchen den tradierten Sinn der Jesiden für die Natur nahe, die Ehrfurcht vor ihren Kräften, die Bedeutung des Wassers. So erzählt sie von der bestürzenden Erfahrung einer Nachbarin, die nach Deutschland gegangen ist: Als sie erfuhr, dass die Leute dort ganze Wannen mit Wasser füllten und sich darin einseiften, machte sie das fassungslos und traurig. Sie konnte nicht glauben, dass man so töricht sein kann und sich in sauberes Wasser setzt, ohne sich zuvor gewaschen zu haben. Quelle: Elif Shafak – Am Himmel die Flüsse Die Jesiden werden in der muslimischen Welt seit Jahrhunderten als „Teufelsanbeter“ verunglimpft und mit Pogromen überzogen. Den Hass bekommt auch Narin zu spüren. Am Berg Sindschar im Nordirak gerät sie in das genozidale Massaker des IS an tausenden jesidischer Frauen und Kinder, das die deutsch-jesidische Autorin Ronya Othmann kürzlich in ihrem Buch „Vierundsiebzig“ dokumentiert hat. Narin wird verschleppt, versklavt, vergewaltigt und nach Anatolien verkauft. Die vergessenen Flüsse und das gefährdete Gedächtnis Wie dieses Mädchen am Ende des Romans auf die dritte Hauptfigur trifft, die Londoner Hydrologin Zaleekhah Clarke, soll hier nicht verraten werden. Die Wissenschaftlerin mit irakischen Wurzeln hat ein zwiespältiges Verhältnis zum Wasser. Als sie ein Kind war, sind ihre Eltern vor ihren Augen ertrunken, heute erforscht sie hingebungsvoll den Zustand der allzu oft verschmutzten, verdrängten, verbauten Flüsse und glaubt an so etwas wie das Gedächtnis des Wassers. Ihrem Trauma zum Trotz zieht sie in ein Hausboot auf der Themse und lernt dank der Begegnung mit einer von der assyrischen Keilschrift begeisterten Tattoo-Künstlerin, sich endlich ihrer Trauer zu stellen. Sie liegen mit ineinander verschränkten Fingern in dem Einzelbett unter Deck und lauschen dem Wasser, das an den Bootsrumpf schlägt. ,Ich höre vergessene Flüsse‘, sagt Zaleekhah. ,Ich höre dein Herz‘, sagt Nen. Quelle: Elif Shafak – Am Himmel die Flüsse Mit großer Freude am sinnlichen Detail schildert Elif Shafak London, den Moloch des 19. Jahrhunderts und bis heute die Stadt der Gegensätze zwischen Arm und Reich, ebenso das osmanische Konstantinopel, die unbekannte, oft verkannte Kultur der Jesiden und deren herzzerreißendes Geschick. Die „vergessenen Flüsse“, die Zaleekhah hört, werden zum Bild des bedrohten Gedächtnisses, der Auslöschung alten Wissens und überlieferter Erfahrung. Sei es durch Staudammprojekte, die steinerne Zeugen der mesopotamischen Vergangenheit verschwinden lassen, sei es durch deren lange Zeit unhinterfragte Entführung in westliche Sammlungen, sei es durch die Erinnerungspolitik der assyrischen Könige, die weibliche Urgottheiten durch männliche Götter ersetzten. Der spannend geschriebene Roman fesselt auch mit seiner aufwendig recherchierten Faktenfülle. Zwar knirscht die Konstruktion gegen Ende hin, Shafaks Stil ist zuweilen allzu blumig, zuweilen hölzern und ihr Erzählen nicht frei von Klischees. Dennoch überwiegt beim Lesen die Lust, in diese detailreichen Welten einzutauchen, immer wieder Überraschendes über die Figuren und ihren Platz in der Geschichte zu erfahren, mit ihnen zu hoffen und zu leiden und das Wasser auf diesem Planeten mit anderen Augen zu sehen.…
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1 Queere Surferinnen und Beatnicks – Neue Bücher für den Sommer! 56:41
56:41
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56:41Diesmal im lesenswert Magazin: Queere Surferinnen und Beatnicks – Neue Bücher für den Sommer! Mit neuen Gedichten von Michael Köhlmeier u.a.
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1 Stephan Krass – Die Stunde des Seepferdchens. Ein MemoRandom 8:35
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8:35Die persönlichen Erinnerungsnotate verdichten sich zu einer bundesrepublikanischen Gesellschaftsgeschichte, die auch dem familiären Schweigen über den Nationalsozialismus nachgeht.
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Wie Treibgut wird Johanna an diesen Strand in der Algarve gespült. Sie kriegt keine Luft, schluckt Wasser, weiß nicht, wo unten, wo oben ist. Die Leine des Surfbretts verheddert sich und schneidet in ihren Körper. Was hast du dir denn gedacht, Johanna? Dachtest du, das wär so einfach? Das hättest du einfach so drauf? Nur vom Zugucken gelernt? Könntest es nachmachen, ohne es geübt zu haben? Warum denkst du, sind hier überall Surfschulen? Nur du brauchst keine? Weil du den Cartoon mit den surfenden Pinguinen so mochtest? Was ist los mit dir? Wirst du endlich mal wieder normal? Quelle: Laura Naumann – Haus aus Wind Synchronsprecherin strandet im Surferparadies Endlich wieder normal werden, endlich dieses diffuse Angst-Rasen in der Brust loswerden und über die Ex-Freundin hinwegkommen. Vielleicht hat Johanna einen Burnout, vielleicht auch eine Depression. Anstatt einen Arzt aufzusuchen, wählt sie eine andere Lösung: Sie reist ans Meer. Zwei Wochen Algarve und eine Pause von der Arbeit. So der Plan. Seit ihrem 11. Lebensjahr hat sie eine Karriere als Synchronsprecherin. Als Kind lieh sie ihre Stimme der Hauptfigur einer erfolgreichen Serie. Danach ging die Arbeit einfach immer weiter: Ich wurde die deutsche Feststimme von zwei sehr berühmten und drei mittelberühmten Schauspielerinnen. Ich habe Hörbücher und Lerneinheiten eingelesen und mich im Alltag aus unangenehmen Situationen herausgewunden, indem ich auf Synchrongeknödel umschaltete – ein Trick, mit dem sich jede Unterhaltung ad absurdum führen lässt: so sprechen, als würde man das synchronisieren, was man sagt. Wirkt Wunder, auch bei Streits, wenn man sagt: – Oh man ey, das macht mich echt wütend, das macht mich verdammt nochmal wütend, verstehst du das? - anstatt wirklich wütend zu werden. Quelle: Laura Naumann – Haus aus Wind Späte Coming of Age-Geschichte „Haus aus Wind“ heißt Laura Naumanns Debütroman. Ihre Hauptfigur Johanna schickt sie darin mit Ende 20 auf eine späte Coming of Age-Reise mit schwerem Gepäck: Ihre Kindheit und Jugend waren bestimmt von ihrer Karriere. Mit Eltern, die Johanna zwar unterstützten, aber sonst wenig Zeit für sie hatten, sogar froh waren, ihre Tochter nachmittags in Synchronstudios zu parken. In Johannas Hinterkopf - und in einigen SMS-Nachrichten - spukt außerdem noch immer ihre Ex-Freundin Rosa. Und dann natürlich Johannas größtes Problem: 18 Jahre lang hat sie erfolgreich Sätze anderer Leute synchronisiert. Für sich selbst zu sprechen, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu formulieren, das kann sie nicht. Ich hab Rosa im Ohr, die mir vorwirft, dass ich immer jemanden brauche, der oder die oder dey mir Sätze gibt, die ich nachplappern kann. Erschreckend glaubwürdig kann ich jeden Satz abliefern, oft beim ersten, spätestens aber beim dritten Take. So dass man sich im Umkehrschluss immer fragen muss, ob ich wirklich meine, was ich sage, oder ob es nur so klingt. Quelle: Laura Naumann – Haus aus Wind Sexismus im Surf-Sport Mit all diesen Fragen reist Johanna an die Algarve. Surfen, Strand und Sonne, das könnte die ideale Zuflucht sein. Ist es auch irgendwie - dank der Menschen, die sie trifft. Wie etwa Luz: eine kleine, drahtige Person mit dreckigem Lachen und viel Energie. Sie arbeitet als Surflehrerin und nimmt Johanna unter ihre Fittiche. Doch eigentlich ist sie Profisurferin, der Weltmeister-Titel war ihr so gut wie sicher. Ein Foto, mit dem sie als lesbisch geoutet wurde, kostete sie die Karriere. Luz küsst Frauen - damit wurde die Surferin zum Kassengift in diesem Sport, der noch immer voll von Sexismus ist. Frauen müssen nicht nur gut Wellen reiten können, um eine Medaille zu gewinnen. Die meist männliche Jury erwartet bei Wettbewerben den sogenannten Rapunzel-Move: Die Athletinnen surfen dabei mit offenem Haar - für mehr Punkte, wie Johanna von Luz erfährt: Vor dem Wettkampf lösen die Sportlerinnen ihre Zöpfe und Dutts, um sich anschließend mit wedelnden Zotteln in die Wellen zu stürzen. Das sei zum einen extrem unpraktisch, wie man sich ja vorstellen könne, weil die Haare einem so ständig ins Gesicht fliegen, und zum anderen auch die schlechtere Option für die kostbaren Haare, die eh unter dem ständigen Salzwasser leiden. Dennoch sei Haare auf eines der ungeschriebenen sexistischen Gesetze bei Surf-Wettkämpfen. Je länger die Haare, desto besser für die Karriere. Quelle: Laura Naumann – Haus aus Wind Schmerzhaft-schöner Sommerroman Sexismus im Sport, Homophobie, aber auch die Suche nach neuen Formen von Freundschaft, Beziehung und weiblicher Solidarität - davon erzählt Laura Naumann ebenfalls in ihrem Roman, in dem Männer im Allgemeinen und Surferboys im Besonderen keine Rolle spielen. Stattdessen findet sich Naumanns Heldin in einem Liebesdreieck mit zwei queeren Frauen wieder - natürlich mit Luz und mit der schon etwas älteren, sehr femininen und selbstbewussten Robyn. All das bringt Naumann leichtfüssig zusammen. Sie lässt ihre Figuren in Interaktion treten, erzählt viel über Dialoge und gibt zugleich Johannas inneren Kämpfen Raum. Hier zeigt sich sprachliches und dramaturgisches Talent, das Laura Naumann als mehrfach ausgezeichnete und an großen deutschen Bühnen tätige Theaterautorin geschult hat. Am Ende wird Johanna mehrere Monate an der Algarve bleiben. Das Meer lässt sie nicht gehen. Und der Sommerroman „Haus aus Wind“ entpuppt sich als schmerzhaft-schöne Geschichte über einen tiefen menschlichen Wunsch: Ohne Scham leben und lieben zu können.…
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1 Michael Köhlmeier – Im Lande Uz. Gedichte 8:35
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8:35Mit den ersten Zeilen des Auftaktgedichts, das den programmatischen Titel „In klammen Zeiten“ trägt, wird eine neue Vorkriegsstimmung beschrieben. Eine kühle Feuchte scheint eine lange Lebens- und Wortgemeinschaft zu lähmen, während sich andere auf hitzige Schlachten vorbereiten. Die Helden rüsten sich, / Unser Haus zu zerstören, / und wir – – / schleifen die Argumente. Quelle: Michael Köhlmeier – Im Lande Uz. Gedichte Der Alltag der meisten Menschen geht wie gewohnt weiter, mit Bootstouren und Spielen, die wie eine absurde Ablenkung vor der drohenden Apokalypse erscheinen. Anders als diese „Oper des kleinen Mannes“ sieht das Drama der Intellektuellen aus: Die mahnenden Reden sind gehalten, die politische Entwicklung war nicht aufzuhalten. Das lyrische Wir zieht sich ins Private zurück. Michael Köhlmeier hat den Band seiner Frau, der Schriftstellerin Monika Helfer gewidmet. Sie ist das vertraute Gegenüber in diesen autobiographischen Versen, in denen Liebeserklärung und politische Verzweiflung miteinander verbunden sind. Deine Sorgen sind berechtigt, / dein Lachen ist schön. / Was soll ich nach größeren Worten suchen, / wenn die großen uns nicht schützen konnten. Quelle: Michael Köhlmeier – Im Lande Uz. Gedichte Gedichte als Schutz vor der Resignation „… ja, wenn die großen Reden gehalten sind, wenn die größten Worte uns nicht schützen konnten, dann ist es eine Einsicht in diese erschütternde Begrenztheit des Intellektuellen, dass die größten Gedanken vor der kleinsten Handlung kapitulieren. Ich bin aber nicht resigniert. Allein die Tatsache zu schreiben, etwas zu beschreiben, zum Beispiel den Gaumen anzuregen, wenn man das Wort ‚Himbeer‘ niederschreibt, allein das tröstet mich und schützt mich vor der Resignation.“ Zahlreiche Gedichte im ersten Zyklus des Bandes, der mit dem Titel „Im Haus des Feindes, im Haus des Freundes“ überschrieben ist, gleichen einer aphoristischen Selbstbefragung. Die Themen, die den bald 75-jährigen Schriftsteller Michael Köhlmeier immer schon beschäftigt haben, tauchen auch in seiner bitter-brillanten Poesie wieder auf: Die fortwährende Gewaltgeschichte der Menschheit, die ideologische Rechtfertigung terroristischer Mittel für angeblich heilige oder offen barbarische Zwecke. Die Sehnsucht nach der Gartenidylle angesichts der gesellschaftlichen, aber auch persönlichen Leiderfahrung. „Was ist genug?“ fragt die lyrische Stimme und schaut zum Beispiel auf die letzte Ruhestätte des früh verstorbenen Kindes. Die Kerzen auf dem Grab unserer Tochter – sind sie würdig / genug? / Die Gedanken an ihr Gesicht, wenn sie Sorgen hatte – sind sie / sorgenvoll genug? Quelle: Michael Köhlmeier – Im Lande Uz. Gedichte „Ich habe eine kleine Novelle geschrieben, die heißt: ‚Idylle mit dem trinkenden Hund‘, die sich um den Tod unserer Tochter dreht, aber erzählerisch das so auszubreiten, das habe ich nicht geschafft. Das geht vielleicht auch gar nicht, weil die Gedanken und alle diese Dinge, die mich an meine Tochter erinnern, sich nicht in eine wohl organisierte Erzählung fassen lassen. Da ist die die Lyrik näher. Da schützt mich die Lyrik mehr vor der Verzweiflung als die Erzählung.“ Höllenhymnen einer zerstörten Welt Michael Köhlmeier verzichtet auf das große lyrische Besteck, auf festes Versmaß und strenges Reimschema, als wolle er seine Gedanken weder durch eine opulente noch durch eine zu strenge Ästhetik einhegen. Diese Lyrik muss, passend zum Inhalt, nahezu formlos sein. Das zentrale Stilmittel ist der fein gesetzte Zeilenumbruch. In vielen Versen geht es um eine politische Elite, die nur noch schwer zu fassen ist: „Wer kein Gesicht hat, / beansprucht Macht.“ Und um die Macht zu erhalten, werde dann die altbekannte Propaganda abgespult, etwa für den Schutz der Familie sei gesorgt. „Noch als wir uns sicher fühlten, war bereits Krieg“ heißt es im Gedicht „Gebt Obacht!“. Der „Bürger am Bahnsteig“ hält nämlich schon einen faustgroßen Stein in der Hand, und Offiziere „töten den Nachwuchs anderer“. Nahezu folgerichtig landen wir im zweiten Teil des Bandes in einer zerstörten Welt. Das titelgebende Zentralstück des Buchs ist ein düsteres Langgedicht. „Im Lande Uz – Kantate zu den wüsten Jahren“ heißen die Höllenhymnen, die an Allen Ginsbergs „Howl“ erinnern. Köhlmeiers „Im Lande Uz“ ist allerdings nicht nur ein Heulgesang mit Bezügen zur Beatliteratur, sondern eben auch die Fortschreibung einer biblischen Geschichte, die den Autor bis heute beschäftigt. „Das Buch Hiob in der Bibel beginnt mit den Sätzen: Im Lande Uz lebte ein Mann namens Hiob, und diese schmerzliche Tatsache, dass diesem Mann Hiob alles angetan wurde, was man einen Menschen nur antun kann, ihm die Kinder nehmen, ihm all seinen Besitz nehmen, ihn schlagen mit Ausschlag und mit der Verachtung seiner Freunde – und das alles nur wegen einer Wette zwischen dem Teufel und Gott. Der Teufel sagt, na ja, gut, dass der Hiob zu dir hält, das ist deswegen, weil du ihm alles hinten und vorne reingeschoben hast. Und Gott sagt, dann nimm ihm alles weg, und dann schauen wir mal, wie er dann reagiert. Das ist so schmerzlich, das hat die Menschen nie losgelassen und hat mich auch nie losgelassen, die Lektüre vom Buch Hiob.“ Was aber hat die biblische Figur uns heute noch zu sagen? Wie verhalten wir uns, wenn wieder neue Schreckensnachrichten eintreffen? Hiob blieb bis zuletzt gottesfürchtig. Köhlmeier beklagt in seiner Kantate, dass nicht wenige Zeitgenossen ihre letzten Wertmaßstäbe ins Gegenteil verkehrt haben und sich ein erlösendes Unheil herbeiwünschen. Haben nicht die Kühnsten unserer Generation sich nach der / Katastrophe gesehnt, die ihnen die Nadel in der Beuge, die / Flasche am Hals, die Selbstmordgedanken in der Freizeit, die / heimlichen Hochzeiten im späten Herbst, die Karrieren ins / Graue, die Blamagen vor den diversen Vermittlungsinstituten erspart hätte? / Und die Klügsten, haben sie nicht gehofft, ihre Genossen retten zu / dürfen am Tag der Rache? / Und was ist mit den Frommen, glaubten sie nicht, einen Unter- / gang verdient zu haben, wenigstens einen? Quelle: Michael Köhlmeier – Im Lande Uz. Gedichte Kulturpessimismus und Selbstkritik Der Niedergang im Lande Uz, das für Köhlmeier nicht nur in der Bibel existiert, sondern auch noch im Hier und Heute, betrifft alle Bereiche: „In Film und Fernsehen herrscht Schäbigkeit“, heißt es an einer medienkritischen Stelle. Der „Mangel an Schönheit“ habe alle und jeden verdorben. Der radikale Kulturpessimismus spart auch nicht mit Selbstkritik, die in Form eines Reuegebets mit repetitiver Struktur gleich einem Rosenkranz gefasst ist. Mangel an Schönheit machte mich unglücklich und böse. / Mangel an Schönheit machte mich zynisch und bleich. / Mangel an Schönheit machte, dass ich mich langweilte und zu den / Sternen aufsah, ohne zu staunen. / Mangel an Schönheit machte mich verlegen vor meinem eigenen / Leben. / Mangel an Schönheit machte mich müde und lebensmüde. / Mangel an Schönheit machte mich neidisch und missgünstig. / Mangel an Schönheit machte mich feige. / Mangel an Schönheit verheerte die Welt, und ich frohlockte / darüber.“ Quelle: Michael Köhlmeier – Im Lande Uz. Gedichte Im dritten und letzten Teil des Buchs gibt es eine „Landkarte eines Verbrechens“ mit biographischen Fetzen. In wenigen Zeilen werden die Lebensläufe von Menschen umrissen, die aus unterschiedlichen Gründen schuldig geworden sind. Ob nun aus einem „Mangel an Schönheit“ oder einfach nur, weil es in den gegenwärtigen Verhältnissen offenbar kaum Chancen auf einen alternativen Lebensweg gab: Alwin war / der jüngste Sohn / der letzten Familie, deren Leben / darin bestand, / vor die Hunde zu gehen. Drei / seiner Brüder / saßen / im Gefängnis, / da war er / erst dreizehn. Quelle: Michael Köhlmeier – Im Lande Uz. Gedichte „Das ist ein abwesender Roman. Wenn man sagen würde, schreib einen Roman und dann hau neunzig Prozent raus. Das sind kleine Anhaltspunkte, die dem Leser sagen: Lass deine Einbildungskraft spielen und ergänze das dazwischen.“ Ein reflektierter Wahrheitssucher Der Moralist Köhlmeier hat also doch noch nicht aufgegeben, sein Publikum zum Selberdenken zu animieren; er feiert die literarischen Zwischenräume, weil den Worten zunehmend nicht zu trauen ist. „Es wird so viel gelogen heutzutage“ lautet der letzte Satz des Gedichtbandes, der etwas zu allgemein und etwas zu pathetisch klingen könnte, wenn nicht zuvor sehr detailliert von den Unwahrheiten im „Haus des Freundes“ und den noch viel schlimmeren Lügen im „Haus des Feindes“ die Rede gewesen wäre. Michael Köhlmeier bleibt auch in seiner lyrischen Wehklage ein reflektierter Wahrheitssucher. Den „bis ans Ende wohlgebauten Sätzen“, wie es im Schlussgedicht heißt, misstraut er. Es sind daher gerade die Momente der sprachlichen Verstörung, die diesen Gedichtband stark machen.…
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Alex Lissitsa, der im Jahr 1974 in einem kleinen Dorf in der Nähe der nordukrainischen Stadt Tschernihiw geboren wurde, blickt auf sein Land mit den Augen des studierten Agrarökonomen. Im Lauf seiner beruflichen Karriere stieg er zum Leiter eines riesigen ukrainischen Landwirtschaftskonzerns auf, der sein Geld mit Getreide und Milchwirtschaft verdiente. Zwangsläufig hatte Lissitsa vielfältige Verbindungen in die Politik und kann daher in seinem Buch, das von den beiden Kriegsjahren 2022 bis 2024 erzählt, mit dem Blick des Insiders berichten, der weiß, was hinter den verschlossenen Türen des Präsidialamts gesprochen wird. Lissitsa versteht genau, wie seine Landleute ticken, er kennt ihre Tugenden wie ihre Laster und nimmt sie von der Kritik nicht aus, vor allem wenn es um die grassierende Korruption im Land geht. Doch mit der gleichen Aufrichtigkeit erzählt er von der Unbeugsamkeit, mit der sich seine Mitbürger gegen die russische Aggression behaupteten. Ich habe ernsthaft befürchtet, dass sie sofort das Handtuch werfen, die weiße Fahne herausholen und die Invasion, so sie denn kommt, gleichgültig über sich ergehen lassen werden. „Na ja, jetzt kommen eben die Russen. Das ist auch in Ordnung.“ Doch nun geschieht etwas völlig anderes. Die Leute halten zusammen. Sie lehnen sich gegen die Besatzer auf. Das erfüllt mich mit Stolz. Sie haben etwas gelernt und verhalten sich nicht mehr so, wie es die Ukrainer jahrhundertelang getan haben. Quelle: Alex Lissitsa – Meine wilde Nation Anhaltender Widerstand gegen die Russen über Generationen hinweg Von dem anhaltenden Widerstand gegen die Russen gibt Lissitsa in seinem Buch, das der Chronologie der Ereignisse in einem losen Tagebuchstil von 2022 an folgt, eindrucksvolle Beispiele. Der Hass, den die Russen mit ihrem Angriff und ihrer brutalen Besatzung geschürt hätten, werde über Generationen wirksam bleiben. Lissitsa ist ein entschiedener Patriot, aber das heißt für ihn, auch seine eigenen Landsleute nicht von der Kritik auszunehmen. So prangert er schonungslos die Kriegsgewinnler und politischen Karrieristen an. Vor allem berichtet Lissitsa mit dem Wissen des Experten davon, wie er dem von ihm geleiteten Agrarbetrieb im Krieg zum Überleben half: Zerstörungen der Infrastruktur zwingen ihn, einen einst florierenden Milchbetrieb zu schließen, auf den Anbauflächen müssen Minen geräumt, auf einer internationalen Konferenz zum Wiederaufbau des Landes Kredite besorgt werden. Lissitsas Rückblick auf die Entstehung des Agrarkonzerns ist ein anschaulicher Beitrag zur postsowjetischen Wirtschaftsgeschichte des Landes. Ebenso anschaulich schildert er seine persönlichen Erlebnisse im Krieg – die Flucht bei Kriegsausbruch nach Westen, sein Wiedersehen mit der Familie, die Sorge um die in der Wohnung zurückgelassene Katze, die Probleme mit der eigenen Gesundheit. Dichte Beschreibung von Land und Leuten Die dichte Beschreibung der sozialen und politischen Verhältnisse in der Ukraine weckt ein tiefes Verständnis für Land und Leute, deren Charakter Lissitsa durch einen halsstarrigen Individualismus und einen Zustand der Wildheit gekennzeichnet sieht. Das Festhalten an Traditionen, auch eine gewisse Rückständigkeit aus sowjetischer Zeit verbänden sich mit neuen Erfahrungen aus 30 Jahren Kapitalismus: Der wahre Ukrainer hat sehr wohl das neueste iPhone, aber er nutzt es als Taschenlampe, um nachts draußen den Weg über den dunklen Hof zum Plumpsklo zu finden. Quelle: Alex Lissitsa – Meine wilde Nation Kulturhistorische Exkurse, politische Reflexionen und die mit spitzer Feder gezeichneten Portraits seiner ukrainischen Landsleute verbindet Lissita auf eine zwanglose Weise. Sein Buch über die „Ukraine auf dem Weg in die Freiheit“, wie der Untertitel lautet, ist ebenso spannend wie lehrreich zu lesen. Und es ist das Plädoyer eines engagierten Patrioten, der sein Land fit machen will für die Aufnahme in die EU.…
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Ein Vater, der an eine Weltverschwörung glaubt. Seine Familie, die aufgegeben hat, mit ihm darüber zu sprechen. Oder miteinander. Das klingt nach großer Tragödie. Doch Ika Sperlings Comic-Debüt „Der Große Reset“ verbreitet von Seite 1 an vor allem eines: Leichtigkeit. Mit schwungvollem Strich und vielen Aquarellfarben schickt sie ihr Alter Ego, das wie sie Ika heißt, in die pfälzische Provinz. Wochenende. Heimatbesuch. Mit der großen Schwester daddeln oder abhängen. Nur verrät schon ihr erstes Gespräch: Unbeschwert wird der Besuch nicht. Ika: U..und? Was macht er? Hat er seinen Job schon gekündigt? Hat er schon einen Flug. Glaubst du, er macht dieses Mal Ernst? Hat er was darüber gesagt, ob er das Haus verkauft? Lernt der schon spanisch? Lässt er sich dann auch scheiden? Und was ist dann mit uns? Was genau ist dann sein Plan? Was passiert dann mit dem Hund? (kurze Pause) Bella: Ika. Das kannst du ihn gleich alles selbst fragen. Quelle: Ika Sperling – Der große Reset Tragik in den Dialogen, Komik in den Bildern Damit ist die Fallhöhe gesetzt. Für die Familie geht es ums Ganze. Von nun an kippt „Der Große Reset“ zwischen zwei Polen hin und her. In den Dialogen offenbaren sich Verzweiflung und Resignation, die jeder in Ikas Familie mit sich herumschleppt. Die Bilder aber verbreiten weiter bunte Leichtigkeit. Auch, weil sie den Alltag in der Familie und im Dorf zeigen. Dabei fühlt man sich bisweilen an Sketche von Loriot erinnert. Kleinbürgerleben hat ungeheuer komisches Potenzial und Ika Sperling hat ein Auge dafür, wie sich Menschen ungewollt lächerlich machen. Die übergriffige Mutter, die Teilnahme heuchelnde Nachbarin, ihr eigenes ungelenkes Alter Ego – sie schont niemanden. Ihre Figuren zeichnet sie bisweilen, als seien sie überdrehten Cartoons entsprungen. Sie verzerrt die Gesichter oder lässt Schweißtropfen fliegen. Und doch ist die ganze Zeit eine große Zärtlichkeit spürbar, für Schwester, Mutter und sogar für den fremd gewordenen Vater. Ihn entwirft sie als amorphes durchsichtiges Wesen, halb gefüllt mit Flüssigkeit. Tropfen rinnen als Verschwörungsmythen nach und nach aus ihm heraus. Denn er wähnt sich als Opfer böser Mächte und will raus aus Deutschland. Aber ich muss mich beeilen. Die scheinen ihre Pläne schneller umzusetzen als gedacht. Der Krieg für Europa war erst für 2024 vorhergesagt. Und gerade sieht es so aus, als ob sie das vorgezogen hätten. Wahrscheinlich weil immer mehr Leute wie ich aufwachen und bei dem Mist nicht mehr mitmachen und sich jetzt wehren. Zuerst Corona, dann der Krieg, jetzt die Inflation. Es ist alles so gekommen, wie ich gesagt habe. Wach endlich auf! Quelle: Ika Sperling – Der große Reset Verschwörungsglauben entsteht nicht im luftleeren Raum Redet sich der Vater in seine Wut hinein, verlieren seine Umgebung und Tochter Ika ihre Konturen und Farben, alles fließt ineinander. Auch wenn die Zeichnerin danach zu ihrem lockeren Strich und bunten Bildern zurückkehrt – es wird klar: Der Vater lebt in seiner eigenen Realität. Ika Sperling lässt uns aber nicht im Glauben, seine Radikalisierung sei ein Sonderfall. Sie porträtiert ein Umfeld, in dem andere ganz ähnlich denken. Gespaltene Gesellschaft – gespaltene Familie Glücklicherweise erspart „Der Große Reset“ uns Lesenden moralische Verurteilungen. Ika Sperling hält in ihrem Comic einfach fest, wie die politische Spaltung der Gesellschaft sich ins Private fortsetzt. Bei Konflikten lässt sie ihre Ika einfach aus dem Bild spazieren. Oder sie zeichnet immer wieder einen Querschnitt vom Haus der Familie. Unter dessen Dach leben zwar alle, aber jeder in einem anderen Raum. Und so endet ihr Debüt nicht hoffnungslos, aber ernüchtert. Aus Ikas Vater ist zum Schluss alle Flüssigkeit herausgesuppt. Vielleicht, weil die beiden sich endlich offen auseinandergesetzt haben. Und seine Entscheidung getroffen ist. „Reset“ ist ja auch übersetzbar mit „Neustart“. Ein großartiges Comic-Debüt.…
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Sinnvolle Forderungen gegen Armut und Ungleichheit Die Österreicherin Marlene Engelhorn hat rund 25 Millionen Euro geerbt und wird ein Großteil ihres Erbes nicht behalten. Ein Rat aus fünfzig Bürgerinnen und Bürgern wird darüber entscheiden, was damit geschehen soll. Engelhorn tritt dafür ein, die Erbschaftssteuer zu erhöhen und große Vermögen mit saftigen Steuern zu belegen, um Armut und Ungleichheit entgegenzuwirken. Den Schluss, dass diese Forderungen sinnvoll sind, legt auch das Buch „Limitarismus. Warum Reichtum begrenzt werden muss“ nahe. Das leidenschaftliche Plädoyer für die Deckelung von Vermögen stammt aus der Feder der niederländischen Wirtschaftswissenschaftlerin und Ethikprofessorin Ingrid Robeyns. Sie liefert Belege für die weltweit wachsende Ungleichheit und erklärt, warum diese schädlich für die Stabilität der Demokratie und das Klima ist. In einem zweiten Schritt zeigt sie Wege auf, diese Ungleichheit wieder zu verringern. Die Forscherin schreibt, (...) dass in den vergangenen fünf Jahren jeder der zehn reichsten britischen Milliardäre mindestens 10 Milliarden Pfund besaß oder das Äquivalent von zehntausend Dreizimmerwohnungen mitten in London. Zehntausend Dreizimmerwohnungen. Quelle: Ingrid Robeyns - Limitarismus Zwei Millionen Dollar Stundenlohn Zu Elon Musk, der 2022 die Spitze der Milliardärsliste des US-Magazins Forbes anführte, heißt es bei Robeyns: Damals belief sich der geschätzte Wert seines Vermögens auf 219 Milliarden US-Dollar. Welchem lebenslangen Stundenlohn entspricht Musks Vermögen? Antwort: 1.871.794 US-Dollar pro Stunde. Annähernd zwei Millionen Dollar pro Stunde. Fünfundvierzig Jahre lang für jede Arbeitsstunde. Quelle: Ingrid Robeyns - Limitarismus Robeyns macht in ihrem gut lesbaren Buch mit solch eindrücklichen Beispielen klar, was es heißt, unermesslich reich zu sein. Sehr große Vermögen, so schreibt sie, wurden meist nicht nur auf saubere Weise angehäuft, sondern profitierten von Steuerbetrug, Korruption oder Geldwäsche und bauten auf ausbeuterischen Gewinnen aus der Kolonialzeit auf. Robeyns schreibt großen Vermögen auch zu viel politischen Einfluss zu, etwa durch Lobbyismus. Dadurch werde das Prinzip „eine Person – eine Stimme“ ausgehebelt. Wachsende Ungleichheit und Armut seien jedoch noch weitaus gefährlicher für die Demokratie: Wenn unterschwellige Unzufriedenheit über die Verhältnisse herrscht, kann ein einziges Ereignis sehr schnell eine Eskalation auslösen und zu Protesten, Aufständen und sogar Regimewechseln führen. Die einzige Möglichkeit, solche dramatischen Umwälzungen zu verhindern, ist, den Gesellschaftsvertrag so zu überarbeiten, dass er allen einen gerechten Nutzen gewährleistet. Quelle: Ingrid Robeyns - Limitarismus Vielfältige Wege zu mehr Gleichheit Für Robeyns gibt es verschiedene Wege, um mehr Gleichheit zu erreichen. Hohe Steuern für Vermögende sind ein Weg, die Besteuerung von Erbschaften ein weiterer. Und Steueroasen und Steuervermeidungsstrategien gehörten abgeschafft. Am liebsten würde die Autorin ein Limit für Reichtum einführen, zumal ab einer bestimmten Vermögenshöhe der Wohlstand eines Menschen nicht mehr wachsen könne. Eine Million Euro pro Person ermögliche einem Menschen ein sehr gutes Leben, habe beispielsweise eine Umfrage in den Niederlanden ergeben. Robeyns weiß, dass drastische Eingriffe wie eine Obergrenze für Reichtum utopisch sind. Überdenkenswert sind ihre Vorschläge aber durchaus, zumal es auch die Reichen sind, die am meisten zum Klimawandel beitragen. Wie Marlene Engelhorn ist inzwischen eine wachsende Zahl von Vermögenden zu dem Schluss gekommen, dass ungezügelt wachsender Reichtum nicht von Nutzen sei. Wie Taxmenow in Deutschland, fordern inzwischen weltweit Vereinigungen von Vermögenden die Einführung gerechterer Steuersysteme, berichtet Ingrid Robeyns – nicht zuletzt aus Angst vor Gewalt und politischer Instabilität.…
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1 Paula Irmschler – Alles immer wegen damals 4:09
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4:09Müsste man das Leben von Karla mit einem Satz zusammenfassen, so lautete er vermutlich: Es ist kompliziert. Sie ist 29, lebt in Köln in prekären Verhältnissen, ist verliebt in eine Frau, die weit weg ist, und mit ihrer Mutter Gerda hat sie seit zwei Jahren kein Wort gewechselt. Warum genau, ist nicht so leicht zu sagen. Eine Antwort könnte darin liegen, dass Karla 1989 in Leipzig zur Welt kam. Ihre Mutter hatte da bereits drei Kinder, musste sich nach der friedlichen Revolution plötzlich in einem neuen System zurechtfinden und hatte kaum Zeit und Nerven, sich der sensiblen Karla ausreichend zu widmen. Und weil auch der Vater abwesend war, musste das Mädchen sich eben selber helfen, was einerseits in tiefsitzende Ängste und Selbstzweifel und anderseits in einer tiefen Entfremdung zwischen Tochter und Mutter mündete. Es klingt dramatisch und das ist es auch, doch Paula Irmschler findet in ihrem Roman „Alles immer wegen damals“ einen Ton für ihre Geschichte, der schön schnoddrig ist und doch berührt. Erst als sie 17 wurde, erfuhr Mutti, dass Karla schon lange ihre Tage hatte und war enttäuscht, sie hätte das gern gewusst, es sei doch eine große Sache, man wird zur Frau. Karla fühlte sich überhaupt nicht als Frau, nur weil sie einmal im Monat ultrafiese Schmerzen und eklige Suppe im Schlüpfer hatte. Sie wartet noch heute auf das Gefühl. Auch ihr Körper hat sich nicht verändert. Sie ist bis heute dünn und flach, sie findet sich viereckig. Sie ist eine Sache. Quelle: Paula Irmschler - Alles immer wegen damals Der Ossi in ihr Immer im Wechsel erzählt Paula Irmschler von Karla in Köln und Gerda in Leipzig. Karla wollte zwar so schnell und so weit wie möglich weg von der Mutter, aber auch in Köln fühlt sie sich unfertig und verloren. Allerdings bemerkt sie in der Ferne, dass sie ihre Herkunft nicht einfach abstreifen kann. Und so zeichnet Paula Irmschler nicht nur das Porträt einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung, sondern wie nebenbei auch das einer nicht weniger schwierigen Ost-West-Beziehung, die sich in Karla auf interessante Art und Weise personifiziert. So, wenn sie allein in einem Kölner Café sitzt und die einladenden Blicke einer Frau am Nebentisch abwehrt. Karla ist ein unzugänglicher Millennial, obendrauf ist sie noch, wie sie ist, und dann steckt da leider auch immer ein unaufgeschlossener Ossi in ihr, der skeptisch gegenüber allen ist, die ihr fremd sind, also alle, die sie kürzer als ein Jahr kennt. Wann wird sie endlich zur Kölnerin und schmatzt einfach alle ab? Quelle: Paula Irmschler - Alles immer wegen damals Und wo bleibt unsere Geschichte? Mutter Gerda dagegen gehört zu der Generation Ostdeutscher, die im wiedervereinigten Deutschland tapfer ihren Weg gegangen sind und dabei zugesehen haben, wie Leute aus dem Westen auch im Osten zunehmend das Sagen hatten. Mit ihrer Freundin Karin erträgt sie in Leipzig die Höhen und Tiefen dieser Entwicklung und bemerkt 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine gewisse Selbst-Musealisierung. Die Lebensgeschichten der beiden sind jetzt Systembiografien. Das Leben von damals befindet sich nun in Museen und Dokus, aber nirgendwo findet Gerda ihres. Vieles war eigentlich so unspektakulär, findet sie. Ja, richtig langweilig, ergänzt Karin. Aber dann sagt sie: Das sollte man nicht öffentlich sagen, sonst verharmlost man die Diktatur. Quelle: Paula Irmschler - Alles immer wegen damals Weil sowohl Karla als auch Gerda im November geboren sind, schenken ihnen die Geschwister zum 30. bzw. 60. Geburtstag schließlich eine gemeinsame Reise nach Hamburg, die Karla nur zähneknirschend antritt und die sie unverhofft an die Ostsee führt. Dort kommen Tochter und Mutter sich immerhin wieder so nahe, dass sie erst über Wessis und deren Macken lästern und sich dann ihre Versionen der gemeinsamen Geschichte erzählen können. Der Titel von „Alles immer wegen damals“ ist also Programm, ein manchmal trauriges, oft komisches, aber immer unterhaltsames Programm. Paula Irmschler schafft es, das zumindest im Osten immer noch heiße Eisen der ungleichen Verhältnisse anzufassen ohne in Larmoyanz zu verfallen. Dass der Roman ein bisschen zerfasert und kein richtiges Ende findet, liegt wahrscheinlich in der Natur der Sache: Familie ist nie zu Ende und auch die deutsche Wiedervereinigung ist, wenn man ehrlich ist, noch in vollem Gange.…
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1 Charly Hübner – „Wenn du wüsstest, was ich weiß ...“: Der Autor meines Lebens | Buchkritik 4:34
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4:341989 der Mauerfall, dann der politische Umbruch mit einer Welt voll neuer Möglichkeiten in diese und jene Richtung. Charly Hübner, ein seinerzeit 16jähriger Mecklenburger, will Schauspieler werden, und er ist bereit, all das Neue ringsum zu erkunden, zu erkennen, zu erleben und – auch das – zu erlesen. Hans Fallada ist bis dahin sein Lieblingsautor, Fallada mit seiner Mischung aus genauer Beobachtung, sozialer Anteilnahme und klarer, stets im Dienst der Erzählung stehender Sprache. Aber dann - auch der Buchmarkt ist ja nun ein großer, gesamtdeutscher - geraten ihm die „Jahrestage“ in die Hände, das Meisterwerk des Uwe Johnson – auch er ein ostdeutsches Nordlicht. Gut fünf Jahrzehnte später spricht der inzwischen als Schauspieler bekannt gewordene Charly Hübner Johnsons Romanchronik als Hörbuch ein und liefert dazu noch eine Art Liebeserklärung - eben an Uwe Johnson. Johnson ist für Charly Hübner der Autor seines Lebens Johnson ist für Hübner der Autor seines Lebens und einer der größten deutschsprachigen Erzähler des 20. Jahrhunderts. Manche Eingeweihte werden Hübner hier zustimmen, andere Johnson doch eher eine Kategorie unter Mann, Musil, Keller und Kafka einsortieren, vielleicht auch noch unter Günter Grass und Martin Walser. Was letztlich egal ist, denn solche Rankings haben immer etwas irgendwie Verfehltes und Angestrengtes. Viel interessanter ist es, dem Schauspieler Hübner bei seinen Umkreisungen des Johnsonschen Erzählstils zu folgen: „Es geht eben nicht nur darum, cool eine Geschichte zu erzählen, sondern auch darum, wie man diese spezielle Geschichte erzählt und mittels Sprache, das, was die Helden der Geschichte erleben, spürbar macht.“ „ Uwe Johnson suchte in der Sprache nach einem Ausdruck, der Tatsache und Empfindung, persönliche Sorge und historischen Fakt verbindet. Er erfand Sätze, die mir sowohl die Vertracktheit der politischen Situation als auch die persönliche Empfindung der erlebenden oder berichtenden Person widerspiegeln, wie zum Beispiel die rasenden Gedanken des trainierenden Radrennfahrers Achim in dem 1964 erschienen Roman „Das dritte Buch über Achim“.“ Hübners Biografie verbunden mit Johnsons Leben Immer tiefer wird Johnson die verschiedenen Zeit- und Ereignisebenen verdichten, immer offener und freier wird er das Abgelauschte gegen das von ihm Erfundene, das Geschnatter neben das Chronologische stellen und es dann in den „Jahrestagen“ zu seinem Großroman zusammenbinden. „Das gezierte Sprachbild ist ein Code für eine Wirklichkeit, für einen Gedanken, den Johnson nicht direkt erzählen will. Er nimmt einen Umweg. Im Umweg liegt Johnsons Geheimnis, als würde er sich auf vielen Wegen und mit allen möglichen, lyrischen, journalistischen, erzählerischen Mitteln diesem Geheiminis (einem Lebensgeheimnis?) nähern.“ Uwe Johnson neu entdecken Charly Hübner verbindet seine eigene Biografie unaufdringlich mit dem Lektüreerlebnis, er ruft spezielle Lebensstationen Johnsons auf und kehrt von da zurück zur großen Herausforderung der Hörbuchproduktion der Jahrestage. Die Jahrestage hat Hübner mit Moderatorin Caren Miosga eingelesen, und warum die beiden genau so und nicht anders gelesen haben – auch das erschließt sich mit diesem Buch. Und so ist Charly Hübners Johnson-Würdigung eine feine, an jedem Punkt gut nachvollziehbare Lesehilfe fürs Entdecken oder Bewundern des Schriftsellers Uwe Johnson.…
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1 Manu Larcenet – Die Straße. Nach dem Roman von Cormac McCarthy | Buchkritik 5:42
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5:42Schwarze, wilde Wolken türmen sich am Himmel auf. Ein Sturm fegt mit mächtiger Kraft über die Erde. Unter einer Plane, die notdürftig an einem Stock festgebunden ist, liegen Vater und Sohn, kaum geschützt vor der Naturgewalt, die um die beiden tost. Das ist die Eingangssequenz der Comicadaption von „Die Straße“ von Manu Larcenet – sie ist eine Methapher für all das, was die beiden in diesem Road Movie erwartet. Überleben in der Hölle Eine nicht näher erklärte Katastrophe hat die Erde zerstört. Die wenigen Überlebenden müssen in einer Welt klarkommen, in der keine Pflanze mehr wächst und das Wasser versiegt ist. Sie suchen nach den letzten Konserven der untergegangenen Zivilisation – viele jagen die letzten Tiere und Menschen, um sie zu essen. Das Leben in dieser Welt ist die Hölle. Werden wir sterben? – Irgendwann schon. – Und was… würdest Du machen, wenn ich sterben würde? – Dann würde ich auch sterben wollen. Quelle: Manu Larcenet – Die Straße. Nach dem Roman von Cormac McCarthy 10 Jahre alt ist der Sohn – und genauso lange irrt der Vater mit ihm durch die kaputte Welt. Das geht aus einem Brief hervor, den der Vater im Comic auseinanderfaltet. Es ist der Abschiedsbrief der Mutter, die ihren Sohn kurz nach der Katastrophe entbunden hat. Sie hatte keine Hoffnung, menschenwürdig in dieser zerstörten Welt zu leben und erschoss sich. Nun irrt der Vater mit der Pistole durch die Welt und hat noch genau zwei Kugeln übrig. Bilder, die an die biblische Apokalypse erinnern Warum unter diesen Umständen weiterleben? Diese Frage stellt (er) sich immer wieder. Manu Larcenet zeichnet die bis auf die Knochen ausgemergelten Körper von Vater und Sohn so, dass sie an die Darstellungen der biblischen Apokalypse der Renaissance erinnern. Allerdings fehlt den meisten Zeichnungen der üppige Hintergrund. Die Welt von Manu Larcenet ist öde und leer, nur die Äste einiger toter Bäume ragen gespenstisch in die Bilder. Jedes einzelne Bild in diesem Comic ist ein Kunstwerk der Hölle. Geht´s? Dir ist kalt, mh? – Ja. Können wir anhalten? Quelle: Manu Larcenet – Die Straße. Nach dem Roman von Cormac McCarthy Cormac McCarthy lässt in seinem Roman „Die Straße“ abwechselnd Vater und Sohn von ihrer Odyssee erzählen. Manu Larcenet streicht den Text des gut 250-Seiten Romans radikal zusammen. Sprache ist in dieser unmenschlichen Umwelt kein facettenreiches Kommunikationsmittel, das Grauen ist unaussprechlich. Vater und Sohn haben keine Namen und unterhalten sich fast ausschließlich über Praktisches. Umso bedrohlicher werden die kleinsten Wendungen in der kargen Kommunikation. Ich versuche, ein Feuer zu machen. Gib mir die Streichhölzer. – Ich… Ich hab sie verloren, Papa. – Was? – Ich hab sie verloren, ich weiß nicht wann. Ich wollte es Dir nicht sagen, tut mir leid, Papa. Quelle: Manu Larcenet – Die Straße. Nach dem Roman von Cormac McCarthy Im Roman bezeichnen sich Vater und Sohn als diejenigen, die „das Feuer bewahren“. Damit meint Cormac McCarthy, dass sie trotz aller Widrigkeiten ein moralisch integres Leben führen. Das wird bei all dem Hunger und dem Schrecken immer wieder auf die Probe gestellt. Als der Sohn von einem Kannibalen gefangen wird, befreit ihn der Vater mit einem Kopfschuss. Die halb verhungerten Menschen, die sich andere Kannibalen in einem Keller als Vorratslager halten, werden dagegen von Vater und Sohn nicht befreit, aus Angst, Aufmerksamkeit zu erregen. Keine Hoffnung, auch nicht am Meer Die beiden folgen einfach nur der Straße quer durch den Kontinent, die sie ans Meer bringen soll - weil der Vater gute Erinnerungen ans Meer hat. Als sie dort ankommen, ist es aber nicht besser als im Landesinnern: schwarze Wolken hängen über dem Meer, ein zerborstener Kutter liegt am Strand und tote Fische liegen zwischen menschlichen Skeletten. Papa? – Mmh? – Was sind unsere langfristigen Ziele? – Wo hast Du das denn her? – Das hast Du gesagt. – Wann? – Vor langer Zeit. – Und was war die Antwort? – Das weiß ich nicht mehr. – Ich auch nicht. Quelle: Manu Larcenet – Die Straße. Nach dem Roman von Cormac McCarthy Und dann werden sie auch noch beraubt. Alles Hab und Gut, das die beiden in einem Einkaufskorb den weiten Weg bis ans Meer geschoben haben, die Konserven, die sie in mühevoller Arbeit zwischen Leichen und anderen grausigen Funden zusammengeklaubt haben, um zu überleben, ist nach der ersten Nacht am Meer weg. Wie ein Wahnsinniger sucht der Vater nach dem Dieb, flitzt von der Deckung eines Autos über die Straße, findet einen verlotterten Mann mit dem Einkaufswagen - und rächt sich. Das Messer runter… Zieh dich aus, alles runter – und zwar schnell… Leg alles in den Wagen. – Mach das nicht. – Die Schuhe auch. Ich verhungere.. Du hättest dasselbe getan. Du weißt, ohne Kleider verrecke ich. – Du wolltest uns töten. Ich lass Dich genauso zurück, wie Du uns. Quelle: Manu Larcenet – Die Straße. Nach dem Roman von Cormac McCarthy In einem Anfall von Wut und Verzweiflung hat der Vater seinen Vorsatz vergessen, moralisch integer zu bleiben. Will man in so einer Welt wirklich überleben? Cormac McCarthy gibt darauf keine Antwort. Stattdessen zeigt er den Niedergang aller Menschlichkeit in einer zerstörten Welt. Als der Roman vor knapp 20 Jahren erschien, vermuteten viele Kritiker, dass McCarthy die Folgen des Klimawandels (beschrieben/aufgezeigt) hat. Heute erscheint das noch wahrscheinlicher. Manu Larcenet hat die Sprache des Romans in eindrückliche und zeitgemäße Bilder des Grauens verwandelt, mit facettenreichen Grauschattierungen. Das ist keine erbauliche Sommerlektüre, sondern ein postapokalyptisches Meisterwerk.…
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1 lesenswert Magazin: (Nicht ganz leichte) Sommerlektüren 54:54
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54:54Ein gutes Buch darf in keinem Reisegepäck fehlen - und da hat das Lesenswert-Magazin einige Tipps.
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Schon der Anfang ist typisch Rachel Cusk: präzise, kühl und treffend genau. Ab einem gewissen Punkt in seiner Laufbahn begann der Künstler G – vielleicht weil er keine andere Möglichkeit sah, sich zeitlich und räumlich in der Geschichte zu orientieren -, auf dem Kopf zu malen. Quelle: Rachel Cusk – Parade Wo findet die künstlerische Frau ihren Platz? Die Kunstwelt reagiert begeistert: Die Wirklichkeit auf den Kopf gestellt - was für ein genialer Einfall! Eine Betrachterin aber steht wie erstarrt: Als Gs Frau die umgedrehten Bilder zum ersten Mal sah, fühlte sie sich, als hätte jemand sie geschlagen. Das Gefühl, dass alles richtig erschien und doch grundlegend falsch war, erkannte sie auf Anhieb wieder. Dies war ihre Befindlichkeit, die Befindlichkeit ihres Geschlechts. Quelle: Rachel Cusk – Parade Damit ist auch schon das Thema auf dem Tisch, das fast das ganze Werk von Rachel Cusk beherrscht: Wo findet die Frau, vor allem die künstlerische Frau ihren Platz? Wie kann sie ihre Talente erkennen und umsetzen? Und wie schützt sie sich vor den Anforderungen des Alltags, der Familie, der Liebe, die sie von ihrem Weg abbringen? Das fragt sich auch Gs Frau, findet dann aber einen Ausweg, mit dem sie einigermaßen leben kann: Seine Erfolge - seine Leistungen – waren auch ihre, besser gesagt hatte sie ihm ihr Leben und ihre Kraft gewidmet und auf die Möglichkeit verzichtet, es selbst zu etwas zu bringen. Deshalb beanspruchte sie nun einen Teil seiner Macht für sich. Quelle: Rachel Cusk – Parade Themenwechsel: es geht um Mutterschaft Doch kaum hat man sich als Leser auf dieses Malerpaar und seine Probleme eingelassen – da bricht die Geschichte auch schon ab. Übergangslos übernimmt eine andere Frau den Erzählfaden, die einfach nur als „Ich“ auftritt, vielleicht sogar die Autorin selbst ist. Sie berichtet von einer Künstlerin, die auch G heißt und ziemlich jung im Kindsbett gestorben ist. Plötzlich geht es also um Mutterschaft und ob sie die schöpferische Arbeit von Frauen behindert oder sogar zerstört. Auch die Erzählerin fühlt sich davon bedroht. Manchmal scheinen in dieser Stadt alle Kinder zu weinen. Sie werden in Buggys durch die Straßen geschoben und heulen wie Sirenen. Quelle: Rachel Cusk – Parade stellt sie genervt fest. Während die Kinder schreien, erscheint mir meine eigene Geschichte der Mutterschaft wie ein hoch flussaufwärts gelegener Ort, von dem ich weit abgedriftet bin. (…) Das Geschrei der Kinder weckt meine Ungeduld und so etwas wie Angst, als verkörperten sie eine universelle Einsatztruppe, aus der ich niemals entlassen werde. Quelle: Rachel Cusk – Parade Später wird dieser Gedanke aus der Sicht einer Tochter aufgegriffen. Denkt denn nicht jeder, seine Mutter hätte eine Künstlerin sein können? Vielleicht glauben wir das, weil wir uns schuldig gemacht und das Leben unserer Mutter ruiniert haben. Quelle: Rachel Cusk – Parade Rachel Cusk ist nicht ohne Grund eine hochgelobte Schriftstellerin - wenn auch in Deutschland weniger bekannt als im englischsprachigen Raum. Schon zu Beginn ihrer literarischen Karriere 1993 wurde sie als eine der besten jungen britischen Autorinnen gefeiert und dann auch mit Preisen überhäuft. In nahezu allen ihren Büchern umkreist sie Themen wie Mutterschaft und weibliches Künstlertum. Fast zornig verteidigt sie das Recht der Frau, eine eigene Sicht auf die Welt zu haben und die auch kreativ umzusetzen. 2022 sagte sie in einem Interview: „Muss eine weibliche Stimme denn ungelebt und unentdeckt bleiben? Besteht ihr Wert darin, überhaupt nicht oder nur stumm zu existieren? Nicht frei zu sein, keine Dinge zu besitzen und nicht das Wissen, das daraus entsteht? Oder ist sie in Wirklichkeit eine eigenständige Existenz und ein als eigenständig erkennbares geistiges Wesen?“ Ein Plädoyer für weibliche Eigenständigkeit Auch Rachel Cusks neues Werk „Parade“ ist ein Plädoyer für die Eigenständigkeit der Frau und für den Respekt vor ihrer künstlerischen Kraft. Denn trotz aller Gleichberechtigung gibt es immer noch die vertrauten Rollenverteilungen, die Machtkämpfe zwischen den Geschlechtern. Manchmal brutal direkt, manchmal nur wie ein feines Gespinst, eine Art Spinnennetz - Gelegenheit für schön fiese Bemerkungen: Einem Mann ihre Alpträume aufzubürden, war womöglich ihr Abschiedsgeschenk an das männliche Geschlecht. Vielleicht lässt mich dieser Gedanke heute Nacht besser schlafen. Quelle: Rachel Cusk – Parade Leider hat Rachel Cusk ihrem Roman eine ziemlich komplizierte Form verpasst. Er zerfällt in oft unverbundene Einzelteile. Männliche und weibliche Künstler tauchen auf und verschwinden wieder und alle heißen sie G. Oft rätselt man, an welchem Ort und in welcher Zeit man sich denn jetzt befindet. Doch immer wenn man kurz davor ist, das Buch beiseite zu legen, genervt von dem ewigen Hin und Her und dem vielen Theoretisieren, fegen wunderbar dichte und klare Passagen allen Frust weg. Nach der Parade bedeckte eine flockige Schicht aus Müll und Glasscherben die Straße (…) An manchen Stellen lag er fast einen halben Meter hoch, größtenteils leere Flaschen und Verpackungen. Wie Tiere, die in freier Wildbahn einen abgenagten Kadaver zurücklassen, hatte die Leute gegessen, getrunken und die Behältnisse einfach zu Boden geworfen. In den Schaufensterscheiben spiegelte sich der rosa Himmel. Quelle: Rachel Cusk – Parade Solche sprechenden Bilder sind eine der großen Stärken von Rachel Cusk. Sie ist eine erbarmungslos genaue Beobachterin von Menschen, von kleinen, erhellenden Szenen, in denen sie viel mehr erkennt, als an der Oberfläche erscheint. Besonders genau aber beobachtet sie sich selbst, klug und fast übersensibel. Es lohnt sich also, sie näher kennenzulernen, mit ihren Gedanken und ihrer Dünnhäutigkeit – doch „Parade“ ist dafür leider kein guter Einstieg: zu theoretisch, zu kopflastig, zu kompliziert. Deshalb lieber „Arlington Park“ oder „Der andere Ort“. Oder die vielgelobte „Outline“-Trilogie. Alle aber mit punktgenauen Erkenntnissen wie diese: Gottseidank sind wir nicht verheiratet, sagte sie, denn so kann ich ihn trotzdem lieben. Quelle: Rachel Cusk – Parade…
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1 Die gute alte Landkarte hat noch nicht ausgedient | Gespräch 5:59
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5:59Sein persönlicher Lektüretipp: Anne Webers „Bannmeilen“.
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Angenommen, man könnte in die Vergangenheit reisen und Menschen mit sich zurück in die Zukunft nehmen – welche Personen wären das? Jedenfalls nicht die großen Namen der Geschichte. Einen Buddha, Jesus oder Platon ihrer Epoche zu entreißen hätte schließlich unabsehbare Folgen für den Geschichtsverlauf. Die Zeitreisenden in Franz Friedrichs Roman „Die Passagierin“ konzentrieren sich daher auf tragische Einzelschicksale, auf vergessene Selbstmörder oder Opfer kollektiver Gewalt. Zeitreisen zur Gewissensberuhigung Um es gleich zu sagen: Plausibel ist dieser Einfall nicht. Man sollte meinen, dass es auch in der Zukunft mehr als genug Menschen geben wird, warum also noch Abertausende aus der Vergangenheit holen? Doch Friedrichs Retter sind Gutmenschen par excellence; was sie antreibt, ist eine Variante der Überlebensschuld: Wer das Glück hat, in einer Zeit zu leben, in der alle Menschheitsprobleme gelöst sind, möchte zur Gewissensberuhigung wenigstens ein paar Einzelne an diesem Glück teilhaben lassen. Menschen wie Matthias, einen verbitterten Landsknecht aus dem späten Mittelalter: So wie hier würde es nicht ewig sein – daran erinnere ich mich noch genau –, das haben sie gesagt (…). Es gebe Türen in andere Zeiten, Korridore, die sich durch die Epochen schlängeln würden, es sei möglich, so weit zu reisen, dass alle Kriege und Hungersnöte überwunden seien, vor und wieder zurück, die Jahrhunderte überspringen. Am liebsten hätte ich mich ihnen sofort angeschlossen. Quelle: Franz Friedrich – Die Passagierin Die uneingelösten Potenziale einer Epoche Dass dennoch vieles an diesem Rettungsprogramm unklar bleibt, liegt daran, dass der Autor darauf verzichtet, die zukünftige Welt seines Romans detaillierter zu beschreiben. Was schade ist, da so die vermeintlich bessere Welt bloße Behauptung bleibt. Sicher ist nur, dass es dieses Programm zur Zeit der Handlung schon nicht mehr gibt. Es wurde kurz vor Beginn des Romans eingestellt, nachdem eine der Geretteten, ein Opfer der Hexenverfolgungen, lieber wieder in ihre Zeit zurückkehren wollte. Das Ende der Rettungsmissionen ist für die übrigen Evakuierten ein Schock ebenso wie für die, die diesen Einsätzen ihr Leben gewidmet haben. Friedrichs Ich-Erzählerin Heather ist sogar beides, eine Evakuierte, die später selbst Menschen aus ihren Unglücksepochen gerettet hat. Mit dem Autor teilt sie das Geburtsjahr, 1983, und die Jugend im tristen Ostdeutschland der Neunziger mit Arbeitslosigkeit und Neonazis. Zu Romanbeginn sucht sie ein Sanatorium auf, einen kafkaesken, verfallenden Rückzugsort der letzten Evakuierten. Dort – in einer nicht genauer spezifizierten Zukunft – bilden Menschen aus allen möglichen Epochen eine Art Selbsthilfegruppe, unter der Leitung einer früheren Schamanin. Die interessiert sich in den therapieähnlichen Gesprächsrunden vor allem für die individuellen Traumata der Geretteten; zum Ärger von Landsknecht Matthias, dem die Möglichkeiten einer Epoche wichtiger sind. Jede Epoche verfügt ja auch über Potenziale, das Bestreben, es besser zu machen, schöner und gerechter, das finde ich viel interessanter, Chancen, an denen sie sich zu messen hat. (…) Der Fokus auf das individuelle Leid verstellt da manchmal den Blick. Quelle: Franz Friedrich – Die Passagierin Ein Landsknecht als Utopist Ästhetisch kann man Friedrichs geschichtsphilosophischem Zeitreise-Roman leider einiges vorwerfen: seinen allzu haushälterischen Umgang mit Informationen über die Zukunft etwa. Oder Unglaubwürdigkeiten wie die Annahme, dass sich Menschen mit komplett anderen Prägungen via Crash-Kurs in gebildete, moderne, westliche Menschen verwandeln lassen – wer will, mag darin einen sarkastischen Kommentar auf die Migrationsdebatten unserer Tage sehen. Zugleich aber hat die Figur des „sanften Melancholikers“ Matthias etwas Großartiges: Ein ehemaliger Landsknecht, der zur Zeit der Bauernkriege aufseiten der reaktionären Kräfte stand. Und sich in der Zukunft zu einem erfinderischen Utopisten mausert und sich den Kopf zermartert, warum die Menschheit ein ums andere Mal unter ihren Möglichkeiten geblieben ist. Das ist wirklich originell!…
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1 Lorenz Jäger – Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens 4:09
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4:09Dieses Buch bietet die Quintessenz eines Intellektuellen, der nie den Bezug zu den großen Lebensfragen verloren hat, über die Menschen seit Jahrtausenden nachdenken. Lorenz Jäger geht deshalb mit Selbstbewusstsein und Demut vor. Anstatt selbst drauflos zu ratgebern, bringt er Traditionen zum Sprechen und Schwingen, moderiert die großen Texte und Stimmen, vom Gilagemesch-Epos, der Bibel und den griechischen Epen bis zu Arno Schmidt und Joni Mitchell. Das ist anspruchsvoll, aber dank des unprätentiösen Tons immer zugänglich. In neunzehn Kapiteln geht es um Themen und Motive wie die Entfaltung des Unsterblichkeitsglaubens, Begräbnisrituale, die Lebensalter, das Leben-Geben und Leben-Nehmen, aber auch um das Nicht-Leben-Wollen, also die Selbsttötung. Die Frühverstorbenen und die Uralten Jäger umkreist die Todesahnungen früh verstorbener Genies wie Hauff, Kafka oder Georg Büchner, der nur zweiundzwanzig wurde, in seinen Werken aber so wirkt, als würde er die Bitterkeit von Jahrhunderten destillieren. Ein volles Leben muss nicht lang sein: Achilles also stirbt jung. Er ist dafür der schönste unter den Männern, die vor Troja stehen, und der kühnste Krieger. Wir sehen einen James Dean der Antike. Erfüllt kann ein Leben ohne weite zeitliche Ausdehnung sein; auch Romeo und Julia mag man sich nicht alternd vorstellen. Quelle: Lorenz Jäger – Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens Auf der anderen Seite ergründet er die Lebenskunst derjenigen, die uralt wurden, wie Ernst Jünger oder Hans-Georg Gadamer. Gemeinsam ist ihnen, dass sie schon früh damit begonnen haben, weiträumig ins Überzeitliche, Überhistorische zu denken Lob der Vergänglichkeit Im Gegensatz zu den Tieren wissen Menschen, dass sie Geborene und deshalb auch Verfallende und Sterbende sind. Der Tod ist die Bedingung des Lebens und verleiht ihm den Reiz des Unwiederbringlichen. In diesem Sinn zitiert Jäger Thomas Manns Essay „Lob der Vergänglichkeit“. Verschwendet wäre solche Lebensklugheit an die neuen Biotech-Utopisten und Transhumanisten, die den Tod besiegen wollen, indem sie das Bewusstsein eines Menschen auf Datenträger laden und dann auf einen Klon übertragen. Jäger gibt ihnen Antwort: Die Vision der Transhumanisten ist die furchtbarste, die man sich je von der Unsterblichkeit gemacht hat. Wenn die Menschen fünfhundert Jahre alt werden, würden Kinder nicht mehr gebraucht, eigentlich müssten sie dann verboten werden. (…) Utopien sehen meistens schön aus, betrachtet man sie aber näher, so ähneln sie einem Sanatorium – sie sind nur möglich, wenn man sich den Abbau aller Spannungen zwischen den Menschen ausmalt. Das hätte nicht mehr viel mit dem Menschen zu tun, wie er uns bekannt ist. Quelle: Lorenz Jäger – Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens Im Kapitel „Die Gräber“ entwickelt Jäger eine kurze Geschichte der Erd- und Feuerbestattung. Bei Homer werden Leichen der Helden feierlich verbrannt. Anders in der Bibel. Bei einem eingeäscherten Jesus wäre die Auferstehung weniger plausibel gewesen, weshalb die christlichen Kirchen bis vor kurzem die Feuerbestattung abgelehnt haben. Die Aufklärung plädierte auch aus antiklerikalen Motiven für die Kremierung. Dieser Stoßrichtung folgten der Nationalsozialismus, der die Feuerbestattung 1934 rechtlich gleichstellte, und die DDR. Heute dominieren zunehmend Asche und Urne. Ein unauffälliges, ressourcenschonendes und preisgünstiges Verschwinden scheint angeraten. Sagt dies – jenseits der Sonntagsreden über die „unantastbare Würde“ – etwas über den gegenwärtigen Wertverfall des Menschenlebens? Um den eigenen Tod betrogen Rilkes Sorge, dass der Mensch um seinen ureigenen Tod betrogen werde, erhält im modernen Medizinbetrieb mit seinen lebens- oder elendsverlängernden Maßnahmen neue Relevanz. Statt des eigenen Todes bekomme der Mensch das technisch Mögliche, schreibt Jäger. Wissenschaftliche Expertokratien wollen das Schicksal austreiben und sich die Verfügungsgewalt über das Leben und Sterben der Menschen aneignen. In seinem klugen, anregenden Buch animiert Lorenz Jäger zur „Wieder-Aneignung der enteigneten Künste des Lebens und Sterbens“. Das Schöne bei der Lektüre ist: Es geht ums große Ganze, aber immer mit dem scharfen, feinsinnigen Blick aufs Detail.…
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Shanghai 2021. Der Journalist Thomas Gärtner will sich am Rand eines Meetings des Internationalen Olympischen Komitees mit dem mosambikanischen Sport-Funktionär Charles Murandi treffen. Kurz darauf wird Gärtner von der Shanghaier Polizei verhaftet, denn Murandi wurde tot in seinem Hotelzimmer gefunden. Die Überwachungskameras zeigen, dass Gärtner dort kurz vorher war. Das Problem: Er kann sich an dieses Treffen nicht mehr erinnern. Er hätte nicht herkommen dürfen, das ist die einzige Gewissheit, über die er an diesem Morgen verfügt. Quelle: Stephan Schmidt – Die Spiele Mit Gärtners Vernehmung im Hauptquartier der Polizei in Shanghai beginnt Stephan Schmidts Kriminalroman „Die Spiele“. Vorangestellt ist ein kurzer Prolog, der davon erzählt, wie Gärtner Charles Murandi vor über 30 Jahren zum ersten Mal traf: 1990 war er Auslandskorrespondent in Afrika, Murandi führte einen Protest in Maputo an, bei dem ehemalige DDR-Vertragsarbeiter die Auszahlung ihres noch ausstehenden Lohns einforderten. Damit sind die Orte gesetzt: Zwischen Mosambik, China und Deutschland entspinnt sich die nicht ganz unkomplizierte Handlung, die nach und nach die Hintergründe des Mordes in Shanghai offenbart. Erzählt in zwischen den Zeiten und Orten wechselnden Kapiteln. Grundsätzlich ein gutes Mittel, das Spannung erzeugen kann. In „Die Spiele“ aber stimmt die Struktur nicht: Der Einstieg ist mühsam, der Mittelteil überfrachtet – und am Ende dann wird jedes kleine, bisher offen gebliebene Detail der Handlung noch auserklärt. Diese Schwächen im Aufbau des Romans erstaunen. „Die Spiele“ ist zwar das Krimi-Debüt von Stephan Schmidt, aber unter dem Namen Stephan Thome hat der in Taiwan lebende Autor bereits einige hochgelobte Romane geschrieben. Hier aber stehen kluge Passagen über hochbrisante politische Fragen neben schematischen und flachen Handlungselementen. So ist Thomas Gärtner zunächst der moralisch aufrechte Journalist, der alles riskiert, und dann der romantische Held, seit Jahren verliebt in die deutsche Botschaftsangestellte Lena Hechfellner, die gerade in Shanghai arbeitet – und bereit, alles für sie zu tun. Langweilig! Lena Hechfellner ist die zweite Hauptfigur, wie eine femme fatale attraktiv und eiskalt. Fast alle Männer wollen sie. Am liebsten wäre er einer der Wassertropfen, die von ihrem Hals abwärtsrollten. Quelle: Stephan Schmidt – Die Spiele Solche kitschigen Passagen gibt es immer wieder. Nein, am allerliebsten wäre er eines ihrer Handtücher: das kleine zum Abrubbeln oder das große karierte, auf dem sie sich danach bäuchlings ausstreckte. Quelle: Stephan Schmidt – Die Spiele Unerwiderte Liebe ist ein altbackendes Handlungsmotiv, das gerade bei diesem Kriminalroman unnötig wäre. Allein eine polizeiliche Ermittlung in China bietet durch die allgegenwärtige Überwachung viel Spannungspotential. Das lässt Schmidt weitgehend ungenutzt, sondern greift stattdessen auf überholte Mittel zurück: So zieht ein vermeintlich geheimnisvoller Mitarbeiter der chinesischen Staatssicherheit im Hintergrund die Fäden – und hat ein Muttermal mit fingerlangen Haaren am Kinn, damit klar wird: Diesem Mann ist nicht zu trauen! Dass Stephan Schmidt bessere Figuren kann, beweist er mit dem chinesischen Kommissar Luo, der die Ermittlungen formell durchführt und jahrelang gelernt hat, sich innerhalb des kommunistischen Staatsapparats zu bewegen. Scheiß drauf, denkt er. Irgendwann beißt jeder ins Gras, aber wenn er je an etwas geglaubt hat, dann an ein Leben vor dem Tod. Quelle: Stephan Schmidt – Die Spiele Diese Egal-Haltung führt nicht zu einer Ermittlung, die die Wahrheit zutage fördert, naiv ist Stephan Schmidt nämlich nicht. Aber er vertraut nicht seiner hochspannenden und guten Idee, Menschen aus verschiedenen politischen Systemen aufeinandertreffen zu lassen – mit allen historischen Altlasten und verlorenen kommunistischen Idealen. Stattdessen lässt er sie ständig aus rein persönlichen Motiven handeln. Verschenkt! Wie die abschließende Notiz des Autors, dass die Corona-Pandemie absichtlich nicht vorkommt. In einem Roman, der 2021 in China spielt. Fazit: Überfrachtet, fehlkonstruiert und überraschungsfrei – „Die Spiele“ ist ein Kriminalroman mit hochbrisanter Ausgangslage und völlig verstaubter Krimielemente.…
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Als die neuen sozialen Bewegungen in den 1970er Jahren die ökologische Krise für sich entdeckten, veränderte das die Umweltbewegung von Grund auf. Waren es bis dahin vor allem Bürgerinitiativen, die sich für einen behutsameren Umgang mit der Natur eingesetzt hatten, kamen nun die studentischen Rebellen mit ihrer Forderung nach einer neuen Gesellschaft hinzu. Von da an stand die Zerstörung der Natur in einer Reihe mit der Unterdrückung der Frauen, der Ausbeutung der Arbeiter und der Marginalisierung von Minderheiten. Die sozialökologische Transformation Aus der Umweltbewegung wurde so das Projekt einer sozialökologischen Selbstbefreiung. Zwar gab es bereits eine lange Tradition des Naturschutzes, aber erst das Versprechen einer alternativen Gesellschaft machte die Naturschützer zu progressiven Streitern für eine bessere Zukunft. Sie setzten sich mit Nachdruck dafür ein, das moderne Ideal individueller Selbstbestimmung endlich zu verwirklichen. In seinem Buch „Unhaltbarkeit“ sieht der Politikwissenschaftler Ingolfur Blühdorn dieses Projekt nun an sein Ende gelangt. Auch wenn der ökologische Umbau inzwischen zur Agenda der Regierung gehöre, sei von den ursprünglichen Anliegen nur noch wenig übrig geblieben. Ähnlich wie man sich Ende der achtziger Jahre von der Idee des sozialistischen Umbaus der kapitalistischen Industriegesellschaft verabschiedete, verabschiedet man sich heute […] heimlich von der Utopie der sozialökologischen Transformation der Gesellschaft. Quelle: Ingolfur Blühdorn – Unhaltbarkeit Das ökologische Paradox Den Grund für dieses Scheitern sieht Blühdorn allerdings nicht in äußeren Widerständen. Verantwortlich sei weder der gesellschaftliche Backlash, den wir zurzeit erlebten, noch ein grüner Kapitalismus, der sich die emanzipatorischen Anliegen angeeignet habe. Dass die Bewegung trotz ihrer unbestreitbaren Erfolge das eigentliche Ziel einer grundlegenden Erneuerung der Gesellschaft nicht erreichen konnte, liege vielmehr an ihren inneren Widersprüchen: […] der Schutz der Unversehrtheit von Natur und Umwelt unter dem Vorzeichen der Autonomie des Selbst oder des Subjekts […] bedeutet einen Widerspruch in sich: Die Integrität der Natur erfordert die Begrenzung und Unterordnung des Subjekts; die Autonomie des Subjekts hingegen bedeutet das Überschreiten vermeintlich natürlicher Grenzen und die Beherrschung der Natur. Quelle: Ingolfur Blühdorn – Unhaltbarkeit Dieser Selbstwiderspruch wird für Blühdorn besonders anschaulich an dem Umstand, dass es gerade der emanzipatorische Erfolg der Bewegung war, der das Erreichen ihrer Ziele verunmöglichte. Denn keine andere Bewegung habe einen derart großen Anteil an der Entstehung eines Ich-Ideals, bei dem die Selbstverwirklichung an erster Stelle stehe und das keinen allgemeinen Imperativ mehr als gesellschaftliche Autorität anerkenne. Die emanzipatorische Katastrophe Am Anfang der Bewegung stand die Hoffnung auf die treibende Kraft der Zivilgesellschaft, die niemand so intensiv begleitet hat wie der Soziologe Ulrich Beck. Auf ihn bezieht sich Blühdorn, wenn er seinen Untertitel „Auf dem Weg in eine andere Moderne“ von dessen Buch zur „Risikogesellschaft“ von 1986 übernimmt. Für Beck war die „andere Moderne“ eine erneute Aufklärung, die ihren Ausgang vom heilsamen Schock der ökologischen Krise nehmen sollte. Für Blühdorn folgt nun eine „dritte Moderne“, in der die Emanzipation mit ihren geschlossenen Ich-Welten die Bedingungen der Aufklärung aufgezehrt hat: […] der Glaube an die vernunftbestimmte Welt freier Subjekte erscheint als illusionär, als untragbare Belastung und – mit ihren ökologischen Imperativen, demokratischen Zumutungen und sozialen Verpflichtungen – als inakzeptable Beschränkung aktualisierter Vorstellungen von Freiheit und Selbstverwirklichung. Quelle: Ingolfur Blühdorn – Unhaltbarkeit Übrig bleibt unter diesen Umständen nur noch, die Resilienz der Gesellschaft für die kommenden Katastrophen zu erhöhen. Das ist das nüchterne Fazit, das Blühdorn zieht. Man mag seinen Argumenten nicht in allen Punkten folgen, aber eine Auseinandersetzung mit ihnen ist überaus lohnend.…
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1 Abdulrazak Gurnah: Das versteinerte Herz | Lesung und Diskussion 21:15
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21:15Sansibar, in den 1970er-Jahren. Salims Vater verschwindet, als der Junge sieben Jahre alt ist. Erst als junger Erwachsener, als er im fremden London zu überleben versucht, wird er dem Geheimnis seiner Herkunft auf die Spur kommen.
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1 Ronya Othmann: Vierundsiebzig | Lesung und Diskussion 18:09
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18:09Im August 2014 beginnt die Terrormiliz Islamischer Staat den Völkermord an den Eziden in der Region Shingal. Ronya Othmann reist in die Region, trifft Augenzeugen. Und versucht zugleich, eine Sprache für das Unaussprechliche zu finden.
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1 SWR Bestenliste Juli - August mit Büchern von Abdulrazak Gurnah, Albrecht Selge, Ronya Othmann und Thomas Kunst 1:14:26
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1:14:26Am Spitzenreiter scheiden sich die literaturkritischen Geister in der Kakadu Bar des Mainzer Staatstheaters. Zunächst ging es aber um den neuen Roman des in Heidelberg geborenen Schriftstellers Albrecht Selge. „Silence“ (Rowohlt Berlin) heißt das schmale Buch auf Platz 6 der SWR Bestenliste im Juli und August. Der Vater dreier Kinder versucht, dem Lärm der Welt und dem Krach in der eigenen Familie zu entkommen. Die Jury ist begeistert vom geistreichen Gedankenfluss des Erzählers, in dem zahlreiche literarische und musikalische Referenzen auftauchen. Ein zentrales Thema des Textes ist die ewige Ruhe und das Sterben. Selge hat zudem ein Faible für Witzel-Vergleiche: „Im Alkoholismus gleicht der Literaturbetrieb der Siebzigerjahre-CDU“. Auf Platz 5 der Sommer-Bestenliste steht ein grundlegendes Werk des dokumentarischen Erzählens: „Vierundsiebzig“ heißt das Buch von Ronya Othmann aus dem Rowohlt Verlag, das vom Genozid an den Êzîden erzählt, verübt 2014 von den Terroristen des „IS“. Zu Beginn heißt es in dem Buch: „Die Sprachlosigkeit strukturiert den geschriebenen Text, legt seine Grammatik fest, seine Form, seine Worte.“ Die Jury zeigt sich durchweg beeindruckt von diesem wichtigen Buch, das für das Grauen die richtige Form findet, nämlich bewusst fragmentierte Erinnerungssplitter, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen. Auf Platz 2 der SWR Bestenliste im Juli und August steht der Gedichtband „WÜ“ von Thomas Kunst (Suhrkamp), in dem das lyrische Ich von einem Ort zum nächsten und von einer sprachlichen Form zur nächsten unterwegs ist. Der Band beginnt mit lyrischer Prosa in freien Rhythmen und geht über ins streng komponierte Sonett. Später lesen wir noch japanische Kurzgedichte. Die Jury zeigt sich beeindruckt von der sprachlichen Formenvielfalt. Inhaltlich drehen sich die – wie Kirsten Voigt lobt – „rauschhaften und oft surrealen“ Texte um fragile Familienverhältnisse, das Älterwerden, Diskrepanzen zwischen Stadt und Land, aber auch deutsch-deutsche Dissonanzen zwischen Ost-Vergangenheit und West-Gegenwart. Eine Katze namens WÜ hört dem Dichter zu, der auch den poetischen Mainstream zu kritisieren weiß. Einhellige Empfehlung! Die meisten Voten der Bestenliste-Jury hat im Juli und August der in Tansania geborene Schriftsteller Abdulrazak Gurnah erhalten. Nachdem Gurnah 2021 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden war, werden seine Werke sukzessive ins Deutsche übertragen. 2017 erschien sein Roman „Gravel Heart“ im englischsprachigen Orginal. „Das versteinerte Herz“ lautet nun der deutsche Titel in der Übersetzung von Eva Bonné (Penguin Verlag). Im Mittelpunkt der Geschichte, die sich über viele Jahrzehnte spannt, steht der zunächst siebenjährige Salim, der in den 1970er Jahren auf der Insel Sansibar in komplizierten Familienverhältnissen aufwächst. Sein Onkel Amir holt ihn nach London zum Wirtschaftsstudium, doch Salim interessiert sich nur für Literatur. Während Eberhard Falcke die Milieubeschreibungen lobt, kritisiert Hubert Winkels die allzu durchsichtige Anlage des Romans, der sich an Shakespeares Komödie „Maß für Maß“ orientiert und kaum eigene literarische Impulse aussendet.…
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1 Thomas Kunst: WÜ | Lesung und Diskussion 17:12
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17:12Neue Gedichte von Thomas Kunst, aufgeteilt in sechs Kapitel, adressiert jeweils an ein Familienmitglied. WÜ ist eine Katze; auch sie wird angesprochen. So leicht und mit feinem Humor schreitet sonst niemand durch die lyrischen Formen.
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Albrecht Selge hat bereits in seinen vorangegangenen Büchern sein großes musikalisches Wissen und Verständnis in Literatur hineingearbeitet. Sein Ich-Erzähler leidet unter dem Lärm der Welt und redet darüber. Über das Schweigen lässt sich viel sagen.
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1 Depression erzählen. Autorinnen suchen nach einer Sprache 55:02
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55:02Freudlosigkeit. Antriebslosigkeit. Hoffnungslosigkeit. Das sind nur einige der Symptome von Depressionen. Mehr als fünf Millionen Deutsche leiden jährlich unter dieser seelischen Erkrankung. In den letzten Jahren haben einige Autorinnen und Autoren Bücher über ihre eigenen Depressionserfahrungen geschrieben. Ihre Romane und Berichte können helfen, offener mit der Krankheit umzugehen. Denn nach wie vor sind auch Familie und Freunde unsicher, wenn ein naher Mensch eine depressive Episode durchleidet. Drei neue Bücher versuchen zu erzählen, wie Angehörige eine Depression erleben: In Inga Machels Roman „Auf den Gleisen“ ist der Vater des Erzählers betroffen. In Paula Fürstenbergs „Weltalltage“ ist der beste Freund erkrankt, und in Rina Josts Comic „Weg“ gehen zwei Schwestern den Weg in und aus der Depression.…
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Das „lesenswert Quartett“ zum Anhören: In der Aufzeichnung vom 18. Juni 2024 diskutieren Denis Scheck, Ijoma Mangold, Anne-Dore Krohn und Samira El Ouassil über vier Neuerscheinungen.
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Es ist ein Arbeitsangebot, das zu gut ist, um wahr zu sein: Ramón soll auf ein riesiges Plakat und die dazugehörigen Scheinwerfer aufpassen. Mehr nicht. Eines Abends klettert Ramón auf das Plakatgerüst am Straßenrand und beschließt, von nun an oben zu bleiben. María José Ferradas Roman „Der Plakatwächter“ sucht das Absurde im Alltäglichen – und spitzt es zu. Ramón wird dabei immer mehr zum Säulenheiligen. Schon als Kind bevorzugte er die Stille, um sich in Ruhe einen Eindruck von der Welt zu verschaffen. Die Arbeit als Plakatwächter kommt ihm da gerade recht: Beziehungen zwischen dem, was oben, und dem, was unten passiert – von ihrer Existenz war Ramón überzeugt. Er hatte sechsunddreißig Jahre gebraucht, um den passenden Beobachtungsposten zu finden, an dem er seine mit neun Jahren unterbrochene Suche nach der Stille fortsetzen konnte. Einen Beobachtungsposten und zugleich eine Arbeit, die ihn keine Zeit kostete, ihm aber trotzdem ermöglichte, sich einen guten Mantel zu kaufen, und seinen täglichen Teller Reis sicherte. Und sein Bier. (Maria José Ferrada – Der Plakatwächter, S.22) Ein Familienleben als Stummfilm Erzählt wird der Roman von Ramóns elfjährigen Neffen Miguel. Aus seiner Sicht erscheinen Ramóns Entscheidungen verständlich. Schließlich ähnelt auch der Erwachsene einem staunenden Kind, das die Welt besser verstehen will. Aber auch so haben beide eine besondere Beziehung: Nachdem Miguels Vater die Familie verlassen hat, sorgt die Mutter für ihn. Sein Onkel Ramón und seine Tante Paulina wohnen im gleichen Haus und füllen diese Leerstelle, auch wenn Ramón eher ein wunderlicher Freund ist und weniger eine Vaterfigur. Sein Familienleben spielt sich in Miguels Vorstellung als absurder Stummfilm ab: Eine Stimme aus dem Off sagt: Das werde ich deinem Vater heimzahlen. (Bis auf das Geschepper der Teller und die Musik läuft der Rest als Stummfilm ab.) 1. Meine Mutter nimmt einen Teller und schmeißt ihn an die Wand. 2. Ich verlasse die Wohnung und klingele nebenan. 3. Paulina, die dort wohnt, öffnet die Tür und macht eine Handbewegung, die besagt: deine Mutter ist verrückt. 4. Paulina schließt die Tür und stellt laute Musik an, um den Lärm der zu Bruch gehenden Teller zu überdecken. 5. Ich tue so, als würde ich von dem Geschepper nichts mitbekommen. Paulina tut so, als wäre alles in bester Ordnung, und irgendwann höre ich den Lärm tatsächlich nicht mehr, bis meine Mutter erscheint und sagt: Komm, Miguel, Zeit zu essen. (Maria José Ferrada – Der Plakatwächter, S.22) Ausgerechnet ein Plakat von Coca-Cola Mal erinnert der Roman an einen Stummfilm von Charlie Chaplin, mal an ein Theaterstück von Samuel Beckett. Er greift auch einige von Becketts Themen auf, etwa die Erfahrung von existenziellem Verlust und Einsamkeit. Zudem sind die Figuren, bei aller Komik im Roman, tragische Figuren: Ramón hat in der Plastikfabrik, in der er zuvor gearbeitet hat, einen schlimmen Arbeitsunfall mitansehen müssen. Außerdem trinkt er seit seiner Jugend, um sich vom Lärm der Welt abzuschirmen. Auch wenn Ramón für seine Arbeit bezahlt wird, stellt sein Entschluss, auf dem Plakatgerüst zu wohnen, die bestehende Ordnung der Dinge in Frage. Kapitalismuskritik schwingt im Roman schon deshalb mit, weil Ramón ausgerechnet ein Plakat bewacht, das für den Getränke-Riesen Coca-Cola wirbt. Sprühende Komik und philosophische Tiefe Die Arbeit der Siedlungsbewohner erscheint in ihrer monotonen Art nicht weniger merkwürdig als Ramóns Aufgabe, auf ein Plakat aufzupassen. „Der Plakatwächter“ stellt so die Absurdität unserer Arbeitswelt und der Welt insgesamt heraus: Der Roman beeindruckt vor allem mit seiner Komik und philosophischen Tiefe. Mit funkensprühender Fantasie wirft María José Ferrada die Frage auf, ob es möglich ist, einen neuen Blick auf das eigene Leben zu gewinnen und vorgegebene Bahnen zu verlassen. Denn mitunter reicht ein schlichter Perspektivwechsel, um das Absurde im Alltäglichen zu finden.…
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1 Nastassja Martin – Im Osten der Träume | Buchkritik 4:09
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4:09Der brutale Angriff eines Bären in Kamtschatka brachte die Anthropologin Nastassja Martin 2015 in die internationalen Schlagzeilen: Der Bär riss ihr einen Teil des Unterkiefers weg und zerfleischte ihr Bein. Martin überlebte nur, weil in der Nähe ein russischer Stützpunkt war. So beschrieb sie es 2019 in ihrem gefeierten Buch „An das Wilde glauben“: Wie man ihr in Russland eine Metallplatte anstelle des Unterkiefers einsetzte, wie verständnislos ihre Umgebung auf sie reagierte und wie sie selbst den Angriff verarbeitete. Denn Martin empfand die Bärenattacke auch als eine Art mythische Verschmelzung mit dem wilden Tier, von dem sie in der Nacht vor dem Angriff geträumt hatte. In ihrem neuen Buch, „Im Osten der Träume“, berichtet die heute 38-Jährige ausführlich von ihrer Zeit bei den Even, einem indigenen sibirischen Volk, das sich nach dem Ende der Sowjetunion neue Erwerbsquellen eröffnen musste. Ich denke, dass es der Zusammenbruch des sowjetischen Systems ist, der das Unvorstellbare möglich gemacht hat, und dass ich das werde erklären müssen. Ergründen, wie dieses kleine Even-Kollektiv, das durch die Kolonisatoren nacheinander kontaminiert, dezimiert, beraubt und unterjocht und schließlich genau deshalb von der Geschichte vergessen wurde, die systemische Krise zu nutzen wusste, um seine Autonomie zurückzugewinnen. Quelle: Nastassja Martin – Im Osten der Träume Polykrisen nach dem Zerfall der Sowjetunion „Antworten der Even auf die systemischen Krisen“ lautet der Untertitel des Buchs, und gemeint sind die vielen Krisen, die das Leben dieser Gruppe in Kamtschatka beeinflussen. Mit dem Ende des Kommunismus, der Indigene gern in Folkloregruppen präsentierte, lösten sich nämlich auch dort die Kolchosen auf. Die Versorgungslinien brachen zusammen. Auch die kleinen Rentierherden, mit denen die Nomaden früher herumgezogen waren, und aus denen längst staatliche Massenzuchten geworden waren, wurden nach 1991 privatisiert. Hinzu kommt, dass Kamtschatka über riesige Ressourcen an Öl, Gas, Erzen, Holz und Fisch verfügt, auf die Moskau längst ein Auge geworfen hat. Bereits jetzt bedroht der rücksichtslose Nickelabbau die Siedlungsgebiete der Indigenen. Und auch die – durchaus zwiespältige – Nische, auf die sich die Even nach dem Untergang der Sowjetunion spezialisiert haben, ist bedroht. Aktuell leben sie nämlich vor allem vom Verkauf von Zobelpelzen an reiche Russen. Doch Pelz kommt mehr und mehr aus der Mode, auch in Russland, und die Zobelpopulation rund um den Itscha, den großen Vulkan auf Kamtschatka, ist bereits stark ausgedünnt. Ein Animismus, in dem Mensch und Tier ihren Platz haben Mit all dem sieht sich Nastassja Martin konfrontiert, die eigentlich die „animistischen Kosmologien“ der Even erforschen will, ein Denken, das zwischen menschlicher und tierischer Welt kategorial nicht unterscheidet. Dafür schließt sie sich einer Familie an, die nach eigener Aussage „in den Wald zurückgegangen ist“. Den engsten Kontakt hat sie zu der älteren Darja, mit der sie ihre Träume bespricht. Eine Frau, die eigenen Regeln folgt: In Itscha ist keine Handlung je völlig belanglos, und alles zieht potenziell Folgen nach sich. Insofern würde Darja nie erwähnen, dass jemand oder eine Gruppe von Lebewesen im Verschwinden begriffen ist. Denn diese Eventualität könnte, wenn sie in Worte gefasst – in die Welt gesetzt – würde, durchaus eintreten. Quelle: Nastassja Martin – Im Osten der Träume Echtes Interesse an den Antworten der Indigenen Überzeugend ist Nastassja Martins Buch da, wo sie von den Mythen der Even erzählt, in denen sich menschliche und tierische Welt durchdringen, Rabe, Bär und Lachs eigene Pläne verfolgen und nicht nur menschliche Abbilder sind wie in europäischen Fabeln. Leider kann sich die Autorin aber nicht so recht zwischen Literatur und Forschung entscheiden, was zu störendem Jargon führt. Faszinierend bleibt, wie ernsthaft Martin an den Antworten interessiert ist, die die Indigenen möglicherweise geben können, auch wenn sie längst mit dem Rücken zur Wand stehen.…
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Es ist eine Zeit des Übergangs – am Horizont sieht man schon deutliche Anzeichen des drohenden Weltkriegs, und die vermeintlich heile Welt des Bürgertums zeigt gewaltige Risse. Paris in den frühen 30er Jahren, eine Epoche voller Ungewissheit: In seinem 1932 erstmals erschienenen Roman „Treibgut“ lässt Julien Green seinen Helden Philippe durch die Nacht und das Leben treiben, auf der Suche nach Abenteuern. Über seinen eigenen Charakter macht sich Philippe keine allzu großen Illusionen. Er sieht den Nichtsnutz in sich, der „Leere seines Daseins“ ebenso ausgeliefert wie der unheilvoll keimenden Vermutung, zudem ein Feigling zu sein. In einem bezeichnenden Moment nämlich kommt ihm seine Existenz unverstellt zu Bewusstsein: Wie immer streift er am Abend durch die Straßen von Passy und zu den Quais der Seine; er beobachtet ein streitendes Arbeiterpaar und hört die Hilferufe der Frau. Der Mann packte ihren Arm, schüttelte sie und überhäufte sie mit Flüchen. Sie aber heftete den Blick immer weiter auf Philippe und rief: ‚Monsieur!‘, mit einer rauen und leisen Stimme, dass er erstarrte. Er blieb reglos; durch sein ganzes Wesen ging ein Zögern, das nicht länger dauerte als ein Herzschlag, ihm jedoch schien es endlos. Vielleicht hatte er sich vor dieser Minute noch niemals erkannt. Quelle: Julien Green – Treibgut Die pompös-porösen Kulissen der bourgeoisen Welt Philippe wendet sich ab. Furcht und Trägheit sind stärker als Mitgefühl und Courage. Aber nicht nur hier ist er passiv: Ihm fehlt auch der Mut, seine eigene Frau Henriette zur Rede zu stellen. Sie betrügt ihn ausgerechnet mit einem Proletarier, der sie an ihre hinter sich gelassene Armut erinnert. Philippe, Henriette, die Schwägerin Éliane und der bemitleidenswerte Sohn Robert – das sind die Protagonisten eines traurigen Kammerspiels, eingezwängt in die pompös-porösen Kulissen der bourgeoisen Welt. So alt wie Philippe – Anfang 30 – war Julien Green, als er seinen Roman „Treibgut“ veröffentlichte. In wunderbar schwebenden, widerstreitenden inneren Bewegungen lässt er seinen Helden durch ein so gegenwärtig wie verwunschen erscheinendes Paris flanieren. In dieser Vermischung einer mythischen und zeitgenössischen, symbolischen und realistischen Darstellung der Stadt erkennt der Übersetzer und Herausgeber Wolfgang Matz auch das Verstörende des Romans. So heißt es bei Green: Hier treten die Häuser weit auseinander, und die Straße dazwischen öffnet sich schließlich zum Fluss. Eine Treppe führt mit hundert Stufen vom Boulevard hinunter zu dieser Sackgasse; Gaslaternen erleuchten nur schlecht die drei aufeinanderfolgenden Absätze. Rechts von der Treppe fesselt eine Art Abgrund den Blick. Quelle: Julien Green – Treibgut Von Wolfgang Matz wunderbar verstörend übersetzter Roman Den Abgrund im Blick, von einer „verstörenden Vollkommenheit“ umgeben – und dazwischen verbirgt sich eine weitere Schicht dieses großartigen und von Wolfgang Matz wunderbar verstörend übersetzten Romans. In seinem Tagebuch notierte Julien Green, dass „Treibgut“ die Geschichte eines verheirateten Homosexuellen erzähle, der nichts von seiner Homosexualität wisse, ahnungslos leide. Die zeitgenössische Kritik erkannte diesen Aspekt nicht, obwohl es einige Anhaltspunkte gibt. Philippe ist ein Mann, der Körperkult betreibt, aber kein einziges Mal mit seiner Frau eine intime Situation erlebt. Die stillen und zugleich offensichtlichen Avancen seiner Schwägerin lässt er kühl an sich abprallen. Bei den nächtlichen Spaziergängen lauscht er dem Klang des Wassers, der ihn wegführt von der „monströsen Erregung der Städte“, die ihn anlockt und zugleich abstößt. Vielleicht hatte kein anderer Mensch eine so vollkommene Einsamkeit erlebt wie dieser Mann im Herzen einer übervölkerten Hauptstadt. Quelle: Julien Green – Treibgut Ein unglücklich Gefangener in einem gesunden Körper Die Einsamkeit ist total für den, der noch nicht einmal weiß, was ihm fehlt. Insofern ist der tatenlos-furchtsame Philippe nicht nur ein Vertreter der dem Untergang geweihten großbürgerlichen Welt, sondern auch der unglücklich Gefangene im Innern eines gesunden Körpers, dessen Begierden verborgen bleiben. Julien Green erzählt von dieser Zerrissenheit auf subtile, eindrucksvolle Weise.…
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Im Mittelalter gab es die Kreuzritter, die unter erheblichen Strapazen ins Heilige Land und nach Jerusalem aufbrachen. Aber das war es dann schon – oder? Anthony Bale hat in öffentlichen Bibliotheken, Archiven und hinter Klostermauern recherchiert, um eines zu zeigen: Im Spätmittelalter – das meint in etwa von 1300 bis 1500 – ermöglichten die technischen Fortschritte, aber auch der kulturelle Austausch weitverzweigte Reiseaktivitäten. Weitverzweigte Reiseaktivitäten im Spätmittelalter Reisende im Spätmittelalter konnten sich auf gut organisierte Häfen und auf Schiffstypen wie die „Caravelle“ mit vier Segelmasten verlassen. Doch wer waren die Reisenden? Ritter, Diplomaten und Handelstreibende wie Marco Polo, aber auch einfache Pilger und Mönche. Selten Frauen wie die britische Adelige Beatrice Luttrell, die 1350 nach Rom pilgerte. Der Mailänder Staatsmann und Pilger Santo Brasca, der 1480 ins Heilige Land aufgebrochen war, gab in seinem Reisebericht folgenden Rat: Dass ein Reisender immer zwei Taschen brauche: eine voller Geld und die andere voller Geduld. Andere Reisende meinten, es brauche noch eine dritte – die des Glaubens. Quelle: Anthony Bale – Reisen im Mittelalter, Seite 52 Der Glaube stand im Mittelpunkt des Reisens Der Glaube spielte beim Reisen im Spätmittelalter eine große Rolle. Pilgerfahrten zu Wallfahrtsstätten standen hoch im Kurs, denn sie waren mit der Vergebung von Sünden verbunden. Rom, die Heilige Stadt, war natürlich deren Zentrum. Noch wichtiger als Rom galt frommen Pilgern eine andere Stadt: Jerusalem mit ihrer Grabeskirche Jesu Christi. Als wichtigster Abreisehafen hatte sich Venedig etabliert. Im Lesen von Bales Buch ist man erstaunt, welch ausgeklügeltes System die Venezianer etabliert hatten: Man benötigte zur Schiffsbeförderung einen Geleitbrief und ein Gesundheitszeugnis. Alle Waren, die man in der Lagunenstadt kaufen konnte, hatten feste Preise, ebenso die Gaststätten und Privatquartiere. Hatte man es dann endlich auf sein Schiff nach Jerusalem geschafft, begannen die eigentlichen Tortouren: Schlechtes Essen, Stürme und räumliche Enge. Der französische Edelmann Nicole Louve hat die Bedingungen des Quartiers unter Deck in drastische Verse gefasst: Wo es nach Fürzen und Blähungen stinkt / und manches von den menschlichen Eingeweiden sinkt / und niemand sich vorsieht vor menschlichen Winden. / Der Ekel bringt dir die Sinne zum Schwinden! Quelle: Anthony Bale – Reisen im Mittelalter, Seite 163 Auch wenn europäische Pilgerstätten, Jerusalem und der Orient einen Gutteil von Bales Buch ausmachen, waren sie bei weitem nicht die einzigen Destinationen im Spätmittelalter. Auf der „Seidenstraße“ gelangten europäische Händler, Diplomaten und Mönche nach Persien, Indien und China. Der Venezianer Marco Polo avancierte zum Vertrauten des mongolischen Herrschers Kublai Khan und der russische Handelsreisende Afanassi Nikitin diente auf seinen Expeditionen Herrschern in Indien und Persien. Nach Anthony Bale gilt für diese beiden Abenteurer eines. Er ist der unabhängige Reisende, der in der Fremde „heimisch” wird oder für den das Reisen Elemente der Assimilation und eigenen Veränderung beinhaltet. Quelle: Anthony Bale – Reisen im Mittelalter, Seite 323 Ein weiter Horizont Die Berichte von Marco Polo oder Afanassi Nikitin waren wichtige Zeugnisse. Denn ihre Leserschaft begriff, dass es auch außerhalb des christlichen Europas Länder gab, die zivilisiert und deren Kulturen beeindruckend waren. Das galt allerdings auch umgekehrt: Sultan Mehmed II., der Konstantinopel eroberte, erhielt durch Händler und Diplomaten einen guten Eindruck der Kultur des christlichen Europas – was ihn allerdings nicht abhielt, Eroberungszüge dorthin zu unternehmen. Anthony Bale nennt Mehmed zurecht einen osmanischen „Renaissancefürsten“. Sein Buch „Reisen im Mittelalter“ gibt einen sehr genauen Überblick zu den stets abenteuerlichen und oft gefährlichen Reiseunternehmen von damals. Bale hat akribisch geforscht und kann sein Wissen in gut lesbarer, oft auch in witziger Form weitergeben. Und der Autor stellt eines klar: Der Horizont der Menschen im Spätmittelalter war keineswegs so beschränkt wie manchmal behauptet wird.…
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1 Hinter der Bühne – Welche Bedeutung hat der Bachmann-Wettbewerb aus Verlagsperspektive? 9:56
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9:56Carsten Otte im Gespräch mit Jessica Beer (Lektorin Residenz Verlag, Wien) zu den 48. Tagen der deutschsprachigen Literatur (Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2024)
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1 Kritik der Kritik – Die Jury des Bachmann-Wettbewerbs 5:53
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5:53Doch der nach Schwens-Harrant das Wort ergreifende Philipp Tingler beklagte Selbstbezüglichkeit und Immanenz des Textes, nannte Brylas Literatur altbacken, „obsolet“, „einen begleitenden Katalogtext.“ Das wiederum wollte Schwens-Harrant nicht auf sich sitzen lassen: „Das ist aber jetzt auch knapp behauptet, ohne einen Beleg.“ Tingler geriet danach argumentativ in die Bredouille - so wie Mara Delius kurz zuvor Schwierigkeiten hatte, das von ihr ausgemachte „Konservative" in Olivia Wenzels Text zu erklären, als die Autorin das noch einmal näher erläutert haben wollte. 48. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt Das Wortgefecht von Schwens-Harrant und Tingler stand bei diesem 48. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb stellvertretend für die Diskussionen innerhalb der Jury, gerade wenn die Einschätzungen der Texte höchst unterschiedlich ausfielen. Die Juroren stellten dann häufig die Literatur- und Kritikbegriffe der jeweils anderen in Frage. Wenn jemand nur ein Geschmacksurteil abgab, wurden Argumente gefordert, wenn Mithu Sanyal von einem „originellen Text“ sprach, der sie „tief berührt“ habe, fragte der neben ihr sitzende Philipp Tingler sofort: „Warum?“. Er wollte von der gern in Elke-Heidenreich-Manier überschwänglichen, emotionalen, stets mit ihren Händen herumfuchtelnden Mithu Sanyal literaturkritische Argumente hören, vor dem Hintergrund von Form und Sprache Urteile gefällt bekommen. Und trotzdem: Auch der neue Juryvorsitzende Klaus Kastberger ließ es sich nicht nehmen, einen Text „langweilig“ zu nennen, wie den von Denis Pfabe. Oder er rief einfach mal so ins ORF-Studio: Ich kann Texte, in denen Gegenstände sprechen, nicht ausstehen, ich hasse den Kleinen Prinzen, ich hasse Harry Potter, das geht mir auf den Nerv. Quelle: Klaus Kastberger, Juryvorsitzender Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb Um einen Tag später das von ihm an dieser Stelle beklagte „Kindergartenniveau“ zu widerlegen, als er Henrik Szantos begeistert feierte: Hier erzählen die Wände und Räume eines Hauses in der ersten Person Plural. Quelle: Klaus Kastberger, Juryvorsitzender Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb Was aber wie in den beiden vergangenen Jahren auffiel: Die jeweiligen Literatur- und Kritikbegriffe sind mehr und mehr politisch eingefärbt. Ästhetische Kriterien werden dann schon mal zur Auslegungssache und hängen eng zusammen mit der politischen Haltung. Lebendige Jurydiskussionen Ja, Körperlichkeit, Empathie und Ethik haben Einzug gehalten bei der Bewertung von Texten. Mithu Sanyal ist dafür das herausragende Beispiel, das identifikatorische Lesen ist Teil ihrer Art von Literaturkritik. Was man problematisch finden kann, den Jurydiskussionen in Klagenfurt aber eine zusätzliche Lebendigkeit verleiht, gerade weil sich Philipp Tingler oder auch Mara Delius daran notorisch stoßen. Offensichtlichste Antipoden deshalb in diesem Jahr: Mithu Sanyal und Philipp Tingler. Sanyal feierte Tijan Silas Text zum Beispiel auch deshalb, weil sie glaubte, dass dieser den deutschen Rassismus anprangert, was Tingler und andere nicht so sahen; und Tingler begegnete Sanyals Schwärmerei für Olivia Wenzels Text sofort damit, dass dieser mit „modischen Begriffen von Identitäten“ arbeite. Um später, als die weibliche Erzählerin in Johanna Sebauers „Gurkerl“-Text sagt, sie sei kein Meinungsschreiber, und sich Sanyal nicht daran störte, ironisch triumphierend ausrief: „Mithu Sanyal hält ein flammendes Plädoyer für das generische Maskulinum.“ Gerade aber auch bei Wenzels Text, der in den sozialen Medien über die Maßen gefeiert wurde, taten sich die auch in der Literaturkritik entstandenen ideologischen Gräben auf. Delius und Tingler wollten einen reinen „Thesentext“ gelesen haben. Mithu Sanyal und Laura de Weck bekamen sich nicht ein vor Begeisterung. Laura de Weck sprach gar von „Stolz“, diesen Text mitgebracht zu haben. Ähnliches passierte nach der Lesung von Miedya Mahmod, da Tingler und Delius versuchten, die Euphorie von Sanyal und Kastberger zu dämpfen und von „ästhetischen Überdehnungsübungen“ sprachen. De Weck, die für die ausgeschiedene Juryvorsitzende Insa Wilke in die Jury nachrückte, war dann leider auch das blasseste Jurymitglied; in der Regel beurteilte sie die Texte danach, ob diese zeitgemäß seien oder aktuelle Themen aufgriffen. Viel mehr kam von ihr nicht; dass sie immer von „Traumas“ statt Traumata sprach und einer eindeutig psychiatrischen Krankheit wie der Schizophrenie mit dem Psychologen beikommen wollte: geschenkt. Doch diese Blässe gehört womöglich zu einem Jury-Debüt dazu: Auch Mara Delius und Brigitte Schwens-Harrant wirkten bei ihren ersten Klagenfurter Jury-Auftritten unsicher und nervös. Jetzt sind sie angekommen. Sie ragten dieses Jahr heraus. Sie argumentierten zumeist nahe am Text, ohne sich, wie der stets Textstellen suchende, findende und dann zitierende Literaturwissenschaftler Thomas Strässle, darin zu verlieren. Und Delius und Schwens-Harrant kamen ganz ohne den angeberischen Furor aus, der Klaus Kastberger und den ansonsten häufig richtig liegenden und auf den Punkt kommenden Philipp Tingler auszeichnet. Tingler immerhin gestand ein, auch ein bisschen ein Angeber zu sein. Kastberger wiederum scheint sich ähnlich wie de Weck noch einfinden zu müssen in seine neue Rolle. Zu oft ging sein von Selbstgefälligkeit nicht ganz freies Temperament mit ihm durch, zu wenig versuchte er sich als Mittler seiner Mitstreiter, zu offensichtlich führte er immer mal wieder die Fußball-Europameisterschaft ins Diskursfeld. Doch mochte man ihn nicht immer witzig finden, wenn er seine Baumarkt-Aversion zum besten gab oder gestand, mittags immer ein Gurkenglas in seinem Büro zu haben: Kastberger weiß am Ende nur zu genau, dass der Bachmann-Wettbewerb vor allem auch ein Fernsehformat ist und darin die unterhaltenden Momente nie fehlen dürfen.…
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SWR-Literaturredakteur Carsten Otte im Gespräch mit Dr. Katrin Schumacher (Literaturwissenschaflterin, Literaturchefin MDR Kultur) zu den 48. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt (Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2024).
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Die Kindheit, ob sie glücklich verläuft oder desaströs, ist der Urquell des Schreibens. Manche Schriftsteller schöpfen ein Leben lang aus ihr, aus den Gerüchen und Gefühlen, der kindlichen Neugier und der ersten naiven Weltbegegnung. Manche kehren hin und wieder zu ihr zurück, um das Spielerische und den Zauber des Anfangs hervorzukitzeln. Eine gewisse Melancholie mag da immer mitschwingen, denn das ursprüngliche Vertrauen und die unschuldige Gewissheit ins Gelingen nutzen sich im Laufe des Lebens ab. So schleicht sich in den Blick zurück Wehmut ein, eine Sehnsucht nach Heimat, etwas, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“, wie es bei Ernst Bloch so schön heißt. Auch Eric de Kuyper kennt diese Sehnsucht und die Fallstricke des Älterwerdens. Schon als Kind hatte er vermutet, dass er beim Erwachsenwerden vieles von dem vergessen würde, was für das Leben, das glückliche Erleben des Alltags, unverzichtbar war. Wie zutreffend war diese Intuition gewesen, wie begründet seine panische Angst davor, erwachsen zu werden. Er würde vergessen und sich selbst untreu werden, das hatte er befürchtet. Quelle: Eric de Kuyper – An der See Mit allen „Kinners“ nach Ostende Vergessen etwa wird das intuitive Wissen um die Beschaffenheit und Verschiedenartigkeit des Sands, das durch ernsthaftes und weltabgeschiedenes Kinderspiel erworben wird. Wie viel in der Erinnerung aber doch bewahrt ist, wie diese Erinnerung auch den Älteren ins Kindheitsglück zurückzuversetzen vermag, das können wir in Eric de Kuypers „An der See“ nachlesen. Darin erzählt er, wunderbar übersetzt von Gerd Busse, wie die ganze Brüsseler Großfamilie de Kuyper die Sommermonate nach 1945 samt einer Schar von „Kinners“ unterschiedlichen Verwandtschaftsgrads in Ostende verbringt. Eine Vorkriegstradition wird so fortgeführt. In den ersten Jahren nach dem Krieg waren die Häuser am Zeedijk fast alle vernagelt. Manche waren total zerstört, andere standen nur leer und waren unbewohnt. Von Jahr zu Jahr zeigten sie mehr Anzeichen von Leben: Hotels, Restaurants und Café-Terrassen öffneten, und kleine Läden kamen hinzu, in denen Postkarten, Fischernetze, Bälle, Tennisschläger, Badeanzüge, -kappen und Sonnenöl verkauft wurden. Quelle: Eric de Kuyper – An der See Für den jungen Ich-Erzähler stellen die Wochen am Strand das eigentliche Leben dar: Die Sinne sind geschärft, er beobachtet das Treiben um sich herum, die Verhaltensweisen der Erwachsenen, deren Benehmen untereinander, deren Schwärmereien und Genervtsein, den gedankenverlorenen Blick rüber zur englischen Küste. Er erinnert sich an die endlosen Stunden des Spiels und Müßiggangs, an Freundschaften und die ersten erotischen Impulse, ritualisierte Freuden und überraschende Wendungen. Ostende ist Paradies und Schule in einem, eine sich endlos dehnende Zeit des Sammelns von Eindrücken und Empfindungen. Die Sehnsucht nach dem Meer …denn sie lebten schließlich einen ganzen Sommer lang am Strand, und zwar jedes Jahr, seit Menschengedenken und für immer und ewig. Quelle: Eric de Kuyper – An der See Für immer und ewig, manchmal sogar in den geruhsamen, merkwürdig ereignislosen Tagen außerhalb der Saison – denn für das kränkliche Kind ist die Luft an der See auch eine Therapie. Dass der ältere Erzähler mit einer gewissen Schwermut zurückschaut, verwundert nicht und ist ihm nicht zu verdenken: Der Kindheit wohnt eine pralle, gedankenlose Gegenwärtigkeit inne, die der Schreibende durch die Sprache zurückbringen muss. Das Wunder des puren Daseins am Meer – es kann heraufbeschworen, aber nicht neuerlich erlebt werden. Eric de Kuyper gelingt die sprachliche Vergegenwärtigung auf betörende Weise. Das liegt an seiner Fähigkeit, das jugendliche Ich in diesen autobiographischen Aufzeichnungen nicht zu sehr durch Erfahrungen des Erwachsenen zu trüben, seine Lust und Angst nicht nachträglich zu verniedlichen; und es gelingt ihm durch einen feinen Humor, der gerade in den Schilderungen von Tanten und Onkeln, Cousinen und Cousins aufblitzt und eine Stimmung erzeugt, die in uns nur einen Wunsch entfacht: sofort ans Meer zu fahren und in Erinnerungen zu baden.…
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1 Michael E. Mann – Moment der Entscheidung | Buchkritik 4:09
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4:09Was haben Donald Trump und der König des vor mehr als 4000 Jahren untergegangenen akkadischen Reichs gemeinsam? Beide wollten sich mit baulichen Maßnahmen Probleme vom Leib halten, der eine mit einer Mauer zwischen den USA und Mexiko, der andere mit einer hunderte Kilometer langen Mauer zwischen Euphrat und Tigris. Den Niedergang Akkads hat die Mauer nicht verhindert. Eine langanhaltende Dürre ließ Felder und Teiche vertrocknen, um die verbliebenen Ressourcen entbrannte ein mörderisches Gemetzel. Aus der Erdgeschichte lernen Solche Blicke in die Vergangenheit sollten uns eine Lehre sein, meint der US-amerikanische Paläoklimatologe Michel E. Mann, der für sein neues Buch 250 Millionen Jahre in die Erdgeschichte zurück schaut. Dabei geraten allerdings auch Konflikte unserer Zeit in seinen Fokus, die im deutschsprachigen Raum im Kontext der Klimadebatte bestenfalls Randnotizen waren: Zum Beispiel der Bürgerkrieg in Syrien, der schon Hunderttausende Leben gefordert und noch viele Menschen mehr in die Flucht geschlagen hat. Die tieferliegende Ursache war eine jahrzehntelange Dürre in Syrien, die wahrscheinlich die schlimmste seit mindestens einem Jahrtausend ist. Die beispiellose Dürre, die durch den Klimawandel verschärft, wenn nicht gar verursacht wurde, dezimierte die Landwirtschaft in der Region. Sie zwang die Landwirte in die Städte Aleppo und Damaskus, wo sie mit den dort lebenden Menschen um Nahrung, Wasser und Platz konkurrierten. Der daraus resultierende Konflikt, die Unruhen und die Gewalt schufen ein ideales Umfeld für Terrororganisationen. Quelle: Michael E. Mann – Moment der Entscheidung, S. 56 Konsequenzen einer verfehlten globalen Klimapolitik Michael E. Mann verfällt leider oft in einen Fachjargon, der die Lektüre für Klimatologie-Laien stellenweise erschwert. Aber es ist gleichzeitig Manns großes Verdienst, dass er die Konsequenzen einer verfehlten globalen Klimapolitik sehr deutlich benennt. Noch sei es nicht zu spät, das Ruder herum zu reißen. Denn die Voraussetzungen dafür seien durchaus vorhanden. Die Politik müsste dies nur erkennen und entsprechend handeln: Die Hürden, die dem Handeln im Wege stehen, sind nicht physischer oder gar technologischer Natur, sondern – zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt – ausschließlich politischer Natur. Die Auswirkungen des Klimawandels stellen zweifelsohne eine existenzielle Bedrohung dar, wenn wir nicht aktiv werden. Aber wir können handeln. Quelle: Michael E. Mann – Moment der Entscheidung, S. 295 Hoffnung auf eine effizientere Klimapolitik Auch das Zählen von Toten bietet Michael E. Mann Argumentationshilfe. Fünf Millionen Tote durch Hitzestress, vier Millionen durch Luftverschmutzung, jedes Jahr. Das sind wissenschaftliche Prognosen, selbst wenn die Klimaerhitzung auf zwei Grad begrenzt werden kann. Das sind doppelt so viele Tote wie durch Covid 19 während der gesamten Zeit der Pandemie. Von depressiver Untergangsstimmung will Michael E. Mann jedoch nichts wissen. Politische Entscheidungsträger, Meinungsführer und Unternehmen müssen in die Verantwortung genommen werden. Denn obwohl die Bevölkerung selbst inzwischen mit überwältigender Mehrheit konzertierte Klimaschutzmaßnahmen befürwortet, kann sie die notwendigen Veränderungen nicht selbst herbeiführen. Wir als Individuen können zwar als Verbraucher klimafreundliche Entscheidungen treffen. Aber wir können nicht die Subventionierung der Erneuerbaren Energien-Branche erzwingen oder gar die Beihilfen für die fossile Brennstoffindustrie abschaffen. Quelle: Michael E. Mann – Moment der Entscheidung, S. 319 Hoffnung machen ihm Australien und Neuseeland, wo es trotz einer mächtigen Presse rund um den Klimaleugner Rupert Murdoch bei Wahlen Mehrheiten für eine effizientere Klimapolitik gab. Der US-amerikanische Klimawissenschaftler hat ein wichtiges Buch vorgelegt: mit seinem Wissen über die Erdgeschichte rückt er die beschwichtigenden Aussagen von Politikern und Konzernchefs, deren Denken häufig nicht über die nächste Wahl und Aktionärsversammlung hinaus reicht, in ein anderes Licht.…
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1 Pinchas Kahanovitsch (Der Nister) – Von meinen Besitztümern 4:09
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4:09Ein Autor mit dem jiddischen Pseudonym „Der Nister“, das heißt „Der Verborgene“ – hier ist schon der Name Programm. Der jüdische Schriftsteller Pinchas Kahanovitsch stammte aus dem Gebiet der heutigen Ukraine. Er überlebte die Pogrome in der Folge der Russischen Revolution und den Zweiten Weltkrieg mit der Shoa. 1950 aber fiel er einer antisemitischen Kampagne Stalins zum Opfer. Vor wenigen Jahren wurde sein Grab wiederentdeckt. Auch sein Werk galt lange als Geheimtipp. Daniela Mantovan hat den verborgenen literarischen Schatz nun gehoben: Insgesamt sechs märchenhafte, aber nicht immer ‚schöne’ Erzählungen des Nister liegen jetzt als Neuübersetzung vor. Der Titel: „Von meinen Besitztümern“. Die Grenzen der Tradition Der Nister verstand sich zeitlebens als Symbolist. Die Härten des Lebens schildert er in poetisch verdichteten, zum Teil surrealen Bildern. Dabei stellt er Grundlegendes in Frage – etwa den Wert der überlieferten Schriften oder den Sinn weltabgewandter Gelehrsamkeit. Die Erzählung „Unterm Zaun“ beispielsweise kostet die tragikomische Fallhöhe aus, wenn der hoch angesehene Lehrer einer jüdischen Eremitenschule sich ausgerechnet in eine Zirkusartistin verliebt. Sein Liebeswahn gipfelt in der Vision eines Gerichtsverfahrens in der Manege, für das der Zirkusdirektor auf Plakaten wirbt: Der letzte Eremit wird über seine Vorgänger und Lehrer, über seine Nachfolger und Schüler zu Gericht sitzen. Dann war zu lesen, dass als Beisitzer und stellvertretende Richter die weltbekannten Clowns Jack, Mac und Schlimm-Schlammassel auftreten würden. Und ferner hieß es, das Publikum werde großen Spaß haben, weil sicher alle Angeklagten zum Tod durch Verbrennen verurteilt werden würden. (S. 84) Quelle: Pinchas Kahanovitsch (Der Nister) – Von meinen Besitztümern Es ist ein schwacher Trost, dass sich ein Teil dieser Schrecknisse als Alptraum eines Betrunkenen entpuppt. Denn so oder so ist dem Außenseiter, der die von der Gesellschaft gesetzten Grenzen überschreitet, ein böses Ende beschieden. Eine politische Botschaft Die titelgebende Geschichte „Von meinen Besitztümern“ ist eine Variante des Märchens „Vom Fischer und seiner Frau.“ Der Nister selbst erscheint hier als zweifelhafter Held, der hoch steigt und tief fällt, weil er nicht genug kriegen kann. Nach einer Himmelsreise in ein Land des Drecks wird Schmutz zu Gold, so dass er alles kauft, was man für Gold kaufen kann. Dann bittet er den russischen Bären zum Tanz, der als gottgleiche Instanz im Zeichen des Sowjetsterns regiert und besiegelt damit seinen Untergang. Fortan muss er zehn irdische Bären füttern, bis ihm nur noch seine Finger bleiben, um deren Hunger zu stillen. Ist das der Wahn eines Irren? Oder belegen die blutigen Hände des Nister, dass die Bedrohung durch den „Sternbären“ real ist? Am Ende blieb nur – und es gab keinen anderen Ausweg –, dass der Nister alles dem Doktor des Irrenhauses schreiben solle und sich wegen der ungebetenen Gäste und der häufigen Besuche beklagen solle. Der Vorschlag wurde angenommen und es blieb dabei. Der Nister schrieb alles auf, aber weil er keine Finger mehr hatte, schmierte er dem Doktor die ganze Geschichte mit Blut hin, und seitdem wartet er auf eine Antwort. (S. 131) Quelle: Pinchas Kahanovitsch (Der Nister) – Von meinen Besitztümern Die Kunst des Märchens Der Nister schildert eine zutiefst körperliche, zugleich aber magische Welt: Übergänge zwischen Himmel und Erde sind jederzeit möglich, alternative Realitäten durchdringen sich. Menschen und Tiere, Sterne und Winde treten in Dialog. Seine Geschichten erinnern nicht zufällig an Gemälde von Marc Chagall, an Kafka und das romantische Kunstmärchen. Sie sind ein wichtiger Teil der jiddischen Literatur, deren Wiederentdeckung dringender ist denn je.…
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1 Björn Vedder – Das Befinden auf dem Lande | Buchkritik 4:09
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4:09Vor einigen Jahren hat der Autor und Publizist Björn Vedder das gemacht, wovon viele Städter träumen. Er ist mit seiner Familie aus München hinaus gezogen in ein Dorf am Ammersee. Seine gar nicht so ausgezeichneten Erfahrungen haben ihn nun dazu gebracht, das erzählende Sachbuch „Das Befinden auf dem Lande“ zu schreiben. Befürchtet Vedder, dass er nach Veröffentlichung des Buches aus seinem Dorf wegziehen muss? Björn Vedder: „Nee, es haben schon einige gelesen und die finden es alle gut und sagen, das seh ich genauso.“ Das Dorf kommt nicht gut weg Im Buch kommt das Dorf nicht gut weg. Das Landleben tut eigentlich niemandem wirklich gut, das zeigt Vedder an vielen Beispielen. Unter anderem berichtet er davon, wie es ihm erging, als einem von Zuhause aus arbeitenden Mann, der sich tagsüber um die Kinder kümmert, während seine Frau einer abhängigen Berufstätigkeit außer Haus nachgeht. Nicht gut kam das in seinem Dorf an, wo sich, wie er schreibt, nicht nur das traditionelle Familienbild noch gut hält, sondern es überhaupt ein ausgeprägtes und allgemein gültiges Verständnis gibt, für das, was man tut und das, was man lässt. „Das Merkmal von Landleben ist, dass es da eine Form von Gemeinschaft gibt, die eine Art von kollektiver Identität ausgebildet hat, die bestimmte Werte, Normen, auch Praktiken etabliert hat und die das mit moralischen Qualitäten versieht, also die glaubt, dass die Art und Weise, wie sie Dinge bewerten, nicht eben zufällig ist, sondern dass es richtig so ist, und die davon ausgeht, dass es im Leben nicht nur richtig und falsch, also gelingend und ungelingend gibt, sondern gut und böse. Und dass das, was sie machen, gut, und was die anderen machen, böse ist“, sagt Vedder. Gesellschaft gegen Gemeinschaft Der Autor unterscheidet die Daseinsformen Stadt und Land, und entspinnt daraus eine These, der er über weite Teile des Buches nachgeht. Gesellschaft, das ist die Stadt, in der jeder Mensch die Möglichkeit hat, sich frei zu entfalten. Gemeinschaft ist das, wozu einen das Land erzieht, schreibt Vedder: Als wir aufs Land zogen, dachten wir, wir zögen von der Stadt an den See, aus den engen Straßenschluchten in die Weite der Natur, aus der stickigen Wohnung in das großzügige Haus mit dem sonnigen Garten. Das war jedoch eine viel zu oberflächliche Sicht der Dinge. Tatsächlich zogen wir aus der Gesellschaft in die Gemeinschaft. Der Umzug aufs Land ist ein Auswandern in eine andere Kultur, eine andere Zeit. Quelle: Björn Vedder – Das Befinden auf dem Lande In Kapiteln wie Mia san mia, Im dunklen Tale der Gemeinschaft, Scham und Beschämung, Ekel und Macht oder Überkompensation und dicke Hosen arbeitet Vedder die Mechanismen heraus, mit denen das Dorf versucht, anders Denkende, anderes Ausschauende, anders Handelnde nicht nur auf Linie zu bringen, sondern auch Hierarchie innerhalb der dörflichen Gemeinschaft herzustellen. Besitz und ökonomische Verteilung spielen dabei eine bedeutende Rolle. Urbanisierung der Dörfer als Lösung? Björn Vedder: „Nach einem Wert zu leben, heißt ja, den Wert zu verteidigen. Werte können aber nur durch andere Werte verteidigt werden und das führt sozusagen zu einer permanenten Abwehrhaltung, die Menschen immun macht gegen Kritik und Veränderung.“ Es ist also ziemlich eng auf dem Land, und von Selbstentfaltung keine Spur. Vedder arbeitet die Mechanismen der Denunziation, Beschämung, Kontrolle heraus. Die Dorf-Bewohner kommen eigentlich nie gut weg. Das ist zuweilen irritierend, und man fragt sich, ob der Autor Menschen überhaupt mag. Irgendwann aber kapiert man, dass Vedder eben gern zugespitzt erzählt. Lösungen sieht er auch und die haben mit der Urbanisierungen der Dörfer zu tun. Je näher wir uns rücken, desto ferner können wir uns werden. Tolle Thesen sind das, und weil Vedder sehr gut schreiben kann, ist es auch ziemlich unterhaltsam zu lesen.…
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Florida Ende der 80er Jahre: Kip, Kira und Leslie sind drei auf je eigene Art gebeutelte Kids, die sich zufällig in der Kleinstadt Venice begegnen – und feststellen, dass sie etwas verbindet: die Leidenschaft für eine neue und extreme Musik, die zu dieser Zeit direkt in ihrer Nachbarschaft entsteht: Black Metal. Megadeth, Anthrax, Slayer oder Hanoi Rocks heißen die einschlägigen Bands. Dann setzte das Kreischen ein, und es hörte sich an, als versuchte jemand, auf einem brennenden Scheiterhaufen ein Kinderlied zu singen. Der Gesang klang wütend, ekstatisch, als litte jemand höllische Schmerzen – wissen konnte man das nicht, der Text ließ sich unmöglich verstehen. Wie ein Horrorfilm, dachte Kip, und das nicht bloß wegen des auf die Plattenhülle geairbrushten Zombies. Ihm wurde dieselbe reinigende Angst zuteil, dieselbe Katharsis, dieselbe Offenbarung wie durch einen Slasher-Film um Mitternacht: die Einsicht nämlich, dass nichts, aber auch rein gar nichts gut werden würde. Jetzt nicht. Später nicht. Nie. Und das ergab für ihn durchaus einen Sinn. (John Wray – Unter Wölfen) Der interessante Schwebezustand zwischen Jugend und Erwachsensein Diese selbst ziemlich musikalische Beschreibung eigentlich unbeschreiblicher Musik stammt von dem amerikanisch-österreichischen Autor John Wray. Sein neuer Roman heißt „Unter Wölfen“. Wray beschäftigt sich nicht zum ersten Mal mit Charakteren, die in jenem labilen Schwebezustand zwischen Jugend und Erwachsensein ihren Weg finden müssen, angetrieben von Ängsten, Paranoia, Euphorie, Größenwahn und hormonellem Irrwitz. John Wray: „ Diese Phase, in der man eigentlich die eigene Identität zu gestalten anfängt, habe ich immer wahnsinnig spannend gefunden.“ Wir treffen John Wray in seinem Haus im Brooklyner Stadtteil Park Slope, gelegen in einer ruhigen Seitenstraße. Hier lebt er mit seiner Familie, umgeben von Büchern, Kinderspielzeug und Gitarren. John Wray: „ Für mich waren die letzten Teenagerjahre und Anfang 20 auch eine sehr, sehr glückliche Zeit und eine sehr spannende Zeit. Dieses Gefühl der Selbstbestimmung und der Autonomie Sachen für sich selbst entdecken, ästhetische Fragen (…), ja, dieses Gefühl der Selbstbestimmung und der Autonomie, das war einfach so unglaublich. Das war ein Abenteuer sondersgleichen, das erste echte Abenteuer meines Lebens. (…) Das bleibt nach wie vor spannend und wunderschön für mich. Natürlich ist es auch eine extrem beklemmende Zeit und eine oft sehr traumatische Zeit. Als Rohmaterial für einen Roman könnte man sich kaum etwas Besseres wünschen.“ Das Traumatische und das Abenteuerliche liegen eng beieinander Das Traumatische und Abenteuerliche liegen in „Unter Wölfen“ tatsächlich eng beieinander: Kip ist gerade erst nach Venice zu seiner Großmutter gezogen – nicht freiwillig natürlich. Sein Vater sitzt im Gefängnis, seine Mutter treibt sich irgendwo herum und zeigt kein großes Interesse an ihrem Sohn. Leslie, ein von jüdischen Adoptiveltern innig geliebter schwarzer Junge, bewegt sich als Fremdkörper durch die Welt – mit seinen Glamklamotten, seinem ausgefallenem Musikgeschmack fällt er auf, seine Homosexualität macht ihn angreifbar, sein Drogenkonsum tollkühn. Und Kira, die dritte im Bunde, lebt bei einem Vater, der sie missbraucht. Sie flüchtet sich in immer drastischere Situationen, die Lust am Exzess ist bei ihr mindestens so ausgeprägt wie der Wunsch nach Selbstauslöschung. Alle drei wollen etwas spüren, erleben, etwas Wahres und Echtes und Authentisches. Metal birgt all das in sich. Sie werden zu einer verschworenen Gemeinschaft, ziehen sogar zusammen nach Los Angeles, ins Mekka des Metal, wo sich verschiedene Szenen überschneiden. Nähebedürfnis und Abgrenzungszwang wechseln sich auf unheilvolle Weise ab. Kip und Kira lieben sich, aber diese Liebe hat etwas Zerstörerisches. Das alles erzählt John Wray rasant, in einem lässigen, aber nie anbiedernden Ton, den Bernhard Robben ebenso lässig ins Deutsche gebracht hat. Musik spielt in diesem Roman nicht im Hintergrund. Sie grundiert das Leben, erdet es. Wray versucht nicht, cool über Musik zu sprechen, sondern lässt seinen Figuren den Vortritt. Sie wachsen in die Musik hinein und sinnieren darüber – nie klüger und nie blöder als es Jugendliche eben tun. Wray selbst hat viel gelesen und gehört, mit Heavy-Metal-Anhängern gesprochen und dabei eine gar nicht so verwunderliche Erkenntnis gewonnen: John Wray: „ Ich muss ehrlich sagen, die Heavy-Metal-Fans, mit denen ich zu tun gehabt habe, sind weitaus die liebsten, sanftesten, sympathischsten Menschen, die ich infolge meiner Arbeit kennengelernt habe.“ Tatsächlich klaffen äußere Erscheinung und innere Befindlichkeit selten so weit auseinander. Die Heavy-Metal-Kultur sei sehr bunt, sagt Wray. John Wray: „ Und für mich war das natürlich faszinierend und eine wirklich große Überraschung.“ Überraschend ist auch, welche Wendung der Roman nimmt. Von Florida über Kalifornien geht es im letzten Teil nämlich nach Norwegen, wo sich zu jener Zeit eine noch heftigere Spielart des Metal entwickelt: Black Metal. Kip und Kira reisen nach Europa, und Kira verschwindet irgendwann spurlos in der berüchtigten norwegischen Szene. Der legendäre Osloer Plattenladen Helvete spielt dabei eine wichtige Rolle – und dessen Gründer Øystein Aarseth alias Euronymus, der zugleich Gitarrist der stilprägenden Band Mayhem war. Uralte Holzkirchen werden zu dieser Zeit angezündet, satanische Rituale sind ebenso beliebt wie Songs über die Pest. Der Tod ist in dieser Kultur allgegenwärtig: Es ist die radikalste Auflehnung, die sich in einer tief christlichen, spaßfeindlichen und restriktiven Gesellschaft denken lässt. John Wray: „ Als ich mit Metal-Fans gesprochen habe, also aus Florida stammend und dann aus Norwegen, weil ich war auch eine Zeit lang in Norwegen, habe ich immer wieder das Gleiche gehört: Also, wir haben nicht Heavy Metal gemacht, weil es so finster war im Winter. Oder weil die Wikinger aus Norwegen stammten. Oder weil wir alle Alkoholiker sind. Sondern weil es so extrem langweilig war als junger Mensch. Weil die Gesellschaft nichts für uns getan hat. Und weil alles so extrem homogen war. (…) Und das ist genau gleich gewesen in Norwegen, so wie in Florida, so wie überall. Die extremsten Jugendbewegungen entstehen immer dort, wo es am langweiligsten ist zu leben.“ Die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt Wrays Roman entwickelt sich im Schlussteil zu einem Thriller, einer verzweifelten Suche nach Kira, aber auch nach einem Platz in der Welt. Kip ist vielleicht der Einzige der drei, der sich am Ende wirklich aus der gefährlichen Umklammerung der intensiven Überwältigungskunst in eine andere Sphäre der Kunst- und Weltwahrnehmung retten kann. Er fängt an, über Musik zu schreiben, wird zum Autor, der notgedrungen eine Distanz zu seinem Gegenstand einnehmen muss. Die Musik kann zwar Leben retten, aber manchmal muss man sich auch vor der Musik retten, indem man sie auf andere Weise betrachtet. Vielleicht erzählt John Wray, der Schriftsteller, der selbst als Jugendlicher dem Lauten und Chaotischen zugeneigt war, da auch ein wenig seine eigene Geschichte. John Wray: „ Man wird älter. Und so sehr man sich vielleicht dagegen wehren möchte, muss man diese Phase des Lebens irgendwie doch hinter sich lassen. (…) Man empfindet die Welt, die Liebe und auch die Musik nicht mehr mit einer solchen ungeheuren Intensität wie früher. Das ist natürlich einerseits eine leicht melancholische Tatsache, aber andererseits könnte man mit einer solchen Einstellung kaum überleben. (…) Glücklicherweise kann man sich immer noch daran erinnern und vielleicht sogar einen Roman darüber schreiben.“…
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Neue Bücher von Judith Poznan, Jörg Später, Marion Löhndorf, John Wray und der Klassiker "Fahrenheit 451“ als Graphic Novel
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1 Marion Löhndorf – Leben im Hotel | Gespräch 11:13
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11:13Was macht Hotels zu so besonderen Orten? Und was inspiriert Künstler immer wieder, sich mit ihnen zu befassen oder für immer einzuchecken? Dem spürt Marion Löhndorf in ihrem klugen Essay über das „Leben im Hotel“ nach.
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Homers „Odyssee”, Joseph Conrads „Herz der Finsternis”, „Alice im Wunderland” von Lewis Carroll – Geschichten, die die Welt in Atem gehalten haben. Nun liegen diese und viele andere Bücher auf dem Boden – ein Scheiterhaufen der Kulturgeschichte zum Abfackeln bereit. Denn die Feuermänner stehen schon da - ihre Kerosinpistolen im Anschlag, um die Ordnung wiederherzustellen, um Schluss zu machen mit aufrührerischen, sehnsüchtigen, unabhängigen Worten. Als Guy Montag wenig später nach getaner Arbeit seine feuerfeste Uniform in den Spind räumt, ist er mit sich und der Welt zufrieden. Eine erfolgreiche Woche liegt hinter ihm. Víctor Santos: „Bradbury ist mehr ein Dichter als ein Science-Fiction-Autor“ Der Comic „Fahrenheit 451“ beginnt mit einer starken Szene, die den Albtraum einer postliterarischen Gesellschaft auf eine dramatische Weise sichtbar macht. Eigentlich sei er kein hardcore Science-Fiction-Leser, meint Víctor Santos, aber Ray Bradbury möge er besonders gern. „Er ist mehr ein Dichter als ein Science-Fiction-Autor“. Víctor Santos: „I am not a hardcore science-fiction reader. But this is one of my favorite books. So for me was a dream to do it. Bradbury - he is more a poet than a sci-fi-author.” Bradburys Klassiker „Fahrenheit 451” in einen Comic umzusetzen, war allerdings nicht ursprünglich Víctor Santos Idee. Der spanische Verlag planeta hatte den Künstler wegen seines besonderen Zeichenstils angefragt, der mit einer reduzierten Optik, mit starken grafischen Kontrasten und noir-Motiven arbeitet. In deutscher Übersetzung liegt bislang nur ein Werk von Víctor Santos vor: „Polar“ – ein actiongeladener Spionagethriller, eigentlich ein Web-Comic, der so erfolgreich war, dass er 2019 von netflix mit Superstar Mads Mikkelsen verfilmt wurde. Die Ästhetik von „Fahrenheit 451“ hat zwar Ähnlichkeiten mit dem „Polar“-Comic, doch Víctor Santos hat für seine Adaption des Klassikers eine ganz eigene, spannende, farbige Bildsprache entwickelt. Eine eigenständige Comic-Version des Klassikers Ray Bradburys Zukunftsszenario entstand 1953. Den Geist dieser Zeit hat der Comic-Künstler immer wieder durch einzelne Referenzen an Mode, Einrichtung und Architektur sichtbar gemacht. So sitzt der Feuermann Guy Montag in einer pastellfarbenen Küche, auf einer Party tragen die Frauen Swingkleider und nippen an ihrem Cocktailglas. Selbst das Cover, das eine sehr stilisierte Feuerbrigade zeigt, versprüht Retro-Charme und die Gebäude sind in der Regel funktional, groß und kantig. Es sei denn die Feuerbrigade steuert auf das Haus einer alten Frau zu, die im Verdacht steht, Bücher zu besitzen. Es ist eine in die Jahre gekommene, verwitterte Villa aus Holz vor dem düsteren Hintergrund steil aufragender Betonklötze. Diesmal ist die Säuberungsaktion unerbittlich. Die alte Frau geht mitsamt ihrer Bibliothek in Flammen auf. Für seine Comic Adaption hat Víctor Santos Bradburys Dystopie nicht einfach nur bebildert. Er hat eine weitgehend eigenständige Version entwickelt: Víctor Santos: „I was more concerned about transmit the feeling and the emotion of the Story than using all the dialogs, all the descriptions of the story. For example, I never use the narration of Bradbury only the dialogues. Because I have this rule: if Bradbury is telling me something, I am going to draw it, to show it. I`m not going to copy and pace the text.” „Mir ging es mehr darum, die Gefühle und Emotionen der Geschichte zu vermitteln, als alle Dialoge und Beschreibungen der Geschichte zu übernehmen. Ich verwende zum Beispiel nie Bradburys Erzählung, sondern nur die Dialoge. Denn ich habe diese Regel: Wenn Bradbury mir etwas erzählt, zeichne ich es, um es zu zeigen. Ich kopiere den Text nicht und füge ihn nicht einfach ein.“ In den 1950er Zeiten futuristisch, heute bereits Realität Es ist nicht nur der grausame Tod der alten Dame, der die geordnete Welt des Feuermannes Guy Montag allmählich ins Wanken bringt. Vor seinem Haus begegnet er dem jungen Mädchen Clarisse, eine Nachbarin, die durch den Regen tanzt, die merkwürdige Gedanken äußert und ihn mit seltsamen Fragen irritiert –ob er glücklich sei, will sie wissen. Anders als die sehr lebendige Clarisse sitzt Guy Montags Frau Mildred wie ein Fernseh-Zombie daheim. Die Zimmerwand besteht aus einem einzigen riesigen Bildschirm und sehr zum Leidwesen Mildreds hat das Gehalt ihres Mannes bislang nur für drei Wände gereicht. Als sie eines Tages eine Überdosis Tabletten nimmt, kommt eine Spezialeinheit zum schnellen Blutwechsel vorbei. Ein Standardeinsatz, Ärzte werden für solche Lappalien nicht mehr belästigt, erfährt Guy, was ihn fassungslos macht und in die Krise stürzt. Er fängt an, Bücher beiseitezuschaffen, zu lesen, die Schönheit der Gedichte zu feiern, was ihn aus der Sicht des Systems verdächtig macht. Víctor Santos hat in seine Bilder immer wieder hoch moderne Technik integriert. Zu Zeiten Ray Bradburys geradezu futuristisch, heute Alltag: Víctor Santos: “I could see all the elements of the social Media, the fake news. A lot of elements I even know when I read the novel seven years ago. But now they are my present. I feel Bradbury was talking about it and I try to add this new interpretation to the graphic novel. I think it fits perfectly.“ „Ich konnte alle Elemente der sozialen Medien und der Fake News erkennen. Viele Elemente kannte ich schon, als ich den Roman vor sieben Jahren las. Aber jetzt sind sie meine Gegenwart. Ich habe das Gefühl, Bradbury hat darüber gesprochen und ich versuche, diese neue Interpretation in den Graphic Novel einzubringen. Ich finde, es passt perfekt.” Mahnung vor einer intellektuellen Gleichschaltung Das Faszinierende an Bradburys Vision ist die Tatsache, dass die Menschen in seiner Geschichte selbst Literatur und kritisches Denken abgeschafft haben, um alle Bürgerinnen und Bürger auf ein gleiches intellektuelles Niveau zu bringen. Nun hat ein totalitärer Staat darüber zu wachen, dass dieser Standard und der allgemeine Seelenfrieden nicht gefährdet werden. Fatal, wie sich in Bradburys Roman aktuelle Trends wiederfinden: die Sehnsucht nach Vereinfachung, nach einer künstlichen Intelligenz, die Lern- und Denkarbeit erleichtert, nach Spaß und Ablenkung, verbunden mit einer zunehmenden inneren Leere. Víctor Santos legt viel Wert auf die emotionalen Momente dieser Geschichte: er zoomt die Gesichter heran, arbeitet sehr gekonnt mit unterschiedlichen grafischen und farblichen Effekten und spielt sehr lebendig mit den Vignetten, den Bildrahmen, um die Charaktere noch stärker hervorzuheben oder zu kommentieren. Bradburys Klassiker „Fahrenheit 451“ auf diese spannende Weise wiederentdecken zu können, ist ein wertvolles Geschenk.…
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Dieses Buch hat seinen Höhepunkt gleich am Anfang, und er kommt als Ratte daher. Die guckt eines Tages aus Judiths Kloschüssel. Da war eine Ratte in meinem Klo. Ihr Kopf war ganz schmal, die Nase spitz, und ihr Fellhaar schwamm im Klowasser. Und noch bevor ich irgendwie hysterisch werden konnte, zog sich ihr Kopf wieder zurück. Quelle: Judith Poznan – Aufrappeln Was Judith, die Ich-Erzählerin in „Aufrappeln“, die zufällig genauso heißt wie Judith Poznan, die Autorin des Buches, was Judith also dann tut, ist sehr, sehr lustig. Sie schnappt sich eine Rolle Gaffa-Klebeband, das ist dieses ganz feste, klebrige mit dem man fast alles irgendwo anpappen kann, und dann „verbarrikadiert“ sie die Rattentoilette mit dem Dichtungsband. Fünf silberne Streifen verschlossen das Tor zur Hölle. Und ich packte einen hohen Stapel alter Bildbände und Graphic novels drauf. Ratten, las ich, sind stark. Sie konnten ohne Weiteres das Dreifache ihres Körpergewichts stemmen und sich nahezu überall hindurchquetschen. Die hier würde aber keine Chance haben, rauszukommen. Quelle: Judith Poznan – Aufrappeln Eine Ratte im Klo als Omen Die Rattengeschichte gleich auf den ersten Seiten, ist stark. Charmant und unterhaltsam erzählt Judith Poznan sie und deutet das Nagetier im Klosett als eine Art Omen, ein schlechtes Zeichen für das, was da auf sie zukommt. Und tatsächlich, ein paar Tage später – ist die Katastrophe da, ihr Freund Bruno teilt ihr mit, dass er sich von ihr trennen will. Für Judith bricht eine Welt zusammen, mit Bruno hatte sie sich eine Zukunft vorgestellt, Mann, Frau, Kind in einer Berliner Altbauwohnung - mit allem, was dazugehört zu so einer heilen kleinen Familie, also mit allem, was Judith dachte, dass es dazugehört: Ich wollte aus unserer Wohnung ein Zuhause machen, mit Schnittblumen und zu vielen Bilderrahmen. Ich wollte Kinder, die es eklig finden, wenn wir uns küssen. Ich wollte den Markt, auf den wir jeden Samstag Händchen haltend rübergehen. Ich wollte die Hochzeit, die trotz des Regens eine schöne war. (...) Ich wollte das ganze Leben, die Höhen und die Tiefen, den Tag und die Nacht, ich wollte die große Liebe und im wenigen das Glück. Quelle: Judith Poznan – Aufrappeln Der Kampf um Haltung in der Paar-Krise Und jetzt plötzlich das Kontrastprogramm – quasi über Nacht ist Judith alleinerziehend, zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus, und bemüht sich, trotz allem, um eine gute Beziehung zu ihrem Ex-Freund, dem kleinen Sohn zuliebe. Denn obwohl die Trennung „das Ende von uns Dreien“ bedeutet, wollen Judith und Bruno doch weiter Eltern, gute Eltern sein. An sich ist das alles kein unspannendes Setting, der Kampf um Haltung in der Krise, die Frage, wie man als Eltern zusammenbleiben kann, wenn die Paarbeziehung endet. Doch leider verpasst Judith Poznan regelmäßig die Momente, in denen das Buch mehr Tiefe und Reflexion über diese wichtigen Fragen gebraucht hätte. Stattdessen verlässt sie sich ganz auf ihr Erzähltalent, sie pickt sich kleine Alltagsepisoden heraus und kombiniert diese mit Rückblicken auf ihre eigene Kindheit und Jugend in Berlin Moabit. Die war „typisch 90er“, zwar hatte Judith schlechte Noten und der Vater war mal arbeitslos, aber ansonsten: alles normal. In dieser Zeit war ich das, was man von einer Jugendlichen erwarten konnte. Trockene Haut, fettige Haare, besessen von Leonardo di Caprios müdem Blick und ohne meine beste Freundin kein ganzer Mensch. Meine Emailadresse lautete crazynoodle@gmx.de. Wie sich ein Zungenkuss anfühlen könnte, war die alles beherrschende Frage. Quelle: Judith Poznan – Aufrappeln Was hat diese Mitt-Dreißigerin zu sagen? Auch in den ernsten Teilen des Buches, in denen es zum Beispiel um die Abtreibung bei ihrer besten Freundin mit 16 geht, bleibt Judith Poznan an der Oberfläche. Ihre Kämpfe gehen nie aufs Ganze, ob nun als Heranwachsende oder in der Zeit nach der Trennung. Judith und Bruno sind für ihren Sohn, der seltsamerweise immer nur „der Junge“ genannt wird, weiterhin da, das gelingt ihnen sehr gut. Fertig. Nur leider, so scheint es, hatte Judith Poznan eben noch knapp 150 Seiten zu füllen. Also lässt sie es plätschern, sorgt hier und da für kleine Schmunzler, durch ihre Berliner Schnauze – sie geht „pullern“ und liebt ihren Sohn „ganz dolle“ – es geht um ihre erste Teenagerverliebtheit und darum, wie sie das Tagebuchschreiben für sich entdeckt hat, aber das reicht eben nicht für ein Buch, das auf dem Klappentext ankündigt „unsere Vorstellung von Liebe zu ergründen.“ Es wird einfach nicht klar: was hat diese Mitte Dreißigjährige eigentlich zu sagen? Für wen sind ihre kleinen Alltagsbeobachtungen spannend, außer für sie selbst? Und selbst die Stellen, die eigentlich emotional sein sollen, klingen seltsam distanziert. Am nächsten Morgen stehe ich erst spät auf. Die Freude über den Umzug in die Wohnung, der Schmerz über die Trennung von Bruno, beides hat meinen Kopf zu einem Geschwür aus Verwirrung anschwellen lassen. Anstatt nach draußen zu gehen, die Sorgen abzulegen, gammle ich allein vor mich hin. Ich warte einfach nur darauf, dass alles besser wird. Quelle: Judith Poznan – Aufrappeln Judith Poznans zweiter Roman „Aufrappeln“ hat kein Stilproblem. Wer ihren schnodderigen Berliner-Schnauze Ton mag, der kann sich an vielen unterhaltsamen Passagen erfreuen. Und dass ihr der Schreibprozess selbst wichtig, dass er heilsam für sie ist, wird auch klar. Was dem Buch fehlt, ist Relevanz oder Gewicht. Kleine Anekdötchen, witzige Wortspiele hier und da reichen vielleicht für Posts in den sozialen Netzwerken, sind aber nichts für die Langstrecke.…
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1 Jörg Später – Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik | Buchkritik 4:47
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4:47Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die deutsche Bevölkerung nicht nur mit dem unvorstellbaren Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen konfrontiert, sondern auch an einem moralischen Tiefpunkt angelangt. Wer nicht mit dem Verschweigen und Vertuschen der eigenen Taten beschäftigt war, beteiligte sich an der Verdrängung der Taten anderer. Ein Interesse an einer echten Aufarbeitung der grausamen Vergangenheit hatten nur wenige. Die Rettung aus dem Exil In dieser Situation waren es die exilierten Intellektuellen, die der Bundesrepublik zu einem neuen Gewissen verhalfen. Unter denen, die rechtzeitig fliehen konnten, waren viele Juden, die sich immer noch ihrer Heimat verbunden fühlten. Ihre Rückkehr nach Deutschland wurde keineswegs begrüßt, stellten sie doch eine kritische Stimme dar, die niemand hören wollte. Der berühmteste unter ihnen war Theodor W. Adorno, ein öffentlicher Intellektueller wie kaum ein anderer. Die weitreichenden Folgen dieser Rückkehr hat der Historiker Jörg Später nun in seinem Buch „Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik“ rekonstruiert. Adorno ist erst spät nach der Machtergreifung zunächst nach England, dann endgültig in die USA emigriert. Bei seiner Rückkehr hatte er eine Kritische Theorie im Gepäck, deren Wirkung der Philosoph Manfred Frank wie ein Lebenselixier beschrieben hat: Meiner ganzen Generation war die Existenz der Kritischen Theorie eine geistige Überlebensfrage angesichts von Eltern und Lehrern, die vom Nationalsozialismus entweder kompromittiert waren oder in einer Vermeidungsstrategie die verspäteten Analysen umgingen. Quelle: Jörg Später – Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik Der neue kategorische Imperativ Bereits in seinem amerikanischen Exil hatte sich Adorno einen Namen gemacht, vor allem mit der „Dialektik der Aufklärung“, die er zusammen mit Max Horkheimer geschrieben hatte. Dieses Buch wurde zu einer der wichtigsten intellektuellen Ressourcen der Bundesrepublik und hat ganze Generationen geprägt. Während viele Deutsche die nationalsozialistische Herrschaft am liebsten aus ihrer Erinnerung getilgt hätten, machte Adorno sie zum Ausgangspunkt seines Denkens und formulierte einen neuen kategorischen Imperativ für die Nachkriegszeit: Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe. Quelle: Jörg Später – Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik Für die Verbreitung dieses Imperativs spielte das Institut für Sozialforschung eine zentrale Rolle. Ohne diese Einrichtung an der Frankfurter Universität wäre die enorme Wirkung der Kritischen Theorie nicht möglich gewesen. Gegründet wurde das Institut 1924, seine Gründer waren enttäuscht von der Novemberrevolution. Ihre Absicht war es, eine Theorie der Gesellschaft zu entwickeln, mit der die Klassenkämpfe der Weimarer Republik besser zu verstehen waren als mit der orthodoxen marxistischen Lehre. Die Auseinandersetzungen von 1968 Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde das Institut geschlossen. Die Belegschaft übersiedelte nach New York, wo ihr von der Columbia University ein Haus zur Neugründung überlassen wurde. Wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte das Institut auf Bitten der Stadt Frankfurt wieder zurück und wurde schnell zu einem der wichtigsten Orte für die Aufarbeitung der Vergangenheit. Nachdem sich Horkheimer zurückgezogen hatte, wurde Adorno alleiniger Direktor des Instituts. Der Höhepunkt seiner Anerkennung als moralische Instanz fiel zusammen mit den Turbulenzen, in die das Institut durch die Studentenbewegung geriet. Dem philosophischen Meister wurde vorgeworfen, einer echten Revolution auszuweichen. Entsetzt musste Adorno zusehen, wie die Studenten unter Berufung auf seine eigene Theorie immer dogmatischer wurden: In Wahrheit habe nicht ich meine Position geändert, sondern jene die ihre, oder vielmehr die meine, da sie ja doch unendlich viele Kategorien von mir, besser: von der Frankfurter Schule überhaupt bezogen haben. So war’s nicht gemeint. Quelle: Jörg Später – Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik Als Adorno 1969 starb, hinterließ er ein weit verzweigtes Netz von treuen Anhängern. Sein wichtigster Schüler Jürgen Habermas begleitet die Bundesrepublik bis heute. In seiner brillant geschriebenen Studie geht Jörg Später diesem Netz mit großer Genauigkeit nach. Vor allem aber macht er deutlich, wie wichtig die jüdische Erfahrung für die Begründer der Kritischen Theorie war, ein Umstand, der heute viele Jahrzehnte später selbst an den deutschen Universitäten in Vergessenheit zu geraten droht.…
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1 „Muttertask“ – Uljana Wolf beschreibt murmelnde Mütter und invasive Infantinnen 55:14
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55:14Die Dichterin Uljana Wolf (*1979) ist Mutter zweier Töchter. In ihrem Lyrikband „Muttertask“ erzählt sie von kindlichen Invasionen und vielen schönen Verwandlungen.
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Die Hacienda Rosa Blanca, von der B. Travens sozialkritischer Roman „Die weiße Rose“ den Titel hat, ist ein irdisches Paradies. Hier, in der mexikanischen Provinz Vera Cruz, leben die indigenen Bewohner in Harmonie und wollen diese einfache, aber glückliche Lebensform auch für ihre Nachkommen bewahren. Darum denkt Jacinto Yañez, der sich mehr als Treuhänder denn als Besitzer versteht, auch keine Sekunde daran, die Hacienda zu verkaufen, obwohl eine US-amerikanische Erdöl-Company ihm riesige Summen anbietet. Die Vertreibung aus dem Paradies Mit Grausen stellt sich Jacinto vor, was geschehen würde, wenn er das Angebot annehmen und dadurch alle Gemeindemitglieder heimatlos machen würde. Wo einst die Orangen- und Zitronenbäumchen standen, wo einst die grünen Maisfelder waren, da stöhnten und ratterten jetzt fauchende Lastautos. Der Boden war schlammig und sumpfig von Öl, das entsetzlich stank und die Luft verpestete. Quelle: B. Traven – Die weiße Rose In seinem früheren deutschen Leben war B. Traven links und Anarchist, doch in keiner ideologischen Richtung linientreu. 1924 gelangte er nach etlichen Stationen auf abenteuerlichen Wegen nach Mexiko und wurde aus dem Stand zum literarischen Chronisten der regionalen Ausbeutungsverhältnisse im Schatten der übermächtigen USA. Ein Erdölmagnat sorgt für Profit und Luxus Denn es ist Mr. Collins, der Präsident der Condor Oil Company in San Francisco, der sich Jacintos Hacienda unter den Nagel reißen will. Was für die Mexikaner die Zerstörung der Natur und ihrer Gemeinschaft bedeutet, verspricht für ihn die Steigerung der Profite, mit denen er das Luxusleben für sich, seine Familie und seine Mätressen finanziert. Betty, du sollst die eleganteste Jacht haben, und wenn du die Jacht des Königs von England außerdem noch haben willst, ich mache ihn bankrott und kaufe alle seine Jachten, Pferde und Schlösser auf der Auktion. Quelle: B. Traven – Die weiße Rose Traven liefert böse schillernde Ansichten vom Auftrumpfen der Superreichen. Natürlich ist das holzschnittartig. Doch genauso stellte sich die Realität der damals so genannten „Räuberbarone“ des amerikanischen Kapitalismus dar. Ganz abgesehen davon, dass weibliche Schönheit, Yachten und alles Hochpreisige nach wie vor zu den beliebtesten Statusobjekten von Milliardären gehören. Kurt Tucholsky feierte Traven kurz nach Erscheinen von „Die weiße Rose“ im Jahr 1929 für das treffende Porträt des Ölmagnaten Mr. Collins. Die scharfsichtige Schilderung von dessen ebenso gewinnbringendem wie skrupellosem Handeln erreichte in seinen Augen das Niveau von Balzac. Urszenen des Kapitalismus Mr. Collins sah einen Menschen, und wusste, wie er ihn zu gewinnen hatte. Die einen brüllte er nieder, die andern redete er nieder, und wieder andere streichelte er nieder. Und wenn nichts half, schlug er sie zu Boden. Quelle: B. Traven – Die weiße Rose Natürlich ist die Hacienda vor dem Zugriff der Ausbeuter, die schließlich Gangstermethoden anwenden, nicht zu retten. Die ökonomische Logik und das gerade anbrechende Zeitalter ölhungriger Motoren lassen keinen Ausweg. Travens ebenso farbig wie präzise ausgemalte Urszenen eines ungezähmten Kapitalismus sind nach wie vor ein fesselndes Lehrstück über Macht und Unterwerfung. Und gerade im Licht der postkolonialen Debatten von heute gewinnen sie eine ganz neue Brisanz.…
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Mit dem Schlager „Abbronzatissima“ – „stark gebräunt“ – von Edoardo Vianello beginnt Eric Pfeils zweite musikalische Italienrundreise. Dass dieser Sommerhit aus dem Jahr 1963 den Auftakt bildet, ist zwar schlicht der alphabetischen Aufzählung nach Liedtiteln geschuldet. Aber auch inhaltlich ergibt es Sinn. Der Großteil dessen, was wir heute als „typisch italienisch“ wahrnehmen – Esskultur, Aperitivo-Tradition, Caffé-Rituale, Mode, Kino, Musik – ist ein Produkt der Nachkriegszeit und des „Boom economico“, des wirtschaftlichen Aufschwungs. „Abbronzatissima“ ist in diesem Sommer 1963 mithin der Soundtrack zur Erschaffung der italienischen Leichtigkeit. Quelle: Eric Pfeil – Ciao Amore, ciao Ein Buch wie eine riesige gemischte Antipasti-Platte 100 Lieder in 100 Kapiteln – wie schon das erste Italien-Buch von Eric Pfeil ist auch dieser Band wie eine riesige gemischte Antipasti-Platte: bunt, abwechslungsreich, überraschend, aber auch tiefgründig. So erklärt der Autor beispielsweise anhand von Ivano Fossatis „La mia banda suona il rock“ das Verhältnis des Einzelnen zur Nation. Der Genueser Fossati nahm das Album 1979 in den USA auf, um der provinziellen Kleinteiligkeit seiner Heimat zu entfliehen. Man denkt weniger national als regional – als piemontese, napoletano oder pugliese. Sich kollektiv unter dem Banner Italia zu versammeln, fällt den Bewohnern des Bel Paese bis heute schwer. In Italien spricht man vom Campanilisimo, der extremen Bezogenheit auf den örtlichen Glockenturm. Quelle: Eric Pfeil – Ciao Amore, ciao Leidenschaftlicher Italien-Forscher Pfeil, das scheint auf jeder Seite durch, ist nicht einfach nur Tourist. Er ist ein leidenschaftlicher Italien-Forscher, der das Land in all seiner kulturell und regional fragmentierten Gesamtheit erfassen will. Dieses Wissen vermittelt er uns anhand der ausgesuchten Lieder. Eric Pfeil: Irgendwann läuft man dann natürlich vor sehr viele Wände. Dann stehen die Widersprüche im Raum herum. Der Katholizismus, die Frauen, die Männer, die Mütter, die Mafia…. Die Musik, die für mich immer parallel lief, die ich auch immer faszinierend fand, weil sie so ein anderes Flirren hatte als anglo-amerikanische Musik, hat sich für mich irgendwann als das Mittel herausgestellt, mit dem man das Land wirklich verstehen kann. Große Themenvielfalt der italienischen Popmusik Weil, so Pfeil, in der Musica leggera, wie sie in Italien heißt, wirklich jedes Thema abgehandelt werde. Die Anni di piombo, die bleiernen Jahre des Links-Rechts-Terrors in den 70ern, haben genauso ihre musikalische Entsprechung wie die LGBTQ-Bewegung oder die Rückkehr des Rechtspopulismus. Wir erfahren zudem, welche Künstler politisch wo zu verorten zu sind, und Pfeil erinnert daran, dass die wahren Superstars des italienischen Lieds nicht die sind, die wir in Deutschland dafür halten – statt Ramazotti, Zuccero und Cutogno nämlich: De Andre, di Gregorio, Mina und immer wieder Lucio Battisti. Manchmal versteigt sich Pfeil etwas in seinen Formulierungen: da wird mächtig aufs Pedal gedrückt, direkt durch den Käse geschnitten und Themen werden adressiert, statt sie – nun ja – eben einfach an- oder auszusprechen. Das jedoch sind lässliche Verfehlungen dieses Reiseführers der anderen Art. Eric Pfeil trifft darin nämlich genau den Ton, den er am Gegenstand seiner Betrachtung so liebt: glitzernd und flirrend.…
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1 Alana S. Portero – Die schlechte Gewohnheit 4:09
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4:09Das Kind Alex lebt in einem ärmlichen Stadtteil von Madrid. Schon früh weiß es, dass es ein Mädchen ist, obwohl es im Körper eines Jungen geboren wurde. Heimlich schminkt sich Alex im Badezimmer oder tanzt zur Musik von Madonna, wenn die Eltern nicht zuhause sind. Der Vater ist Fabrikarbeiter, die Mutter Putzfrau. Als Alex älter wird, spielt sie tagsüber den ganzen Kerl, den das Umfeld in ihr sieht. Sie versteckt ihre wahre Geschlechtsidentität – aus Angst und aus Scham. Ich fürchtete das Urteil eines unsichtbaren Gottes, das in jedem Blick anderer lauerte. Eine Art jagender Heiliger Geist, der von Körper zu Körper sprang und mich umkreiste wie ein Geier, der auf die endgültige Kapitulation eines verwundeten Tiers wartete. (…) Ich war zutiefst davon überzeugt, dass jeder Versuch, mich als das Mädchen, die Jugendliche oder die Frau, die ich war, zu behaupten, irgendeine unerträgliche Art der Korrektur nach sich ziehen würde. Quelle: Alana S. Portero – Die schlechte Gewohnheit Selbstverleugnung und Nachtleben So schildert die spanische Autorin Alana S. Portero Alex‘ inneren Konflikt. Die junge Transsexuelle leidet zutiefst unter der Selbstverleugnung. Die schlechte Gewohnheit, die dem Roman seinen Namen gegeben hat, ist, dass Alex viel weint. Lebendig und wahrhaftig fühlt sie sich erst nach Einbruch der Dunkelheit, wenn sie für einige Stunden in das Madrider Nachtleben eintaucht und in Frauenkleidern ihre weibliche Identität und ihre Sexualität erkundet. Die 46-jährige Autorin Alana S. Portero ist selbst transsexuell. Früher war sie ein Junge. Jetzt ist sie eine Frau. Alana S. Portero: El barrio. ... Y evidentemente la experiencia trans – aunque mi experiencia es diferente de la de la protagonista de la novela. Yo necesitaba esas dos o tres ayudas personales para poder crear una buena ficción encima, para usarlas como suelo para construir un buen texto. La novela tiene mucho menos que ver conmigo de lo que parece. Voiceover: Das Viertel San Blas, in dem die Protagonistin aufwächst – da komme ich auch her. Und natürlich die Tatsache, dass sie wie ich eine Trans-Frau ist, obwohl meine Erfahrung anders ist als ihre. Diese paar Bezugspunkte brauchte ich als Grundlage für eine gute Fiktion. Aber der Roman hat viel weniger mit mir persönlich zu tun als es scheint. Das Kind als Chronistin Im heruntergekommenen San Blas müssen die Bewohner in den 1980er Jahren hart als Fabrikarbeiter oder Bedienstete schuften. Nachbarinnen werden von ihren Männern verprügelt, Jugendliche betäuben sich mit Heroin. Durch die Augen und die Stimme von Alex erleben wir das Viertel. Das sensible und scharf beobachtende Kind ist eine Chronistin der rauen Wirklichkeit. Zugleich ist sein Blick auf die Menschen von San Blas freundlich und mitfühlend. Alex selbst wird in einer liebevollen Familie groß, aber (eben) auch in einer Umgebung, in der queere Menschen verspottet werden oder sogar Gewalt erfahren. Vor ihrer Angst und Einsamkeit flüchtet sich Alex oft in Traumwelten, die von Fabelwesen bevölkert werden. Und wenn sie sich als Jugendliche in der Madrider Nacht Männern hingibt, beschreibt sie sie diese als Drachen und sich selbst als geflügelte Nymphe. Der Raum füllte sich schnell, und wir kamen alle zusammen – Gehörnte mit Geflügelten, Stachelrücken mit Paarhufern, Feuerhäute mit Moosumhängen. Als die bucklige Mondkönigin hervorkam und ihr Licht in unsere Münder ergoss, boten wir ihr, wie es sich gehörte, unsere unsterbliche Seele dar, um den Tanz einzuläuten. Quelle: Alana S. Portero – Die schlechte Gewohnheit Der Mut, sich so zu zeigen, wie man wirklich ist Ein Roman voller phantastischer Abschweifungen, die etwas mit der Leidenschaft der Autorin für Mythen und Märchen zu tun haben, wie sie selbst erzählt. Alana S. Portero schildert den schwierigen Prozess von Alex‘ Transition berührend, passagenweise aber auch leicht und humorvoll. Die harten, schmerzhaften Erfahrungen der Protagonistin bricht sie durch die poetischen Einschübe und auch durch die warmherzige Beschreibung einer Reihe von Menschen, die Alex Weg kreuzen und ihr letztendlich Hoffnung geben. Porteros Debüt ist mehr als ein Trans-Roman. Es ist eine universelle Geschichte über die schwierige Suche nach sich selbst und über den Mut, den es braucht, um sich so zu zeigen, wie man wirklich ist.…
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In einem Beitrag für die Frauenzeitschrift Libre schreibt Susan Sontag, die Befreiung der Frauen sei eine notwendige Voraussetzung für den Aufbau einer gerechten Gesellschaft. Der Aufsatz ist Teil des Essaybands „Über Frauen“, den Susan Sontags Sohn, David Rieff, jüngst publizierte. Er enthält die wichtigsten Aufsätze von Susan Sontag zum Thema Frausein. Die US-amerikanische Autorin widmet sich darin politischen, ästhetischen und ökonomischen Aspekten und macht deutlich, wie sich unsere Vorstellungen von Geschlecht auf die Lebenswirklichkeit von Frauen auswirken. Eine kritische Beobachterin, die ihrer Zeit voraus war Sontag erweist sich dabei als kluge und aufmerksame Beobachterin der Gesellschaft. Wie ihre Bücher „Das Leiden anderer betrachten“ oder „Über Fotografie“ sind auch die Texte in diesem Band anspruchsvoll und doch gut verständlich. Sontag findet eine Sprache, die ihr eine präzise und wissenschaftlich fundierte Argumentation erlaubt und sich doch flüssig liest. Die Philosophin beweist ein weiteres Mal, dass sie ihrer Zeit weit voraus war. Die Denkmuster und Machtstrukturen, die sie in den USA der Siebzigerjahre offenlegte, lassen sich auch in der heutigen westlichen Gesellschaft beobachten. Keine Frage, Schönheit ist eine Form von Macht. [...] Beklagenswert ist jedoch die Tatsache, dass es die einzige Form von Macht ist, nach der zu streben Frauen ermuntert werden. Diese Macht definiert sich immer im Verhältnis zu den Männern: Es ist nicht die Macht, zu tun, sondern die Macht, Anziehung auszuüben. Es ist eine Macht, die sich selbst negiert. Quelle: Susan Sontag – Über Frauen Auch unbequeme Wahrheiten kommen ans Licht Susan Sontag scheut nicht davor zurück, die Dinge beim Namen zu nennen. Auch solche, die vielleicht nicht gern gehört werden, etwa, dass die Befreiung der Frau unmittelbar an den Verlust männlicher Privilegien geknüpft ist. Oder dass Frauen zum Teil selbst an der Aufrechterhaltung repressiver Strukturen mitwirken. Manche Passagen sind durchaus brisant, etwa wenn die Autorin die Geschlechterdiskriminierung mit der Rassentrennung oder Kolonialzeit vergleicht. Alle Frauen leben in einer »imperialistischen« Situation, in der die Männer die Kolonialherren und die Frauen die Kolonialisierten sind. Quelle: Susan Sontag – Über Frauen Hier erweist sich eine Anmerkung der Autorin als hilfreich: Sie erläutert, dass der Beitrag in der sozialistischen Frauenzeitschrift Libre erschienen ist, was die revolutionär-sozialistische Rhetorik erklärt. Eine Kontextualisierung wäre auch bei dem Beitrag über die umstrittene Regisseurin Leni Riefenstahl hilfreich gewesen. Dieser weicht nämlich inhaltlich von den vorigen Texten etwas ab und befasst sich vor allem mit Ästhetik und Faschismus. Diskursfreude statt Dogmatismus Ein Briefwechsel mit der Dichterin Adrienne Rich zeigt, dass Sontag in der feministischen Szene umstritten war. Sie distanziert sich auch selbst von Teilen der Frauenbewegung und betont, dass sie ihre „Texte nicht von A bis Z in den Dienst der feministischen Sache gestellt“ habe. Sontag ist engagiert in der Debatte, schlagkräftig und selbstbewusst. Sie greift verschiedene Perspektiven auf, entkräftigt gekonnt gängige Klischees und benennt deutlich, was sich ändern müsste, um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen: Die Demokratisierung der Familienarbeit ist einer der erforderlichen Schritte, um die repressive Definition der Rollen von Ehemann und Ehefrau, Mutter und Vater zu verändern. Quelle: Susan Sontag – Über Frauen Der Band knüpft also eng an heutige Diskurse an und ist beinahe erschreckend aktuell. Darüber hinaus können wir von der Philosophin einiges lernen, was den Umgang mit kontroversen Themen und festgefahrenen Debatten betrifft. Meiner Ansicht nach verdient nur eine kritische, dialektische, skeptische, jeder Vereinfachung entgegenwirkende Intelligenz, verteidigt zu werden. Quelle: Susan Sontag – Über Frauen Wer entlang von Parteilinien denkt, so Susan Sontag weiter, produziere nichts als „intellektuelle Monotonie und schlechte Prosa“.…
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Die Geschichte, die Annie Ernaux in „Eine Leidenschaft“ erzählt, meint man schon unzählige Male gelesen zu haben: eine Frau hat eine Affäre mit einem Mann und gerät in Abhängigkeit von ihm. Die beiden haben Sex, sie wartet sehnsüchtig auf ihn, er benutzt sie. Aus lauter Angst, seine Anrufe zu überhören, wagt sie nicht, staubzusaugen oder die Haare zu föhnen, ja, sie traut sich kaum aus dem Haus. Nur die Zeit, die sie mit A. – so heißt er – verbringt, zählt. Ich schreibe keinen Bericht über eine Affäre, ich schreibe keine Geschichte mit einer präzisen Chronologie … Für mich gab es so etwas in dieser Beziehung nicht, ich kannte nur An- oder Abwesenheit. Quelle: Annie Ernaux – Eine Leidenschaft Die Ich-Erzählerin der knapp achtzig Seiten kurzen Geschichte ist unschwer als alter Ego der Autorin zu erkennen. Sie ist geschieden, Mutter zweier Söhne, ungefähr Mitte vierzig, beruftstätig. Wie sie A., - Zitat - „einen Ausländer“ kennengelernt hat, erfahren wir nicht. Er kommt aus Ost-Europa, ist etwas jünger als sie, verheiratet und erinnert, so heißt es im Text, an Alain Delon. Die Affäre erstreckt sich über ein gutes Jahr. „Ich habe das gelebt. Ich habe alles komplett akzeptiert, was so eine Leidenschaft bedeutet: Der Mann ist verheiratet, ist also nicht mehr frei und unterliegt Zwängen. Das habe ich akzeptiert und diese Leidenschaft als eine wunderbare Erfahrung wahrgenommen und nicht als Entfremdung. Ich würde sagen, letztendlich ist es ein Luxus, wenn man eine Leidenschaft leben kann.“ Annie Ernaux, hier in einem Interview im französischen Fernsehen aus dem Jahr 1992, hat fast alle Phasen ihres Lebens – die Eltern, die verstorbene Schwester, die Abtreibung, die soziale Herkunft – in Literatur verwandelt. Auch „Eine Leidenschaft“ ist ein autofiktionaler Text, in dem die „Ethnologin ihrer selbst“, wie sie sich bezeichnet, in ihrer schnörkellosen Sprache, ohne Pathos und Larmoyanz, das Private mit dem Gesellschaftlichen verknüpft. Eines der Hauptthemen ihres Werkes, das Zerrissensein zwischen den gesellschaftlichen Klassen, streift sie in diesem Roman nur ganz kurz. Wie in all ihren Büchern skizziert sie mit knappen Strichen die Zeit, in der die Geschichte spielt, die ausgehenden 1980er Jahre: sie erwähnt den Fall der Berliner Mauer, die Unruhen in Algerien und hört Sylvie Vartans Chanson „C’est fatal, animal“ das – passenderweise - von einer wilden, leidenschaftlichen Liebe erzählt. „Ich habe mich zuweilen gefragt: ist das jetzt eine Art Geständnis, wie man sie in manchen Frauenzeitschriften findet? Das Protokoll einer Passion? Ein Manifest der Leidenschaft? Das ist es ja in gewisser Weise. Aber wie dem auch sei - ich hatte das Bedürfnis, alles zu erzählen. Denn zweifelsohne gibt es diesen heimlichen Wunsch: wenn man etwas sehr Schönes erlebt hat, liegt die wahre Vollendung vielleicht darin, darüber zu schreiben.“ In Frankreich hat Annie Ernaux ihren kleinen Roman 1991 veröffentlicht und für Aufsehen gesorgt. Gut dreißig Jahre später hat die Geschichte allerdings nicht mehr die gleiche Brisanz wie damals. Eine Frau schreibt über ihre Affäre, über Sex und ihre Abhängigkeit von einem eigentlich Unbekannten - das ist nichts Neues mehr. Aber Annie Ernaux wäre nicht Annie Ernaux, wenn ihr dabei nicht etwas Anderes am Herzen läge: das Schreiben als Frau über ein Thema, das meist Männern vorbehalten ist. In ihrer Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises hatte Annie Ernaux gesagt, es gehe ihr darum, den Zorn auf den diskriminierenden Umgang mit Frauen und die Wertschätzung des eigenen Körpers auszudrücken. Dafür ist „Eine Leidenschaft“ ein gutes Beispiel. Wie auch der im letzten Jahr auf Deutsch erschienene Kurztext „Der junge Mann“, in dem sie eine Affäre mit einem dreißig Jahre jüngeren Studenten beschreibt. In beiden Geschichten erinnert sich Annie Ernaux an das traumatische Erlebnis einer illegalen Abtreibung. In „Eine Leidenschaft“ kehrt sie - nachdem A. in sein Land zurückgekehrt ist, - in das Haus zurück, in dem sie damals, als junge Studentin, eine sogenannte Engelmacherin aufgesucht hat. Ihr Fazit: Ich ging zurück zur Station Malsherbes und nahm die Metro. Dieser Schritt hat nichts geändert, aber ich war froh, ihn gegangen zu sein, noch einmal mit dem Gefühl absoluter Verlorenheit in Kontakt getreten zu sein, deren Ursache auch damals ein Mann gewesen war. Quelle: Annie Ernaux – Eine Leidenschaft 2004 gab es bereits eine Übersetzung, die Annie Ernaux‘ Roman in der Ecke erotischer Frauenliteratur platzierte: „Eine vollkommene Leidenschaft. Die Geschichte einer erotischen Faszination.“ Diese Ecke, in die sie ja nie gehört hat, hat die Autorin längst verlassen. Die Neuübersetzung von Sonja Finck hat dazu beigetragen.…
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1 lesenswert Magazin: Neue Bücher für die Halbzeit 55:07
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55:07Fußball EM und Pride Month prägen diesen Juni. Und es gibt auch Verbindungen zu neuen Büchern von Isabel Waidner, Paula Irmschler und Hiroko Oyamada. Surreale Welten Traumhaft und surreal ist das Leben in Hiroko Oyamadas Roman „Das Loch“ . Eine junge Frau folgt einem schwarzen Tier und fällt in ein Loch – Alice im Wunderland lässt grüßen! Ebenfalls surreal und dazu queer ist der Roman „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“ von Isabel Waidner. Im Mittelpunkt: Sterling Beckenbauer, dessen Vater ein homosexueller Franz Beckenbauer ist. In London wird Sterling Opfer von queerfeindlichen Stierkämpfern. Ein Angriff, der alptraumhafte Folgen hat. Acht Jahre lang arbeitete der Illustrator Tobi Dahmen an seiner Graphic Novel „Columbusstraße“ . Darin erzählt er sehr persönlich die Geschichte seiner Familie in der Zeit des Nationalsozialismus. Herausgekommen ist eine vielschichtige und bestürzend aktuelle Graphic Novel. „Ostfrauen-Mythos“ liebevoll entlarvt „Meine Figuren sind keine Stellvertreterinnen für ihre Biographie“, sagt Satirikerin und Autorin Paula Irmschler über ihren Roman „Alles immer wegen damals“ . Wir sprechen mit ihr über die komplizierte Mutter-Tochter-Geschichte und entlarven den Mythos „Ostfrau“. Es gibt wieder eine Neuübersetzung von Annie Ernaux: „Eine Leidenschaft“ ist ein schmales Büchlein, das von einer schmerzlichen Affäre erzählt. Musik : Billie Eilish – Hit me hard and soft, Label: UNIVERSAL The Cranberries – No need to argue, Label: Island Records Françoise Hardy – Salut les idoles, Label: MUSIDISC…
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Columbusstraße 7 in Düsseldorf. In der hohen, schlanken Villa mit Erker und Fachwerkgiebel lebt Rechtsanwalt Karl Dahmen mit seiner Familie. Im imposanten Eckhaus schräg gegenüber: die Parteizentrale der NSDAP. Sehr zum Missfallen des Rechtsanwalts, einem überzeugten Katholiken und ehemaligen Mitglied der Zentrumspartei. Es ist das Jahr 1935, vier Jahre später wird Karl Damen die unliebsamen Nachbarn aufsuchen, um seine Mitgliedschaft bei der Partei zu beantragen. Woher dieser Gesinnungswandel, mit welchen Parolen, welchen Versprechungen konnten die Nazis die Menschen erreichen? Es sind gerade solche Fragen, die viele Jahrzehnte später den Enkel und Comiczeichner Tobi Dahmen bei der Erforschung seiner Familiengeschichte angetrieben haben: Das ist keine Geschichte einer strammen Nazifamilie. Das glaube ich schon behaupten zu können. Aber eben eine Familie, die wie so viele so langsam immer weiter in diese Zahnräder dieses Regimes hineingezogen werden, weil alles andere mit großer großer Gefahr verbunden gewesen wäre. Quelle: Tobi Dahmen Ein wertvoller Fund: Fotos und Briefe im Nachlass des Vaters Tatsächlich hat der Druck auf den Großvater, der anfangs noch Regimegegner vertreten hat, stetig zugenommen. Als der Rechtsanwalt eine obdachlose Familie lautstark in der Öffentlichkeit verteidigt, wird er zur Gestapo vorgeladen. Man macht ihm klar, dass er auf der Liste und unter Beobachtung steht. Als er schließlich seine Zulassung verliert, sieht er sein Heil darin, unter die Fittiche der Partei zu kriechen. Es ist eine Mischung aus Verzweiflung, Demütigung und Scham, die Tobi Dahmen seinem Großvater ins Gesicht gezeichnet hat. Den Anstoß für diese eindrucksvolle Graphic Novel gab ein Verlust: der Tod seines Vaters, eines letzten Zeitzeugen. Auf einer längeren Zugfahrt habe dieser von seinen Erinnerungen an die NS-Zeit erzählt, meint Tobi Dahmen. Im Nachlass des Vaters entdeckte er dann eine große Schachtel, die ursprünglich für Unterwäsche gedacht war: Da waren Briefe aus dem ersten Weltkrieg drin von meinem Großvater. Und da war so ein kleinerer Stoß mit Briefen meiner Onkels von der Ostfront. Dann dass da noch Fotoalben auftauchten. Da hat man wirklich gesehen, wie so ein Leben von fröhlichen Urlauben am Timmendorfer Strand und Kinderbildern bis zum Abitur schließlich in so einer Soldatenkarriere mündet, was seit 33 vorgegeben war. Das hat einen dann sehr betrübt, wie vorgegeben so ein Leben war und dann auch sein Ende gefunden hat. Quelle: Tobi Dahmen Das „Mini-Universium“ Familie in der großen Weltgeschichte Diese sehr persönlichen Momentaufnahmen hat Autor Tobi Dahmen zum Ausgangspunkt einer fundierten historischen Recherche gemacht, geht es ihm doch darum, „in einem Mini-Universum die große Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu erzählen“. Und er macht das, indem er Wert selbst auf das kleinste Detail legt. Ein Beispiel: Der jüngste Sohn in der Columbusstraße, Karl-Leo, 1932 geboren und Vater des Comiczeichners, wird 1943 wegen der heftigen Bombenangriffe auf Düsseldorf nach Villingen aufs Land geschickt. Er darf unbeschwerte Tage in der Natur erleben. In einem Brief an die Eltern berichtet er, dass er Heilkräuter sammeln war. Kein schlichter Zeitvertreib, denn ab 1938 musste jedes Schulkind pro Jahr zwei Kilo getrocknete Heilpflanzen abliefern für Wehrmacht und Sanitätswesen. Ein Erlass, der zeigt, wie das System alle Bereiche der Gesellschaft selbst auf unterster Ebene für sich zu nutzen wusste. Ein umfangreiches Glossar am Ende der Graphic Novel klärt über all diese Zusammenhänge und viele andere Personen auf. Der Abgleich der Familienerzählungen mit der Realität war für Tobi Dahmen mit sehr ernüchternden Erkenntnissen verbunden: Mein Großvater war sehr katholisch, sehr streng. Gleichzeitig war er Patriot, wie die meisten Leute, glaube ich. Und leider finden sich in einem Brief auch antisemitische Denkweisen, die ich dann auch wieder aus dem Alltagsrassismus wiedererkenne, der uns heute so begegnet. Ich glaube nicht, dass das so ein rassischer Antisemitismus war, sondern eher aus einem gläubigen Hintergrund. Aber natürlich findet man so was nicht schön. Aber ich wollte das auch nicht unter den Teppich kehren wie so viele das getan haben. Ich habe das dann in einen Dialog mit seinem Sohn eingebaut. Quelle: Tobi Dahmen Die Konfrontation mit Flecken in der eigenen Familiengeschichte Die Graphic Novel war schon auf dem Weg in den Druck, als Tobi Dahmen vom Stadtarchiv noch auf einen weiteren dunklen Fleck in der Familiengeschichte aufmerksam gemacht wurde. Der Großonkel in Wesel, ein Arzt, hatte offensichtlich davon profitiert, dass er seine Praxis von einem jüdischen Kollegen übernehmen konnte. Der Großvater wiederum hatte ein ähnliches Angebot ausgeschlagen. Judenverfolgung und Holocaust hat der Comic-Zeichner so in Szene gesetzt, wie sie für die Zeitgenossen damals sichtbar wurden. Und das war nicht zu übersehen, betont Tobi Dahmen: Darüber hinaus waren die Pogrome in Düsseldorf so massiv. Das hat jeder mitbekommen. Und so habe ich halt die Reflektion eines zerstörten Spielzeugladens in einer Straßenbahnscheibe gezeichnet, die mein Großvater dann bemerkt. Das ist aber tatsächlich was, was jeder mitbekommen hat. Das Foto stand sogar in der Zeitung. Das Mantra nach dem Krieg war ja, wir haben von nichts gewusst. Aber wenn man sich das Maß der Zerstörung anschaut in Düsseldorf, dann kann man das nicht behaupten. Quelle: Tobi Dahmen Tiefenschärfe auch in den Zeichnungen Der Genauigkeit und der Tiefenschärfe bei den Fakten entspricht die zeichnerische Umsetzung in sehr detaillierten Bildern. Reale Dokumente – wie Briefe oder Einberufungsbescheide – sind wie Fotos in die Szenen integriert. Viel Wert legt Tobi Dahmen auf die exakte Architektur der Städte und Plätze, die er als „Zeitzeugen aus Stein“ betrachtet. Alte Fotos und Straßenpläne wurden dabei zur Grundlage seiner Zeichnungen, die aus holzkohleartigen, grauen Strichen bestehen. Nicht schwarz-weiß, aber mit ganz vielen Grautönen. Wir versuchen uns das immer so ganz eindeutig vorzustellen. Das waren die Nazis und die Mitläufer und das die Gruppe der Widerstandskämpfer. Aber es ist natürlich ein sehr viel diffuseres Bild. Quelle: Tobi Dahmen Differenziert, packend – eine sehr bewegende Erinnerungsarbeit Und genau das macht diese Graphic Novel so wertvoll: sie eröffnet viele Schauplätze, wechselnde Perspektiven und lässt Raum für eigene Schlussfolgerungen und Bewertungen. Immer wieder leuchtet Tobi Dahmen über die Briefe seiner Onkel auch die Geschehnisse an der Front und in den Lagern – in Russland, in Italien, in Nordafrika – aus. Sein damals 11jähriger Vater wird im süddeutschen Villingen bei der Familie des Organisten Ewald Huth untergebracht, der das Unterdrückungssystem der Nazis öffentlich anprangert. Allerheiligen 1944 wird er wegen Wehrkraftzersetzung auf der Stuttgarter Dornhalde erschossen. „Columbusstraße“ ist ein starker Beweis dafür, dass gerade (auch) ein Comic Erinnerungskultur sein kann – differenziert, packend und sehr berührend.…
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1 Paula Irmschler – Alles immer wegen damals 11:01
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11:01Karla ist ein richtiger „Drinnie“: Am liebsten ist sie für sich, putzt, mistet aus und verbringt Zeit mit ihrer Freundin. Aber so einfach ist es nicht. Die Ausbildung in Köln lässt sie schleifen, ihre Freundin studiert weit weg in Leipzig und dann sind da noch die vielen Ticks und Neurosen, die Karla hat. Und der Streit mit ihrer Mutti Gerda, mit der hat sie seit zwei Jahren nicht gesprochen. In „Alles wegen damals“ zeichnet Paula Irmschler eine komplizierte Mutter-Tochter Beziehung und entlarvt den „Ostfrauen-Mythos“ auf liebevolle Weise.…
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1 Isabel Waidner – Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken 11:19
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11:19Die im Schwarzwald geborene Isabel Waidner definiert sich selbst als non-binär, lebt und arbeitet seit langem in London und hat schon in ihrem Debütroman „Geile Deko“ von 2020 bewiesen, dass sie für queeres Dasein und Erleben eine neue, andere Sprache entwickeln kann. Auch in „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“, der mit zweijähriger Verspätung nun auf Deutsch erscheint, steht die Freundschaft zweier queerer Menschen im Zentrum des oft surrealen Geschehens: Sterling Beckenbauer ist Kind des hier homosexuellen Franz Beckenbauer, der an AIDS verstorben ist. Sterling und Chachki Smok haben zusammen eine Performance-Gruppe, die „Cataclysmic Foibles“, mit der sie, in Drachenkostüme aus Schaumstoff gekleidet, eine Art „Anti-Theater“ in Chachkis Wohnzimmer betreiben. Rettung durch Freundschaft und Science-Fiction Als Sterling Opfer eines queerfeindlichen Gewaltangriffs wird, finden sich die Charaktere in einer alptraumartigen Situation wieder, in der Sterling angeklagt und verhaftet wird und befreundete Mitstreiter:innen spurlos verschwinden. Rettung kommt durch eine Zeitreisefunktion in einem Raumschiff, das die Geschehnisse zurückdrehen kann. Die Geschichte wird neu geschrieben. Neuerfindung von Sprache für queeres Erleben Isabel Waidner hat einen bewegenden und widerständigen Roman über queeres Dasein geschrieben, sagt SWR Kultur Literaturkritikerin Eva Marburg. Der Roman erfinde und verwende eine kreative, assoziative und formsprengende Sprache, die sich außerhalb der binären Denkweisen und Zuweisungen bewege. Der Roman nehme viele Bezüge aus dem Reservoir der Literatur- und Kunstgeschichte, etwa wenn die Gerichtsszene in ihrer Surrealität an Franz Kafkas „Prozess“ angelehnt ist und in der Tierfiguren aus Hieronymus Boschs Bildern agieren. Starke Revolte Mit diesen künstlerischen Strategien setze das Buch der realen Gewalt der binären und normkonformen Welt - die nicht nur unterdrückerisch, sondern in vielen Fällen auch tödlich ist - eine queere Lebendigkeit als Widerstand entgegen. „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“ sei ein bewegendes Buch über queere Revolte – ein Buch über Freundschaft, Solidarität, Allianzen und Rache. Besonders lesenswert!…
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Ich bin mit meinem Mann hierher aufs Land gezogen Quelle: Hiroko Oyamada – Das Loch – so beginnt der Roman „Das Loch“ von der japanischen Autorin Hiroko Oyamada. Doch von Idylle keine Spur. Vielmehr entpuppt sich das Landleben für die 30-jährige Asahi als ein Mix aus zu viel Tagesfreizeit und bizarren Zwischenfällen. Eine mäandernde Sommergeschichte, zwar knapp gehalten, aber ohne zwingende Dramaturgie. Das beginnt schon damit, dass Asahi gemeinsam mit ihrem Mann in ein Haus zieht, das neben dem seiner Eltern steht. Bloß war ihr dieses Haus vorher nie aufgefallen. Stand es wirklich schon früher da? Und warum wurde ihr nie erzählt, dass ihr Mann einen älteren Bruder hat, der im Gartenhaus wohnt, ein Hikikomori-Einsiedler? Oder bildet sie sich diesen Bruder bloß ein? Und was arbeiten ihre Schwiegereltern eigentlich? Ständig sind sie weg. Meinem Schwiegervater war ich noch nicht so oft begegnet. Er war zu unserer Verlobungsparty und zur Hochzeit gekommen. Ich hatte ihn auch im Sommer zu Obon gesehen und als wir Neujahr zu Besuch gewesen waren, aber ich hatte keinen richtigen Eindruck von ihm, da meist meine Schwiegermutter die Unterhaltung bestritt. Er war längst im Rentenalter, aber in irgendeiner Funktion arbeitete er noch, vielleicht in einem Aufsichtsrat. Quelle: Hiroko Oyamada – Das Loch Reimt sich Asahi zusammen. Sie weiß kaum, wie der Schwiegervater aussieht, was an die groteske Erzählung „Feierabend“ des Koreaners Cheon Myeong-kwan erinnert (zu finden in der Zeitschrift „Krachkultur“). Darin lebt ein Familienvater nur noch im Büro und im Restaurant. Sein Sohn denkt, er habe die Familie vor vielen Jahren verlassen, doch es ist anders: Papa hat einfach bloß nie Feierabend. Desperate Housewife Asahi kennt ihren Ehemann kaum Auch desperate housewife Asahi weiß nicht genau, was ihr Mann tagsüber tut, wo er arbeitet und was er ständig am Handy tippt, wenn er denn mal zuhause ist. Sie fragt auch nicht nach. Überhaupt fragt keiner keinen irgendwas. Von einem Antrittsbesuch bei den Nachbarn rät die Schwiegermutter der zugezogenen Asahi ebenfalls ab: Die Nachbarn haben bestimmt anderes zu tun. Gelegentlich werden Hiroko Oyamadas Kurzromane mit Kafka verglichen, an dessen 100. Todestag gerade weithin erinnert wurde. „Das Loch“ ist ihr erster Roman auf Deutsch. Auf Englisch gibt es außerdem „The Factory“ – über den Alltag in einer immensen Fabrik – und „Weasels in the Attic“ – über ein abgeschiedenes Haus in den Bergen mit Wiesel-Plage. Am Kafka-Vergleich ist was dran, denn auch Oyamadas Figuren verstehen ihre Umgebung nicht, sind Arbeits- und Familienstrukturen oft ungut unterworfen. Allerdings fehlt ihnen dabei das Verzagte, Gequälte, das Kafkas Figuren oft haben. Oyamada schreibt Grusel ohne Schrecken. Ich fiel in ein Loch. Ich fiel mit den Beinen zuerst und landete mit beiden Füßen auf dem Boden. Erstaunt blickte ich in das Schilf, das nun auf Augenhöhe stand, aber das Tier war darin verschwunden, eine Weile raschelte es noch, dann hörte ich nichts mehr. Direkt neben meinem Gesicht sprang ein Schnellkäfer aus dem Grün hervor. […] Schmerzen hatte ich keine. Das Loch reichte mir bis zur Brust, es musste etwa einen Meter tief sein. Ich passte gerade hinein, so eng war es, um mich herum war kaum Platz. Es war wie geschaffen für mich. Quelle: Hiroko Oyamada – Das Loch Von wilden Hunden und grölenden Kindern Es ist ein schwarzes Tier, dem sie neugierig folgte. Hundeähnlich. Kein Zufall, dass es ausgerechnet am Fluss entlangläuft und dass sich dort auch das Loch befindet. In Oyamadas Geschichten spielen Flüsse eine besondere Rolle. Auch im Roman „The Factory“ fließt ein belebender Fluss durchs Firmenareal, und in ihrer eigens für das internationale literaturfestival berlin 2021 geschriebenen Geschichte „Das Biotop“ wird aus einem künstlichen Dachgarten-Geplätscher ein reißender Strom. Im Roman „Das Loch“ nun herrscht am Fluss fröhliche Anarchie. Wuchernde Pflanzen, zirpende Insekten – und auch viele Kinder, deren Haarschöpfe nicht zufällig an das rätselhafte Tier erinnern. In dem Gebüsch am Deich zeigte sich hier und dort etwas Schwarzes und verschwand wieder. Es waren die Köpfe von noch mehr Kindern. Hatten sie keine Angst, sich an dem Schilf zu schneiden? Oder vor Zecken? Inmitten dieser Festung aus Gewächsen, die sie um einiges überragten, spielten sie ein Spiel, dessen Regeln ich nicht durchschaute. Ab und zu sprang eins der Kinder aus dem Dickicht hervor und schrie etwas, worauf die anderen Kinder vor Lachen grölten. Quelle: Hiroko Oyamada – Das Loch Zuhause bei Mama und Papa Wüst sind diese Kinder, auch weil sie ständig irgendwas mampfen oder sich im 7-Eleven-Supermarkt breit machen und alle Mangas kostenlos lesen. Die kinderlose Asahi ist befremdet und fasziniert zugleich. Einerseits ist sie eine dieser typischen japanischen Frauenfiguren, die wenig entscheiden und meist zuhause bleiben. Yoko Ogawa, Mieko Kawakami und Sayaka Murata sind bekannt für Rückzugsromane dieser Art. Aber auch die Koreanerin Cho Nam-Joo hat mit „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ gerade wieder einen Roman über eine junge Frau geschrieben, die nicht arbeiten, sondern lieber bei ihren Eltern bleiben will. Hiroko Oyamadas Erzählerin rafft sich schließlich doch noch auf und sucht sich einen Job als Verkäuferin mit Laden-Uniform. Eine farblose Wendung. Wie die Autorin auch aus dem schwarzen Tier, dem versteckten Schwager und den wilden Kindern mehr hätte machen können. Da fehlt es noch an Dramaturgie. Dennoch bezaubern ihre fantasievoll-fluiden Texte, denn sie erzählen den Übergang zwischen gebändigter und ungezähmter Natur. Sie überraschen in ihrer poetischen Bildlichkeit, und man kann sie auch als einen Kommentar auf den ökologischen Zustand unserer Welt lesen.…
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1 Tara Zahra – Gegen die Welt: Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit 4:09
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4:09Stefan Zweig, der Kosmopolit, verstand die Welt nicht mehr: Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte, und blieb, solange er wollte. […] Man stieg ein und stieg aus, ohne zu fragen und gefragt zu werden, man hatte nicht ein einziges von den hundert Papieren auszufüllen, die heute abgefordert werden. Quelle: Tara Zahra – Gegen die Welt: Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit Mit diesem Auszug aus Zweigs Autobiographie „Die Welt von Gestern“ beginnt Tara Zahra ihr Buch „Gegen die Welt“, ihre Geschichte über „Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit“. Doch die Historikerin interessiert sich nur einleitend für die Perspektive des österreichischen Schriftstellers. Erste „Globalisierung“ verschärft Ungleichheiten massiv Im Zentrum ihrer Analyse steht viel mehr das, was Zweig und andere fortschrittsgläubige Internationalisten auf ihren Oberdecks nicht sahen: Nämlich die Ausbeutung und Drangsalierung der Reisenden in den Unterdecks. Vor dem Ersten Weltkrieg konnten Zweig und [John Maynard] Keynes vor allem deshalb frei von bürokratischen Hindernissen durch die Welt reisen, weil sie wohlhabende, gebildete, weiße Europäer waren. […] Die Welt hatte vor 1914 durchaus nicht allen gehört, wohl aber Menschen wie Keynes und Zweig. Quelle: Tara Zahra – Gegen die Welt: Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit Die erste „Globalisierung“, die massive Ausdehnung von Welthandel und Arbeitsmigration im späten 19. Jahrhundert, hatte ihre Gewinne höchst ungleich verteilt, schreibt Zahra, und dabei enormen Unmut auf sich gezogen. Die Versorgungskrise durch den lahmgelegten Welthandel während des Ersten Weltkriegs verschärfte insbesondere in Mitteleuropa das Misstrauen gegen die wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Die Spanische Grippe mit ihren Millionen von Toten ließ Einwanderung auf einmal als öffentliches Gesundheitsrisiko erscheinen. Der Quarantänezustand, einmal eingeübt, blieb aufrecht. Und die Weltwirtschaftskrise gab dem geschwächten System der internationalen Zusammenarbeit den letzten Rest. Antiglobalistische Bewegungen beginnen an der Basis Tara Zahra interessiert sich weniger für die viel beschriebenen ideologischen Kämpfe dieser Zeit. Ihr Fokus liegt auf dem Rückzug von der Welt, der in allen politischen Lagern schlüssig erschien. Ob im faschistischen Italien, im konservativen Österreich oder in den USA unter Roosevelt: Allerorts verfolgten Regierende eine Strategie der nationalen Souveränität, der Selbstversorgung, der „inneren Kolonisation“ und der massiven Beschränkung von Zu- und Abwanderung. Sie reagierten damit laut Zahra auf Druck aus dem Volk. Antiglobalistische Bewegungen beginnen typischerweise an der Basis, mit aus der Masse kommenden Forderungen nach Land, nach Nahrung oder nach einer Entlastung von der Instabilität und Ungleichheit, die mit der Weltwirtschaft assoziiert werden. Quelle: Tara Zahra – Gegen die Welt: Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit Fast überall scheiterten die Versuche einer nationalen „Autarkie“ kläglich, urteilt Zahra, wenn sie nicht gar, wie im Fall Nazideutschlands, in einen beispiellosen Vernichtungskrieg um sogenannten Lebensraum mündeten. Irritierende Parallelen zum Heute Über die Biographien sehr unterschiedlicher Persönlichkeiten – vom tschechischen Schuhmogul Tomáš Baťa bis zur New Yorker Krankenschwester Lilian Wald – nähert sich die Autorin dieser Ära der „Deglobalisierung“, die uns irritierend vertraut erscheint. Zahra macht keinen Hehl daraus, dass die Phänomene und Entwicklungen der Gegenwart – Trump, Brexit, Flüchtlingskrise, zuletzt Covid -– ausschlaggebend für ihr Erkenntnisinteresse waren. Die Vergangenheit soll uns helfen, die Gegenwart besser zu verstehen. In diesem Fall war ich jedoch eher überrascht, wie sehr die Gegenwart meine Sicht der Vergangenheit veränderte. […] Ich hoffe, dieses Buch wird einiges Licht auf die Vergangenheit und die Gegenwart werfen und seine Erkenntnisse reichen über den Augenblick hinaus, in den sie so eindeutig eingebettet sind. Quelle: Tara Zahra – Gegen die Welt: Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit Erkenntnisreich ist dieses Buch. Aber nicht nur das. Die originelle Konstruktion und Zahras prägnante Sprache verleihen dem schwierigen Stoff und der komplexen Argumentation eine wundersame Leichtigkeit. Dem Sog dieser großen, weltumspannenden Erzählung kann man sich nicht entziehen.…
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1 Dorothy Parker – Unbezwungen Gedichte Englisch - Deutsch 4:09
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4:09Dorothy Parker ließ nur selten eine Rechnung offen. Und da sie sich schon mit siebzehn als Dichterin einen Namen gemacht hatte, zahlte sie vornehmlich mit Worten, am liebsten pointiert, witzig und gerne ätzend. Kaum hatte ihre erste Ehe mit einem Börsenmakler genügend Risse bekommen, brachte sie ihre Verachtung für das Geld und seine Besitzer in lustigen Versen zum Ausdruck. Wer dem Mammon hörig ist, Muss ein armes Hascherl sein, Geld ist letztlich großer Mist - Trichter das dem Krämer ein. Quelle: Dorothy Parker – Unbezwungen Gedichte Englisch - Deutsch Chronistin des Jazz Age Dorothy Parker brachte den Zeitgeist der Zwanziger Jahre mit all seinem Glanz auf den Punkt und markierte zugleich mit spitzer Feder seine komischen und bitteren Seiten. Ihre verstreut in Zeitschriften veröffentlichten Gedichte, die nun unter dem Titel „Unbezwungen“ in einem Band versammelt sind, stammen aus den Jahren 1916 bis 1938. Dem meist spöttischen Blick der Schriftstellerin entging kaum etwas, gleich, ob es sich um Alltagsgeschwätz, Kulturfehden, den Lifestyle der Reichen und Eingebildeten oder den neuen kessen Frauentyp der Flapper mit Bubikopf und kurzen Röcken handelte. Der Flapper stellt verspielt sich dar, Bildschön und singulär. Sie ist nicht mehr, wie Oma war - Eher denkt man, au contraire. Witz, Geist und Abgründe der Melancholie Quelle: Dorothy Parker – Unbezwungen Gedichte Englisch - Deutsch Obwohl nicht alle über ihre Witze lachen konnten, wurde Parkers Ruhm mit dem Superlativ „die geistreichste Frau Amerikas“ gekrönt. Allerdings spielte ihr Humor oft ins Tiefschwarze hinein, genauso wie ihre Melancholie sich mehr als einmal zu Selbstmordversuchen steigerte. Ihr Liebesleben war bewegt und stürzte sie oft genug in einen Tumult aus Glück und Unglück. Das schärfte ihr Gespür für Liebesqualen jeder Art. Hab ich's mit meiner Technik versiebt? Das frage ich mich bis ins Grab. Schlau bin ich, schwach und schnell verliebt - Warum krieg ich keinen Lover ab? Quelle: Dorothy Parker – Unbezwungen Gedichte Englisch - Deutsch Ulrich Blumenbachs Übersetzung ist eine Gratwanderung. Es ist bestimmt richtig, dass er die Reimformen erhalten hat, die für Tonlagen und Rhythmus entscheidend sind. Für diese schwierige Aufgabe hat er oft gute Lösungen gefunden, nicht selten aber knirscht es im Klangbild und im Bedeutungsgefüge recht vernehmlich. Doch da die Gedichte zweisprachig abgedruckt sind, lässt sich das verschmerzen. Abrechnung mit allem und jedem Das ganze Spektrum von Parkers Lust an satirischen Abkanzelungen ist in ihren explizit so genannten „Hassversen“ zu bewundern. Da bleibt nichts und niemand verschont, egal ob es sich um Frauen, junge Männer, schlaue Bücher, Partys oder Ferienparadiese handelt. In der Regel loben die Gäste die Landschaft über den grünen Klee Und haben nur Gutes über die Luft zu sagen. - Sie können sie geschenkt haben. Ich hasse Ferienparadiese; sie verhageln mir den Urlaub. Quelle: Dorothy Parker – Unbezwungen Gedichte Englisch - Deutsch Es ist erstaunlich und amüsant, wie viele Parallelen zwischen den rasanten Modernisierungen von damals und heute in diesen Gedichten sichtbar werden. Parkers Daseinsgefühl mit all seiner Überreiztheit und Verletzlichkeit lässt sich auch aus gegenwärtiger Sicht sehr gut nachempfinden.…
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1 Tanja Raich (Hg.) – Frei sein. Das Ringen um unseren höchsten Wert 4:09
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4:09Im Vorwort schreibt die Herausgeberin Tanja Raich: Freiheit. Es ist ein Wort, das beschadet und beschmutzt ist, das an den mörderischen Hohn im KZ erinnert, rechter Kampfbegriff geworden ist, Parole für jeden noch so kleinen Anlass, selbst wenn es um einen Impfstoff oder um die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn geht, ist am Ende wieder von Freiheit die Rede. (…) Quelle: Tanja Raich (Hg.) – Frei sein. Das Ringen um unseren höchsten Wert Freiheit. Das ist dieses Wort, das trotz allem treffend formuliert, wofür wir kämpfen müssen und wofür es sich zu kämpfen lohnt. Möglichkeiten und Abgründe von Freiheit Das nimmt einen sofort ein für diesen Band: dass jemand nicht nur die Möglichkeiten sieht, sondern auch die Abgründe, die sich hinter diesem großen Wort „Freiheit” verbergen. Für die Sammlung hat Tanja Raich 20 Menschen eingeladen, darüber zu schreiben, was für sie „frei-sein“ bedeutet. Es sind Schriftstellerinnen und Schriftsteller dabei: Anna Kim, Franziska Hauser oder Deniz Utlu und Autoren und Autorinnen, wie Çigdem Akyol oder Linus Giese, die bisher mit Sachbüchern aufgefallen sind, aber auch Künstlerinnen, wie Sophia Süßmilch, die vor allem bildnerisch arbeitet, oder Aktivist*innen, wie Marlene Engelhorn. Diese Mischung ist einerseits gut, weil sie ein breites Spektrum an Haltungen, Geschlechtern, Klassenzugehörigkeiten und Herkünften abdeckt; aber die Ausdruckskraft, die Stringenz, die Zuspitzung der Texte ist dementsprechend heterogen. Maßgeblich auch die Qualität. Franziska Gänsler etwa schreibt ihren sehr persönlichen Essay Horse Power als wilden Ritt durch Literatur, Kino, Kunst, Kindheitserinnerung, Mutterschaft, Träume und Psychoanalyse, und irgendwie geht nichts zusammen – aber doch alles, weil sie eine gute Schriftstellerin ist, die unter dem Motto Freiheit & Kraft ihre eigenen Möglichkeiten als Frau auslotet, die im Traum auch ein Hengst sein kann. Freiheit in verschiedensten Kontexten Überhaupt sind die Motti, die jedem Text angefügt sind, eine schöne Sache für den Band. Sie weisen von vornherein eine Spur, was man erwarten kann, wenn man diesen oder jenen Text liest: Freiheit & Meinung, Freiheit & Körper, Freiheit & Queerness, Freiheit & Hoffnung. Die Kulturwissenschaftlerin Madita Oeming analysiert in ihrem Essay Pseudo-selbstbestimmt den Zusammenhang von Freiheit & Sex: Was ist weibliche Freiheit? Oeming befragt die Rolle der Frau in der Gesellschaft, in der wir gerade leben, sie fragt danach, wie Sprache unsere Rolle bestimmt, wie das Patriarchat es tut, aber auch danach, warum selbst Frauen die Sexualität von Frauen in gut und böse einteilen. Sie fragt, was der Feministische Blick gebietet und verbietet. Sie analysiert ihre Rolle als „weiße, akademisierte, heterosexuelle, nicht behinderte und also die privilegierteste aller Frauen“ und kommt doch zu dem Schluss: Sexuelle Freiheit geht anders. Ein wenig schade ist der verschenkte einladende Satz ihres Essays, „Ich musste sechsunddreißig Jahre alt werden, um zum ersten Mal halbwegs befreiten Sex zu haben“, der natürlich die Erwartung schürt, dass wir etwas darüber erfahren: wie befreiter Sex für sie geht, und wie es ihr gelang, dorthin zu kommen. Das tun wir nicht. Trotzdem gibt dieser Band einen sehr guten Überblick zu Fragen und Themen, die in diesen Zeiten unter den Nägeln brennen, wenn ernsthaft darüber nachgedacht wird, wo und warum „Freiheit” so viel zählt und wir Menschen uns noch entwickeln können, als Individuen und als Gesellschaft. Da geht noch was, verstehen wir, und fühlen uns bisweilen ziemlich angeregt, über uns selbst nachzudenken.…
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1 Gabriel Garcia Márquez – Wir sehen uns im August 4:09
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4:09Jedes Jahr am 16. August setzt Ana Magdalena mit der Fähre zu der Karibik-Insel über, auf der ihre Mutter begraben liegt. Sie steigt jedes Mal im ältesten der Touristenhotels ab, kauft einen Gladiolenstrauß und fährt mit einem Taxi zum armseligen Friedhof. Nachdem Ana Magdalena die Blumen auf den Grabstein gelegt hat, erzählt sie der Mutter die Neuigkeiten aus ihrem Leben. Dann fährt sie wieder ins Hotel, wo auf dem Nachttisch bereits der Klassiker wartet, den sie gerade liest. Am nächsten Tag kehrt sie in die Stadt zurück – zu ihrem Ehemann, mit dem sie seit fast dreißig Jahren verheiratet ist. Mit einem dieser routinemäßigen Insel-Besuche der kultivierten Mittvierzigerin beginnt „Wir sehen uns im August“, der posthum veröffentlichte Roman des 2014 verstorbenen Gabriel García Márquez. Anders als sonst, sucht Ana Magdalena dieses Mal plötzlich das Abenteuer. Abends, in der Hotelbar, wirft sie einem Unbekannten tiefe Blicke zu. Sie stoßen an, unterhalten sich. Und dann fühlte sie sich stark genug, den Schritt zu tun, der ihr in ihrem ganzen Leben nicht einmal im Traum eingefallen wäre, und sie tat ihn ungeniert: „Gehen wir hinauf?“. Er hatte nicht mehr das Heft in der Hand. „Ich wohne nicht hier“, sagte er. Sie fiel ihm ins Wort, sagte „Ich aber“ und stand auf, schüttelte gerade mal ihren Kopf, um ihn zurechtzurücken. „Zweiter Stock, Zimmer zweihundertdrei, rechts von der Treppe. Nicht klopfen, nur die Tür aufdrücken. Quelle: Gabriel Garcia Márquez – Wir sehen uns im August Damit beginnt eine Liebesnacht, die Ana Magdalena bisheriges Leben einer angepassten Ehefrau und Mutter verändern wird. Fortan erwacht bei jeder ihrer Reisen auf die Insel eine unbezähmbare Lust auf außereheliche Affären. García Márquez, dem begnadeten Erzähler, gelingt es mühelos, dass wir uns Ana Magdalena vorstellen können: wie die reife, attraktive Frau in der Hitze der Insel aufblüht und erwartungsfroh die Lokale des Urlaubsorts aufsucht. Der Literatur-Nobelpreisträger beschreibt seine Romanfigur mit warmherzigem Blick. Gespannt und amüsiert begleiten wir sie bei ihrer verwegenen Suche nach sinnlichen Erlebnissen. Man könnte diese als erotische Phantasie eines alternden Autors abtun, das wäre aber zu kurz gegriffen. Es ist interessant, dass García Márquez versucht, sich in eine Frau einzufühlen, die eine Art Midlife Crisis durchlebt – und sich sexuell so ausleben will, wie es oft eher die Männer tun. Warum genau allerdings seine Heldin nach vielen Jahren ehelicher Treue plötzlich die Moral über den Haufen wirft, das überlässt García Márquez weitgehend der Interpretation der Lesenden. Dass wir über Anna Magdalenas Beweggründe und über ihre Ehe nicht mehr erfahren, ist eine Schwäche des Romans. Weniger schlimm ist hingegen, dass es ihren Liebhabern, die wie skizziert wirken, an Tiefenschärfe fehlt. Ob „Wir sehen uns im August“ veröffentlicht werden sollte, daran schieden sich schon vor dem Erscheinen die Geister. Der Vorwurf, hier solle mit einem minderwertigen, viel zu kleinen Text des großen Schriftstellers Geld gemacht werden, blieb nicht aus. García Márquez hatte die Geschichte ursprünglich als Teil eines größeren Werks geplant, das erklärt ihre Kürze. Natürlich reicht der Roman nicht an opulente Meisterwerke wie „Hundert Jahre Einsamkeit“ mit ihrer bildgewaltigen Sprache heran – der Vergleich macht auch nicht viel Sinn. Gabriel García Márquez schrieb an dem Text auch noch, als seine geistigen Kräfte bereits nachließen. Die Sprache ist schlichter, im Aufbau gibt es kleine Inkonsistenzen. Dennoch bietet das Buch eine kurzweilige Lektüre – und ist ein origineller Beweis dafür, dass es den Autor in fortgeschrittenem Alter umtrieb, über veränderte Geschlechterbeziehungen zu schreiben.…
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1 Ralph Ludwig – „Irrschweifen und Lachen. Ein neuer Wind in der antillanischen Literatur" 15:26
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15:26„Irrschweifen und Lachen“ heißt ein neuer Erzählband mit 21 Geschichten und Essays von den Antillen. Die Texte wurden eigens für diese Anthologie verfasst – die meisten auf Französisch, drei auf Kreolisch. Kreolische Originaltexte haben Seltenheitswert auf unserem Buchmarkt. Wie schön also, dass sie diesem Band im Original enthalten sind. Herausgeber Ralph Ludwig ist Romanist an der Universität Halle-Wittenberg. Er ist spezialisiert auf Kreol-Sprachen und spricht selbst auch das Kreolisch der Karibik-Insel Guadeloupe. Im Gespräch mit Katharina Borchardt (SWR Kultur) erklärt er die Herkunft des Kreolischen und liest auch eine Textpassage vor. Die Begriffe „Irrschweifen und Lachen“ stehen in diesem Band zentral, weil sie zwei tief in der kreolischen Kultur verankerte Bewegungen beschreiben. Aufgrund der Verschleppung afrikanischer Sklaven in die Karibik und des Zuzugs europäischer Glückssucher und Freibeuter wurde den karibischen Gesellschaften schon früh das Irrschweifen eingeschrieben. Dies hat auch das Denken der Region geprägt, das Ludwig sehr zeitgemäß findet. „Der Autor Édouard Glissant von der Insel Martinique sieht im Irrschweifen eine Form des Entdeckens“, erklärt Ludwig. „Man kann nur zu etwas gedanklich Neuem kommen, wenn man Grenzen überschreitet, wenn man sich nicht in gerader Linie auf etwas zu bewegt“, sagt Ludwig und ergänzt: „Glissant fand, ein Stück Opazität, ein Stück Überraschung, ein Stück vielseitiger Verstricktheit müssen wir allem und jedem zugestehen. Auch das ist ein wesentlicher Teil des Irrschweifens.“ Eine verführerische Art des Denkens! Zu der auch das Lachen gehört. „Lachen ist eine Haltung“, findet Ludwig. „Lachen ist etwas, was über materielle Schwierigkeiten und über Kummer hinweghilft. Lachen ist eine Art, sich zu befreien.“…
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Plötzlich ist da diese unsichtbare Wand in der Welt. Die Erzählerin im Erfolgsroman „Die Wand“ von Marlen Haushofer (1920-1970) ist mit ihrer Cousine und deren Ehemann in die Berge erfahren. Als die beiden aus einem Wirtshaus nicht zurückkehren, geht sie sie suchen und stößt dabei gegen eine Wand, die sie nicht überwinden kann und hinter der alle Menschen wie erstarrt wirken. Mit der Zeit lernt die Erzählerin, sich diesseits der Wand selbst zu versorgen, und sie kümmert sich auch zunehmend um die Tiere, die ihr zulaufen. Der Roman erschien 1963 und wurde später mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmt (2012). Die junge Schriftstellerin Deniz Ohde liest „Die Wand“ immer wieder. Auf SWR Kultur empfiehlt sie diese Geschichte, die darüber nachdenkt, „dass wir zwar vergänglich, zugleich aber dazu gezwungen sind, zu lieben und uns zu sorgen“. Und: „Er stellt die Frage, ob wir diesen Weg der Liebe gehen oder nicht.“ Die Autorin Deniz Ohde (*1988) wurde bekannt mit ihren Romanen „Streulicht“ und „Ich stelle mich schlafend“ .…
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Ein Gesellschaftsroman in der Pandemie Vor 20 Jahren hatte Jay in London eine große Künstlerkarriere vor sich, jetzt wohnt er in den USA, ist desilluioniert, ein Wrack, Treibgut des Lebens, von seelischen Narben gezeichnet und von Covid geschwächt. Ohne Wohnung, lebt er in seinem Auto, verdient ein paar Dollar und liefert Lebensmittel in ein hochgesichertes Anwesen im Wald Upstate New York. Plötzlich steht Alice vor ihm, seine große Liebe, die ihn damals mit seinem besten Freund Rob verließ und nun in der Luxusvilla wohnt. Die Reiche und der Lieferant, ein unangenehmes Zufallstreffen. Ich ging zurück zum Auto und versuchte, mir im Klaren darüber zu werden, was los war, wie diese Frau sich plötzlich wie eine Jalousie vor meine Erinnerung legen konnte. Zwanzig Jahre später war aus der dürren Kettenraucherin von früher die Herrin eines Märchenreichs geworden. - Jay? Ich wollte nur noch, dass der Moment vorbeiging. Einfach wegfahren und nicht mehr an sie denken. Quelle: Hari Kunzru – Blue Ruin Mit seinem filmischen Erzählen, versetzt Hari Kunzru im Nu in die klaustrophobische dunkle Szenerie im Wald, fern von New York, wo Pandemie und Panik herrschen und Polizeihub-schrauber die Demonstranten überwachen, wie es Hari Kunzru selbst im Lockdown erlebte. New York mit all den Protesten in der Nachbarschaft fühlte sich an wie eine belagerte Stadt, das Land wurde zum Überwachungsstaat. Das Leben in den Wäldern von Up State New York, ohne Masken, schien dagegen wie unwirklich. Quelle: Hari Kunzru – Blue Ruin Käuflichkeit als Symptom der Zeit Alice, Rob und zwei Künstlerfreunde begegnen sich wie in Shakespeares Zauberwald; eine geschlossene Gesellschaft, die sich den Sommernachtstraum in der Natur leisten kann; Reiche, die in ihrer Blase leben und nicht sehen, was draußen geschieht. Kontrovers diskutieren sie nun mit Jay: Was ist ein Kunstwerk? Wem gehört eine Idee? Wer oder was ist käuflich? „Er selbst habe sich für eine leicht zugängliches Schreibweise entschieden, nicht für Avantgarde, sondern für eine große Leserschaft“, sagt Hari Kunzru. Als ehemaliger Londoner Kunstkritiker skizziert er mit leichter Hand die Kunstszene der 90er Jahre. Politische Zeitzeugenschaft ist ihm wichtig. Er erzähle Geschichten, um die Welt zu verstehen, sagt Hari Kunzru. „Jeder sei zu sehr mit sich, seinen romantischen oder finanziellen Nöten beschäftigt, sagt Kunzru, auch dieses Buch handle von Leuten, die die Welt ignorierten“. Der Autor als Zeitzeuge „Blue Ruin“ ist vor allem die Geschichte der zerstörerischen Liebe von Jay und Alice und die Rückschau auf ein Künstlerleben. Aber hinter Jay‘s persönlicher Krise liegen die Probleme von heute: Rassismus, Migration und Polizeigewalt, die Kluft zwischen Arm und Reich, Kontrollwahn, Verschwörungstheorien und eine Demokratie in Gefahr. Kunzru, der Brite in New York, ist ein scharfer Beobachter, und „Blue Ruin“ Teil 3 und Abschluß einer Trilogie. „White Tears“ handelte vom Musikgeschäft, „Red Pill“ von einem Schriftsteller, „Blue Ruin“ nun spielt in der Welt der Kunst, und nicht zufällig sind Weiß, Rot, Blau die Farben der US-Flagge, ist die Trilogie ein Spiegel der gespaltenen US-amerikanischen Gesellschaft mit der Tendenz zum Überwachungsstaat. Während Trump sein Comeback plant, akzeptiert die liberale Elite ein Zwei-Klassen-Denken, demokratische Werte gelten nur für Privilegierte, und studentische Israel-Proteste dieser Tage werden niedergeprügelt. Die Demokratie in Gefahr Die USA seien in vielerlei Hinsicht zum Polizeistaat geworden. Die Demokratie sei ein Chaos mit häßlichen Auswüchsen, aber die Alternative umso schrecklicher. Quelle: Hari Kunzru Seine Romanfiguren im Wald, Vertreter der Reichen in der Pandemie, ficht das alles nicht an. Sie sind egoman verstrickt in ihrem Kokon bis zum westernähnlichen, parodistischen Showdown. „Blue Ruin“, blue wie der Gin und ruinös wie die Gesellschaft, ist keine Apokalypse wie „Red Pill“, eher ein Beziehungsdrama von psychologischer Tiefe und grotesker Komik, mit versöhnlichem Ende; das szenisch erzählte, ungemein facettenreiche und fesselnde Psychogramm eines Mannes und einer gefährdeten Demokratie wie den USA, die der Roman schemenhaft spiegelt. „Was, wenn der Überwachungsapparat in die Hände von Diktatoren fällt“, fragt Hari Kunzru besorgt. „Wir, die Demokratie weltweit, befinden uns in einem gefährlichen politischen Moment“.…
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Ein Aufenthaltsstipendium in Dortmund kann tiefe Spuren im Literatengemüt hinterlassen. Vor allem, wenn man anderes gewohnt ist, Wien zum Beispiel. Der gebürtige Wiener Elias Hirschl, Jahrgang 1994, lässt in seinem jüngsten Roman „Content“ mit spürbarem Vergnügen am Exotischen die Reize einer von der Kohle- und Stahlindustrie in die Mangel genommenen und für immer gezeichneten Landschaft spielen. Riesenbagger und verlassene Produktionsstätten allenthalben, versinkend in einem toxischen Untergrund voller Löcher und Schächte, die mit Wasser volllaufen, weil auch die sogenannten Ewigkeitspumpen nicht ewig arbeiten. Jedenfalls, wenn eine Kommune kein Geld mehr für den Weiterbetrieb aufwenden kann. Der Name des posturbanen Konglomerats: Staublunge. Was das ganze Internet verstopft Aber hey, man muss auch das Positive sehen! Wo, wenn nicht in solchen Gefilden jahrzehntelangen Verfalls haben mutige Start-ups und sinistre Investoren derart viel Auslauf und werden von der Kommunalpolitik so freudig willkommen geheißen? Die Pressekameras klicken, und der Bürgermeister steht in seinem zu groß geschnittenen Anzug vor den weiß glänzenden Toren des Logistikzentrums. Als er das rote Samtband mit der comichaft riesigen Schere durchtrennt, grinst er mit dem Selbstbewusstsein eines schüchternen Jungen, dem der Schulfotograf gesagt hat, er soll jetzt mal so richtig fröhlich lächeln. Er sagt, er war selten so stolz auf seine Gemeinde. Ich trete die Zigarette aus und schreibe einen Artikel über zehn Prominente, die wir im neuen Jahr vermissen werden. Quelle: Elias Hirschl – Content Die Ich-Erzählerin, die hier ins Spiel kommt, verdient ihren Lebensunterhalt nämlich mit dem Verfassen von Listicles. Solche in Listenform aufgeführten Pseudofakten über garantiert wirksame Haushaltstricks, schlimmste Reiseziele, unglaublichste Ufo-Sichtungen oder eben Promi-Skandälchen waren mal als angeblich Internet-taugliche Form von Journalismus gedacht. Mittlerweile wird von Content-Schrott wie diesem nicht nur Social Media verstopft, sondern das komplette Netz. Handys zerquetschen, Clicks generieren Die namenlos bleibende Erzählerin ist Anfang, Mitte dreißig und träumte mal von einem kreativeren Broterwerb, so wie all ihre Kollegen, die auf derselben Etage einer ehemaligen Zeche Clickbait-Material produzieren: Youtube- und TikTok-Filmchen von Nokia-Handys etwa, die in Hydraulikpressen zerquetscht werden, mit post-ironischer Meta-Ebene, versteht sich. Andere denken sich Trends aus, die viral gehen sollen, irgendwas mit Kuchen, die wie Gegenstände aussehen – und umgekehrt. Alles im Auftrag einer geheimnisvollen Firma namens Smile Smile Inc. mit Sitz auf Zypern. Der traurige Witz an der Texterei der Ich-Erzählerin ist, dass ihre liebevoll zusammengegoogelten Listicles niemals, wirklich niemals so veröffentlicht werden, wie sie sie geschrieben hat, weil eine Fülle von Kontrollebenen daran herumoptimiert. Ihre Kollegin hält das nicht aus, legt irgendwann statt eines Handys die eigene Hand in die Hydraulikpresse und ist dann länger krankgeschrieben. Wie sich herausstellt, eine glückliche Wendung für die Kollegin, deren Twitter-Aktivitäten in eine Fernsehkarriere als Late-Night-Gagschreiberin münden. Die Fallhöhe zwischen dem Verlust einer Hand und dem überraschenden Aufstieg ist eine der satirischen Pointen, mit denen Hirschl gern arbeitet – ein Exempel des turbokapitalistischen Versprechens, man könne alles erreichen, wenn man nur fest an sich glaube und hartnäckig dranbleibe, und zugleich dessen Demontage. Die Doppelgängerin macht Influencer-Karriere Die Ich-Erzählerin muss derweil feststellen, dass sie Opfer eines umfassenden Identitätsdiebstahls geworden ist und eine frischere Version ihrer selbst sich all ihrer Social-Media-Konten bemächtigt hat. Ihr Instagram-Account hat in letzter Zeit ordentlich an Followern zugelegt. Ich bin offenbar diverse Verträge mit Sponsoren eingegangen, deren Produkte ich jetzt auf Instagram und TikTok ausprobiere und weiterempfehle. Anscheinend lebe ich in einem Loft mit Dachterrasse, meistens aber in Wellnesshotels, Thermen, japanischen Onsen, Sponsoren in meinem Gesicht, Sponsoren auf meiner Haut, Sponsoren unter meinen Füßen, die Wände um mich herum zeigen weitere Sponsoren. Quelle: Elias Hirschl – Content Während die Doppelgänger-Inszenierung durchgezogen wird bis zum bitteren Ende, wird die reale Stadt da draußen, die ganze Staublunge, mitsamt den gefluteten Wohngebieten, den einstürzenden Industriebauten und Logistikzentren von sich häufenden Erdbeben erschüttert. Aus der Entsprechung von inneren und äußeren Implosionen gewinnt Elias Hirschl tatsächlich eine Menge fesselnden Content. Immer neue Einfälle zieht er aus dem Fundus seiner Gegenwartsbeobachtung heraus wie ein Zauberer die Kaninchen aus dem Zylinder. Es gibt einen Journalisten, der hinter der Content-Schmiede Smile Smile Inc. die Chinesen, die Russen oder noch viel Schlimmeres vermutet, einen jungen Gründer, der unverzichtbare öffentliche Institutionen bis hin zur Feuerwehr reihenweise in dysfunktionale Start-ups verwandelt, streikende Fahrradkuriere, die flugs gefeuert und durch Drohnen ersetzt werden. Zwischen Amüsement und innerem Haareraufen Vieles davon mag zunächst völlig übertrieben scheinen – bis man sich den Umgang von Streaming-Plattformen mit Urhebern oder die Geschäftsmodelle von Lieferdiensten in Erinnerung ruft. So schwankt man lesend zwischen Amüsement und innerem Haareraufen angesichts der rasenden digitalen Verblödung, deren Folgen hier sichtbar werden: Je mehr Bildschirmzeit mit Stuss verbracht wird, desto besser für diejenigen, die ungestört ihren Geschäften nachgehen wollen. Elias Hirschls Roman liefert weder eine tiefgründige Handlung noch stilistische Höhenflüge. Im Gegenteil, auf weite Strecken bedient er sich genau der Normcore-Sprache seiner Generation der Millennials. „Content“ ist ein Spiel mit den Klischees unserer durchdigitalisierten Welt – keine große Literatur, aber eine immer wieder witzig auf den Punkt gebrachte Kapitalismuskritik 2.0.…
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1 Piazza und Protest – Italien ist Buchmessen-Gastland 2024 7:34
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7:34Ein Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse ohne Skandale und Streitereien? Das gibt es wahrscheinlich nicht. Auch das diesjährige Gastland Italien macht da keine Ausnahme. Dort hat man sich augenblicklich in den Haaren, weil Starautor Roberto Saviano nicht Teil der offiziellen Autorendelegation sein wird. Wurde er wegen seiner Bücher, in denen er die mafiösen Strukturen Italiens aufdeckt, links liegengelassen? Wie auch immer: Sein deutscher Verlag – der Hanser-Verlag – lädt ihn nun selbst ein. Und was erwartet uns noch? Die Italianistin Anna Voller berichtet im Gespräch auf SWR Kultur von den Querelen, aber auch von der Frankfurter Gastlandhalle, die aussehen wird wie eine traditionelle Piazza. Sie freut sich ganz besonders auf die Bücher von der italienischsprachigen Autorin Fleur Jaeggy (*1940), die gerade frisch ins Deutsche übersetzt und wiederentdeckt werden.…
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Berlin-Mitte. Fischerinsel heißt ein Wohngebiet auf einer Spreeinsel zentral in Berlin. Plattenbauten, zwischen ihnen ein Spielplatz, eine Schwimmhalle. Gebaut wurden die Häuser Anfang der 1970er Jahre in der DDR. In den 1980er Jahren hat die finnische Autorin Meri Valkama in einem der Hochhäuer gewohnt. Deshalb spielt hier auch ihr Romandebüt „Deine Margot“. „Diese fast vier Jahre waren die glücklichste Zeit meiner Kindheit“, erzählt sie bei einem Spaziergang über die Fischerinsel. Als Vierjährige kam sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder nach Ost-Berlin: Ihr Vater war Auslandskorrespondent einer linken finnischen Zeitung. „Das ist unser Haus, das, mit der Nummer 10, mit diesem Gelb bei den Fenstern. Wir wohnten auf der zweiten Etage.“ Das 20-stöckige Haus ist ein wichtiger Handlungsort ihres Romans: Dort bezieht ihre Protagonistin – die Journalistin Vilja – im Jahr 2011 eine Ferienwohnung. Der Geruch flutete ihr entgegen, als die Fahrstuhltüren sich im achtzehnten Stock öffneten. Derselbe Geruch, derselbe noch nach fünfundzwanzig Jahren, dachte Vilja, und auch wenn sie sich unter anderen Umständen den Schal vor das Gesicht gedrückt und sich vor dem Gestank des Müllschluckers geschützt hätte, ließ sie jetzt den süßlich-fauligen Geruch in sich hineinströmen. Quelle: Meri Valkama – Deine Margot Auf der Suche nach der Vergangenheit In Berlin will Vilja herausfinden, von wem die Briefe stammen, die sie im Nachlass ihres verstorbenen Vaters gefunden hat. Unterzeichnet sind die Briefe mit „Deine Margot“, gerichtet an „lieber Erich“ – eine Anspielung auf die Honeckers, die Vertrautheit zeigt und mehr noch: Offenbar hat ihr Vater in den 1980er Jahren ein neues Leben mit dieser Frau geplant. Langsam wird Vilja klar, warum ihre Familie nach der Rückkehr nach Helsinki zerbrach. Nun will sie dahinter kommen, was damals passiert ist: Sie besucht alte Bekannte ihrer Eltern aus jenen Jahren, spricht mit der besten Freundin ihrer Mutter, einem damaligen Kollegen ihres Vaters – und hinterfragt ihre eigenen Erinnerungen an diese Zeit. „Wie soll ich es erklären? Wenn man in ein anderes Land zieht, dann erinnert man sich später an vieles. Natürlich sind es die Erinnerungen eines Kindes, ich weiß auch nicht, ob jeder Moment real war. Aber ich habe starke Erinnerungen an bestimmte Geschmäcker, Gerüche und so etwas.“ Dazu gehört auch dieser leicht süßliche Geruch nach Müll, der sich durch die Hausflure und fast leitmotivisch durch den Roman zieht. Solche Details zeichnen ein vielfarbiges, oftmals sinnliches Bild jener Jahre. „Mir ist klar, dass ich damals ein kleines Kind war. Ich wusste nicht viel über gesellschaftliche oder politische Fragen. Und wir waren eine Familie, die eine Art Diplomatenstatus hatte. Für uns war es anders als beispielsweise für unsere ostdeutschen Nachbarn.“ „Aber der wichtigste Teil waren die Diskussionen mit Ostdeutschen“ So ergeht es auch Vilja: In ihren Gesprächen stößt sie immer wieder auf Fakten, die ihre eigenen Erinnerungen korrigieren. Nicht nur das. Im Roman werden auf einer zweiten Zeitebene die Erlebnisse und Erfahrungen von Viljas Eltern erzählt: Ihre Hoffnungen und Sehnsüchte, ihre Gespräche mit Freunden und Nachbarn in Berlin. Manche hadern mit Einschränkungen, wollen die DDR verlassen. Andere sind weiterhin überzeugt, dass der Sozialismus dem Kapitalismus überlegen ist. In den vielfältigen Nebenfiguren zeigt sich, dass Meri Valkama über zehn Jahre für ihr Buch recherchiert hat. Sie hat viel gelesen, ist oft nach Berlin gereist, hat eine Zeitlang hier gelebt. „Aber der wichtigste Teil waren die Diskussionen mit Ostdeutschen. Man kann lesen und Filme oder Serien schauen, aber wenn man wissen will, was Menschen denken, muss man mit ihnen reden.“ Für Vilja wird die Suche nach der Geliebten des Vaters auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Sie wird herausfinden, wer die Frau war. Warum sie selbst – Vilja – Probleme mit Nähe hat. Und warum ihr Verhältnis zu ihrer Mutter so schwierig ist. Das Gefühl war stark, es errichtete um sich herum tief im Boden verankerte Pfähle und bestand, überraschend für Vilja selbst, aus der Gewissheit: Sie hatte das Recht, ihre eigene Vergangenheit aufzuklären, das Recht, ihre eigene Geschichte zu kennen, und auf jede Art von Fragen, die ihr helfen würden, zu verstehen und weiterzukommen. Warum war das für die Mutter so unmöglich zu akzeptieren? Quelle: Meri Valkama – Deine Margot In Finnland anders über die DDR Sprechen Diese Verankerung im Persönlichen sorgt dafür, dass der Roman trotz einiger Längen und manch kitschiger Passagen überzeugt: Sie bringt große historische mit den nur vermeintlich kleinen privaten Ereignissen zusammen. Dazu schreibt Meri Valkama über das Verhältnis Finnlands zur DDR. Finnland ist ein Land mit einer ausgeprägten und starken linken Tradition. Davon erzählt auch Autorin Pirkko Saisio in ihrer Helsinki-Trilogie, die aktuell erscheint. Es gab Austauschprogramme zwischen der DDR und Finnland, viele Finnen haben eigene Erinnerungen an ihre Zeit in diesem Land. „Der Historiker Seppo Hentilä hat viele Bücher über die DDR geschrieben und seine Analyse ist: Vor dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges wurde in Finnland ein sehr positives Bild von der DDR gezeichnet. Und mit dem Ende des Kalten Krieges wurde alles nur noch schwarz gemalt. Diese Veränderung war wirklich riesig und ich denke, einige hat das traumatisiert – gerade die, die noch Verbindungen zur DDR hatten. Viele Finnen dachten, man dürfe nun nach dem Mauerfall nicht mehr gut über diese gemeinsamen Zeiten sprechen.“ Mit ihrem Roman – in Finnland war er ein großer Erfolg – will Meri Valkama dazu beitragen, dass in Finnland wieder offener über die DDR geredet wird. Dennoch ist „Deine Margot“ keine groß angelegte historische Analyse, sondern ein bisweilen leicht überfrachteter, aber spannender Familienroman, der geschichtliche Ereignisse mit persönlichen Erinnerungen geschickt und überzeugend verbindet.…
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1 Irrschweifen und Lachen – neue Bücher proben den Aufbruch im lesenswert Magazin 55:07
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55:07Piazza und Protest – Italien ist Buchmessen-Gastland 2024. Wir sprechen über bisherige Skandälchen und auf welche Bücher wir uns freuen können. Finnland und die DDR Mit der Finnin Meri Valkama streifen wir durch Berlin, und wir lernen in ihrem Roman „Deine Margot“ , warum Finnen die DDR so liebten. Mit „Blue Ruin“ rundet Hari Kunzru seine Dreifarben-Trilogie ab. Diesmal geht es um Kunst und Covid. Darüber berichtet Kunzru auch im Interview. Empfehlung von Deniz Ohde Regelmäßig verraten Autor*innen bei uns ihre Lieblingslektüren. Heute erzählt die Autorin Deniz Ohde, warum sie Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ immer wieder liest. „Irrschweifen und Lachen“ heißt eine neue Anthologie mit Erzählungen und Essays von den Antillen . Romanist Ralph Ludwig erzählt von den Besonderheiten antillanischer Geschichten und liest eine Passage auf Kreolisch vor. Zum Schluss nimmt Elias Hirschl die schöne neue Online-Welt aufs Korn: „Content“ heißt seine böskomische Digital-Satire. Musik: Remi Chaudagne, David Starck: Cuba Label: KLANGLOBBY…
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1 Randgeschehen – Anne Weber und ihr Gang durch die „Bannmeilen“ von Paris 56:55
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56:55Streifzüge durch die Pariser Vororte, so beschreibt Anne Weber das Projekt ihres neuen Buchs. Sie lässt ihre Erzählerin mit einem Freund am Vorabend der Olympischen Spiele durch den Nordosten von Paris wandern, hier stoßen Obdachlosenunterkünfte auf luxuriöse Galerien und Geldspeicher auf islamische Friedhöfe und Sportarenen. Eine fremde Welt, in der auch Paris-Virtuosen auf viele neue Eindrücke stoßen.…
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1 Volha Hapeyeva – Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber 4:09
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4:09Die Stille ist allgegenwärtig. Die Einsamkeit lauert überall. Im belarussischen Wort „Samota“ fließen beide Bedeutungen zusammen. „Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber“ heißt der neue und sehr leise Roman von Volha Hapeyeva im Untertitel. Im Mittelpunkt steht die Vulkan-Forscherin Maja. Sie kommt zu Beginn in einem abgelegenen Hotel des Instituts für Vulkanologie an, das irgendwo im europäischen Norden liegen könnte. Doch die Orts- und Zeitbestimmungen bleiben unscharf. Der umliegende Wald mit Wölfen, die nahe Kleinstadt, die Bibliothek mit einem geheimnisvollen Japan-Buch – all das ergibt eher eine mythische Landschaft im Nirgendwo als eine bestimmbare Gegend. Die Ortlosigkeit des Exils Diese Ortlosigkeit ist womöglich Ausdruck der Exilsituation, in der die belarussische Lyrikerin und Übersetzerin Volha Hapeyeva lebt. Während der Proteste gegen Diktator Alexander Lukaschenko in Minsk im Jahr 2020 hielt sie sich in Graz auf und kehrte nicht in ihre Heimat zurück. Stipendien in München und Berlin folgten. Dabei ist Hapeyeva keine dezidiert politische Autorin. Doch gerade ihr unaufdringlicher Ton, das Lob der Einsamkeit und die Verwunderung darüber, dass der Mensch allzu oft stumpf und mitleidlos agiert, machten sie zur Außenseiterin in einer kollektivistischen Gesellschaft – so wie Literatur generell das Misstrauen der Diktatoren dieser Welt hervorruft. In der Bibliothek war es gemütlich und still. Manchmal suche ich solche Orte auf, um bei den Büchern zu sein, diesen schweigenden Gelehrten, die mich immer gern daran erinnern, was es auf der Welt doch alles gibt und was die Menschen nicht alles erinnern und erforschen. Quelle: Volha Hapeyeva – Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber Der Kongress der Tierpräparatoren Den Büchern ist mehr zu trauen als den Menschen. Eher abstoßend wirkt zum Beispiel die seltsame Männerrunde, die sich im Hotel der Ich-Erzählerin versammelt. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Tierpräparatoren, die einen Kongress zur „Regulation von Tierpopulationen“ besuchen und dem Vortrag einer gefühlskalten japanischen Expertin lauschen. Sie stehen exemplarisch für eine Menschheit, die Lebewesen zu Objekten degradiert und ihren Zwecken unterwirft. Den Gegenpol dazu bildet die Tiertherapeutin Helga-Maria, eine Freundin Majas. Sie behandelt Angststörungen bei Hunden, erzählt Geschichten von weggelaufenen Hunden und Katzen und bekommt Liebesbriefe von einem jungen Mann namens Sebastian. Der wohnt in einer Pension und muss sich dort mit dem Wolfsjäger Meszaros auseinandersetzen, einer Figur, die in ihrer Grobschlächtigkeit einem finsteren Märchen zu entstammen scheint. Sebastian fragt sich: Waren die Charakterzüge die Folge einer bestimmten Lebensweise oder waren sie angeboren, so dass der Mensch von Beginn an weder Freude noch Leid empfinden konnte und Mitgefühl für andere gänzlich fehlte. Quelle: Volha Hapeyeva – Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber Der poetische Gegenentwurf zu einer zweckbestimmten Ökonomie Das Böse besteht für Volha Hapeyeva im Mangel an Empathie, wie es sich vor allem im Umgang mit Tieren ausdrückt. Gegenstand ihrer Kritik ist aber nicht nur das ausbeuterische Verhältnis der Menschen zur Natur, sondern auch eine Wissenschaft, die „keine Individualität duldet“, weil sie das Leben „maximal vereinheitlicht“ und „von Emotionen befreit“. Das ist zwar durchaus richtig, aber auch ein wenig schlicht. Hapeyeva legt eben keine gesellschaftliche Analyse vor, sondern einen poetischen Gegenentwurf zur zweckbestimmten Ökonomie. Auch deshalb ist ihr Roman in einem mythischen Nirgendwo angesiedelt. Sie bringt darin ein zivilisatorisches Unwohlsein zum Ausdruck, erprobt aber noch nicht einmal ansatzweise Antworten auf die doch drängende Frage, woher Gewaltbereitschaft und Mitleidslosigkeit kommen. Das Empathie-Serum, das die leicht verrückte Helga-Maria entwickeln möchte, um die Menschen damit zu imprägnieren, ist zwar eine hübsche Idee, wird aber wohl kaum die Lösung sein.…
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1 Karl-Heinz Kohl – Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne 4:09
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4:09Stellt es nicht ein Hindernis für das wechselseitige Verstehen dar, wenn es nur noch den Angehörigen der eigenen Kultur erlaubt sein soll, über deren Geschichte und gegenwärtige Lebensformen zu forschen? Quelle: Karl-Heinz Kohl – Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne Was wie eine vorsichtige Anfrage an diejenigen klingt, die jegliche Beschäftigung mit dem Fremden unter den Verdacht ‚kultureller Aneignung‘ stellen, ist ein Plädoyer für die Anverwandlung des ursprünglich einmal Fremden und damit für eine Ethnologie, die sich mit Interesse und ohne Überheblichkeit den außereuropäischen Kulturen widmet. In seinem Buch ‚Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne‘ plädiert der Ethnologe Karl-Heinz Kohl dafür, die Moderne nicht lediglich als ein europäisches Phänomen zu betrachten, das indigene Kulturen darauf reduziert, einer früheren Entwicklungsstufe anzugehören. Wirklich auf Augenhöhe könne man indes – um nur drei indigene Völker zu nennen – den brasilianischen Tupinambá, den Bewohner/-innen von Palau und Tahiti oder den Hopi im Südwesten der USA begegnen, wenn man sie nicht darauf reduziert, die europäische Tradition zu spiegeln. Stattdessen geht es um ihre jeweils eigenen Weltsichten. Émile Durkheim und Sigmund Freud entdecken das Eigene im Fremden Und in diesen Weltsichten ist einiges zu entdecken, was geeignet ist, die Vertreter europäischer Kultur bescheidener werden zu lassen. So zeigt Kohl, inwiefern der Stamm der Irokesen das politische System der USA, dieser am längsten bestehenden Demokratie der Welt, beeinflusst hat: Benjamin Franklin hatte sogar vorgeschlagen, den zunächst als Einkammersystem konzipierten amerikanischen Kongress in Analogie zum Großen Rat der Irokesen als Grand Council zu bezeichnen. Quelle: Karl-Heinz Kohl – Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne Und was die Gleichstellung der Frau angeht: die war bei den Irokesen seit jeher vorhanden, während in Europa so viele Jahrhunderte dafür gekämpft worden war. Aber nicht nur die Kultur nordamerikanischer Indigener lässt die Wurzeln der Moderne in einem neuen Licht erscheinen: Die Kritik an dem das europäische Denken nicht erst seit Darwin dominierenden Evolutionismus entstand durch die Erforschung der elementaren Formen der Religion, zu der Émile Durkheim durch die Beschäftigung mit den australischen Aranda motiviert wurde – ein Jahr später veröffentlichte Sigmund Freud seine Studien über Totem und Tabu, um „auf einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker“ aufmerksam zu machen. Die Öffnung des europäischen Blicks auf eine Welt-Kultur Es geht in der Tat um Übereinstimmungen und nicht um Überlegenheiten – dass der Begriff des Wilden dem Freud’schen Zeitkolorit geschuldet ist, versteht sich von selbst. Wie aber verhält es sich mit dem Begriff ‚Stamm‘ – ist der nicht genauso despektierlich? Unmissverständlich macht der Autor deutlich, dass es sich keineswegs um eine Bezeichnung herablassender Europäer über andere Völker handelt: Seine Verwendung gleich im ersten Satz der Weimarer Verfassung, die sich ‚das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen‘ im Jahr 1919 gab, zeigt, dass man es keineswegs allein auf die ‚Eingeborenenstämme‘ bezog. Quelle: Karl-Heinz Kohl – Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne Und waren es nicht die 12 Stämme Israels, deren Religion zu einem zentralen Bestandteil der europäischen Kulturgeschichte geworden ist? Karl-Heinz Kohl lässt keinen Zweifel daran, dass der Beitrag der von ihm vorgestellten neun Stämme auf den verschiedenen Kontinenten dieses Planeten zu einer Welt-Kultur ebenso hoch zu schätzen ist. Aktuelle Debatten und die Ignoranz gegenüber anderen Erinnerungsspuren Aber noch etwas wird an diesem Buch über die unbekannteren Wurzeln der Moderne deutlich – nämlich welche Wege und Irrwege manche aufgeregte Debatte unserer Tage geht: Neben der bereits angesprochenen Frage der kulturellen Aneignung geht es auch um die postkoloniale Wahrnehmung kolonialer Vergangenheit: Die lange ignorierten deutschen Verbrechen an Nama und Herero bestimmen unseren Blick auf das frühere Deutsch-Südwest-Afrika und heutige Namibia; außereuropäische Kulturen nicht auf den Opferstatus zu reduzieren, vielmehr ihren Beitrag zur heutigen Gestalt einer Welt-Kultur zu zeigen, ist das Vorhaben dieses Buches – das ist gelungen!…
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Wer noch glaubt, dass Autoren ihre Geschichten einfach so erfinden, bekommt von Andreas Kilcher eine klare Ansage: „Bücher entstehen aus Büchern. Literatur aus Literatur“. In diesem Sinn begreift der Literaturwissenschaftler Kafka als wandelndes Textverarbeitungssystem, dessen Schreiben genährt und katalysiert wird durch Lektüren vielfältiger Art: Mit seiner Studie „Kafkas Werkstatt“ will Kilcher… … einem Kafka-Bild widersprechen, das sein Schreiben als schwierige, einsame und geniale Geburt eines Einzelgängers jenseits aller Kontexte versteht (…). Dagegen richtet das Verständnis von Kafkas Texten als Hypertexten den Blick auf die direkte sowie auch indirekte Verarbeitung von Gelesenem. Kafkas Texte erweisen sich dann förmlich als „Krypto-Konferenzen“, als mehr oder weniger verdeckte „Lektüreprotokolle“. Quelle: Andreas Kilcher – Kafkas Werkstatt Abgesehen davon, dass die Magie von Kafkas Sätzen nun wirklich nichts mit einem „Protokollstil“ zu tun hat, muss man fragen, wer eigentlich noch ernsthaft dem Bild vom einsamen Genies Kafka anhängt? Ist die ausufernde Kafka-Forschung nicht seit langem damit beschäftigt, vielfältige Kontexte an dessen Werke heranzutragen? Wer oder was ist Odradek? Wie auch immer, an Kafkas anderthalbseitiger Kurzgeschichte „Die Sorge des Hausvaters“ demonstriert Kilcher seine Methode. Sie handelt von einem kleinen, im Treppenhaus herumhuschenden Wesen, das aus Spulen, Fäden und Hölzchen zusammengesetzt ist und sich selbst mit raschelnder Stimme „Odradek“ nennt. Es richtet keinen Schaden an, ärgert den titelgebenden „Hausvater“ aber doch, weil so etwas Überflüssiges, Unzugehöriges, Zweckloses einfach hartnäckig fortexistiert. Kilcher zeigt nun, wie in diesem kleinen Text vier Großdiskurse der Moderne vibrieren, mit denen sich Kafka als intellektuell wacher Zeitgenosse und Leser beschäftigte: die Psychoanalyse, der Marxismus, der Zionismus und der Okkultismus. Kafka und der Zionismus Die interessantesten Aufschlüsse bietet das profunde Kapitel über den Zionismus, mit dem sich Kafka stark beschäftigte. Er lernte Hebräisch und plante die Auswanderung nach Palästina. Die verfitzte Odradek-Gestalt lässt sich in diesem Zusammenhang lesen als Verbildlichung der jüdischen Selbstkritik am bodenlosen Diaspora-Judentum: All die negativen Bestimmungen des Diaspora, die im zionistischen Diskurs auf zahlreichen publizistischen Kanälen zirkulierten, erscheinen in der Figur Odradeks kongenial verdichtet und verflochten: Odradek ist nicht kohärent, sondern ‚verfitzt‘, nicht verwurzelt, sondern ‚von unbestimmtem Wohnsitz‘, nicht tätig und produktiv, sondern untätig und zwecklos. Odradek ist mithin die syndromartige Ausgestaltung all dessen, was dem Zionismus am eigenen Judentum so unheimlich geworden war. Quelle: Andreas Kilcher – Kafkas Werkstatt Enzyklopädische Patchwork-Partituren Aus anderthalb Kafka-Seiten entfaltet Kilcher gleichsam eine Enzyklopädie. Dabei geht es ihm weniger darum, im Stil der alten, detektivischen Quellenphilologie Einflüsse, Zitate und Paraphrasen exakt nachzuweisen. Sondern, viel unschärfer, um „Resonanzen“ und „Kraftfelder“, um „textuelle Energetik“, mögliche „Korrelationen“ und Motive in doppelter oder dreifacher Brechung. Um nichts Ein-deutiges, Ein-sinniges also. Vielmehr rühmt Kilcher Kafkas Werke als „heterogene Texturen“ und „Patchwork-Partituren“. In sein Buch sind Jahrzehnte der Beschäftigung mit Kafka und seinen Kontexten eingeflossen. Kilchers Einblicke in Kafkas Werkstatt, wie er sie versteht, sind superklug und faszinierend. Aber fast tut einem der kleine Odradek leid. Wie der griechische Titan Atlas muss er hier eine ganze Welt der Diskurse und Bedeutungen stemmen.…
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Thomas Lehr ist ein literarischer Verwandlungskünstler. Er kann packende realistische Romane genauso schreiben wie formal raffinierte, assoziationsgeladene Prosagebilde. Sein schmales Bändchen mit dem Titel „Kafkas Schere“ zeigt nun, dass er auch die kleine Form beherrscht. Er hat „Zehn Etüden“ verfasst. Kafkas Texte sind per se ein ästhetischer Maßstab, und auch Thomas Lehr schärft an ihnen erkennbar seinen eigenen Stil. Die kurzen, brillanten, vielstimmigen Kompositionen in seinem Band haben alle etwas mit Themen und Motiven des großen Pragers zu tun. Zehn brillante Texte, die Motive Kafkas aufgreifen Man erkennt es sofort an der Atmosphäre, an der dunklen Grundstimmung, in der sich der Einzelne fremd fühlt und in eine undurchschaubare Umgebung hineingestellt sieht – und das alles in prägnanten, apodiktisch wirkenden Sätzen. Einmal etwa stürzen existenziell ausgesetzte Kletterkünstler hinab in ein tiefes, schwarzes Wasser, bis auf den Grund: Von dort könnten sie, für Äonen auf dem Rücken liegend wie tote Kaiser, mit neuen, ungeheuren Augen versehen, zuschauen, wie sich die Kähne an der Oberfläche bewegten und mit welch anrührenden, arabesken Silberspuren ihre Kollegen von oben herab in die Namenlosigkeit einschlügen. Quelle: Thomas Lehr – Kafkas Schere Lehrs Etüden sind keine Geschichten, die sich nacherzählen ließen. Diese literarisch-philosophischen Grenzgänge entziehen sich den üblichen Begrifflichkeiten und Handlungsschemata. Und es sind nicht nur Künstlerfiguren, die der Autor aus dem Kafka-Kosmos in eine ganz eigene Gegenwart überführt. Ein Lehrscher Etüden-Titel wie „Die Babylonischen Maulwürfe“ könnte auch über einem der klar konturierten, symbolisch aufgeladenen Prosatexte Kafkas stehen, und „Das Kinesische Zimmer“ scheint Vorstellungen Kafkas direkt weiterzuschreiben, der seine Phantasie gelegentlich bis in asiatische Wüsten und Mauern austreiben ließ. Leere Weiten und hetzende Hunde Die Verlassenheit in leeren Weiten, ein zentrales Kafka-Bild, formuliert Thomas Lehr einmal in einem dichten Tableau mit hetzenden Hunden aus, die letztlich aber ebenso verloren sind wie die Wesen, die von ihnen verfolgt werden und als ein namenloses „Wir“ sprechen. Thomas Lehr findet im juristisch geschliffenen, kalten und scharf akzentuierenden Kafka-Ton auch neue Versionen klassischer Mythen. Sisyphos und Orpheus etwa werden zu Phantasmagorien einer ausweglosen Spätmoderne. Jedes Mal entstehen ironische, abgrundtief lachende Kafka-Paraphrasen aus heutiger Perspektive. Lehr greift lustvoll in das Arsenal der Kafka-Obsessionen, spinnt sie bis in zeitgenössische Science-Fiction-Welten weiter. In der Etüde „Das Notizbuch“ geht Thomas Lehr auch der Bedeutung des Schreibens bei Kafka auf den Grund: Das Papier wird in all seinen Erscheinungsformen und Herstellungsprozessen benannt und bekommt eine ungeahnte Eigendynamik, saugt das Leben des Einzelnen förmlich auf, von der Geburt bis zum Tod: In freundlicher Abstimmung mit der uns noch verbleibenden Zeit wählt das Zimmer die Geschwindigkeit, mit der es unser Dasein aufblättert, um es vorbeirauschen zu lassen, auf Wänden, Decke und Boden wie die Bilder der grandiosesten Achterbahnfahrt, angefangen beim Anblick jenes Lindenblatts, das aufbrach, uns zu suchen, und sacht auf den noch kaum gewölbten Bauch unserer Mutter fiel. Quelle: Thomas Lehr – Kafkas Schere Absurde Komik und existenzielle Leere Direkt benannt wird Kafka nur einmal, in der titelgebenden Etüde „Kafkas Schere“. Die geheimnisvollen Bilder Kafkas, das ständige Changieren zwischen absurder Komik und existenzieller Leere sind hier spielerisch eingefangen, aber dabei glitzert und funkelt alles in großen sprachlichen Gesten. Der Band „Kafkas Schere“ ist leichtfüßig und tiefgründig zugleich. Er holt die großen Fragen des Prager Schriftstellers ein und überführt sie in ein irrlichterndes Heute.…
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Saunders kehrt zu den Erzählungen zurück und hebt die Grenze zwischen Gegenwart und Zukunft auf. Befinden wir uns in einer Dystopie? Oder in einer grell verzerrten Gegenwart? Saunders Welt ist dunkel, aber noch nicht verloren.
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1 SWR Bestenliste Juni mit Büchern von Salman Rushdie, George Saunders, Claire Keegan und Heinrich Steinfest 1:05:02
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1:05:02Warum das Unheimliche rätselhaft bleiben muss: Shirin Sojitrawalla, Denis Scheck und Jan Wiele diskutieren vier auf der SWR Bestenliste im Juni verzeichneten Werke im Mozartsaal des Schwetzinger Schlosses. Die düsteren Erzählungen von George Saunders, die in herausragender Übersetzung von Frank Heibert unter dem deutschen Titel „Tag der Befreiung“ erschienen sind, haben die Runde gleichermaßen beeindruckt und verstört. Denis Scheck feiert Heinrich Steinfests Kunstroman, Detektivgeschichte und Familiendrama „Sprung ins Leere“ , den Jan Wiele für zwar unterhaltsam, aber deutlich zu lang hält. Shirin Sojitrawalla zeigt sich begeistert von Claire Keegans Erzählung „Reichlich spät“ , über dessen Kürze sich wiederum Denis Scheck freut. Jan Wiele kritisiert Keegans eindimensionales Erzählkonzept zum Thema „Misogynie“, kann der in Irland spielenden Geschichte aber mit der Perspektive des „touristischen Lesens“ durchaus etwas abgewinnen. „Gedanken nach einem Mordversuch“ lautet der Untertitel von Salman Rushdies Memoir „Knife“ , in dem er über das Attentat auf ihn im August 2022 berichtet. Ein wichtiges und ein intimes Buch, wie die Runde befand – selbst wenn es unter literarischen Gesichtspunkten – wie Scheck und Sojitrawalla meinen – nicht Rushdies bestes Buch sei. Jan Wiele verweist auf die vielen inhaltlichen und formalen Ebenen des Textes, von der freien Assoziation als schriftliche Eigentherapie, über essayistische Passagen bis zu fiktiven Dialogen mit dem Attentäter. Aus den vier Büchern lesen Isabelle Demey und Dominik Eisele. Durch den Abend führt Carsten Otte.…
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Eine Museumsaufseherin, die die Exponate liebt. Eine Großmutter, die vor Jahrzehnten spurlos verschwand. Und eine burleske Reise nach Japan. Steinfests neuer Roman ist Detektivgeschichte und Generationenporträt zugleich.
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1 Salman Rushdie: Knife. Gedanken nach einem Mordversuch 16:15
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16:15Unfassbar ist die Freude, mit der Salman Rushdie im Leben steht. Am 12. August 2022 wurde er bei einem Attentat schwer verletzt. In „Knife“ setzt er der rohen Gewalt das entgegen, woran er immer geglaubt hat – die Kraft der Literatur.
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Claire Keegan ist eine Meisterin der kurzen Form. Kein Wort zuviel steht in ihren Erzählungen. Ihr neues Buch hat gerade einmal 60 Seiten. Keegan erzählt von einem Durchschnittsmann und von internalisierten Machtstrukturen.
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1 Krieg ist keine Metapher - Über Lyrik im Ausnahmezustand 56:21
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56:21"Krieg ist keine Metapher", lautet die These der ukrainischen Dichterin Halyna Kruk. Sie und andere Lyrikerinnen und Lyriker sprechen über die Bedingungen einer Poesie im Ausnahmezustand. Manche unter ihnen setzen nun ganz neu an. Dabei wiederholen sich die Debatten aus den Weltkriegen. Und eigentlich begann alles schon mit Homer. Norbert Hummelt hat für das SWR Kultur lesenswert Feature die Autoren Durs Grünbein, Slata Roschal, Yevgeniy Breyger, Karl-Heinz Ott und Halyna Kruk getroffen.…
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1 Saša Stanišić – Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne | Buchkritik 5:23
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5:23Das Leitmotiv: Ein Proberaum für das Leben Sie hängen in den Weinbergen ab, werfen dann und wann Steine in die Luft: Fatih, Piero, Nico und Saša, vier Jungs um die 16, mitten in der Pubertät und kurz vor den großen Ferien. Fatih hat eine bestechende Idee – einen Proberaum für das Leben. Jeder, der will und 130 Mark zahlt, darf zehn Minuten lang die eigene Zukunft testen. Und überlegen: Will ich das? Oder will ich etwas ganz anderes? Dieses allzu menschliche Verlangen wird zum Leitmotiv im neuen durch und durch spielerischen Prosaband von Saša Stanišić. Saša Stanišić: Literatur ist ja so ein Möglichkeiten-Raum. Da probieren wir Geschichten aus der Vergangenheit, aus der Gegenwart – und eben auch die Zukunfts-Geschichten – aus. Und das wäre eine doppelte Vorstellungskraft, die dann zu Werke geht. Einmal haben wir diese Sci-Fi-Idee vom Proberaum. Und zweitens haben wir die literarische Umsetzungskraft dieser Biographien, die sich verändern. Und ich lasse meinen Figuren immer diese zweite Chance gewähren – dass sie noch einmal zehn Minuten von ihrem Leben leben können. Die sie sonst nicht hätten. Kein Roman, auch kein Erzählungsband Saša Stanišić nennt sein Buch mit dem Titel „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“: eine Chimäre. Es ist kein Roman, es ist auch kein klassischer Erzählungsband. Vielmehr beständiges Dazwischen, furios, voller Witz, oft in kurzen Sätzen, rhythmisch und mit knappen Dialogen: Geschichten von unterschiedlichen Menschen aus unserer Zeit, auf magische Weise miteinander verbunden – nicht nur, weil alle Figuren den Proberaum für das Leben betreten. Ein Saša Stanišić ist auch dabei. Er war angeblich als Jugendlicher auf Helgoland und wird dreißig Jahre später dort beschuldigt, das alte Wirtshausschild aus dem „Inselkrug“ gestohlen zu haben. Hochironische Autofiktion, voller Brechungen. Saša Stanišić: Wir haben da einen dahin gereisten Jugendlichen, der aber in Wirklichkeit nicht dahin gereist ist. Er hat nur seinen Freunden erzählt, dass er dahin reist, weil er sich geschämt hat oder Geltungsbedürfnis hatte, weil er auch einmal etwas erleben wollte. Dann haben wir den erwachsenen Saša Stanišić, den Schriftsteller, der sich wohl eine Geschichte durchliest, in der er selber Protagonist ist, die er aber nicht gut finden. Die Bilder gefallen ihm nicht, die Sprache gefällt ihm nicht. Und dann gibt es die Geschichte, die erzählt wird, dass ein Kneipenschild geklaut worden ist. Dieses Kneipenschild hat eine große Wichtigkeit für die Wirtin auf dieser Insel, auf Helgoland. Immer wieder kommen Saša Stanišić‘ Geschichten ungestüm daher, mancher erzählerische Kniff ist rotzfrech. Unter der Oberfläche aber liegen Melancholie und tiefer Ernst. Eben: der großen Frage folgend, welches Leben verpassen wir, während wir ein anderes leben? Und was wollen wir hinter uns lassen? Einige der Figuren erfahren Ausgrenzung, aufgrund ihrer Herkunft, aufgrund ihrer Sprache. Der Helgoland-Fahrer Saša Stanišić etwa begegnet – in der literarischen Imagination – Heinrich Heine. Lebens- und Zeitgeschichten verbinden einander: die Ablehnung, die Angst. Fatihs Anproberaum, das wäre es jetzt. Die Gegenwart war klar. Wie Heine hätte ich sie oft am liebsten verlassen. Wäre lieber woanders gewesen. Woanders und vor allem wer anders. Wenn die Albträume der Abschiebung uns heimsuchten. Wenn zu Hause gestritten und gelitten und das Geld am Ende des Monats knapp wurde. Oder wenn die Bullen uns mal wieder anhielten und: Leert die Taschen, Jungs, alles . In unserem Viertel, idyllisch zwischen Weinberg und Wald, reichte es unterwegs zu sein, um verdächtig zu sein. Hattest du dunklere Haut, fuhr keine Streife an dir vorbei. (aus: Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne) Ein paar Sätze – und abgrundtiefe Traurigkeit. Und doch behaupten sich die Figuren von Saša Stanišić. Auch die beiden Frauen, die jeweils eine Art Zentrum in den vielen Prosatexten bilden: die Hamburger Witwe Gisel – die unter anderem über die entsprechende Platzierung der Gießkanne am Grab ihres Mannes räsoniert. Und Dilek, in einer Geschichte in Heidelberg zu Hause, in einer anderen – einer „Traumnovelle“ – Putzfrau in Wien, angestellt bei einer reichen wie unverschämten Wienerin. Dilek merkt bei ihrer Arbeit, dass die Zeit plötzlich stehen bleibt. Oder vielleicht auch ihr Herz, man weiß es nicht. Sie erlebt einen utopischen Moment der Freiheit. Und emanzipiert sich. Ein erzählerisches Labyrinth Saša Stanišić: Fast alle meine Figuren schaffen es, zumindest in Gedanken, wenn auch nicht in Vorstellungen und Wünschen und Zielen, die sie haben, sich ihres Lebens zu bemächtigen und zu sagen: Okay, ich will es aber so! Das ist meine Entscheidung, das ist mein neuer Weg. Bei ihr gelingt es mir, glaube ich, am intensivsten, diesen Kampf gegen die Konventionen – die Konvention, mit ihrem Mann zurück in die Türkei zu gehen, die Konvention, sich um die Kinder gekümmert zu haben und jetzt gar kein eigenes Leben gehabt zu haben, all diese Dinge zu verlassen und für sich einen kleinen Weg zu finden, wie klein der auch ist – aber es ist ein Weg in die Freiheit. Ja, ein Weg in die Freiheit. Das ist der Kern der nicht nur in emotionaler Hinsicht vielschichtigen Prosa von Saša Stanišić. Man verschwindet lustvoll in diesem erzählerischen Labyrinth, all denen folgend, die von einem anderen Leben träumen. Könnte man selbst einen Proberaum für die Zukunft betreten – die Geschichten von Saša Stanišić wären unbedingt mitzunehmen, aus welcher Gegenwart auch immer.…
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1 Sebastian Guggolz (Hg) – Kafka gelesen: Eine Anthologie 4:09
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4:09Franz Kafka hat nur ein schmales Werk hinterlassen: drei unvollendete Romane, einige Erzählungen, Briefe und Tagebücher. Trotzdem wurde der Prager Autor zum wirkmächtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, zum großen Vorahner der technologischen und bürokratischen Moderne. Benjamin, Adorno, Canetti, Deleuze – um nur einige zu nennen – haben die rätselhafte Welt Kafkas zu deuten versucht. Von dem Berg literaturwissenschaftlicher Analysen ganz zu schweigen, der immer weiter anwächst. Fast jedes Wort dieses Autors wurde unter die Lupe genommen. So begegnet man der Anthologie, in der 26 Autorinnen und Autoren über ihre Erfahrung mit Kafka schreiben, erst einmal mit einiger Skepsis. Der Herausgeber, der Verleger und Lektor Sebastian Guggolz, weiß um solche Vorbehalte. „Kafka gelesen“ versteht er dennoch als Einladung, fremden Lektüren zu folgen und in die Textwelt Kafkas aufzubrechen. Kafkas Wirkung auf die eigene Biografie Man kann sich auf einzelne Sätze, Motive oder Lieblingserzählungen konzentrieren, wie das einige Autoren tun, um diese mal mehr mal weniger originell zu dechiffrieren. Oder man erinnert sich an die Begegnung mit Kafkas Texten und rekapituliert deren Wirkung auf die eigene Biografie und das eigene Schreiben. Viele Autoren erzählen so sehr unmittelbar nicht zuletzt auch von sich selbst. Und das ist durchaus spannend zu lesen. Michael Kumpfmüller arbeitete sich als Gymnasiast nahezu durch das komplette Werk Kafkas. Ein später Widerhall der frühen Lektüre ist der gerade verfilmte Bestseller Kumpfmüllers „Die Herrlichkeit des Lebens“ über Kafkas letztes Lebensjahr und seine Liebe zu Dora Diamant. Aber vor dem souveränen späteren Umgang stand die umstürzende Erfahrung der ersten Begegnung. Schwer zu sagen, wie und mit welchem Ergebnis ich ihn damals gelesen habe; ich sehe die Dunkelheit, vor allem sie; dass ich alles gut kannte oder zu kennen glaubte – die Figur des übermächtigen Vaters, dass die Liebe schwierig bis unmöglich ist und der Einzelne klein und für sich, verdammt und zugleich seltsam frei. Quelle: Sebastian Guggolz (Hg) – Kafka gelesen: Eine Anthologie Schreiben als Ausweg aus den Begrenzungen der Gegenwart Katerina Poladjan schreibt einen Brief an den liebsten Franz und erzählt von kafkaesken Erfahrungen. Isabella Lehn kennt – wie Kafka – das Gefühl nur zu gut, den Anforderungen der Welt nicht zu genügen. Das Schreiben ist für sie ein Ausweg aus den Beschränkungen der Gegenwart. Für Kafka war es noch mehr: die eigentliche Existenz. Dana Grigorcea berichtet ebenfalls von ihrer frühen Kafka-Lektüre. Im kommunistischen Rumänien waren die Bücher des Prager Autors für sie geradezu überlebenswichtig: Da wurden Stimmungen, die ich bestens kannte, in Worte gefasst, in einprägsamen, repetitiven Bildern festgehalten. Nie mehr würden sie wieder formlos, als beunruhigende Ahnungen um mich schweben. Es war bei Kafka, wo ich die wirksamen Bannsprüche gegen die Angstlähmungen fand, das Gegengift für meine Erfahrungen von Diktatur und Willkür. Quelle: Sebastian Guggolz (Hg) – Kafka gelesen: Eine Anthologie Ein Buch, das die Neugier auf Kafka weckt Kafka habe dafür gesorgt, dass das Fragmentarische, das Abgebrochene und Verstümmelte Zugang in die Literatur findet und dort seine eigene Würde bekommt, hat sein Biograf Reiner Stach einmal gesagt. In einem der besten Beiträge der Anthologie bekennt Jan Faktor, dass „der ganz große Kafka“ für ihn der fragmentarische ist. Auch den unvollendeten Werken sei nichts mehr hinzuzufügen. Da in der von Kafka geschaffenen Realität so vieles nicht stimmt, wäre es – jedenfalls in den umfangreicheren Werken – sowieso fast unmöglich, aus derartigen Konglomeraten ein rundes Ganzes zu erschaffen. Auf das sogenannte „Process“-Fragment bezogen: Kann sich jemand vorstellen, wie Kafka Josef K. vor irgendwelchen unteren, mittleren oder hohen Richtern antreten lässt? Quelle: Sebastian Guggolz (Hg) – Kafka gelesen: Eine Anthologie Vorstellen können wir uns, dass diese Anthologie die Neugier weckt auf Kafka. Und dass sie dazu führt, ihn neu oder wieder zu lesen. Es wäre sicher der schönste Ertrag dieses Buches.…
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1 Hans-Gerd Koch – Kafkas Familie. Ein Fotoalbum 4:09
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4:09Mit seiner Familie hätte Franz Kafka lieber nichts zu tun gehabt. Diesen Eindruck erwecken zumindest bestimmte Passagen in seinen Tagebüchern, Briefen und vor allem sein berühmter „Brief an den Vater“. In diesem Prosatext wird nicht nur der Vater Hermann als übermächtig und übervital porträtiert, auch die Schwestern Elli und Valli werden wenig schmeichelhaft gezeichnet. Die große Ausnahme: Ottla, die jüngste der drei Schwestern. So schreibt der 29-jährige Kafka 1912 an seine spätere Dauerverlobte Felice Bauer: Im übrigen ist meine jüngste Schwester (schon über 20 Jahre alt) meine beste Prager Freundin, und auch die zwei anderen sind teilnehmend und gut. Nur der Vater und ich, wir hassen einander tapfer. Quelle: Hans-Gerd Koch – Kafkas Familie. Ein Fotoalbum Der Dichter im Hauptquartier des Lärms Hier kommen also auch die anderen beiden Schwestern gar nicht so schlecht weg. Aber insgesamt bemüht sich der junge Dichter, das Image des vom familiären Trubel in der elterlichen Wohnung Gemarterten zu kultivieren, im „Hauptquartier des Lärms“, wie er schreibt. Dass der neue Text-Bild-Band des Kafka-Herausgebers Hans-Gerd Koch den Titel „Kafkas Familie“ und den Untertitel „Ein Fotoalbum“ trägt, könnte deshalb verwundern. Aber ebenso, wie die Arbeit des promovierten Juristen Franz Kafka bei der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt nicht die reine Fron war, sondern ein vergleichsweise lauer Job mit Feierabend ab mittags um zwei, ebenso wenig ist Kafka vorstellbar ohne seine große Verwandtschaft. Hans-Gerd Koch dokumentiert dies mit mehr als 100 Fotografien, zum Großteil aus dem vom Verleger Klaus Wagenbach aufbewahrten Kafka’schen Familien-Archiv, ergänzt um schlaglichtartig ausgewählte Auszüge aus Tagebuchnotizen und Briefen. Anhand der so eingeordneten Aufnahmen führt der Herausgeber durch die Familiengeschichte, von den Großelternpaaren Kafka und Löwy über die Eltern Julie und Hermann Kafka und deren zahlreiche Geschwister bis zu den Kindern der Schwestern Elli, Valli und Ottla, Franz‘ Nichten und Neffen also, für die der Onkel sich durchaus und sehr wohlwollend interessierte. Unverdüsterte Mitteilungen aus der Sommerfrische In einigen dieser Briefe ist Kafka ganz der verantwortungsvolle große Bruder, der etwa der Schwester Elli nahelegt, sie möge ihre kleine Tochter in die Reformschule Dresden-Hellerau schicken. In anderen schreibt er aus der Sommerfrische in böhmischen Bädern, an der Ostsee oder, nach Ausbruch seiner Tuberkulose-Erkrankung, bei Schwester Ottla, die während des Ersten Weltkriegs das Gut ihres Schwagers bewirtschaftete. Ihr vom Kriegsdienst freigestellter Bruder genoss derweil den heiteren Landaufenthalt, wie er im September 1917 einem Freund schreibt: „Dabei sieht mich infolge vorteilhafter Anlage der nächsten Umgebung kaum irgendjemand, was bei der komplicierten Zusammenstellung meines Liegestuhles und bei meiner Halbnacktheit sehr angenehm ist. [...] Vielleicht werde ich noch Dorfnarr werden, der gegenwärtige, den ich heute gesehen habe, lebt eigentlich wie es scheint in einem Nachbardorf und ist schon alt.“ Quelle: Hans-Gerd Koch – Kafkas Familie. Ein Fotoalbum Franz Kafka ließ sich nicht gern fotografieren. Von den bekannten Kinderbildnissen und Passfotos abgesehen, ist er nur auf wenigen der Schnappschüsse und Gruppenbilder vertreten. Umso reichlicher sind die Aufnahmen der Verwandtschaft. Auf diese Weise vervollständigt sich nicht nur das Porträt Franz Kafkas, es entsteht auch ein Zeitbild jüdischen Aufstiegs in den letzten Jahrzehnten des Habsburgerreichs und der Umbrüche, die Weltkrieg und Gründung der tschechoslowakischen Republik mit sich brachten. Hans-Gerd Koch fasst in seiner Nachbemerkung zusammen, wie es für die Familie nach Kafkas Tod am 3. Juni 1924 weiterging. Während der deutschen Besatzung starben alle drei Schwestern Anfang der Vierzigerjahre in Konzentrationslagern, auch viele der Nichten und Neffen, deren Kinderbildnisse in diesem Album versammelt sind, wurden ermordet. Angesichts dessen wirken die fotografischen Zeugnisse dieses lebendigen Familienzusammenhangs umso eindrücklicher.…
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1 Günter Karl Bose – Kafka im Ostseebad Müritz (1923) | Buchkritik 4:09
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4:09Meer und Wald-in diesen beiden Worten liegt der Zauber Müritz. Still und friedlich ist Müritz, kein Luxusbad, doch auch nicht altmodisch, sondern ein wirkliches Erholungsbad. Quelle: Günter Karl Bose – Kafka im Ostseebad Müritz (1923) Für Franz Kafka wird der verträumte Ort an der Ostsee mit viel Wald und Wellen, Sonne und Strand einen letzten, ungeahnten Sommer bereithalten: vier Wochen des Jahres 1923, die sein Leben noch einmal und grundlegend verändern. Davon ahnt Kafka noch nichts, als er sich am 10. Juli auf die Reise begibt. Es geht ihm sehr schlecht. Ein letzter, ungeahnter Sommer für Franz Kafka im Jahr 1923 Vor einem Jahr ist er vorübergehend pensioniert worden, regelmäßige Büroarbeit kann er nicht mehr leisten. Immer wieder drücken ihn Fieberanfälle oder Magen-Darmkrämpfe nieder. Die Tuberkulose schreitet voran, Kuren zeigen keinen Erfolg. Die schrecklichen Zeiten, unaufzählbar, fast ununterbrochen. Spaziergänge, Nächte, Tage, für alles unfähig außer für Schmerzen. Quelle: Franz Kafka notiert der Niedergeschlagene am 12. April 1923 in sein Tagebuch. Wenige Wochen später aber wagt er zusammen mit seiner Schwester Elli und deren Kindern die Fahrt nach Müritz. Sie wohnen im Haus „Glückauf“, Kafka bezieht ein Zimmer im zweiten Stock mit Blick auf den Wald. 50 Schritte von meinem Balkon ist ein Ferienheim des jüdischen Volksheims in Berlin. Durch die Bäume kann ich die Kinder spielen sehen. Fröhliche, gesunde, leidenschaftliche Kinder. Die halben Tage und Nächte ist das Haus, der Wald und der Strand voll Gesang. Wenn ich unter ihnen bin, bin ich nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks. Quelle: Franz Kafka Folgenreiche Begegnung mit Dora Diamant Bereits drei Tage nach Ankunft im Ostseebad hat sich die Stimmung Kafkas deutlich aufgehellt, wie seinem Brief an den Schulfreund Hugo Bergmann zu entnehmen ist und es wird nicht mehr lange dauern, bis er in eben jenem Haus des Jüdischen Volksheims Dora Diamant begegnet. Sie arbeitet dort als Wirtschafterin und Köchin. Dora stammt aus einer Familie orthodoxer Juden in Lodz. Um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, hat sich die junge Frau bis Berlin durchgeschlagen und eine Anstellung gefunden. Den Sommer verbringt sie nun in Müritz. Eines Abends kommt Kafka, um den Sabbat mitzufeiern. Zum ersten Mal richtet er das Wort an Dora Diamant. Sie beschreibt es in den wenigen von ihr erhaltenen Notizen. Als ich von meiner Arbeit aufblickte – der Raum hatte sich verdunkelt, es stand jemand draußen vor dem Fenster – erkannte ich den Herrn vom Strand wieder . Dann trat er ein – ich wusste nicht, dass es Kafka war und dass die Frau, mit der ich ihn am Strande zusammen gesehen hatte, seine Schwester war. Er sagte mit sanfter Stimme: ‚So zarte Hände, und sie müssen so blutige Arbeit verrichten!‘ Quelle: Dora Diamant Eine folgenreiche Begegnung Sie ist die erste Frau, mit der er sich ein gemeinsames Leben vorstellen kann, ein „anderes Leben“ in Berlin, nicht in ferner Zukunft, vielleicht im nächsten Monat schon. Nun hat er dafür eine „Komplizin“ gefunden. Erzählen wird er es niemandem. Noch können die Dämonen, die seit Jahren seinen Spuren folgen, die Pläne durchkreuzen. Quelle: Günter Karl Bose – Kafka im Ostseebad Müritz (1923) befürchtet mit Kafka der in Wort und Gestaltung feinsinnige Günter Karl Bose. In seinem wunderbar gestalteten Buch „Franz Kafka im Ostseebad Müritz (1923)“ beschreibt und bebildert der Germanist und Typograf die letzte große Vision des todgeweihten Autors. Ein bibliophiles Kleinod Was alles Platz findet in diesem bibliophilen Kleinod! Annoncen, Fotos, historische Beschreibungen, Karten des Ostseebades Müritz, Abbildungen der Häuser und Bewohner bereichern den sorgsam recherchierten Text. Dieser, immer aufs Neue durchfurcht von Zitaten, Briefen oder Berichten, erzählt nicht nur die Geschichte von Kafka und Dora Diamant (die glückliche in Müritz wie auch die traurige danach). Doras Kollegin und spätere Palucca-Tänzerin Tile Rössler erfährt ebenso ausführliche Erwähnung wie die Geschichte des Jüdischen Volksheims und seiner Gründer oder auch der Pension „Glückauf“ und was aus ihr wurde. Die Lektüre dieses Buches gleicht einer Reise – an die See und in die Seele eines großen Sommers.…
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1 Carlos Fonseca – Ein außergewöhnlicher Schriftsteller aus Costa Rica 6:00
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6:00Carlos Fonseca kommt aus einem Land, das bei uns nicht gerade für seine Literatur bekannt ist, sondern eher für seine Schönheiten. Dieser 37-jährige Schriftsteller gilt jedoch bereits als „einer der 25 wichtigsten jüngeren Schriftsteller der spanisch-sprachigen Welt“. Dazu hat ihn jedenfalls vor einigen Jahren die einflussreiche, englische Literaturzeitschrift Granta-Magazine erklärt. Ich war also sehr gespannt auf diesen Autor aus einem Land, von dessen literarischen Stimmen sich bei uns bisher keine wirklich eingeprägt hatte. Liegt das nur an der Ignoranz unseres Buchmarktes? – fragte ich ihn. Und Carlos Fonseca begann unser Gespräch mit einem Zitat. Ein costa-ricanischer Kollege, den ich sehr schätze, Carlos Cortés, eröffnete seinen Roman Kreuz des Vergessens mit den ironischen Worten: „Über was soll man in einem Land schreiben, in dem nichts passiert bis zum Big Bang.“ Es ist nun mal so: Anders als in Nachbarländern wie Guatemala oder Nicaragua oder El Salvador, deren Geschichte eine Fülle von Gewalttaten, von politischen und klimatischen Katastrophen charakterisiert, kennzeichnet Costa Rica ein fortgesetzter Frieden. Deshalb dürfte unsere Literatur weniger sichtbar geworden sein als die der anderen Länder. Aber auch sie besitzt eine reiche Tradition. Quelle: Carlos Fonseca Bruch mit der literarischen Tradition Carlos Fonseca hat sie mit den drei Romanen, die er bisher veröffentlicht hat, auf außerordentliche Weise fortgesetzt. Er bricht darin mit dem traditionellen Erzählkanon der lateinamerikanischen Literatur, verzichtet auf eine sich linear entfaltende Story, fragmentiert vielmehr das Geschehen, besonders in Austral, seinem dritten Roman. Darin geht es um einen costa-ricanischen Schriftsteller, der den Auftrag erhält, das letzte Manuskript einer verstorbenen Freundin herauszubringen, von der er sich vor dreißig Jahren getrennt hat. Er begibt sich dazu auf eine Suche nach dieser Vergangenheit und damit seiner eigenen Identität. Carlos Fonseca beschreibt die Wege und Irrwege individueller und kollektiver Erinnerung mit einer Fülle von kulturellen, philosophischen, literarischen und historischen Bezügen oder Chroniken. Wir leben ja nicht in einem luftleeren Raum, sondern inmitten von Plänen und Ideen unserer Vorgänger, die ähnliche Fragen wie wir heute zu beantworten versuchten. Und deshalb bewegen sich meine Figuren auf den verschiedenen Ebenen der Vergangenheit, erinnern sich an Utopien und Dystopien, um von ihnen zu lernen. Ich möchte die Ideengeschichte, zumindest ihre Restbestände sichtbar machen, und so ist eine Collage von Geschichten anstelle einer linearen, klassischen Erzählweise entstanden. Quelle: Carlos Fonseca Autobiographische Bezüge Dieser Julio scheint autobiografische Züge seines Urhebers zu haben. Beide sind in Costa Rica geboren und leben seit langem im Ausland, vor allem in den USA. Nur hat Fonseca an der Princeton University promoviert, ist inzwischen nach England übergesiedelt und arbeitet an der University von Cambridge als Professor für lateinamerikanische Literatur. Gibt es darüber hinaus autobiografische Details? Julio ist Akademiker wie ich, ist Costa-Ricaner, lebt seit langem in den USA und beginnt sich irgendwann zu fragen, ob er überhaupt noch Lateinamerikaner ist oder nicht überall ein Fremder. Er glaubt sogar, seine Sprache zu verlieren, denn er vergisst spanische Wörter. Er fühlt sich als Fremder, als Tourist in Lateinamerika und denkt daran, zurückzukehren. Im Roman gelingt ihm das, weil er dieses Manuskript herausgeben will. Dabei findet er seine alten Wurzeln wieder. Aber was bedeutet wirklich Rückkehr? Das sind Fragen, die auch ich mir immer wieder stelle nach so vielen Jahren im Ausland. Quelle: Carlos Fonseca Ergründung der karibischen Wurzeln In seinem nächsten Roman, an dem er gerade schreibt, wird es jedoch um eine ganz andere Frage gehen. Denn Carlos Fonseca ist zwar in Costa-Rica geboren, doch in Puerto Rico aufgewachsen, wo seine Mutter zu Hause ist. Und deshalb will er endlich seine puertoricanischen, seine karibischen Wurzeln ergründen. Doch erstmal wird er in Kürze den Anna-Seghers-Preis in Empfang nehmen. Die große, deutsche Schriftstellerin hat von 1941-1947 in Mexico im Exil gelebt, und deshalb wird der nach ihr benannte Preis auch jeweils an einen lateinamerikanischen Autor oder eine Autorin vergeben. Was bedeutet er für Carlos Fonseca? Er hat für mich einen sehr großen Stellenwert, denn durch ihn wird eine literarische Region wie Costa Rica, wie Mittelamerika wieder einmal sichtbar gemacht. Aber er hat auch durch den großen Namen von Anna Seghers besonderes Gewicht. Kurioserweise habe ich in der letzten Zeit an einer Studie über den berühmten kubanischen Künstler Wifredo Lam geschrieben, der auf demselben Schiff wie Anna Seghers von Marseille aus seine Reise nach Lateinamerika angetreten hat. Für ihn eine Rückreise, für sie eine Fahrt ins Exil. Als ich von dem Preis erfuhr, steckte ich also bereits tief in dieser transatlantischen Vorstellungswelt von Anna Seghers und der Beziehung zwischen Europa und Lateinamerika. Quelle: Carlos Fonseca Dem zentralen literarischen Thema von Carlos Fonseca, einem außergewöhnlichen Autor aus Costa Rica.…
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da ist die hosentasche, da der strohhalm, da das feuerzeug in der zigarettenschachtel aus papier, das ist unser land, unberechenbar wie april das ist unser körper, eine durchgeschüttelte flasche krimsekt, die wir huckepack richtung morgenlicht tragen Quelle: Max Czollek – Gute Enden (Gedicht: Gemeinsame Kriege) „Gute Enden“ heißt der neue Gedichtband von Max Czollek – ein Titel wie eine Irreführung, denn es ist ja gar nichts gut in unserer Gegenwart und wird wahrscheinlich auch nicht gut enden. Seit dem erweiterten Angriffskrieg auf die Ukraine, seit dem 7. Oktober 2023, seit Hanau oder seit dem Treffen Rechtsradikaler in Potsdam – ist die Hoffnung endgültig verschüttet, dass die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts beendet wurde. „ Und plötzlich sind wir in einer Situation, die auf so vielen Ebenen klar macht, wir sind jenseits dieser Guten Enden. Und welche Sprache, auch welche Sprache für die Emotionen, die das auslöst, brauchen wir jetzt eigentlich? Und ich habe schon den Eindruck - und aus diesem Eindruck heraus ist glaub ich auch dieser Gedichtband gehoben, wenn man so will – dass wir in einer ziemlich heftigen Verleugnungsphase gerade sind: wir wollen uns dieser neuen Realität nicht stellen.“ Traurigkeit auf 125 Seiten Der Gedichtband „Gute Enden“ stellt und stemmt sich jedoch mitten hinein in diese Realität, in diese Gegenwart. Auf 125 Seiten türmt sich Traurigkeit und spannt ihr Netz in Raum und Zeit. Das lyrische Ich bereist die Welt, hat die Trauer immer im Gepäck und findet sie auch vor: in Berlin oder Los Angeles, in Vancouver, Venedig, Pompeij, in Tel Aviv und in Prag. Gewaltgeschichte ähnelt sich und verbindet Orte, das bezeugen die Gedichte. Die Sterne im Hollywood Boulevard erinnern an Stolpersteine, des einen Exil ist des Anderen Vertreibung. Von überall schickt ein ramponiertes Herz Ansichtskarten von der Schlaflosigkeit. Es ist beeindruckend und bewegend, mit welcher Sprache Max Czollek die tiefe Verstörung herausarbeitet, die sich dem lyrischen Ich in den Gegenwartsphänomenen offenbart. Eine bildlich komplexe Sprache, die sich nicht zufriedengibt, mit den äußeren Erscheinungen, sondern stehen bleibt, Schichten von Geschichte abträgt, genau hinsieht. In dieser Sprache hat alles seine Unschuld verloren, auch die vermeintlich schöne Natur. Wenn in Brandenburg „für jeden der danach greift / Gärten blühender Zucchinischläger“ bereit liegen, dann evoziert das eine Landschaft, in der die Gewalt tatsächlich verwurzelt ist, in der selbst die Früchte an Baseballschläger und rechten Terror erinnern. „Dachte ich könnte keine Idyllen, nichts ohne Zweifel mehr schreiben“ heißt es an anderer Stelle. „ Lyrik ist eine Form, zu der ich seit langer Zeit immer wieder zurückkehre. Ist sicher der Punkt auch von dem ich gestartet bin, und zwar nicht nur persönlich künstlerisch, sondern auch familiär. Mein Vater war Lyriker, mein Großvater war Verleger und hat unter anderem Lyrik verlegt. Lyrik ist sehr sehr nah an mir dran und damit auch nah an einem Gespräch mit den Toten, was ich als ein Kernstück meiner Kunst verstehen würde. Zu sagen: das ist die Möglichkeit, diese Oberfläche des Lebenden zu durchbrechen in eine Vergangenheit .“ Wachheit für die Wiederholung für Geschichte Die Vorfahren von Max Czollek wurden im Nationalsozialismus ermordet, nur der Großvater Walther Czollek überlebte im Exil. Ihm mitgegeben ist deshalb vielleicht eine besondere politische Wachheit, wie es in dem Gedicht „ich komme vom stamme der asra“ in Anlehnung an Heine deutlich wird. Diese Wachheit für die Wiederholung von Geschichte sowie die Tatsache, dass die gewaltsamen Ereignisse nicht jeden gleichermaßen betreffen oder zu interessieren scheinen – dieses Auseinanderdriften von gesellschaftlicher Wahrnehmung, all das bündelt sich in den unerbittlichen Beobachtungen des lyrischen Ich. Wie in der Zeile: manche stehen schon in flammen / andere riechen nicht einmal den rauch. Quelle: Max Czollek – Gute Enden In dem Eröffnungsgedicht des Bandes „Eigentlich hätten wir ja den Reichstag stürmen müssen“ werden die Ereignisse in einem poetischen Akt des Widerstands umgedichtet. Lyrik als Ort der Trauer, aber auch als Möglichkeit, für einen Moment die Dinge umzukehren: treffen uns am wannsee, laden alle ein die verstreut auf feldern, unter trümmern verschüttet verbrannt in wohnungen, aus straßenbahnen geschleudert abschied genommen haben schreiben tausendfach: wir vermissen euch, wir sind weiter ohne jede fassung, wir hätten euch verdammt nochmal gebraucht all die tage, jahre Quelle: Max Czollek – Gute Enden (Gedicht: Eigentlich hätten wir ja den Reichstag stürmen müssen ) Gedichte wie die Alpträume unserer Gegenwart Gedichte müssen so schrecklich sein wie unsere Gegenwart, wie Alpträume, aus denen wir schweißgebadet erwachen – so wird in dem Gedicht „unsere gemeinsamen kriege“ die existenzielle Aufgabe von Lyrik beschrieben. Hoffnung besteht vielleicht nur noch darin, dass diese Gedichte jemanden erreichen: denke meine gedichte als lunte, die in eure herzen reicht. eure ohren als letztes streichholz in meiner aufgeweichten packung Quelle: Max Czollek – Gute Enden (Gedicht: Unsere gemeinsamen Kriege) „ Ich schreibe doch keinen ganzen Gedichtband über die Guten Enden oder das, was danach kommen wird, wenn es mir egal wäre. Ich glaube, es gibt eine große Trauer, die im Zentrum meiner Arbeit steht, die ist familiär, die ist über Generationen jetzt weitergegeben worden – und diese Trauer wächst natürlich auch aus einem großen Verlust. Sicher auch aus einer großen Liebe zu dem, was nicht mehr da ist oder zu dem, was man verliert gerade - immer und immer wieder. Und was das eigentlich heißt, dass diese Dinge einem andauernd verloren gehen? Und ich glaube, sich darüber immer wieder zu empören, dieses Gefühl nicht fallen zu lassen – das scheint mir doch eine Aufgabe meiner Kunst zu sein, vielleicht auch eine Aufgabe einer Kunst, die mich interessiert.“ „Gute Enden“ ist ein Buch der Unruhe - ein großer Gedichtband, der an der Erkenntnis festhält, dass wir durch die Trauer und Traurigkeit hindurchmüssen. Sprache, die klarmacht, nur so sind die Kontinuitäten von der Gewalt der Geschichte zu verstehen. Gedichte, die auf schreckliche Weise gegenwärtig sind und zum Glück gekommen, uns zu stören.…
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Die Schlaflosigkeit nimmt in unserer Gesellschaft rasant zu. Was sind die Ursachen? Theresia Enzensberger widmet dem Schlafen und auch seinen politischen Implikationen jetzt ein sehr interessantes Buch.
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1 Sterne, Schlaf, Italo-Pop – Der neue Knausgård und andere neue Bücher im lesenswert Magazin 55:06
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55:06Theresia Enzensberger ist eine von vielen Schlaflosen: Jetzt hat sie den politischen Implikationen und den heilenden Kräften des Schlafes ein interessantes Buch gewidmet. Wir sprechen mit ihr. Suchtpotential: Der neue Roman von Karls Ove Knausgård Der Norweger Karl Ove Knausgård legt den dritten Teil seines neuen Roman-Großprojektes vor: „Das dritte Königreich“ . Ein Buch, das süchtig nach mehr macht, findet unser Kritiker. In Mainz wird der puerto-ricanische Schriftsteller Carlos Fonseca mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet. Wir haben mit ihm über sein großes Thema Erinnerung und den aktuellen Roman „Austral“ gesprochen. Italienische Popmusik ist auch in Deutschland sehr beliebt - kaum etwas anderes bringt einen so direkt in eine gewisse, lässige Urlaubsstimmung wie Italo-Pop: Der Musikjournalist Eric Pfeil widmet in „Ciao, Amore, ciao“ 100 alten und neuen Songs kluge und die Italien-Sehnsucht befeuernde Betrachtungen. Wiederbegegnung mit Agatha Christie Unvergessen sind Figuren wie der sehr von sich überzeugte belgische Privatdetektiv Hercule Poirot und die schrullige britische Miss Marple: Schöpfungen der Krimi-Königin Agatha Christie. Jetzt gibt es eine schöne Wiederbegegnung mit ihnen in einem „Very best of“-Hörbuch. Max Czollek ist vor allem bekannt als streitbarer Zeitgenosse, unermüdlicher Twitterer und Autor von politischen Essays. Er kann auch leisere Töne anschlagen, wie er in seinem neuen Gedichtband „Gute Enden“ beweist. Gut ist darin allerdings nichts - ein Buch der Trauer und der Unruhe. Musik: Angèle - Nonante-Cinq La Suite Label: Angèle VL records Lucio Battisti - Il mio canto libero Label: Numero Uno Milva - Alexanderplatz Label: EMM…
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1 Eric Pfeil – Ciao Amore, ciao. Mit 100 neuen und alten Songs durch Italien 5:17
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5:17Mit dem Schlager „Abbronzatissima“ – „stark gebräunt“ von Edoardo Vianello beginnt Eric Pfeils zweite musikalische Italienrundreise. Dass dieser Sommerhit aus dem Jahr 1963 den Auftakt bildet, ist zwar schlicht der alphabetischen Aufzählung nach Liedtiteln geschuldet. Aber auch inhaltlich ergibt es Sinn: Die Wirtschaft boomt, Italien hebt ab ins scheinbar ewige Blau, und da darf es an leichtfüßigem Liedmaterial nicht mangeln. Doch nicht genug damit, dass hier eine italienische Musiktradition ihre Geburt erlebt; wir dürfen gewissermaßen dabei sein, wie Italien, so wie wir es kennen, sich überhaupt erst erfindet. Der Großteil dessen, was wir heute als „typisch italienisch“ wahrnehmen – Esskultur, Aperitivo-Tradition, Caffé-Rituale, Mode, Kino, Musik – ist ein Produkt der Nachkriegszeit und des „Boom economico“, des wirtschaftlichen Aufschwungs. „Abbronzatissima“ ist in diesem Sommer 1963 mithin der Soundtrack zur Erschaffung der italienischen Leichtigkeit. Quelle: Eric Pfeil - Ciao Amore, ciao Ein Buch wie eine riesige gemischte Antipasti-Platte 100 Lieder in 100 Kapiteln – wie schon das erste Italien-Buch von Eric Pfeil ist auch dieser Band wie eine riesige gemischte Antipasti-Platte: bunt, abwechslungsreich, überraschend, aber auch tiefgründig. So erklärt der Autor beispielsweise anhand von Ivano Fossatis „La mia banda suona il rock“ das Verhältnis des Einzelnen zur Nation. Der Genueser Fossati nahm das Album 1979 in den USA auf, um der provinziellen Kleinteiligkeit seiner Heimat zu entfliehen. Man denkt weniger national als regional – als piemontese, napoletano oder pugliese. Sich kollektiv unter dem Banner Italia zu versammeln, fällt den Bewohnern des Bel Paese bis heute schwer. In Italien spricht man vom Campanilisimo, der extremen Bezogenheit auf den örtlichen Glockenturm. Quelle: Eric Pfeil - Ciao amore, ciao Leidenschaftlicher Italien-Forscher Pfeil, das scheint auf jeder Seite durch, ist nicht einfach nur Tourist. Er ist ein leidenschaftlicher Italien-Forscher, der das Land in all seiner kulturell und regional fragmentierten Gesamtheit erfassen will. Dafür hat er es über Jahrzehnte hinweg bereist, sich in die Geschichte eingelesen und mit vielen Menschen gesprochen. Dieses Wissen vermittelt er uns anhand der ausgesuchten Lieder. Ich gehör erstmal auch zu diesen Leuten, die sich unschuldig in dieses Land verknallt haben – sah einfach alles besser aus, war sehr überzeugend, zumal wenn man wie ich aus Bergisch Gladbach kommt. Irgendwann läuft man dann natürlich vor sehr viele Wände. Dann stehen die Widersprüche im Raum herum. Der Katholizismus, die Frauen, die Männer, die Mütter, die Mafia…. Die Musik, die für mich immer parallel lief, die ich auch immer faszinierend fand, weil sie so ein anderes Flirren hatte als anglo-amerikanische Musik, hat sich für mich irgendwann als das Mittel herausgestellt, mit dem man das Land wirklich verstehen kann. Quelle: Eric Pfeil Große Themenvielfalt der italienischen Popmusik Weil, so Pfeil, in der Musica leggera, wie sie in Italien heißt, wirklich jedes Thema abgehandelt werde. Die Anni di piombo, die bleiernen Jahre des Links-Rechts-Terrors in den 70ern, haben genauso ihre musikalische Entsprechung wie die LGBTQ-Bewegung oder die Rückkehr des Rechtspopulismus. Wir erfahren zudem, welche Künstler politisch wo zu verorten zu sind, und Pfeil erinnert daran, wie wichtig das San Remo-Festival für italienische Liedkultur ist. Und dass die wahren Superstars des italienischen Lieds nicht die sind, die wir in Deutschland dafür halten - statt Ramazotti, Zuccero und Cutogno nämlich: De Andre, di Gregorio, Mina und immer wieder Lucio Battisti. Manchmal versteigt sich Pfeil etwas in seinen Formulierungen, verfällt dann in eine Art Jugendfreizeitleiter-Sprech der 80er-Jahre oder in Manager-Denglisch: da wird mächtig aufs Pedal gedrückt, direkt durch den Käse geschnitten und Themen werden adressiert, statt sie – nun ja – eben einfach an- oder auszusprechen. Das jedoch sind lässliche Verfehlungen dieses Reiseführers der anderen Art. Eric Pfeil trifft darin nämlich genau den Ton, den er am Gegenstand seiner Betrachtung so liebt: glitzernd und flirrend.…
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1 Karl Ove Knausgård – Das dritte Königreich 6:08
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6:08Eine der vielen Figuren im literarischen Kosmos von Karl Ove Knausgård ist der Architekt Helge. Zu seinem 60. Geburtstag hat eine große norwegische Tageszeitung ein Interview mit ihm geführt, das er nun zu Hause in seinem Arbeitszimmer liest. Da sagt er unter anderem: Ich glaube, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Und dass das, was zwischen den Menschen entsteht, was wir gemeinsam erschaffen, mehr ist als das, was jeder für sich ist. Und dass das vielleicht eine Form des Göttlichen ist. Quelle: Karl Ove Knausgård Eine Summe von Selbstporträts, die größer ist als ihre Teile An dieser Stelle hört der Architekt auf weiterzulesen, weil er den Blick auf sich selbst und seine Bedeutungshuberei nicht länger erträgt. Und doch sind diese Sätze zentral, weil sie genau das beschreiben, was Knausgård literarisch unternimmt: Alle seine Figuren – sympathische und weniger sympathische – sind gleich viel wert, schon deshalb, weil sie alle als Ich-Erzähler auftreten. Aus der Summe der Selbstporträts erschafft Knausgård zugleich etwas, das größer ist als jede einzelne Person. Da ist zum Beispiel der Lehrer Gaute, der von einer krankhaften Eifersucht auf seine Frau umgetrieben wird. Seine Frau Kathrine, eine Pastorin, ist von ihm schwanger, hat es ihm aber noch nicht gesagt, denn sie denkt über Trennung nach. Da ist der Polizist Geir, der einen grausamen Ritualmord an drei jungen Musikern einer Black-Metal-Band aufklären soll und der zwischen zwei Frauen lebt, die nichts voneinander wissen. Oder die neunzehnjährige Line, die sich in einen so undurchschaubaren wie attraktiven Philosophiestudenten verliebt und ihm zu einem geheim gehaltenen Konzert auf dem Land hinterher reist. Am Himmel erscheint ein neuer Stern „Das dritte Königreich“ ist der dritte, mit 650 Seiten vergleichsweise schmale Band eines groß angelegten Romanprojektes. Man muss die beiden ersten Bände nicht gelesen haben, um in den dritten hineinzufinden, doch ohne Kenntnis der früheren entgeht einem Vieles. Die Figuren und die Ereignisse sind zum größten Teil bekannt, denn Knausgård schildert erneut dieselben zwei Tage, bevor ein mysteriöser neuer Stern am Himmel erscheint. Nun jedoch dreht er Perspektiven um. So schilderte im ersten Band mit dem Titel „Der Morgenstern“ der Literaturwissenschaftler Arne seine Ferien mit den drei Kindern und seiner Frau Tove an einem fischreichen Fjord. Tove erleidet dort einen psychotischen Schub, so dass er sie schließlich in die Psychiatrie bringen muss. Jetzt erzählt Knausgård dieselbe Episode aus ihrer, Toves Sicht, so dass sich aus dem Bekannten eine ganz andere Ereignisfolge ergibt. Er erzählt nicht weiter, sondern verharrt an selber Stelle und geht über neue Einzelheiten in die Tiefe. Das ist raffiniert gemacht und aufregend zu lesen, weil es zeigt, wie sich Wirklichkeit und Wahrnehmung unterscheiden, wie Rationalität und Wahn als zwei Systeme getrennt nebeneinander existieren und die Figuren dennoch in derselben Welt leben. Tove ist es dann auch, die in ihrem Wahn als erste erfasst, dass sich seltsame Phänomene ereignen. Sie hört Stimmen, die zu ihr sprechen: In zwei Tagen wird ein Stern am Himmel aufsteigen. Die Tore zum Totenreich werden sich öffnen. Du wirst sehen, was kein anderer sehen kann. Das ist unser Geschenk an dich. Quelle: Karl Ove Knausgård – Das dritte Königreich All das sind spannende Geschichten, die Knausgård auch in diesem Band nicht zu Ende erzählt, sondern gekonnt in der Schwebe hält. Doch es geht ihm nicht primär um den Plot, sondern viel mehr um die Frage, was der Mensch überhaupt ist und was die Substanz des Lebens ist. Auch in diesem dritten Band lotet er immer wieder die Grenze von Leben und Tod aus und stellt dem detailversessen dargestellten Alltag das Unerklärliche, Unbegreifliche gegenüber. Dafür steht symbolhaft der neue Stern als Menetekel am Nachthimmel. Seit er erschienen ist, so stellt sich heraus, sind in ganz Norwegen keine Menschen mehr gestorben. Selbst ein Mann, der nach einem Unfall mit schweren Hirnschäden im Koma liegt und der von den Ärzten schon für tot erklärt wurde, zeigt zum Erstaunen der Mediziner Spuren von Bewusstsein. Knausgård wagt es sogar, ein Kapitel aus der Perspektive dieses Komapatienten zu schreiben und dessen traumartige Gedankenschleifen abzubilden. Die Experten, die sich über ihn beugen, versuchen, das Bewusstsein zu messen und zu verstehen, was ein Gedanke ist. Kann es Gedanken geben, wo kein Bewusstsein ist? Oder umgekehrt? Was ist ein Gedanke überhaupt? Und wie kann es sein, dass die fleischliche Materie des Leibes Immaterielles wie das Bewusstsein hervorbringt? Es war wie ein Blick ins Unbekannte. Es war eine Sprache, aber so fremd und unverständlich, dass sie aus den Tiefen des Weltalls zu uns hätte gesandt sein können. Es war unfassbar, dass wir uns selbst sahen. Dass unsere Kodierung der Welt und all dessen, was wir waren, sichtbar wurde. Das Mysterium bestand darin, dass es sich von innen nicht wie ein Code anfühlte, sondern wie die Welt. Quelle: Karl Ove Knausgård – Das dritte Königreich Dem Mysterium Leben auf der Spur Karl Ove Knausgårds „Das dritte Königreich“ ist wie das gesamte „Morgenstern“-Projekt ein abgründiger philosophischer Roman über die Liebe und das Leben mit Mystery-Elementen und einer Kriminalhandlung. Auch mit diesem dritten Teil ist nichts erklärt und nichts gelöst. Knausgård zieht es vor, Fragen zu stellen, die Unruhe und Unentschiedenheit der Menschen zu zeigen, um gerade durch diese Offenheit das Geheimnis der Existenz zu erfassen. Da draußen in der Welt geschehen viele seltsame Dinge. Das Allermerkwürdigste ist aber das eigene Leben und die Tatsache, als ein „Ich“ in der Welt zu sein. Diesem Mysterium ist Knausgård auf der Spur. Ihm dabei zu folgen ist ein Leseabenteuer mit enormem Suchtpotential.…
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1 "Ich stelle mich schlafend" - Deniz Ohde erzählt von Liebe und Manipulation 56:45
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56:45Als 13-Jährige war Yasemin in Vito verliebt. Mit 35 lässt sie wieder auf ihn ein. Keine gute Idee. In „Ich stelle mich schlafend“ erzählt Deniz Ohde von einer haltlosen jungen Frau.
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Rainald Goetz trägt für seinen Vortrag einen pinkfarbenen Trainingsanzug. Aus einer gar nicht so großen Tasche packt er erstaunlich viele Bücher aus und deponiert sie vor sich auf dem Tisch. Das dauert ein bis zwei Minuten. Dann fördert er Papierstapel zu Tage. Rasch macht er sich noch ein paar letzte Notizen. Dann lässt sich der Vortrag nicht länger aufschieben: Rainald Goetz spricht. So geschehen vergangenen Herbst nach der Uraufführung seines Dramas „Baracke“ am Deutschen Theater in Berlin. So zu sehen auf Youtube. Pretty in Pink am Deutschen Theater Abgedruckt ist dieser Vortrag jetzt in einem Band mit Essays, Gesprächen, Kritiken, Notaten, Tagebüchern aus den letzten zwanzig Jahren. Er erscheint pünktlich zu Rainald Goetz‘ 70. Geburtstag unter dem Titel „Wrong“. Daraus ergibt sich das Bild eines originellen Denkers, seines irrlichternden Suchens, seines präzisen Empfindens und seiner ganz eigenen Art, Dinge und Menschen wahrzunehmen. Als „huschendes Schreiben“ und „flatterndes Denken“ hat Goetz selbst das bezeichnet. Dabei sehnt er sich, wie er 2022 in einem Interview verriet, nach Güte, Zärtlichkeit und Mitleidsfähigkeit. Dass Literatur dennoch „vor Negativität bersten“ soll, wie er 2019 in seinem Arbeitsjournal notierte, muss dazu nicht unbedingt ein Gegensatz sein. Ich träume den irrationalen, extrem simplen Traum von GÜTE, dass die Leute nett miteinander umgehen, rücksichtsvoll, zartfühlend, vernünftig, höflich. Das wäre eine Revolution, das schon, aber die könnte nur jeder für sich selbst machen, wenn er sie machen wollen würde. Quelle: Rainald Goetz – Wrong Der Körper im öffentlichen Raum Berühmt wurde Rainald Goetz 1983, als er sich bei seiner Bachmann-Preis-Lesung mit einer Rasierklinge in die Stirn schnitt und sein Blut aufs Papier tropfen ließ. Inzwischen lehnt er ab, was zu Performance und Verkleidung tendiert, auch wenn der Auftritt im pinkfarbenen Trainingsanzug dagegen sprechen mag. Über sein Erscheinungsbild nachzudenken ist schon deshalb unausweichlich, weil er in seinen Texten immer wieder über die Wirkung von Körpern im öffentlichen Raum nachdenkt. So beobachtete er jahrelang, weil er einen Roman über den Politikbetrieb schreiben wollte, Politikerauftritte im Bundestag. Ein Porträt seines verehrten Verlegers Siegfried Unseld beginnt er damit, wie der raumgreifende Mann sich rasch in den Schritt fasst, während er auf ihn zukommt. Und einen Vortrag im Berliner Wissenschaftskolleg leitete Goetz im Februar 2023 mit der Überlegung ein, was wohl in all den Köpfen vor ihm im Publikum vor sich geht: Was sind das für Leute? Wie reden sie, wie bewegen sie sich, wie schauen sie aus und was haben sie an? Wie also drückt ihr körperliches Sein, ihre Kleidung und ihr Habitus das aus, was sie gedanklich sind. Wie steht das im Verhältnis zueinander, wie passt es zusammen? Quelle: Rainald Goetz Jung mit 70 Rainald Goetz ist auch mit 70 noch jung, weil er sich eine unstillbare Neugier auf alles Gegenwärtige bewahrt hat. Coolness lehnt er erklärtermaßen ab. Sie passt schon deshalb nicht zu ihm, weil er sich vor allem durch eine überbordende Begeisterungsfähigkeit auszeichnet; das verbindet alle die disparaten Texte in „Wrong“. Goetz ist ein manischer Leser und auch ein vorzüglicher Kritiker, der aggressive Gedankenschärfe mit Empathie verbindet. So schrieb er unter anderem über Michel Houellebecq, über Joachim Bessing und die Popliteratur und immer wieder über Wolfgang Herrndorf und dessen Suizid, betätigte sich aber auch als Kunstkritiker, als er 2007 anlässlich der Berliner Impressionisten-Ausstellung über das Licht nachdachte. All sein Schreiben ist eine fortgesetzte, unendliche Verstehensbemühung. In „Wrong“ kann man Rainald Goetz dabei zuschauen. Seine quecksilbrigen „Textaktionen“ sind Protokolle dieser das Leben ausmachenden Gedankenbewegung. Das macht sie so lebendig wie unberechenbar.…
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Folgen des Klimawandels In Spanien sind die Folgen des Klimawandels früher und heftiger spürbar als in Deutschland. Dürren und Starkregen führen zu hohen Ernteeinbußen und vermindern die Bodenqualität. Der 44 -jährige Fotojournalist und Hobby-Landwirt Daniel Etter beobachtet in seinem Buch „Feldversuch“, was dies in seiner Wahlheimat Spanien ganz konkret bedeutet: Etter folgt dem Lauf der Jahreszeiten auf seinem Hof in Katalonien, wo nach einem vielversprechenden Aufleben im Frühjahr die Pflanzen in der Sommerhitze kläglich verdorren. Er begibt sich auf die Suche nach Landwirten und überzeugten Quereinsteigern, die mit regenerativem Landbau neue Wege gehen. Die Rückbesinnung auf traditionelle Landbewirtschaftung ohne künstliche Düngemittel ist hier einer von vielen Ansätzen. In der Landwirtschaft sieht der Autor den größten Hebel, der uns im Kampf gegen die Klimakatastrophe verblieben ist. Auf der Suche nach Alternativen Journalistisch kommen in diesem Sachbuch die Vorteile der klassischen Reportage wieder zu Ehren. Daniel Etter recherchiert zwar auch Daten und Fakten im Internet, aber seine sinnlichen Eindrücke vor Ort sind durch kein online-Interview zu ersetzen. Er lernt Waldgärtner, Umweltaktivistinnen, ein junges Schäferehepaar und einen Biobauern persönlich kennen und geht mit ihnen in England, Frankreich und Deutschland über Felder, Äcker und Weiden. So bekommt er ein Gespür für die körperliche Anstrengung, die etwa mit den steilen Anstiegen in den französischen Cevennen verbunden ist und kann die psychischen Herausforderungen eines Landwirts nachempfinden, der in Brandenburg kilometerweit auf knochentrockenen Boden schaut. Etter sieht den Regenwürmern bei der Auflockerung des Bodens zu, teilt einfache Mahlzeiten mit zwei Schafhirten und provoziert den Zorn seiner Nachbarn, als er das Gras auf seinem Grundstück nicht kurz hält, sondern hoch wachsen lässt. Immer wieder probiert er neu Erlerntes auf seinem Hof aus und muss dabei auch Niederlagen verkraften. Als Leserin merkt man bald: Es gibt nicht die eine alternative Methode, mit der ausgelaugter Boden nach jahrzehntelanger Ausbeutung wieder in nährstoffreiches Ackerland verwandelt werden kann. Herauszufinden, was wo unter welchen Bedingungen funktioniert, erfordert Geduld und feinstes Austarieren. Auch Leserinnen und Leser, die nichts mit Landwirtschaft zu tun haben, werden dieses Buch mit Interesse lesen, denn es vermittelt wichtige Grundsatzeinsichten. Ob es um die Speicherung von Kohlenstoff im Boden geht, um den Verzicht aufs Pflügen oder um klimaresistente Gemüsegärten: Entscheidend ist die Haltung, die wir alle gegenüber Boden und Tieren auf dieser Erde einnehmen. Das macht der Umweltrechtsanwalt Gus Speth deutlich, den Etter in seinem Buch zitiert: Ich dachte, dass die größten Umweltprobleme der Verlust von Biodiversität, der Zusammenbruch von Ökosystemen und Klimawandel seien. Aber ich lag falsch. Die größten Umweltprobleme sind Egoismus, Gier und Apathie. Quelle: Daniel Etter – Feldversuch Ein Mutmacher-Buch Was kann man diesen negativen Faktoren entgegensetzen? Nach Etter fängt es schon bei der Sprache an, die wir im Bereich Landwirtschaft benutzen. Den Begriff „konventionelle Landwirtschaft“ empfindet er als Euphemismus. Zutreffender sind für ihn Bezeichnungen wie „industrielle“ oder „chemische Landwirtschaft“. Wenn man sich das Ausmaß künstlicher Düngung vor Augen führt, kann man ihm nur zustimmen. Dass Gemüseanbau unter Plastikfolien weder nachhaltig noch „bio“ ist, selbst wenn das Etikett auf der Packung dies suggeriert, ist auch einsichtig. Wir sollten also den Mut haben, uns von irreführenden Bezeichnungen zu verabschieden. Fraglich ist auch, ob die Vorgabe der Ertragsmaximierung in der Landwirtschaft sich inzwischen nicht längst als Auslaufmodell erwiesen hat. Letztendlich ist Daniel Etters Buch mit seinen eindrücklichen Fotos von Landschaften, Tieren und Menschen, die das Land anders bearbeiten wollen, ein Mutmacher -Buch. Dass sich Landwirte, die alternative Methoden der Landwirtschaft und Tierhaltung ausprobieren, oft den Unmut der Nachbarn zuziehen, muss auch Daniel Etter erfahren. Aber hier hilft vielleicht eine Rückbesinnung auf einen alten 68er-Spruch: „Revolution ist machbar, Herr Nachbar!“…
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Für manche ist George Saunders der amtierende Weltmeister der Kurzgeschichte. Bei ihm ist jede Erzählung ein liebevoll und mit höchstem Formbewusstsein gearbeitetes Werkstück. Seine neue Sammlung „Tag der Befreiung“ beweist aber auch, dass Saunders die formale Experimentierfreude mit hoher sozialer Erzählmoral verbindet. So verschieden die Themen seiner Geschichten auch sind – immer schlägt sein Erzähler-Herz für die Benachteiligten und Gedemütigten. Büro-Intrige mit Kaffeekapseln Beispielhaft zeigt das „Eine Sache auf der Arbeit“, die Geschichte einer Büro-Intrige. Drei Perspektiven stehen hier gegeneinander. Da ist die ehrgeizige, etwas arrogante Genevieve, die ihren Mann während der Arbeitszeit mit einem Kollegen im nahen Hotel betrügt. Sie blickt herab auf die mollige Brenda aus eher prekären Verhältnissen, die in der Firma die Drecksarbeit erledigt und gelegentlich Kaffeekapseln mitgehen lässt. Und dann ist da noch Chef Tim, der Konflikten lieber aus dem Weg geht, sich aber als guter Mensch fühlen möchte und deshalb Brenda nach ihrem kleinen, nun ja, Gefängnisaufenthalt eingestellt hat. Als Genevieve über Brenda ablästert, macht er nicht mit: Stattdessen kriegte sie eine betrübte, mit Rüge gewürzte Miene serviert. „Na ja“, sagte Tim. „Sie hatte zuletzt einen ganz schön schweren Packen wegzustecken.“ Was? Na super. Jetzt sah Tim sie als den Snob, der auf gute Weine und hausgemachte Senfsorten stand und gern auf der weißen Proll-Lady rumhackte, wenn sie schon am Boden lag? Eine oberflächliche Elitäre, die die Wohnmobil-Tussi disste? Quelle: George Saunders – Tag der Befreiung Bissige Komödie mit psychologischer Tiefenschärfe Wie diese drei Menschen sich einschätzen und abschätzen, wie sie übereinander denken und herziehen, wie Genevieve Brenda wegen der kleinen Diebstähle denunziert, Brenda im Gegenzug Genevieves firmenfinanzierte Liebesfreuden verrät und Tim schließlich eine Lösung für den Konflikt findet, die naturgemäß auf Kosten der Schwächsten geht – das erzählt Saunders als bissige Komödie. Erzählt es mit psychologischer Tiefenschärfe, in figurennaher, plastisch-drastischer Sprache, glänzend übersetzt von Frank Heibert. Menschen als Apparaturen an der Wand Zugespitzt wird die soziale Konfrontation in den drei dystopischen Erzählungen des Bandes. In der achtzigseitigen Titelgeschichte „Tag der Befreiung“ etwa werden Menschen als Apparaturen versklavt. Sie sind Accessoires der Wohlhabenden, werden in arrangierten Posen an die Wand gehängt, um als sogenannte „Künder“ zu dienen. Ihre Identitäten sind gelöscht, stattdessen bekommen sie einen Bewusstseinsinput, den sie wie Sprechpuppen aufsagen. Mitten in der großen Show vor geladenen Gästen aber lässt der renitente Sohn des Hauses ein Befreiungskommando herein, das sich nicht von der Behauptung entwaffnen lässt, dass die „Künder“ einvernehmlich arbeiten würden: Wie kann es einvernehmlich sein, wenn ihr Opfer ein leergefegtes Hirn hat, an eine Wand fixiert ist und sich an nichts außerhalb des Raumes erinnern kann? Erklären sie uns das doch mal. Ist es aber, sage ich. Quelle: George Saunders – Tag der Befreiung Dieses „Ich“, das hier dazwischenfunkt, ist die Hauptfigur der Geschichte, der Künder Jeremy. Weil er sich in die Hausherrin verliebt hat, schlägt er sich auf die Seite seiner Unterdrücker und sabotiert die Aktion. Es ist ein altes Lied: Die Ausgebeuteten verweigern sich der Revolution, wollen sich partout nicht befreien lassen. Diese Geschichte ist voller grotesker Einfälle, und sie entfaltet eine komplexe Psychologie des Herr-Knecht-Verhältnisses. Dennoch wirkt sie allzu ausgetüftelt und konstruiert. George Saunders hat uns so viel über die wirklichen Verstrickungen zwischen Menschen mitzuteilen, dass er sich eigentlich keine dystopischen Gleichnisse ausdenken muss, in denen ausgebeutete Menschen an Wänden hängen. In den besten Geschichten dieses Bandes werden die inneren und äußeren Gefangenschaften, in denen Menschen feststecken, mit den Mitteln eines nuancierten Realismus deutlich genug.…
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1 Elke Heidenreich – Altern | Autorengespräch 11:07
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11:07Ein lebenskluges Buch Wer solle über das Altern schreiben, wenn nicht Elke Heidenreich mit über 80?, das fragte sich die Bestsellerautorin und Journalistin selbst und legt nun den Essay „Altern" vor. Das Buch ist in der Reihen „Das Leben lesen" bei Hanser Berlin erschienen. Warum sie das Buch zunächst gar nicht schreiben wollte, verrät die Schriftstellerin im Gespräch mit Anja Brockert. Außerdem spricht sie darüber, welche Herausforderungen mit dem Altern einhergehen - und welche Vorteile. „Die Gegenwart ist ein Geschenk" In ihrem Essay schreibt Heidenreich von ihren persönlichen Erfahrungen und wandert auch durch die Literaturgeschichte: Ob Philip Roth, Silvia Bovenschen oder Jane Campbell in „Kleine Kratzer" , viele schrieben über das Altern. Sogar eine Todesanzeige für sich selbst entwarf sie. Ein Buch, das Mut macht für ein zufriedenes Alter.…
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1 Richard Russo – Von guten Eltern | Gespräch 7:01
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7:01Rezession, Rassismus und Polizeigewalt in einer Kleinstadt in Upstate New York: Richard Russo zeichnet ein packendes Stimmungsbild der US-Gesellschaft vor der Trump-Ära. Der bislang politischste Roman des Pulitzer-Preisträgers, der seinen Figuren trotz aller Katastrophen immer eine Portion Optimismus mitgibt. Ein Gespräch mit dem Literaturkritiker Christoph Schröder…
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1 Eltern, Altern und Nostalgie: lesenswert Magazin mit neuen Büchern von Elke Heidenreich, Richard Russo und Colm Tóibín 54:51
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54:51Ein persönlicher Essay Wir sprechen im lesenswert Magazin mit Elke Heidenreich über ihren Essay „Altern“ . Ein persönliches und auch kämpferisches Buch der 81jährigen. Sie schaut auf ihr Leben, streift durch die Literaturgeschichte – und macht Mut für ein zufriedenes Alter. Und: Der Ire Colm Tóibín erzählt in seinem aktuellen Roman „Long Island“ von einem folgenreichen Seitensprung. Eine Großfamilie bricht auseinander, eine ungelebte Liebe flackert wieder auf. Etwas konventionell erzähltes Lesefutter. Rezession, Rassismus und Gewalt: Der neue Roman von Richard Russo „Von guten Eltern“ heißt der neue Roman von Richard Russo, der in die US-amerikanische Kleinstadt führt: Zu Familien und Paaren, zu kleinen und großen Katastrophen, zu Rezession, Rassismus und Polizeigewalt, packend und mit hohem Tempo erzählt. Und André Kubiczek erinnert sich in „Nostalgia“ an seine Mutter, die aus Laos stammte und in der DDR untergründigen Rassismus zu spüren bekam. Außerdem: Ein Lesetipp und eine Lesung zum Werk der Lyrikerin Barbara Köhler und ein Sachbuch über das Liebesleben der Vögel . Musik: Jessica Pratt – Quiet Signs Label: City Slang…
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1 Ernst Paul Dörfler – Das Liebesleben der Vögel | Buchkritik 4:17
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4:17Das Liebesleben des Menschen ist bekanntlich ziemlich kompliziert. Doch er steht damit nicht allein, denn, wie sich jetztherausstellt, ist auch das Liebesleben der Vögel äußerst vielfältig. Das zeigt der promovierte Ökochemiker und Vogelexperte Ernst Paul Dörfler jetzt in seinem Buch „Das Liebesleben der Vögel“: Ich weiß als Naturwissenschaftler, dass die Vögel von ähnlichen oder gleichen Hormonen gesteuert werden wie wir. Kann man davon ausgehen, dass sie nicht nur negative Gefühle empfinden wie Stress und Schmerz und Trauer, sondern auch positive Gefühle wie Freude und Liebe. Quelle: Ernst Paul Dörfler – Das Liebesleben der Vögel Ernst Paul Dörfler ist der erste, der das Liebesleben der in Deutschland heimischen Vögel auf über 200 Seiten gründlich erfasst und allgemein verständlich zusammengefasst hat. Das sind bei ihm immerhin über drei Dutzend porträtierte Vogelarten. Immer wieder zieht er Analogien zum menschlichen Verhalten. So nennt er Singvögel, die oft nur einen Sommer eine Ehe eingehen: Lebensabschnittsgefährten, wie wir das auch kennen. Aber immerhin verbringen Männchen und Weibchen bei nur zwei bis drei Lebensjahren immer noch fast ihr halbes Leben miteinander. Imponiergehabe Stare vergleicht Dörfler mit den echten Stars in unserem gesellschaftlichen Leben. Sie prunken mit glänzendem Gefieder, stolzieren durch Büsche und Bäume, sind grandiose Sänger-Darsteller, die zahlreiche Klänge aus ihrer Umgebung perfekt imitieren. Das hat sogar zum Abbruch eines Fußballspiels geführt, weil ein Star die Trillerpfeife des Schiedsrichters so gut nachahmte, dass keiner mehr wusste, wer wirklich gepfiffen hatte. Immer wieder berichtet der Vogelexperte von solch überraschenden und amüsanten Verhaltensformen... Ihr Liebesleben beginnt im Frühjahr und zwar durchaus lauthals. Das vielstimmige Vogelkonzert zeigt ebenso wie ein prächtig herausgeputztes Gefieder nicht nur Revieransprüche, sondern ist auch Weibchenwerbung. Man will den Damen imponieren und verausgabt sich dafür. Der Zaunkönig legt sich auch noch ins Zeug und baut und baut und baut und zwar baut er Nester und nicht nur eines, zwei, drei, bis zu sieben Nester baut er für ein Weibchen. Das imponiert natürlich dem Weibchen, dem fällt es nicht schwer, ja zu sagen, einzuziehen und eine Ehe zu führen. Quelle: Ernst Paul Dörfler – Das Liebesleben der Vögel Monogamie bei Vögeln Dem Liebesgeflüster folgt die Vereinigung. Aber die ist schwer zu beobachten, denn der eigentliche Akt dauert nur wenige Sekunden. Das hat, so Dörfler, zu einigen Fehlannahmen geführt. So ging man früher bei vielen Vogelarten von festen Partnerschaften aus, doch das erweist sich als Irrtum. Heute enttarnt die DNA aus Federn und Blut Seitensprünge. Dabei zeigt sich, dass Monogamie in der Vogelwelt eher eine Seltenheit als der Normalfall ist: Wir haben ja lange Zeit angenommen, dass sich ein Männchen, ein Weibchen in Freud und Leid die Zeit und die Arbeit teilen: Man ist davon ausgegangen, dass sie auch sexuell treu sind. Und siehe da, bei den allermeisten Singvögeln, wenn man so ins Nest schaut, die Nestlinge untersucht, die stammen eben nicht nur von einem Vater, meist von zwei Vätern, manchmal von drei Vätern und nun musste man einfach die Monogamie neu definieren und Monogamie heißt, Singvögel leben vorrangig sozial monogam, d. h. sie erledigen die täglichen Arbeiten gemeinsam, bravourös, aber sie führen keine sexuelle Monogamie. Quelle: Ernst Paul Dörfler – Das Liebesleben der Vögel Die Beziehungen in der gesamten Vogelwelt sind allerdings noch viel variantenreicher: Es gibt Vielweiberei, Haremspflege, Inzest, auch lesbische und schwule Partnerschaften. Man mag Dörflers Interpretation des Vogelverhaltens bisweilen für allzu menschlich halten, jede Analogie hat ihre Schwächen, das gibt er auch wiederholt zu. Doch das schmälert nicht die Faszination des Buches, das sich in all seinen Aussagen auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse stützt: eine fröhliche und witzige Entdeckungsreise durch das Liebesleben der Vögel.…
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1 Barbara Köhler - Schriftstellen. Ausgewählte Gedichte und andere Texte | Lesetipp 1:33
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1:33„Schreiben war für sie etwas ganz Lebendiges, in Bewegung bleiben“, sagt Literaturkritikerin Beate Tröger, „und das kommt in diesem Sammelband noch einmal zum Leuchten“.
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Wegen der Liebe ist sie 1969 in die geschlossene Gesellschaft der DDR eingewandert, die junge Frau aus Laos. Sie hat ihren Mann beim Studium in Moskau kennengelernt. Auch wenn der proletarische Internationalismus groß geschrieben wird in der DDR – befremdete Blicke muss sie ertragen unter den Ostdeutschen, und Sohn André bekommt gelegentlich „Schlitzauge“-Rufe zu hören. Immerhin gibt es eine Lehrerin, die sich für ihn einsetzt: ‚Und euch anderen will ich eins sagen‘, hat Fräulein Heumann ihre Belehrung fortgesetzt, ‚ich will nicht, dass ihr euren Mitschüler hänselt, bloß weil er ein Mischling ist. Kein Mensch kann etwas für sein Aussehen. Es ist nicht seine Schuld, dass er anders ist als ihr, habt ihr das verstanden?‘ ‚Ja‘, hat die Klasse im Chor geantwortet. Quelle: André Kubiczek – Nostalgia Gut gemeint, auch wenn es nach den heutigen Maßstäben nicht politisch korrekt klingt. Aber darum geht es André Kubiczek nicht. Untergründiger Rassismus in der DDR Ihm geht es um die historische Korrektheit, auch bei der Thematisierung des untergründigen Rassismus in der DDR. Es ist nicht das erste Mal, dass der Schriftsteller in einem Roman die eigene Familiengeschichte literarisch verarbeitet. Noch nie aber ist er den biographischen Leidensuntergründen, die seit je sein Schreiben bestimmen, so nahe gekommen. Im Zentrum von „Nostalgia“ steht eine Frau zwischen zwei Welten. Der Vater der Mutter war kurzfristig Außenminister des Königreichs Laos, bis er von der eigenen Leibgarde ermordet wurde. Schon aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung missbilligt die laotische Familie die Beziehung mit einem deutschen Arbeitersohn aus der DDR und schickt der Mutter vietnamesische Spione auf den Hals. Ihr Mann wiederum, der sich mit seinem Studium auf den diplomatischen Dienst vorbereitet und deshalb zu besonders staatstreuem Verhalten verpflichtet ist, erregt bei der Stasi Verdacht wegen seiner Liebe zu einer Frau aus dem reaktionären Königreich Laos. Dass das junge Paar überraschend schnell einen Telefonanschluss bekommt, liegt nur daran, dass man sie dann besser abhören kann. Die Mutter übersetzt aus dem Laotischen Die Lage bessert sich, als in Laos 1975 die Monarchie gestürzt wird und eine sozialistische Regierung an die Macht kommt. Im Zeichen der internationalen sozialistischen Bruderschaft öffnet sich für die Mutter die Tür zu einer akademischen Karriere, und sie ist gefragt als Übersetzerin: Sie übersetzt Sachen für Intertext oder sie dolmetscht, wenn eine Delegation aus ihrer alten Heimat kommt, was häufiger passiert, seit Laos ein fortschrittliches Land geworden ist. Es gibt Fotos, auf denen Mama redet und daneben steht Erich Honecker mit seinen Männern und hört ihr zu. (…) Alle haben weiße Kittel an und tragen weiße Helme, denn die Fotos wurden in einer Melkanlage aufgenommen. Quelle: André Kubiczek – Nostalgia Erzählt wird der Roman aus der Perspektive des 1969 geborenen Sohnes André. Zunächst erleben wir mit ihm die Unannehmlichkeiten des realsozialistischen Schulalltags, lernen Freunde und Freundinnen aus der Nachbarschaft von Potsdam-Waldstadt II kennen und erhalten Einblicke in die Popsozialisation eines Ostjugendlichen um 1980, der heimische musikalische Gewächse wie die Puhdys schlimm findet und lieber Hitparadenmaterial aus dem Westen auf seinen Cassettenrecorder schmuggelt. Und dann ist Weihnachten 1981, und mit großer Ausführlichkeit wird erzählt, wie der Junge seine Großeltern aus dem Harz vom Bahnhof abholt und wie es im Verlauf der Feiertage nicht nur Freuden, sondern auch Streit und das eine oder andere Malheur gibt. Wird die Geduld der Leser hier womöglich überstrapaziert? Familienwelt vor der Abbruchkante Erst später fällt ein anderes Licht auf die breit ausgerollte „Nostalgia“ dieser Passagen, die eine noch halbwegs heile Familienwelt kurz vor der Abbruchkante in Szene setzen. Denn am Ende dieser Ferien setzt das fürchterliche Siechtum der Mutter ein. Sie ist unheilbar an Krebs erkrankt. Für André ist die Leichtigkeit der Jugend dahin. Er erlebt seine Mutter fortan nur noch stark abgemagert auf dem Sofa liegend. Es schaudert ihn vor den Beuteln ihres künstlichen Darmausgangs. ‚Bringst Du das bitte in den Mülleimer‘, hat Frau Gottschalk gesagt und ihm das Päckchen mit dem benutzten Beutel in die Hand gedrückt. Vorsichtig wie eine entsicherte Handgranate hat er das Päckchen in die Küche getragen. ‚Keine Angst‘, hat Frau Gottschalk ihm hinterhergerufen, ‚da läuft nichts aus. Die Beutel sind aus dem Westen und haben ein Ventil.“ Quelle: André Kubiczek – Nostalgia Ost-West-Motive, wohin man blickt und wo man sie nicht vermutet. Das ganze Leben scheint damals durchwirkt von der Systemkonkurrenz. Auch Andrés ein Jahr jüngerer Bruder Alain leidet an einer Krankheit, einer sich von Jahr zu Jahr verschlimmernden geistigen Einschränkung. Für André taugt er nur schlecht zum Spielkameraden, weil er vieles nicht begreift. Irgendwann büßt er auch seine gewisse liebenswerte Niedlichkeit ein und wird von den Menschen offenbar nur noch als Zumutung empfunden. Hier ist der Bruderblick erbarmungslos, weil mitbetroffen. Als seine erste kurzzeitige Freundin André fragt, ob er Geschwister habe, verleugnet er den Bruder und bringt sich damit selbst in die Klemme. Er kann morgen im Orion schlecht sagen: ‚Entschuldige, Bianca, ich habe mich geirrt. Kurz vor dem Einschlafen ist mir eingefallen, dass ich doch einen Bruder habe, und zwar einen, der geistig behindert ist.‘ Quelle: André Kubiczek – Nostalgia Zur Tragik gehört es, dass sich die Krankheiten von Bruder und Mutter durch medizinische Fehlbehandlungen und missglückte Operationen verschlimmern. Eindrücklich und authentisch erzählt Die Vorgeschichte insbesondere der Mutter lässt sich nicht allein durch die Perspektive des Sohns vermitteln. Deshalb wechselt der Roman in der zweiten Hälfte mehrfach überraschend in die Gedankenwelt der Mutter, was erzähltechnisch inkonsequent wirkt, aber inhaltlich erheblichen Zugewinn bringt. Die Sehnsucht nach ihrer laotischen Herkunftswelt wird immer mächtiger und das Fremdheitsgefühl in der DDR mit dem scheußlichen Kochbeutelreis immer größer. Ein starkes, anrührendes Kapitel schildert die letzte Reise der Sterbenskranken zur Familie nach Laos. „Nostalgia“ hätte einige Straffungen gut vertragen. Aber es ist eine eindringliche Lektüre, die durch Authentizität und Ehrlichkeit überzeugt. Der Roman lebt von den atmosphärischen Details und kontrastiert die Tragik mit einem leichten, bisweilen gewitzten Ton. Erinnerungsschwere Romane mit DDR-Hintergrund gibt es inzwischen viele, aber durch die ungewöhnliche, interessante laotische Komponente bricht „Nostalgia“ aus dem Gewohnten aus. André Kubiczek macht aus seinem autobiographischen Verfahren keinen Hehl. Am Ende widmet er das Buch den beiden früh verstorbenen Hauptfiguren: seiner Mutter, die nur vierzig, und seinem Bruder Alain, der nur siebzehn Jahre alt wurde.…
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Ob sie die Frau vom Klempner sei, will der Fremde an der Tür wissen. Er hat geklingelt, tritt barsch auf und stellt Eilis vor vollendete Tatsachen. Mit dieser beinahe surreal komischen und gleichzeitig aggressiv klaren Szene beginnt Colm Tóibíns Roman „Long Island“. Er versteht sein Geschäft, ihr Mann. Ich wette, er ist sehr gefragt.“ Er hielt kurz inne, um sich zu vergewissern, dass niemand zuhörte. „Bei uns zuhause hat er alles perfekt erledigt“, sagte er weiter und zeigte mit dem Finger auf sie, “er hat sogar etwas mehr gemacht als vereinbart. Ja, er ist regelmäßig wiedergekommen, wenn er wusste, dass die Frau im Haus sein würde und ich nicht. Und er ist so gut im Rohrverlegen, dass sie im August ein Kind von ihm kriegt. Quelle: Colm Tóibín – Long Island Schnell und nachhaltig ist die Welt von Eilis erschüttert: ihre jahrzehntelange Beziehung zu ihrem Mann Tony, zu ihren halb erwachsenen Kindern, denen sie ein verlässliches Elternpaar waren. Eine Großfamilie bricht auseinander Eilis ist, nach ihrem Weggang aus Irland, eingemeindet in die italienische Großfamilie ihres Mannes auf Long Island. Aber nun - so macht Colm Tóibín in erzählerischer Klarheit deutlich - wird Eilis all das in Frage stellen. „Am Anfang des Schreibens stand tatsächlich das Bild dieses Mannes in der Tür.“ …sagt Colm Tóibín über die Entstehung seines Romans… „Er ist groß, sein Akzent ist eindeutig, sein Benehmen – einfach alles an ihm ist irisch. Er drückt sich auch so aus. Wenn er nicht irischstämmig wäre, hätte Eilis nicht recht gewusst, wie sie ihn einschätzen sollte. Aber weil er Ire ist, glaubt sie ihm sofort. Mir ging es dabei um die Idee, dass am Anfang des Romans etwas sehr schnell passiert, was dann im weiteren Verlauf des Buches hinterfragt und dramatisiert wird.“ Es liegt an der Qualität von Tóibíns Erzählkunst, dass man sich in alle Figuren seines Romans einfühlen kann. In vielfacher Brechung werden die nachfolgenden Kapitel aus immer anderen Perspektiven der Beteiligten erzählt. Wie Eisenspäne richten sich die Lebenswege der Figuren nach ihrem Schicksalsmagneten aus. Die Geschichte einer nicht gelebten Liebe Dabei greift Tóibíns Roman zurück und erzählt die Geschichte einer nicht gelebten Liebe: Vor zwanzig Jahren war Eilis kurz nachdem sie in den USA geheiratet hatte, noch einmal nach Irland zurückgekehrt. Dort traf sie auf Jim, mit dem sie eine ebenso scheue wie kurze aufkeimende Liebe verband. Als ihr Aufenthalt zu Ende geht, verschwindet sie ohne Erklärung. Die Lücke zwischen ihrer aufflammenden Leidenschaft und dem Leben, für das sie sich auf Long Island entschieden hat, war zu groß. Aber es ist eben diese Lücke, die sich jetzt noch einmal auftut – und Colm Tóibín inszeniert das in großer Zwangsläufigkeit. Eilis reist zurück in ihre irische Heimat – und es ist die Kraft der Unausweichlichkeit, die die beiden Liebenden von einst erneut zusammenführt. „Schreiben ist eine detaillierte, langsame Arbeit“ Da driftet der Roman in Richtung Schmonzette, aber Tóibín ist erzählerisch zu klug und erfahren, um in diese stilistische Falle zu tappen: „Ich bin mir nicht sicher, ob Einfühlungsvermögen das richtige Wort wäre, um meine Erzählhaltung zu beschreiben. Ich sehe eher die dramatischen Möglichkeiten und arbeite damit, ohne zu urteilen. (9:00) Schreiben ist eine sehr detaillierte, langsame Arbeit. Wenn man anfängt, Wünsche oder einen größeren philosophischen Rahmen anzustreben, verliert man das Buch, würde ich sagen.“ Tatsächlich fasziniert Colm Tóibíns Roman im Detailreichtum seiner Figurenbeschreibung. Konventionell erzähltes Lesefutter Seine Geschichte behandelt eines der großen Themen der Literatur: Liebe, Enttäuschung, Eifersucht, die brüchigen Fugen menschlicher Beziehungen - und all das Unausgesprochene, was in ihnen nistet. Mit seiner Sogkraft ist Tóibíns Roman „Long Island“ klassisches Lesefutter. Die Erzählhaltung ist dabei keine experimentelle - im Gegenteil, Tóibín schreibt stringent, konservativ im besten Sinne, meidet jede stilistische Eitelkeit. Aber vielleicht wirkt sein Roman gerade deshalb am Ende auch ein wenig konventionell.…
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1 Golo Maurer – Rom. Stadt fürs Leben | Buchkritik 4:09
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4:09Rom ist mehr als ein Fest fürs Leben – und nach der Lektüre des gleichnamigen Buchs von Golo Maurer spürt der Leser, dass Rom das Leben selbst ist: in all seiner Schönheit und Abgründigkeit, in seinem Kontrast zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit. Freilich sollte man die Stadt kennen, um Golo Maurers Huldigung an sie schätzen zu können. Dabei gelingt dem Autor, der die Bibliothek des römischen Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte leitet, das Kunststück, immer wieder zwischen der Begeisterung für die ewige Stadt und ironischer Distanz zu ihr zu changieren. Herr Maurer, was macht das Leben in Rom schwer für einen Nicht-Römer, ja für einen Deutschen: „In Rom Urlaub machen ist eine ganz andere Sache als in Rom leben. Wer in Rom lebt, der erlebt diese Stadt von ihrer anstrengenden Seite, sie ist dysfunktional, schmutzig, frustrierend manchmal, aber manchmal denke ich mir dann: Wenn Rom in seiner ganzen Schönheit auch noch die Funktionalität von – sagen wir – Bielefeld hätte, dann wäre das zu viel.“ Diese Mischung aus Enthusiasmus und Ironie, ja Sarkasmus zeigt sich gerade auch bei Passagen, in denen Golo Maurer sich mit den eher dunklen Seiten der jüngsten italienischen Geschichte und ihrer Hauptstadt beschäftigt, beispielsweise beim Blick auf die von Mussolini geprägten Straßennamen: So ist er, der italienische Faschismus, proletarisch und doch von pathetischer Gelehrsamkeit, futuristisch und gleichzeitig historistisch, gewalttätig und würdevoll, eine Mischung aus Sportstunde, Schlägertrupp und Lateinunterricht. Quelle: Golo Maurer – Rom. Stadt fürs Leben Ein Reiseführer? Nein, eine begeisterte Liebeserklärung an Rom Dieses Buch ist kein Reiseführer und will es auch nicht sein. Vielmehr ist es Konfession, Bildungsroman, Tagebuch, impressionistisches Sprachbild und – leider ist das Wort so abgegriffen – Liebeserklärung an Rom: an seine vielfältigen Stadtteile, die meistens mit den berühmten sieben Hügeln übereinstimmen, an seine Trattorien und Bars und die Köstlichkeiten, die es dort zu entdecken gibt, an seinen nonchalanten Umgang mit Ruinen und Kirchen und katholischer Ästhetik, an die mit sprezzatura getragene Mode – und nicht zuletzt an die Römerinnen und Römer selbst: trotz mancher ihrer politischen Irrungen und Wirrungen und wegen ihrer Lebenskunst, die einem so ganz anderen Kulturverständnis entspringt. Dies bringt Golo Maurer immer wieder zu grundsätzlichen Betrachtungen – beispielsweise im Kapitel über den italienischen Signore: Nichts ist einnehmender und zugleich verunsichernder, als diese graziöse, delikate, irgendwie antikische Bipolarität, der gegenüber der Macho sich plump und der Schöngeist sich schwächlich vorkommt. Quelle: Golo Maurer – Rom. Stadt fürs Leben Elegant-entspannte Sprache – und durchdachte kulturgeschichtliche Theorie Solche kulturgeschichtlichen Überlegungen tauchen plötzlich auf aus dem Fluss scheinbar leicht dahinplätschernder und im Stil einer conversatione formulierten Beobachtungen; und immer ist da auch ein Kulturvergleich mit Deutschland und den Deutschen. Vielleicht ist es ja gerade dieser Kulturschock, der manche Deutsche ins bel paese und besonders nach Rom lockt – sie dann aber zu einer gewissen Überheblichkeit führt, wie Golo Maurer im Interview schildert: “Wobei ich immer den Eindruck habe, dass diese Überheblichkeit am Ende eine Kompensation ist für die ja von Deutschen doch im Alltag schmerzlich gefühlten Defizite im Zivilisatorisch-Kulturellen.“ Der Lesegenuss kann die Reise kaum ersetzen – aber er schafft ungeduldige Vorfreude Sprachliche Krönung des Buchs sind zweifellos die Kapitel über den Versuch einer Wanderung von Rom nach Neapel und über den Strand von Rom – ja, Rom liegt am Meer: Wer bei dieser Beschreibung „grüner Inseln, winziger Haine und sich durch das üppige Grün schlängelnder Pfade“ (284) und eines geglückten Tages am winterlichen Lido, den Golo Maurer als ein „aus dem trüben Ozean der Zeit gezogenes goldenes Fischlein“ in allen Facetten beschreibt – wer jetzt nicht gleich den Koffer packt und nach Rom aufbricht, dem ist nicht mehr zu helfen. Und keinen Hehl macht der Autor daraus, dass für den, den einmal die Liebe zu dieser abgründig-schönen Stadt gepackt hat, jede Ankunft in Rom zur Heimreise wird.…
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Constance Debrés autofiktionaler Roman „Love Me Tender“ handelt von einer radikalen Entsagung und beginnt so: „Warum sollte die Liebe zwischen einer Mutter und einem Sohn nicht genau wie jede andere sein? Warum sollten wir nicht aufhören können, einander zu lieben? Warum sollten wir uns nicht trennen können? Warum nicht ein für alle Mal auf die Liebe pfeifen, die sogenannte, in all ihren Formen, auch dieser?“ Schreiben, Schwimmen und Sex Seit er weiß, dass sie Sex mit Frauen hat, entzieht der Exmann ihr den gemeinsamen achtjährigen Sohn. Zu dem Zeitpunkt hat die Erzählerin bereits alles hinter sich gelassen. Den Job als Anwältin in Paris, die feste Wohnung, materiellen Besitz. Von nun an konzentriert sie sich aufs Grundlegende. Schreiben. Und Schwimmen. 40 Minuten Kraul, jeden Morgen. Sie taucht ein in Chlor, um sich zu wappnen gegen die Zumutungen, mit denen der Kampf ums Sorgerecht sie konfrontiert. Dazu Sex. Beides körperliche Aktivitäten, bei denen man, so sagt sie, ausnahmsweise die Klappe hält und aufhört zu lügen. Ihren Körper formt sie zu dem einer Kriegerin. „Ich trainiere, um unzerstörbar zu werden. Ich muss mich vergewissern, dass ich es bin.“ In einem Radiointerview auf France Culture erklärt Constance Debré es so: Si le corps a beaucoup d’importance dans ce livre, c’est tout simplement parce que c’est dans le mouvement de la liberté – on sait très bien, c’est toujours la contrainte de la liberté, c’est une contrainte sur le corps. Donc à un moment où ce personnage qui est la narratrice qui est un peu moi, essaie de devenir plus libre évidemment elle fait plus usage de son corps. C’est tout. Que ce soit par le sport ou par l’amour. – Der Körper spielt in meinem Buch eine so große Rolle, weil es um das Streben nach Freiheit geht. Gesellschaftlicher Zwang ist ja immer ein Zwang in Bezug auf den Körper. In dem Moment, in dem die Erzählerin, in der etwas von mir selbst steckt, sich zu befreien versucht, nutzt sie ihren Körper. Sei es durch Sport oder durch Sex. Quelle: Constance Debré in einem Radiointerview auf France Culture Im Revier der Männer wildern „Love Me Tender“ liest man mit einer Mischung aus Faszination und Unbehagen. Unbehagen angesichts des offen zur Schau gestellten Machismo einer Frau, die auf dem Weg ihrer inneren Befreiung andere Frauen als Steigbügel benutzt. Es ist nicht Lust, die sie treibt. „Was mich an der Homosexualität interessiert, sind nicht die Frauen, die ich ficke, sondern die Frau, die ich werde.“ Da ist aber auch Faszination, weil Constance Debré nicht nach unserer Zustimmung verlangt und mit ihrer Darstellung weiblicher Promiskuität in einem Revier der Literatur wildert, das sonst von Männern bewirtschaftet wird. „Finito, die Arbeit, die Wohnungen, die Familien. Ihr glaubt nicht, wie gut das tut.“ Und auch die Sprache zieht in den Bann. Drei Prozent der Arbeit am Text sei Schreiben, der Rest Überarbeitung, hat Constance Debré einmal gesagt. Ihre geschliffenen Sätze in ein präzises Deutsch zu bringen – das ist Max Henninger hervorragend gelungen. Die Unnahbarkeit und der Hochmut, auch die Härte dieser Frau, die sich als zarten Schriftzug ‚fils de pute‘ hat eintätowieren lassen, werden greifbar. „Hurensohn, steht auf meinem Bauch, wer mit mir ins Bett geht, hat das gelesen, das sind die Geschäftsbedingungen, Schätzchen.“ Ich selbst sein, um jeden Preis Dann wieder Sätze voller Schmerz über die Zurückweisung durch ihren Sohn und ihrer beider Entfremdung: „Was ist das für eine verrückte Welt, in der ich lebe? Diese Welt, in der sich die Liebe in Schweigen verwandelt, ohne dass der Tod eintritt?“ Erst nach Jahren kann er hinnehmen, dass sie das traditionelle Konzept von Mutterschaft, das sie einengt, aufbricht und für sie beide neu erfindet. Gibt es bedingungslose Liebe? Müssen wir unser innerstes Selbst verleugnen, um akzeptiert zu werden? Und was passiert, wenn wir das nicht tun? Es sind existenzielle Fragen, die Constance Debré stellt. „Love Me Tender“ ist ein kraftvoller Roman über eine gewaltsame Selbstermächtigung und den freien Willen. „Also ja, einfach so ohne Netz über die Dächer springen, das gefällt mir. Ich glaube, es ist das, was ich immer wollte.“ Wer etwas von Freiheit verstehen will, sollte in Zukunft die Bücher von Constance Debré lesen.…
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1 Michael Schmidt-Salomon – Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild und wem wir es verdanken 4:09
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4:09Aus Sorge um die Zukunft der Blick in die Vergangenheit, so könnte man dieses Buch umschreiben. Die heutigen oder kommenden Probleme der Menschheit sollten im „Lichte der Evolution“ gesehen und gelöst werden, befindet Autor Michael Schmidt-Salomon. Er verbindet das mit der Vorstellung vom „Anthropozän“, das als eigenes Menschheits-Zeitalter gehandelt wird. Doch zunächst widmet er sich der Entdeckungsgeschichte der Evolution. Die Theorie, dass alles Leben einen gemeinsamen Ursprung hat, war selbst ihrem Urheber nicht geheuer. Damals Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese Theorie, die die vielen Arten von Lebewesen in einen Zusammenhang bringt, die aber auch die Trennlinie zwischen Menschen und Tieren beseitigt und damit ein Tabu verletzte, veröffentlichte Charles Darwin erst mit Jahren Verspätung. Schmidt-Salomon nennt sie, ...die vielleicht bedeutendste Theorie der gesamten Wissenschaftsgeschichte. Quelle: Michael Schmidt-Salomon – Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild und wem wir es verdanken Zehn Persönlichkeiten der Wissenschaftsgeschichte Der Autor nähert sich ihr vom Ende her. Er greift zehn Persönlichkeiten der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte heraus, die die Evolutionstheorie durch ihre Arbeit weiterentwickelt – und die das Denken selbst beeinflusst haben. Naturwissenschaftler wie die Polin Marie Curie, die mit der Entdeckung der Radioaktivität dazu beigetragen hat, die Materie und die Stoffe, aus der sie besteht, zu enträtseln. Oder Alfred Wegener, der mit der Theorie von der Kontinentalverschiebung, der sogenannten Plattentektonik, die Erde als einen Körper beschrieb, der sich in permanentem Wandel befindet. Portraitiert werden aber auch Sozial- und Geisteswissenschaftler wie Karl Marx, der „Entdecker des Sozialen“, oder Friedrich Nietzsche, dessen radikale Philosophie des „Anti“ herrschende Glaubenssätze zertrümmerte und Platz für Neues schuf. Durchaus lesenswerte Kurzbiografien, zu denen – der Vollständigkeit halber – noch Albert Einstein, Carl Sagan, Karl Popper, Julian Huxley und der griechische Philosoph Epikur kommen. Ausgewählt hat Schmidt-Salomon die Protagonisten, wie er schreibt: weil sie Gedanken formuliert haben, die uns dabei helfen können, ein zeitgemäßes Weltbild zu entwickeln, mit dessen Hilfe wir die Probleme der Menschheit im 'Anthropozän' rationaler angehen können. Quelle: Michael Schmidt-Salomon – Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild und wem wir es verdanken Neun der zehn sind Europäer. Ihre Auswahl ist aber keine ausschließliche, Schmidt-Salomon führt zahlreiche weitere Forscher und Denker jener Zeiten an: Kein Kopf denkt allein, kein Werk hat nur einen Schöpfer. Quelle: Michael Schmidt-Salomon – Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild und wem wir es verdanken Atemberaubender Entdeckungsprozess Bis auf Epikur haben alle im Zeitraum von 200 Jahren des 19. und 20. Jahrhunderts gelebt und gewirkt. Eine Epoche, in der technologische und wissenschaftliche Entwicklungen eine große Dynamik entfalteten. Schmidt-Salomon spricht von einem „atemberaubenden Entdeckungsprozess“ der Wissenschaft. Auffallend ist, dass die meisten der Autoritäten politisch engagiert waren: vor allem als Humanisten und Pazifisten. Geeint hat sie womöglich der grundsätzliche Respekt vor allem Seienden und Lebenden und der Gedanke, dass der Mensch eine Spezies unter vielen ist. Zu Warnern wurden sie, weil sie erkennen mussten, dass wissenschaftliche Entdeckungen für militärische Zwecke missbraucht wurden, wie bei der Atombombe. Insgesamt kommt der politische und historische Kontext, in dem sich die Wissenschaften bewegen, zu kurz. Nietzsches Radikalität beispielsweise war beeinflusst durch die deutsche Revolution in Folge der Französischen Revolution, die die gesellschaftlichen Ordnungen in Europa zum Einsturz brachte. Das Zeitalter des Anthropozän Das Buch soll, so sein Autor, gegen die Unübersichtlichkeit der Welt mit ihrer täglichen gigantischen Datenfülle Orientierungshilfe leisten. Das führt Schmidt-Salomon immer wieder zum „Anthropozän“: die Idee eines erdgeschichtlichen Zeitalters des Menschen, die seit einiger Zeit in Umlauf ist. Ob die Menschheit eine eigene geologische Kraft darstellt, ist in der Wissenschaft jedoch umstritten. Jedenfalls leitet Schmidt-Salomon daraus eine „planetare Verantwortung“ für die Erde ab.…
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1 Dorothee Riese – Wir sind hier für die Stille 4:09
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4:09„Wir sind hier für die Stille“ – seinen Titel verdankt Dorothee Rieses Debütroman einem Disput, den die Eltern der Protagonistin Judith eines Abends führen. Die Mutter hatte einer Nachbarin den letzten Kanten Brot geschenkt, der noch im Haus war. Der Vater ärgerte sich: Im Dorfladen, so sagt er, gebe es nun erst in drei Tagen wieder frisches Brot. Die Mutter entgegnet ihm, nicht für das Brot seien sie hierher gekommen, sondern für die Stille. Sarmizegetusa heißt das Dorf, gelegen in Siebenbürgen, in das Anna und Kurt gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Judith in den frühen 1990er-Jahren ausgewandert sind – just als die deutschsprachigen Siebenbürger nach Deutschland strebten. Erzählt ist der Roman in der dritten Person, aber Dorothee Riese bleibt stets dicht an den Gedanken des Kindes. Das hat den Effekt, dass der Sprach- und Bewusstseinsraum sich mit seiner heranwachsenden Protagonistin weitet. Judith ist eine gute Beobachterin, doch erst nach und nach eignet sie sich auch das Wissen an, das es ihr ermöglicht zu verstehen, was sie sieht. Glückssuche in Siebenbürgen Das Dorf Sarmizegetusa ist für die Eltern eine Projektionsfläche für die Sehnsucht nach einem Glück, das sie im Westen nicht mehr empfinden konnten. Das alternative Wohnprojekt, eine Bauwagensiedlung, in der sie in Deutschland gelebt haben, ist geräumt worden. Das Land, das, so wird es angedeutet, für sie auch noch immer ein Land der Täter ist, ist ihnen zu materialistisch geworden. Sie streben ein bedürfnisloses Leben an. Über Rumänien, über das Dorf, das einige seiner Bewohner stur mit dem deutschen Namen „Waldlichten“ bezeichnen, wissen die Neuankömmlinge in ihrer Naivität so gut wie nichts. Doch bereits kurz nach ihrer Ankunft lernt die Familie eine alte Nachbarin kennen: Lizitanti hatte hellblaue Augen, die sahen alles. Und sie sprach auch so eine Sprache. Das war Deutsch, aber es pikste, rollte und stach. Sie sah streng zu Judiths Füßen: ‚Warum hast du deine Schuhe nicht an?‘ Kurt wollte erklären, dass Kinder keine Schuhe brauchten, aber die Mutter zwickte ihm in die Hand. Quelle: Dorothee Riese – Wir sind hier für die Stille Es ist bemerkenswert, dass mit Dorothee Riese und der in Siebenbürgen geborenen Iris Wolff in diesem Frühjahr zwei Schriftstellerinnen viel beachtete Bücher veröffentlicht haben, die in ihrer Machart unterschiedlich sind und sich trotzdem ergänzen. Das Dorf, in dem Judith und ihre Eltern sich niederlassen, könnte einer jener tristen und verarmten postkommunistischen Weiler sein, die Wolffs Protagonist Lev im Roman „Lichtungen“ mit dem Fahrrad durchquert. Dass ein armes, abgehängtes Dorf im Rumänien der frühen Neunzigerjahre keine Idylle ist, versteht sich. Sprachlich geschickt verdichtet Dorothee Riese aus der engen Perspektive des Kindes heraus die ethnischen Konflikte in Sarmizegetusa. Alte Seilschaften Die alte Lizitanti ist eine Siebenbürger Sächsin, die nach dem Krieg in die Sowjetunion deportiert wurde. Die Angehörigen der deutschen Minderheit blicken misstrauisch auf die angeblich neureichen Rumänen. Gemeinsam ist beiden eine Abneigung gegen die Roma, die „Brombeeraugen“, wie Judith sie nennt. Der Pfarrer des Dorfes wiederum, der zu Ceaușescu-Zeiten heimlich Opposition betrieb, traut so recht niemandem: Der Pfarrer sprach von der Auswanderung der Sachsen, von der neuen Regierung und den alten Kommunisten, die sich gegenseitig die Ämter zuschacherten, wie er sagte. Und auch er redete gerne über die Roma. Er erzählte, dass sie es wären, die stahlen, dass sie zu viele Kinder bekämen, und dass sie vor allem die Dörfer und Städte der Gegend zerstören würden. Quelle: Dorothee Riese – Wir sind hier für die Stille Judith hingegen lernt Rumänisch, macht sich das Dorf auf ihre eigene, unschuldige Weise vertraut, schließt Freundschaften, entwickelt Zuneigungen und gerät dabei immer wieder in oft politisch und historisch bedingte Interessenskonflikte. Dorothee Riese begleitet dieses verständige Mädchen auf seinem Weg vom Vorschulkind bis zur Jugendlichen. Und hat auf diese Weise einen ungewöhnlichen Bildungsroman geschrieben.…
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1 „Die Regierung fand, ich wolle nur Ärger machen“ – Aktuelle Literatur aus dem Sudan | Reportage 9:04
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9:04Seit über einem Jahr herrscht Krieg im Sudan: Zwei rivalisierende Generäle und ihre Armeen kämpfen um die Macht – in einer Region, in der es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder zu Kriegen kam. Das schlägt sich auch in der Gegenwartsliteratur aus dem Sudan und Südsudan nieder, in der Gewalt sehr präsent ist – es aber viele hoffnungsvolle Momente des Zusammenlebens gibt. Ich bin in der Diaspora aufgewachsen. Doch weil ich aus dem Sudan stamme, hat er in meinen Gedanken einen besonderen Platz. Quelle: Fatin Abbas Sagt die Schriftstellerin Fatin Abbas. Geboren 1981 in Sudans Hauptstadt Khartum ist sie als Neunjährige mit ihrer Mutter in die USA gegangen. Ihr Vater saß zu der Zeit im Gefängnis, ihre Familie war in dem ostafrikanischen Land unter dem damaligen Herrscher Umar al-Bashir nicht mehr sicher. Ihr erster Roman „Zeit der Geister“ spielt in einer fiktiven Grenzstadt zwischen Nord- und Südsudan vor der offiziellen Unabhängigkeit des Südsudan 2011. Als jemand, die größtenteils im Ausland aufgewachsen ist und natürlich sehr enge Verbindungen und Familie im Sudan hat, habe ich mich selbst und meine Autorität als Schriftstellerin in Frage gestellt – wie ich zum Sudan stehe und ihn literarisch repräsentieren kann. Aber dann wurde mir klar, dass es nicht die eine authentische Version des Sudan, sondern dass es viele Darstellungsformen gibt. Und meine ist eine davon. Quelle: Fatin Abbas Im Roman „Zeit der Geister“ gibt es vier zentrale Figuren, die verschiedene Perspektiven auf und innerhalb des Sudans repräsentieren: einen weißen US-amerikanischen NGO-Mitarbeiter, eine sudanesisch-amerikanische Fotografin, eine muslimische Köchin aus einer Nomadenfamilie, die aufgrund der Dürre sesshaft werden musste, und einen gut ausgebildeten Sudanesen aus dem Süden, der als Englisch-Übersetzer in der Grenzregion arbeitet, weil er in Khartum keine Arbeit gefunden hat. Ein vielschichtiger Mikrokosmos dieser Region. Was mich am Sudan am meisten interessiert ist, dass er da liegt, wo der arabische Nahe Osten, das arabische Nordafrika und Sub-Sahara-Afrika aufeinandertreffen. Das macht ihn zu einem Gebiet, in dem man all diese verschiedenen kulturellen und politischen Strömungen verhandeln muss. Quelle: Fatin Abbas Das spannungsreiche Neben- und Miteinander verschiedener Kulturen spiegelt sich in der Literatur wider: Im Sudan schreibt man auf Arabisch, im Südsudan wird meistens auf Englisch geschrieben. Die Autorin Stella Gaitano ist Südsudanesin, hat sich aber wie einige Autorinnen und Autoren ihrer Generation bewusst fürs Arabische entschieden – auch für ihren neuen Erzählband „Endlose Tage am Point Zero“ –, wie sie im Zoom-Interview erzählt. Als ich anfing, auf Arabisch zu schreiben, war es für die Menschen im Norden das erste Mal, dass sie Literatur über Südsudanesen auf Arabisch lesen konnten. Sie wussten nicht viel über den Südsudan, die Gefühle der Menschen dort und verstanden nicht, was sie durchmachten. Quelle: Stella Gaitano Stella Gaitano ist in Sudans Hauptstadt Khartum aufgewachsen, zur Schule gegangen, hat dort studiert. Aber ihre Eltern kamen aus dem Süden und so musste sie mit der Unabhängigkeit des Südsudan 2011 Karthum verlassen. In ihrem intensiven und einsichtsvollen Kurzgeschichtenband erzählt sie von unzerstörbaren Bäumen, die Schutz und Heimatgefühle vermitteln. Von dem Weggehen-Müssen aus dem Norden in den Süden, dem oft jahrelangen Dasein in Flüchtlingscamps kurz vor der neu geschaffenen Grenze. Ich dachte, dass ich das dokumentieren sollte. Damals hat man die humanitäre Frage nicht in den Mittelpunkt gestellt. Während der Trennung der beiden Länder konzentrierten sich die Politiker nur auf ihre politischen Streitereien. Quelle: Stella Gaitano Die Unabhängigkeit des Südsudan ist mehr als ein politischer Prozess – das machen Gaitanos oft nur wenige Seiten langen Kurzgeschichten eindrücklich klar. In einer Geschichte kauft sich eine Frau ein Gewehr, nachdem ihr die Entschädigung geraubt wurde, die sie dafür bekommen hat, dass ihr Mann als Soldat im Unabhängigkeitskrieg gestorben ist. Die Menschen denken, dass sie sich selbst schützen müssen. Die Regierung ist weit weg, Gesetze nützen dir nichts. Es herrscht einfach Chaos. Jeder kann machen, was er will. Jeder kann eine Waffe bekommen, um sich zu schützen. Jeder kann jeden töten. Die Menschen entscheiden selbst, weil die Regierung schwach ist oder nicht funktioniert, um die Bürger zu schützen. Quelle: Stella Gaitano Und Politiker lesen nicht. Quelle: Abelaziz Baraka Sakin Was ein Teil des Problems ist, findet Abelaziz Baraka Sakin, einer der wichtigsten Autoren des Sudan. Er lebt seit 2012 in Europa. Falls sie lesen, verstehen sie nicht. Und falls sie es verstehen würden, würden sie nicht daran glauben, dass Literatur etwas voraussagen kann. Sie denken, Literatur ist nur etwas für die Freizeit. Quelle: Abdelaziz Baraka Sakin Auch in seinem Werk sind es die Politiker und Generäle, die versagen und aus Eigennutz handeln. In seinem 2012 im Sudan, dann 2021 in Deutschland erschienenen Roman „Der Messias von Darfur“ geht es um den Darfur-Konflikt, in dem von Khartum bezahlte Djandjawid-Kämpfer an der Seite der Regierungsarmee gegen lokale Rebellengruppen kämpften. Seine weibliche Hauptfigur Abdelrahman aber nimmt es mit den Milizen der Djandjawid auf: Sie will sich an ihnen rächen, weil sie ihr Dorf in Darfur vernichtet, ihre Familie ausgelöscht und sie vergewaltigt haben. In diesem Roman erzählte ich, was in Darfur passiert ist und welche Auswirkungen dies auf die Zukunft haben wird. Ich wollte, dass meine Leute das verstehen und dass sie darauf vorbereitet sind. Die Regierung fand, dass ich bloß Ärger machen wollte. Ich würde etwas erzählen, was nicht passieren werde – aber dann, 15 Jahre später, passiert genau das, was ich beschrieben habe. Quelle: Abdelaziz Baraka Sakin Denn gegenwärtig bekämpfen die sudanesische Regierungsarmee und die RSF-Truppen einander, die aus den Djandjawid hervorgegangen sind. Diese komplexen Beziehungen, Verwicklungen und Hintergründe entlarvt Abdelaziz Baraka Sakin in seinem Roman mit knallharter Ironie und oft sehr bitterer Komik. Aktuell schreibe ich wieder einen Roman über den Krieg, über das, was die Menschen, Frauen und Männer, auch Kinder, jeden Tag durch die Bombardierungen, durch Soldaten, durch Milizionäre erleiden. Quelle: Abdelaziz Baraka Sakin Das Schreiben helfe ihm dabei, die Gegenwart psychologisch zu verarbeiten. Baraka Sakin ist einer der meistgelesenen Autoren des Sudan – paradox, denn: Seine Bücher sind seit 2011 im Sudan verboten. Sie haben mein Buch „Der Messias von Darfur“ verboten. Deshalb habe ich es jedem, der es herunterladen möchte, gratis als PDF-Datei zur Verfügung gestellt. Man braucht sie nur herunterzuladen und kann loslegen. Sie können nicht das Internet verbieten, denn das gibt es überall. Quelle: Abdelaziz Baraka Sakin Zugänglichkeit spielt eine Rolle für die Literatur im Sudan. Auch für Stella Gaitano. Sie schreibt auch deshalb Kurzgeschichten… …weil sie leicht zu verbreiten sind. Es ist einfach, veröffentlicht zu werden. Wenn ich sie nicht in einem Buch unterbringen konnte oder wenn eine Zeitung sie abgelehnt hat, kann ich sie einfach auf meine Seite stellen. Quelle: Stella Gaitano Dort können auch wir die Geschichten finden. Oder wir kaufen die sehr gelungenen deutschen Übersetzungen. Die Autorinnen und Autoren und ihre Romane sind im globalen Norden immer auch Stimmen aus ihren Heimatländern. Romanautoren setzen sich wirklich intensiv mit dieser Art von Trauma auseinander, mit der traumatischen Geschichte, mit der der Sudan zu kämpfen hat. Quelle: Fatin Abbas Deshalb vermitteln diese stilistisch unterschiedlichen, aufschlussreichen und lohnenden Bücher auch Einblicke in eine Region, in der fast unbeachtet von der Weltöffentlichkeit die weltweit größte Flüchtlingskrise entstanden ist. Rund neun Millionen Menschen sind auf der Flucht, fast fünf Millionen Menschen leiden an akutem Hunger. Deshalb bin ich sehr froh, wenn meine Bücher über mein Land informieren, über die Menschen dort und über den Krieg. Vielleicht hilft es jemanden. Denn wir brauchen aktuell wirklich die Hilfe von außen, auch von Menschen in Deutschland. Wir brauchen ihre Stimme. Quelle: Abdelaziz Baraka Sakin…
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1 Dem Mond so nah! – Neue Bücher von Cho Nam-Joo, T.C. Boyle, Zeinab Badawi u.a. 55:06
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55:06Die Autorin Madame Nielsen fühlt sich klein angesichts all ihrer in Dänemark so weltberühmten Autorenkollegen. „Mein Leben unter den Großen“ heißt ihr humoristischer Bericht. Wir besprechen ihn. Eine Rezension von Julia Schröder. Constantin Schreiber im Gespräch Tagesschau-Sprecher Constantin Schreiber recherchiert viel über die arabische Welt. Bekannt wurde er durch seine Sachbücher. Jetzt hat er erstmals einen Ägypten-Krimi geschrieben: „Kleopatras Grab“ . Hören Sie ihn im Gespräch mit SWR Kultur. „Die Regierung fand, ich wolle nur Ärger machen“ – Aktuelle Literatur aus dem Sudan Im benachbarten Sudan herrscht augenblicklich Krieg. Viele Menschen sind auf der Flucht. Von den Konflikten im Sudan berichten Fatin Abbas, Stella Gaitano und Abdelaziz Baraka Sakin in ihren neuen Romanen. Sonja Hartl stellt die Neuerscheinungen in einem Mini-Feature vor. Ausflüge nach Afrika und Seoul Außerdem empfehlen wir „Eine afrikanische Geschichte Afrikas“ der in Khartum geborenen britischen Journalistin Zeinab Badawi. Ein umfangreiches historisches Kompendium. Und: Korea besteht nicht nur aus glitzerndem K-Pop. Davon erzählt Cho Nam-Joo in ihrem neuen Roman „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“. Darin führt sie in die prekären Außenbezirke der Großstadt Seoul. Die Literaturkritikerin Isabella Arcucci im Gespräch. Literarisch souveräne Kurzgeschichten von T.C. Boyle Drohnenautos, Incel-Männer und Wasserfluten - von den kleinen und großen Katastrophen der Gegenwart erzählt schließlich T.C. Boyle in dreizehn neuen Stories. „I Walk Between the Raindrops“ heißt sein neuer Erzählband. Musik: Renaud Garcia-Fons – Méditerranées (A mediterranean journey) Label: CMG…
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1 T.C. Boyle – I walk between the Raindrops. Stories 4:31
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4:31Alltagsszenen, wie zufällig aus dem Leben gegriffen: Ein Mann besichtigt den durch einen Erdrutsch verwüsteten Teil seiner Stadt – aus sicherer Entfernung. Er will sich nicht die Schuhe ruinieren. E s war ja auch nicht so, als könnte ich mich irgendwie nützlich machen – es trieb kein Baum vorbei, in dessen Zweigen ein Kleinkind hing. Da war nur Schlamm. Eine gewaltige Schlammsuppe. Quelle: T.C. Boyle – I walk between the Raindrops. Stories Im Zug spricht eine Frau mit einem freundlichen jungen Computernerd über das mörderische Attentat an einer Schule. Er kannte den Täter: Er hatte eine Seele. Eine große Seele. Quelle: T.C. Boyle – I walk between the Raindrops. Stories Bei einem anderen Mann steht plötzlich sein unbekannter Sohn vor der Tür: Der Junge war wie ein Hündchen, einer dieser Straßenköter in der Anzeige eines Tierheim, dem alle Bedürftigkeit, der Herzschmerz und die Sehnsucht der Welt aus den Augen blutete. Quelle: T.C. Boyle – I walk between the Raindrops. Stories Nichts Besonderes also – eigentlich. Die Menschen in diesen Geschichten sind durchweg gutwillig, doch so eingebunden in das eigene Leben, dass sie nur zu schnell an die Grenzen ihres Mitgefühls stoßen. Irritierende Einbrüche versuchen sie wegzustecken wie einen lästigen Schluckauf, doch die Folgen sind – oft nur schwebend angedeutet - verheerend: Der junge Mann im Zug zeichnet das Psychogramm des Amokläufers als sei es ein Bild von sich selbst. Der distanzierte Beobachter wehrt in einer Bar eine aufdringliche, gestörte Frau ab – sie bringt sich um, Kopf auf den Schienen. Der uneheliche Sohn kehrt müde vor Traurigkeit in sein altes Leben als saufender Loser zurück. Sie haben eben Pech gehabt. Ich spreche von Gnade - oder nennen Sie’s Glück, wenn Sie wollen. Ein stochastisches Glücksrad. Quelle: T.C. Boyle – I walk between the Raindrops. Stories Der amerikanische Autor T.C.Boyle hat in seinen erfolgreichen Romanen schon viele Aspekte des amerikanischen Lebens ausgeleuchtet, mal in Form von Biographien, mal durch Konstellationen, in denen ganze Gruppen durch aktuelle Probleme angezählt werden, wie zuletzt in „Blues Skies“ beim Thema Klimawandel. Boyles großartige Stories dagegen sind weit weniger bekannt, doch das erzählerische Ziel ist das gleiche, sogar noch prägnanter und fokussierter. „I walk between the raindrops“ zeigt Ausschnitte vom schwierigen Tanz seiner Protagonisten zwischen den Einschlägen: In „Die Hyäne“ verfällt ein ganzes Dorf durch kontaminiertes Mehl dem Wahnsinn; in „Nicht Ich“ verfolgt ein junger Lehrer hilflos die verbotenen Liebesbeziehungen von Kolleginnen mit minderjährigen Schülern – ein umgekehrtes “MeToo“; „Der dreizehnte Tag“ bringt die Erlösung von der qualvollen Quarantäne, die ein älteres Ehepaar während der Pandemie auf einem Kreuzfahrtschiff durchlitten hat – oder doch nicht? Der Zauber des Augenblick hielt an, es war überaus schön. Aber dann (…) rang ich plötzlich nach Luft. Im nächsten Moment musste ich husten und konnte nicht mehr aufhören. (…)sah meiner Frau in die Augen und sagte:‘Es ist gleich vorbei’. Quelle: T.C. Boyle – I walk between the Raindrops. Stories Die Stories – von Dirk van Gunsteren und Annette Grube virtuos übersetzt – sind zwar unterschiedlich in Qualität und Thema, doch gemeinsam ist ihnen der gelassene Erzählton: wie beiläufig, ohne dramatische Zuspitzungen. Und wenn doch mal Drama, kommt es auf Samtpfoten daher, durchtränkt vom trockenen, oft schwarzen Humor des Autors, der bei allem Verständnis für seine gebeutelten Protagonisten auch die Komik ihrer egozentrischen Begrenztheit auslotet. Selbst in einer nicht weit entfernten Zukunft, die er in kleinen Science Fiction-Entwürfen schraffiert: die totale Überwachung durch den Staat oder die KI im Auto, die das Kommando übernimmt: Mach die Tür auf.- „Ich halte das für unklug“.- Weißt du was? Das ist mir scheißegal. Hast du mich gehört? Ob du mich gehört hast? Quelle: T.C. Boyle – I walk between the Raindrops. Stories „I walk between the Raindrops“ heißt 13 Spiele zwischen Realität und Vision, phantasievoll und klug, oft makaber, immer psychologisch treffsicher. Typische T.C. Boyle-Geschichten und Beweise seiner literarischen Souveränität.…
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1 Buchkritik: Madame Nielsen – Mein Leben unter den Großen 5:35
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5:35Ja, ja, der Literaturbetrieb. Wer je geschnuppert hat an dieser Mischung aus Geist und Geld, Gerüchten und Geltungsdrang, weiß, dass es um all das nicht so bedeutend bestellt ist, wie Bestsellerlisten und Nobelpreisverleihungen vermuten lassen. Tatsächlich regiert hinter den Kulissen eher das allzu menschliche Klein-klein als der Gedanke ans Wahre, Schöne, Gute. Dieser Fallhöhe hat sich denn auch schon so manche Literaturbetriebssatire bedient. Wenn freilich jemand wie Madame Nielsen dieses Nähkästchen der Eitelkeiten öffnet und anfängt, einige Fäden herauszuziehen, darf man mehr erwarten. Schließlich gilt Madame Nielsen als dänische Verkörperung der Idee der Kunstfigur schlechthin. Vor sechzig Jahren als Claus Beck-Nielsen geboren, hat sie in unterschiedlichsten Gestalten mit radikal avantgardistischen Aktionen Furore gemacht, weit über Dänemark hinaus. Unter dem Namen Madame Nielsen ist sie seit 2014 nicht nur als Performancekünstlerin unterwegs, sondern auch als Autorin vermutlich biografisch inspirierter Romane, die ihre Leserschaft zugleich fesseln und verstören. Ihr Geschichtenband „Mein Leben unter den Großen“ über Begegnungen im Literaturbetrieb ihres Landes sollte also mehr und anderes bieten als die übliche Demontage der verbliebenen Reste eines obsoleten Geniekults. Oder? So sind die großen Autoren. Sobald sie die Gelegenheit haben, schenken sie einander ein signiertes Exemplar ihres neuen Buchs. Oder schlimmer: Sie schicken ein Widmungsexemplar mit der Post. [...] Und wenn man erst mal ein Buch eines der großen dänischen Autoren im Haus hat, kriegt man es schier unmöglich wieder los. Wo soll man denn hin damit? Quelle: Madame Nielsen – Mein Leben unter den Großen Leider, so spinnt Madame Nielsen ihren Faden weiter, kann man es ja weder in die Altpapiertonne werfen noch ins Antiquariat bringen, denn in einem kleinen Land wie Dänemark besteht die Gefahr, dass der Autor es dort in die Finger kriegt und die eigene Widmung samt dem Adressaten liest, und das ist dann peinlich für alle Beteiligten. Unendliche Gedanken- und Erzählfluchten Solche Einfälle und Beobachtungen sind für sich genommen mäßig originell. Glücklicherweise fungieren sie in diesen zwölf Geschichten aber vor allem als Auslöser ins Unendliche reichender Gedanken- und Erzählfluchten. Sie wurden 2013 erstveröffentlicht, sind also entstanden, als Madame Nielsen noch Claus hieß. Doch wie ihre späteren Romane „Der endlose Sommer“, „Das Monster“ und „Lamento“ treiben sie bereits das Spiel mit der eigenen Identität. Leitmotivisch greifen sie bestimmte Lebensdaten auf, um sie gleich wieder in Frage zu stellen: den Gang vom Land nach Kopenhagen, das Hungerkünstler-Leben in der ersten WG, eine gescheiterte Ehe, das Berlin der Nachwendejahre. Dazu kommt allerlei Nonsens à la Hundescheiße als Katalysator radikaler Erkenntnis. Aber vielleicht ist das auch gar kein Nonsens, sondern tiefere Bedeutung. Bei Madame Nielsen weiß man ja nie. In Dänemark weltberühmt Allerdings sind die meisten der sogenannten Großen vor allem in Dänemark weltberühmt, was die Seitenhiebe für deutsche Leser zuweilen ins Leere gehen lässt. Immerhin, die notorische Nielsen‘sche Mischung aus Perfidie und Menschenliebe macht auch vor hierzulande bekannten Namen wie Peer Hultberg, dem auratischen Allesversteher, und Peter Høeg, dem Fräulein-Smilla-Erfinder und umtriebigen „Alle-und-Alles-Könner“, wie es heißt, nicht Halt. [...] da ich mit meinen fünf-, sechsundzwanzig Jahren noch nicht viel anderes gelesen hatte als Jungsbücher, Troels Kløvedahl und ,Ayla und der Clan des Bären‘, klang der Titel ,Vorstellung vom zwanzigsten Jahrhundert‘ zunächst mal sehr anspruchsvoll. Quelle: Madame Nielsen – Mein Leben unter den Großen Ein Buch von Peter Høeg. Das ist witzig. Leider gefällt sich die Erzählstimme ein bisschen zu sehr in der pseudonaiven Koketterie des selbsternannten Simplicius, der in dem ganzen Betrieb wie überhaupt im Leben ahnungslos herumstolpert. Inger Christensen im Literaturhaus-Café Neben den Gemeinheiten aber stehen Szenen von großer Zartheit. In der Erzählung „Die universale Großmutter“ etwa kontaminieren Details der Erinnerung an die eigene Großmutter eine Verneigung vor der nun wirklich großen Lyrikerin Inger Christensen, die als betagte Dame mit Handtäschchen an einem Tisch im Café des Berliner Literaturhauses beobachtet wird. Ich fand, ich sollte etwas sagen, sie wenigstens grüßen, ihr danken für all das, was sie mir gezeigt hat, all das, was es gibt, dass es es gibt, und dass ich es sehen und festhalten soll auf die einzig menschenmögliche Art, Quelle: Madame Nielsen – Mein Leben unter den Großen nämlich: in der Sprache, die etwas ganz anderes ist, eine andere Welt, genau wie diese, die auch in einem langen und grausamen Prozess entstanden ist, sich verzweigt, geteilt und wiederholt hat auf alle möglichen und nicht zuletzt völlig unmöglichen Arten, eine Welt, die nicht sterben darf, sondern am Leben gehalten werden muss, rücksichtslos, kompromisslos, jedes Mal anfangen aus demselben beinahe Nichts, dem ersten kleinen Wort, das heißt: das. Quelle: Madame Nielsen – Mein Leben unter den Großen Genaue Beobachtung der Einzelheiten, eine elastische Sprache, viel Wahres über die Tragikomik der Literaten, gepaart mit der ein wenig selbstgefälligen Position des tiefer blickenden Außenseiters – es bleibt ein zwiespältiger Eindruck von diesem Buch. Freude bereiten dürfte es vor allem den skandinavistisch informierten unter den Fans von Madame Nielsen.…
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1 Zeinab Badawi – Eine afrikanische Geschichte Afrikas 2:08
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2:08Daraus wurde schließlich auch ein umfangreiches Buch von 500 Seiten, das vor allem Schlaglichter wirft: auf die Knochenfunde der allerersten Menschen, auf das alte Ägypten, auf den Einfluss von Christentum und Islam in Afrika, auf mittelalterliche Königreiche, Sklavenhandel und Kolonialismus und den Kampf der Südafrikaner gegen die Apartheid. Eine akademische Edelfeder ist Badawi sicherlich nicht, trotzdem ist ihr Buch historisch bestens informiert und mit journalistischer Recherche prall gefüllt. Denn Badawi hat über Afrika nicht nur gelesen, sondern hat es auch erlebt. Von ihren ausgedehnten Reisen, Recherchen und Interviews zeugt dieses Buch, das ein Talent sowohl für die großen Zusammenhänge wie fürs praktisch Lebensweltliche hat. Aber: Ist das Buch wirklich eine „afrikanische Geschichte Afrikas“, wie der Titel behauptet? Teils teils! Trotz ihrer sudanesischen Abstammung wirkt die in England aufgewachsene Fernsehjournalistin in ihren Filmen und auch im Schreiben sehr britisch. Ihre Gesprächspartnerinnen sind größtenteils HistorikerInnen vom Kontinent, so dass wir von ihnen lernen und uns in ihre Perspektiven eindenken können.…
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1 Cho Nam-Joo – Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah | Gespräch 9:47
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9:47Go Mani ist die Hauptfigur in Cho Nam-Joos neuem Roman „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“. Mit ihrem ersten Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“ hatte Cho international Erfolg. In ihren Geschichten geht es stets um prekäre Lebensverhältnisse. Im Zentrum stehen bei ihr Frauen, die Mühe haben, im Leben zurecht zu kommen. Die Kritikerin Isabella Arcucci hat den Roman „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ mit Interesse gelesen. Allerdings begegnen ihr in den letzten Jahren allzu viele passive Frauenfiguren in neuer ostasiatischer Literatur, auch etwa bei Sayaka Murata und Mieko Kawakami. Es sind Frauen, die unverheiratet sind, isoliert leben und meist einer stumpfsinnigen Arbeit nachgehen. Im Gespräch mit SWR Kultur-Literaturredakteurin Katharina Borchardt wünscht sich Arcucci eine stärkere charakterliche Ausdifferenzierung der Figuren von Seiten der AutorInnen und mehr Lust an der literarischen Variation von Seiten der deutschen Verlage.…
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1 Constantin Schreiber – Kleopatras Grab | Autorengespräch 14:01
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14:01Dabei gerät der schwerreiche Franzose nicht nur in Konflikt mit Kommissarin Theodora Costanda, sondern auch mit einem altägyptischen Geheimbund, der das Geheimnis um Kleopatras Grab mit allen Mitteln bewahren will. Im SWR-Kultur-Gespräch erzählt Constantin Schreiber von seiner Arbeit zwischen Fakt und Fiktion, von Reisen und Recherchen in Ägypten und davon, warum so wenig Muslime in seinem Ägypten-Krimi auftreten.…
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Wenn jemand in der Familie an Demenz erkrankt, dann nimmt das pflegende Angehörige auf eine Weise mit, die sich anfühlt wie ein Systemwechsel – vorher Teil der Leistungsgesellschaft, jetzt im Hilfebetrieb. Sie treten beruflich kürzer und versuchen die Peinlichkeit eines entgleisenden Menschen vor der Welt draußen so gut es geht zu verbergen. Wenn die Zeit kommt, wo der Demente die Toilette nicht mehr findet, erkundigen sie sich nach einem Platz im Heim. Sie erfahren, dass sie dafür ihr Erspartes drangeben müssten. Ein Heim ist teuer. Spätestens an diesem Punkt kann die Beziehung zum Kranken bitter werden. Die Demenz eines Familienmitglieds, so stellt sich das für pflegende Angehörige nicht selten dar, erfordert ihre Selbstaufgabe. Ein kluger Erfahrungsbericht über Alzheimer Die Autorin dieser Zeilen kennt diesen üblichen Gang der Dinge aus eigener Erfahrung. Deshalb ihre Freude über das Buch „Lückenleben“ von Katrin Seyfert, die ihre höchst lebendigen, wütenden, klugen Erfahrungsberichte über die Alzheimerdemenz ihres Mannes erst im Magazin „Der Spiegel“, nun aber in ausgeweiteter Form als Buch veröffentlicht. Freude deshalb, weil bei Katrin Seyfert von Selbstaufgabe keine Spur ist. Sie nennt ihre Gefühle beim Namen. Als Journalistin weiß sie, dass eine ehrliche Sprache Ordnung schafft, die Halt verleihen kann. Ich wünschte, mein Mann wäre tot. Noch mehr wünschte ich mir, er würde leben. Aber derzeit lebt er mit mir tot zusammen. Und dieses Zwischenreich als Existenz zu akzeptieren, ist schwerer als die Trauer um Tote. Quelle: Katrin Seyfert – Lückenleben Das wertvollste Gefühl war die Wut Für die Mittfünfzigerin war eines der wertvollsten Gefühle in dieser Zeit ihre Wut: „Wut hat ja was sehr Lebendiges. Ich hatte nie Wut auf die Krankheit, auch nicht auf meinen Mann, auf keinen Fall. Aber auf so verschiedene Konventionen und Erwartungshaltungen.“ Wut auf die Begutachterin der Krankenkasse, die ihren Mann runterputzte; Wut auf Ärzte, die kein Mitgefühl aufbrachten; Wut auf Freunde, die ihr einen baldigen Burnout prophezeiten. Katrin Seyfert kämpfte darum, die schweren Jahre mit ihrem Mann Mark mit Anstand durchzustehen, aber sie kämpfte nicht allein. „Wir hatten drei kleine Kinder, die mussten versorgt werden. Wir hatten einen Hund. Wir hatten einen Alltagshelfer. Wir hatten einen Studenten, der bei uns gewohnt hat. All die brauchten Unterstützung, um den Alltag so strukturiert zu bekommen, dass er für uns als Familie gepasst hat.“ Wertvolle Ideen und Impulse für alle, die mit Demenz konfrontiert sind Der Oberarzt, der die Diagnose stellte, erschreckte sie mit der Bemerkung, sie solle sich drauf vorbereiten, dass sich binnen eines Jahres ihr Freundeskreis halbieren würde. Von Anfang an bemühte Katrin Seyfert sich darum, dass das nicht passierte. Einmal monatlich lud sie zu Hausmusik, Abende mit Schlagern, bei denen Mark mitsingen, mitsummen, mitwippen konnte. Nachbarn kochten Erbsensuppe. Marianne von nebenan gab den Kindern umsonst Klavierunterricht. Das Geld war knapp. Viele halfen, manchmal auch Leute, von denen Katrin Seyfert es nie gedacht hätte. „Ich weiß, dass ein halbes Jahr nachdem mein Mann gestorben ist, ich bei Penny eingekauft habe. Und die Filialleiterin sagte: Och, Ihr Mann hat ja hier auch hin und ab englisch eingekauft, also hat was geklaut, ohne dass er das wusste. Das haben wir dann einfach mal so durchgehen lassen, ich hab das als Warendiebstahl deklariert. Und das hat mich wahnsinnig gerührt, dass ich selbst von der Filialleitung eines Supermarktes Hilfe angeboten bekommen habe.“ 2022 starb ihr Mann. Sie sei noch nicht ganz runter vom Adrenalin, sagt die Autorin. Noch heute habe sie das Gefühl, ein Tag ohne Katastrophe sei ein komischer Tag. Das Buch „Lückenleben. Mein Mann, der Alzheimer, die Konventionen und ich“ wirft für jeden, der sich für Demenz interessiert oder mit Dementen Umgang hat, Impulse und wertvolle Ideen ab. Es bringt zum Lachen und zum Weinen. Und zwar auch Leser, die ganz anders gestrickt sind als Katrin Seyfert.…
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1 Volker Braun – Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben 4:09
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4:09Er geht im dicken Mantel dieses Gemurmels, drunter nackt, und öffnet ihn, wenn er spricht. Quelle: Volker Braun – Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben Volker Braun, vor 85 Jahren in Dresden geboren. Mit seinem Vater, der später im Krieg bleibt, hat er vom Waldschlösschen jenseits der Elbe aus oft auf die historische Silhouette geschaut. Über idyllische Wiesen hinüber zur Altstadt. Als er fünf Jahre alt ist, brennt Dresden. Er blickte immer wieder bereitwillig auf, aber Dresden gab es nicht mehr, nur die Skelette der Türme, vom Mittagslicht legiert. Er hatte, am Aschermittwoch, den glutroten Himmel gesehn, der schwarze Ruß war aus der Tiefe heraufgeweht und die Ausgebombten mit rußschwarzen Gesichtern. Quelle: Volker Braun – Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben Das sind natürlich diese Felderhöhen über Dresden, die Felder, die Natur, und es ist die zerstörte Stadt. Und dieser Widerspruch von Grauen und Schönheit ist vielleicht die Grunderfahrung. Quelle: Volker Braun Zerstörung und Schönheit als Grunderfahrung Volker Braun denkt und schreibt seit über sechzig Jahren hochverdichtete, tief wurzelnde Verse als Lyriker, schreitet weit ausholend als Essayist durch Geschichte und Gesellschaft, erforscht Menschen und Macht als Dramatiker oder deckt Wahrheit und Visionen auf als Erzähler. Immer geht es um Widersprüche. „Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“ könnte über dem Dichterleben stehen und heißt wohl nicht von ganz Ungefähr das gleichermaßen gegenwarts- wie lebensanalysierende Buch, das kurz vor seinem Geburtstag erschienen ist. Neben der genannten gibt es zwei weitere Erprobungen: „Versuch, mich mit den Füßen am Boden zu halten“ und „Versuch, mich auf einer Landmasse zu bewegen.“ Wie stets lauern zwischen all den anspielungsreichen Zeilen der Essays über eurasischen Kontinent, Klimakatastrophe oder Dichterexistenz vor allem Fragen. Wie muss die Kunst beschaffen sein, fragte Adorno, um dem Kapitalismus gewachsen zu sein? – die Poesie, liest der Dichter Raimondi, »einer dynamischen Gegenwart … einer globalen Dimension«. Welche Form soll sie annehmen in dieser allgegenwärtigen Formation der technischen, merkantilen, militärischen Zusammenbindung der Welt, bei der Territorien verbraucht und Halbkontinente umgepflügt werden. Quelle: Volker Braun Als Wegweiser dienen Zitate von Dichterkollegen Die Grundgedanken jedes Kapitels veranschaulichen vorangestellte kleine Abbildungen unterschiedlicher Künstler. Eine mongolische Jurte am Hofe eines Großkhans führt zu den Ränken der Gegenwart zwischen östlichen und westlichen Wirtschafts- und Wertesystemen. Zu Kriegen um Ideologien, Ressourcen und Territorien. Die Zeichnung sinkender nackter, verkrümmter Kreaturen verweist auf die Auseinandersetzung mit einer jungen Klimaaktivistin. Die zerstörten Elbbrücken legen die Spur in das eigene Leben. Als Wegweiser dienen Zitate von Kollegen. „Der Mensch ist die Antwort, egal, was die Frage ist“ heißt es da etwa von André Breton. Der Vater war gefallen, die Mutter zog uns Fünfe auf. Und ich wuchs also unter Brüdern auf. Und das ist auch etwas, was wohl das Naturell prägt. Und das Wort Brüder, was später dann so einen politischen und geradezu ideologischen Klang bekam, das ist für mich etwas ganz Natürliches. Das Mitdenken, Mitleben mit den anderen. Quelle: Volker Braun Ein reiches Buch an Namen, Formen und Überlegungen Davon kündet jedes Wort dieses Buches mit seinen hundert bedruckten Seiten. Im Kopf des Lesers ergänzt um viele mehr. Weil man nach jeder Andeutung, jeder Namensnennung, jedem Verweis weiter forschen möchte und muss, um vieles verstehen, anderes verorten oder drittes besser verarbeiten zu können. Wie ein kleiner Almanach zu den großen Themen unserer Zeit liest sich das an Namen (berühmter und unbekannter Dichterkollegen), Formen (Monologe, Dialoge, Perspektivwechsel) und Überlegungen (ungezählt) reiche Buch. In seinen drei grundverschiedenen Aufsätzen nähert es sich den Abbruchkanten – von Gesellschaften, unseres Planeten, des eigenen Lebens. Es lohnt jeder Versuch, in den Abgrund zu schauen.…
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Kalkutta, im Jahr 1999. Wie so oft ist Kulbhushan für Botengänge im Auftrag seiner Brüder unterwegs. Heute aber ist etwas anders: ein Plakat lässt ihn innehalten. Es hing in der Lower Circular Road, kündigte irgendein Theaterstück an mit dem Titel „Autobiographie“. Darunter stand: „Das Epos vom letzten Jahr des 20. Jahrhunderts“. Quelle: Alka Saraogi – Entwurzelt Kulbhushan staunt. Denn der Schauspieler heißt wie er. Und so beginnt er, ein Hindu und Nachfahre einer eingewanderten Marwari-Handelsfamilie, sich zu erinnern: an seine ehemalige Heimat im heutigen Bangladesch, an seinen Freund Shyama – einen muslimischen Wäscher – und an den Fluss Gorai, der einst Teil seines Lebens und seiner Seele war. Denn all das hat Kulbhushan verloren. Er ist „Entwurzelt“, wie auch der neue Roman von Alka Saraogi heißt: Während seine Brüder unmittelbar vor der Teilung 1947 auswanderten und in Kalkutta Fuß fassen konnten, verließ er die geliebte Heimat erst 1964, aufgrund von sich mehrenden Unruhen gegen Hindus. Kulbhushan: Außenseiter und Underdog Wirklich angekommen ist Kulbhushan nie. Im Gegenteil: Seine älteren Brüder betrachten ihn bis jetzt als Eindringling und nutzen ihn als ihren Diener aus. Die drei älteren Brüder waren verheiratet und mit Familie und Geschäft in Kalkutta etabliert. Nur er war auf der Strecke geblieben. Weder gehörte er richtig zu Indien noch zu Pakistan. Niemand war sein Freund, niemand half ihm. Quelle: Alka Saraogi – Entwurzelt Zwar hat er irgendwann geheiratet. Doch seine Frau ist keine Marwari. Seitdem meiden seine Brüder ihn noch mehr; sie fürchten, sich am Essen dieser Frau zu verunreinigen. Kulbhushans Vater wiederum überquert erst 1971 mit Millionen von Flüchtlingen die Grenze, als sich Bangladesch in einem Krieg gewaltsam von Pakistan lossagt. Es ist dieser Krieg, in dem auch Kulbhushans einziger Freund Shyama sterben wird. Wie Kulbhushan ist er ein Außenseiter in der eigenen Familie: Als er seiner Mutter mitteilte, er wolle heiraten, entgegnete sie: „Wer wird dir denn seine Tochter zur Frau geben? Ich habe dich von Jogi Baba bekommen. Da warst du schon beschnitten. Du bist weder ein richtiger Muslim noch ein richtiger Hindu. Alle hier wissen das. Quelle: Alka Saraogi – Entwurzelt Wie Kulbhushan widersetzt auch Shyam sich dem wachsenden Hass: Er nimmt eine hinduistische Witwe zur Frau und akzeptiert ihr ungeborenes Kind als seins. Religiöse und kulturelle Grenzen Alka Saraogi stammt selbst aus einer bengalischen Marwari-Familie und lebt heute in Kalkutta. Ihren Roman spannt sie über vier Jahrzehnte und über beide Seiten der Ost-West-Grenze Bengalens hinweg. Dabei macht sie deutlich, dass es hier nicht nur um den Hass zwischen Hindus und Muslimen ging: Im Laufe der Jahre kam es auch zu Hass und Gewalt zwischen den Urdu-sprechenden Muslimen in Westpakistan und den bengalischen Muslimen, die in den Augen der pakistanischen Regierung als zu liberal und deshalb als minderwertig galten. Der Operation Searchlight, 1971 vom damaligen Westpakistan aus gegen die Bevölkerung des heutigen Bangladesch durchgeführt, fielen rund 3 Millionen Bengalis zum Opfer. Appell an die Gleichheit aller Menschen Alka Saraogi lässt die damaligen kollektiven Traumata dabei so sensibel wie eindringlich zur Sprache kommen: In zahlreichen Nebensträngen springt die Handlung kunstvoll in der Zeit und zwischen Erzählperspektiven hin- und her. Mit einem begnadeten Auge für lebensechte Details erzählt sie zugleich vom ewigen Leid der Flüchtlinge: von Folter, Vergewaltigung, Diskriminierung und Vertreibung. Und doch obsiegt in diesem Roman der grundlegende Glaube und der Appell an die Gleichheit aller Menschen, ungeachtet von Hautfarbe, Kaste, Klasse, Gemeinschaft oder Religion. „Entwurzelt“, hervorragend übersetzt von Almuth Degener, kartografiert somit ein komplexes Terrain der Geschichte – und könnte doch, angesichts der globalen Krisenherde, aktueller nicht sein.…
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1 Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben | Lesung und Diskussion 25:16
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25:16Mit „Eine Arbeiterin“ hat Didier Eribon eine essayistische Abhandlung über „Leben, Alter und Sterben“ der Mutter vorgelegt. Das Buch des französischen Bestseller-Autors löste in der Jury einen Grundsatzstreit über den zitatgetriebenen Stil des Autors und die soziologische Aufladung der Gegenwartsliteratur auf.…
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1 SWR Bestenliste Mai mit Büchern von Louise Glück, Didier Eribon u.a. 1:20:29
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1:20:29Gestritten wurde zum Schluss: Meike Feßmann, Julia Schröder und Christoph Schröder diskutierten vier auf der SWR Bestenliste im Mai verzeichneten Werke in der Stuttgarter Stadtbibliothek. Auf dem Programm standen mit „Marigold und Rose“ von Louise Glück die einzige Erzählung der für ihre Dichtung ausgezeichnete Literaturnobelpreisträgerin. Mit „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ von Julia Jost ein österreichischer Anti-Heimat-Roman aus ungewöhnlicher Erzählperspektive. Mit „Am Meer“ von Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout ein Pandemie-Roman im tiefgründigen Plauderton. Und mit „Eine Arbeiterin“ von Bestseller-Autor Didier Eribon eine essayistische Abhandlung über „Leben, Alter und Sterben“ der Mutter. Das Buch löste einen Grundsatzstreit über den zitatgetriebenen Stil des Autors und die soziologische Aufladung der Gegenwartsliteratur auf. Aus den vier Büchern lesen Isabelle Demey und Johannes Wördemann.…
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1 Louise Glück: Marigold und Rose | Lesung und Diskussion 15:43
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15:43Louise Glücks Erzählung „Marigold und Rose“ ist das einzige Prosawerk der für für ihre Dichtung ausgezeichneten Literaturnobelpreisträgerin. Meike Feßmann und Julia Schröder lobten die bildstarke Geschichte über Zwillingsschwestern, die sich schon als Baby ihr Erwachsenenleben ausmalen. Christoph Schröder nannte das Buch eine „literarische Fingerübung“.…
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1 Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht | Lesung und Diskusssion 19:41
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19:41Mit „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ legt die Schriftstellerin Julia Jost einen (Anti-)Heimat-Roman aus ungewöhnlicher Erzählperspektive und in einer überbordenden Sprache vor. Leidet das Prosadebüt der Kärntner Schriftstellerin aber unter der Verwandlung der beschriebenen Abgründe in folkloristisches Dekor? Die Jury, die viele skurrile Einfälle des Buchs heraushebt, ist sich in dieser Frage uneins.…
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1 Elizabeth Strout: Am Meer | Lesung und Diskussion 20:16
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20:16„Am Meer“ von Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout ist ein Pandemie-Roman im tiefgründigen Plauderton. Meike Feßmann lobt die „starken Figuren“, stört sich aber an der Haltung einer Erzählerin, die nicht nur die chaotische Weltlage, sondern auch die Prosa mit Floskeln der Selbstvergewisserung zu strukturieren versucht. Christoph Schröder erkennt darin den geglückten Versuch, die Widersprüchlichkeit der privaten und politischen Gemengelage dieser Epoche einzufangen.…
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1 Kafka-Kult – Das erstaunliche Nachleben des Franz K. 55:49
55:49
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55:49Wie kann es sein, dass ein Schriftsteller, der zu Lebzeiten kaum etwas veröffentlicht und hauptberuflich als Versicherungsbeamter gearbeitet hat, nach seinem Tod mit drei nicht einmal fertigen Romanen zum globalen Phänomen wird? Und warum lässt uns dieser Mensch und Autor, der auf Fotos so eindringlich sanft und rätselhaft traurig aussieht, bis heute nicht los? Feature-Autor Thomas von Steinaecker war in Prag auf Kafkas Spuren unterwegs, zusammen mit dem Schriftsteller Jaroslav Rudiš . Er hat die Autoren Michael Kumpfmüller und Susanne Röckel befragt, was Kafkas Werk so unwiderstehlich macht, und mit Experten auch über die komischen Aspekte in Kafkas Texten gesprochen.…
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1 Nicola Kuhn – Der chinesische Paravent. Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam 4:00
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4:00Als Kind stand Nicola Kuhn in ihrem Elternhaus oft vor einem meterhohen Wandschirm aus China. Auf ihm reißt ein Drache sein Maul auf, bleckt seine Zähne und fährt seine Krallen aus. Damals in ihrer Kindheit habe der Paravent ihre Fantasie regelrecht beflügelt, erinnert sich die Journalistin. Umso mehr als es sich dabei um ein Geschenk des Kaisers von China höchstpersönlich an ihren Urgroßvater handelte. So zumindest erzählte es ihre Mutter. Inzwischen steht der Wandschirm längst in ihrer eigenen Wohnung, berichtet Nicola Kuhn in ihrem Buch „Der chinesische Paravent“, doch ihr Verhältnis zu ihm sei kompliziert geworden. Für mich transportiert der Paravent neben privaten Erinnerungen heute vor allem koloniale Geschichte und unsere familiäre Involviertheit. Der Blick darauf hat sich geändert, angestoßen durch ein gewachsenes postkoloniales Bewusstsein. Quelle: Nicola Kuhn – Der chinesische Paravent. Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam Kolonialist und Kriegsgewinnler Es waren die Wochen des Corona-Lockdowns, in denen sich die studierte Kunsthistorikerin intensiv mit der Herkunftsgeschichte des exotischen Möbelstücks beschäftigte. Und mit ihrem Vorfahren, dem Hamburger Kaufmann Carl Bödiker. Wie sich herausstellte, verdiente der sich um 1900 eine goldene Nase damit, die deutschen Truppen in der Kolonie Tsingtau zu versorgen, die den sogenannten „Boxeraufstand“ niederschlagen sollten, ein verzweifelter Widerstand chinesischer Bauern gegen die Ausbeutung durch die europäischen Kolonialmächte. Dass der Wandschirm ein Geschenk des chinesischen Kaisers war, ist eher unwahrscheinlich; vermutlich gelangte er infolge der Plünderung Pekings in die Hände ihres Vorfahrens, so Kuhn. Menschenschädel als Trophäe Mit ihrem Buch zeigt die Autorin auf über 350 Seiten eindrucksvoll, warum sich die Frage nach dem richtigen Umgang mit dem deutschen Kolonialerbe längst nicht nur Museen oder ethnologischen Sammlungen stellt. Denn Nicola Kuhn erforscht noch zehn weitere Erbstücke in deutschen Wohnzimmern, in denen sich die Kolonialgeschichte des Kaiserreichs verdichtet. Sie stehen exemplarisch für mutmaßlich Abertausende weiterer solcher Artefakte in deutschem Privatbesitz, aus China, Papua-Neuguinea oder Afrika. Darunter ist vermeintlich Harmloses wie ein ausgestopfter Papagei, Skurriles wie der Gipfelstein des Kilimandscharo oder Martialisches wie ein Kriegerschild aus Deutsch-Ostafrika. Aber auch Abgründiges wie eine Nilpferdpeitsche oder gar der Schädel eines Herero. Ausgehend von diesen Objekten rücken in Kuhns Recherchen die Menschen in den Blick, die diese Dinge einst als Trophäen oder Erinnerungsstücke nach Deutschland gebracht haben, unter ihnen Missionare und Militärs, Künstler und Unternehmer. Mich interessierte, wie sie sich in den Kolonien zu Rassismus und Unrecht verhielten, welche Wendung dadurch ihr Leben nahm, was die Folgen ihres Handelns für die lokale Bevölkerung waren. Und ich wollte wissen, welche Position die Angehörigen heute zu dieser Vergangenheit beziehen, wie sie mit dem Erbe in Form eines mitgebrachten Hockers oder Silbergeschirrs umgehen, das einst möglicherweise gewaltsam entwendet wurde. Quelle: Nicola Kuhn – Der chinesische Paravent. Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam Beschönigen, profitieren, zurückgeben? Tatsächlich sind die Umgangsweisen der heutigen Erben mit diesen Objekten – vielleicht der spannendste Aspekt von Kuhns Buch – denkbar unterschiedlich. Verbreitet ist das Bemühen, dem Familiennarrativ zu folgen und die Taten der Vorfahren zu beschönigen, eine Parallele zum verbreiteten verharmlosenden Umgang mit dem Handeln von Familienangehörigen in der NS-Zeit. Einige Nachfahren setzen dagegen erstaunlich unbekümmert die Ausbeutungslogik des Kolonialismus fort und versuchen, aus ihrem Erbe auf die eine oder andere Weise Profit zu schlagen. Und dann gibt es noch jene, denen diese Erbstücke inzwischen so unheimlich geworden sind, dass sie sie an die Nachfahren in den Herkunftsländern zurückzugeben versuchen. Mit ihrem Buch ist Nicola Kuhn ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung des deutschen Kolonialerbes im Privaten gelungen. Es ist glänzend recherchiert, faszinierend zu lesen und – lange überfällig.…
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1 Marina Münkler – Anbruch der Neuen Zeit – Das dramatische 16. Jahrhundert 4:00
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4:00Ganz schön mutig, ein dramatisches Jahrhundert wie das sechzehnte auf etwas mehr als 500 Seiten auf den Begriff zu bringen. Marina Münkler, Spezialistin für die frühe Neuzeit und das späte Mittelalter, hat dieses Wagnis auf sich genommen. Was waren, Münklers Analyse zufolge, die entscheidenden Verwerfungen, die sich in der Spät-Renaissance vollzogen haben? Ich habe versucht, in meinem Buch drei zentrale Konfliktfelder zu entfalten. Das ist einmal die Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich. Stichwort: die Türken – keine korrekte Bezeichnung für das Osmanische Reich, aber es ist auch immer von den „Türken“ und den „Türkenkriegen“ gesprochen worden in der Zeit. Das Zweite ist die Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt, also die Errichtung einer ziemlich grausamen Herrschaft über bis dahin völlig unbekannte Gebiete. Und das dritte ist die Reformation. Und ich glaube, man kann das charakterisieren mit den drei Worten: die „Türken“, die „Heiligen“ und die „Wilden“. Und dann hat man dieses Jahrhundert, glaube ich, angemessen charakterisiert, wobei man immer bedenken muss, dass man kein Jahrhundert quasi vollständig aus erzählen kann. Quelle: Marina Münkler – Anbruch der Neuen Zeit – Das dramatische 16. Jahrhundert Kolonialismuskritischer Diskurs bereits im 16. Jahrhundert Im Südosten musste sich das christliche Europa im 16. Jahrhundert der anstürmenden Osmanen unter Sultan Süleyman dem Prächtigen erwehren. Zur gleichen Zeit eroberten spanische und portugiesische Konquistadoren weite Teile Mittel- und Südamerikas. Marina Münkler beschreibt nicht nur die Grausamkeiten der Konquistadoren, sie rekapituliert auch – überaus spannend – den kolonialismuskritischen Diskurs, der bereits im 16. Jahrhundert aufkam. Die Eroberung des südamerikanischen Kontinents hat erhebliche Diskussionen ausgelöst. Zum einen gibt es sowohl auf kirchlicher als auch auf weltlicher Seite eine ganze Reihe von Leuten, Theologen oder Juristen, die das vehement als gerechtfertigt vertreten. Es gibt aber auch überaus scharfe Kritik daran. Bartolomé de Las Casas ist der berühmteste Name in diesem Kontext – ein Dominikaner, der ursprünglich selbst mal einer von diesen Eroberern gewesen ist, sich dann aber bekehrt hat und danach tatsächlich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht hat, die sogenannten Indios, zu schützen. Und das ist schon spannend, diese Diskussion, die es da gibt. Quelle: Marina Münkler – Anbruch der Neuen Zeit – Das dramatische 16. Jahrhundert Erfindung des Buchdrucks bewirkt Medienrevolution Auch die mediengeschichtliche Revolution, die sich im 16. Jahrhundert vollzieht, nimmt Marina Münkler in ihrem Buch in den Blick. Die neue Technik des Buchdrucks, von Martin Luther und seinen Mitstreitern gekonnt eingesetzt, bringt neben einem Zuwachs an Bildung und anderen Segnungen auch weniger schöne Seiten mit sich. Die öffentlichen Debatten werden bösartiger und gehässiger, stellt Münkler fest. Das ist ein Eindruck, der sich aufdrängt, dass die Kommunikation im 16. Jahrhundert eine Dynamik entfaltet und auch eine hasserfüllte Aggressivität, wie wir sie heute auch wieder sehen, ohne dass ich denken würde, man muss das zu direkt vergleichen. Eher kann man sagen, es zeigt sich, dass der Konfliktaustrag in dem Moment ein anderer wird, in dem eine dynamische mediale Situation besteht. Und das ist im 16. Jahrhundert eben der Fall, dadurch, dass die Flugschrift sich entwickelt, dass es die sogenannten neuen Zeitungen gibt, und dass jetzt alle Konflikte sehr schnell in viel breitere Schichten getragen werden. Und interessanterweise geht das mit einer Sprache einher, die sehr stark auf Verunglimpfung, Schmähung, Herabsetzung setzt. Quelle: Marina Münkler – Anbruch der Neuen Zeit – Das dramatische 16. Jahrhundert Mit ihrem Epochenpanorama, flüssig und wohltuend unakademisch geschrieben, gelingt Marina Münkler das eindrucksvolle Porträt eines Jahrhunderts, das in vielem auch unsere Gegenwart noch prägt.…
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1 Ein Tusch für Karl Kraus zum 150. Geburtstag und neue Bücher u. a. von Louise Glück und Abdulrazak Gurnah 55:07
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55:07Neues von Nobelpreisträgern Gleich zwei Literaturnobelpreisträger haben wir heute in der Sendung: Louise Glücks letzte Erzählung „Marigold und Rose“ ist eine wunderbare Erkundung über die Bedeutung der Sprache. Abdulrazak Gurnah erzählt mit „Das versteinerte Herz“ eine berührende und kraftvolle Coming-of-Age-Geschichte aus dem Sansibar der 70er Jahre. Locken auf der Glatze drehen: Zum 150. Geburtstag von Karl Kraus „Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen“: Der Spruch stammt vom großen Satiriker und Sprachkritiker Karls Kraus. Wir drehen ihm diesmal sehr viele Locken auf der Glatze: Ein Gespräch zu seinem 150. Geburtstag am 28. April mit Interview mit Katharina Prager, der stellvertretenden Direktorin der Wienbibliothek im Rathaus und Mit-Herausgeberin des 2022 erschienenen Karl Kraus Handbuchs. Die rote Mütze, Symbol der Französischen Republik Was nur wenige wissen: Die rote Mütze, die zum Symbol der Französischen Republik wurde, war ursprünglich die Kopfbedeckung von Schweizer Söldnern, die in den französischen Revolutionswirren Ende des 18. Jahrhunderts meuterten und hart bestraft wurden. Der Schweizer Daniel de Roulet beleuchtet in „Die rote Mütze“ das Schicksal von Schweizer Söldnern, die in die französischen Revolutionswirren Ende des 18. Jahrhunderts geraten. Übernatürliches fasziniert Der amerikanische Journalist Sam Knight stieß auf eine verrückte Geschichte aus den 60er Jahren: Da eröffnete Dr. John Barker - mit einem Faible für Paranormales - ein Büro, in dem seherische Aussagen für die Zukunft gemacht wurden. Dem „Büro für Vorahnungen“ hat Knight jetzt ein skurril-witziges Buch gewidmet . Kein Wort ist überflüssig Claire Keegan ist eine Meisterin der kurzen Form. Kein Wort zuviel steht in ihren Erzählungen; jedes Detail hat eine Bedeutung. Das beweist die Irin auch in ihrem neuen Buch, der Erzählung „Reichlich spät“ : eine brillante Analyse toxischer Männlichkeit auf 60 Seiten. Musik: Timber Timbre – Lovage Label: PIAS…
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Im walisischen Bergarbeiterstädtchen Aberfan ereignete sich 1963 eines der schlimmsten Unglücke in der Nachkriegsgeschichte Großbritanniens: Am Fuß einer Halde waren vom Wasser gesättigte Grubenabfälle abgesackt… … eine dunkle, gleißende Welle [brach] aus dem Hang heraus, ergoss sich bergab und riss die restliche Halde mit sich. Quelle: Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen Der gewaltige Strom stürzte ins Tal, das Dorf wurde buchstäblich verschüttet – und mit ihm 144 Menschen. Dieses Unglück weckte das Interesse des 42-jährigen Psychiaters John Barker, der ein leitender Facharzt am Shelton Hospital und ein aufstrebender Wissenschaftler war. Allerdings fuhr er nicht nach Aberfan, um den Hinterbliebenen psychologischen Beistand zu leisten, sondern vielmehr weil er von einem außergewöhnlichen Phänomen Kenntnis genommen hatte: Mehrere Einwohner hätten Tage vor der Katastrophe Vorahnungen geäußert. Barker war fasziniert von außergewöhnlichen Geisteszuständen, arbeitete gerade an einem Buch über Menschen, die aus Furcht sterben, und hier erhoffte er sich, neues Material für seine Untersuchungen des Unheimlichen und Unerklärlichen zu finden. Er, der angesehene Schulmediziner, war sogar Mitglied der British Society for Psychical Research, einer Organisation zur Erforschung paranormaler Phänomene. Eine neue Dimension der Psychiatrie Barker glaubte, dass die Psychiatrie um eine ‚neue Dimension‘ erweitert werden könnte, die nur darauf wartete, in die derzeitige etablierte Wissenschaft integriert zu werden, sofern Ärzte sich nur davon überzeugen lassen wollten, (psychische) Störungen oder Zustände zu erforschen, die gemeinhin als randständig oder übernatürlich galten. Quelle: Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen Der Journalist Sam Knight, der vornehmlich für den New Yorker arbeitet, hat nun ein verstörendes, beunruhigendes, spannendes Buch über diesen wissenschaftlichen Outsider, über „Vorauswissen“ und paranormale Erscheinungen geschrieben – und über das „Büro für Vorahnungen“, das Barker zusammen mit dem Redakteur Peter Fairley vom London Evening Standard ins Leben rief. Ein Jahr lang sollten die Leser der Zeitung die Möglichkeit haben, ihre Träume und Vorahnungen einzureichen, die im Büro für Vorahnungen gesammelt und mit tatsächlichen Ereignissen rund um die Welt abgeglichen würden. Quelle: Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen Sammlung unheimlicher Vorahnungen Wer sich mit Vorahnungen befasst, verlässt rasch den Boden des Wissenschaftlichen. Sam Knight schildert auf raffinierte Weise die Entwicklungen rund um das Büro, die zwiespältige Rolle von John Barker, den einerseits Neugier, andererseits aber auch enormer Ehrgeiz antrieb. Er nimmt ernst, was damals Mitte der 60er Jahre geschah, lässt mehr oder minder offen, was er selbst von den teils unheimlichen Berichten und Voraussagen hält, die zu Hunderten eingereicht wurden, und er wirft auch einen entlarvenden Blick auf die psychiatrischen Anstalten jener Zeit. Knight befasst sich dabei nicht nur umfassend mit der Biografie Barkers, sondern auch mit der zweier Medien, die besonders viele Volltreffer landeten: Die Musiklehrerin Miss Lorna Middleton und der Postmitarbeiter Jakob Hencher sagten etwa beide ein furchtbares Zugunglück voraus. Am 1. November fühlte sich die Musiklehrerin akut depressiv. Sie saß in ihrer Küche in Edmonton. ‚Langsam tauchte ein Streifen vor mir auf, dann ein Lichtblitz, dann eine Art grauer Nebel. Ich versuchte herauszufinden, wo genau das war‘, sagte sie später. ‚Das Wort ›Zug‹ drang immer wieder durch. Zug … Zug.‘ Miss Middleton schrieb ihre Vision nieder und sandte sie an das Büro: ‚Ich sehe einen Unfall … auf einer Bahnstrecke vielleicht … auch ein Bahnhof könnte betroffen sein … wartende Menschen am Bahnsteig … die Worte Charing Cross … ich hörte es buchstäblich KRACHEN.‘ Quelle: Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen Katastrophen können nicht verhindert werden Allerdings war der Erfolg des „Büros für Vorahnungen“ am Ende doch überschaubar. Mit gutem Willen konnte man höchstens drei Prozent der eingegangenen Vorahnungen durch spätere Geschehnisse bestätigen. Wo eine übernatürliche Fähigkeit aufzublitzen scheint oder der Zufall eine entscheidende Rolle spielt, wo aus Unsinn Sinn konstruiert wird, das lässt sich eben schwer sagen. Es geht dabei mehr um Glaubensfragen. Eigentlich möchte man, um eigener Verunsicherung vorzubeugen, der Welt doch lieber als einer rational erklärbaren begegnen. Überhaupt: Welche Funktion kann solch ein Büro erfüllen? Können Katastrophen wirklich verhindert werden? Wenn Vorahnungen tatsächlich mit der Fähigkeit zu tun haben sollten, Bilder aus der Zukunft zu empfangen, wie vermutet wurde, dann würden die Warnungen sinnlos sein, weil die zukünftigen Ereignisse sich nicht ändern ließen. Aber doch entsteht beim Lesen von Knights Debüt ein Gefühl für die Faszination, die Menschen wie John Barker angesichts des Unerklärlichen erfasst haben muss. Dass Barker übrigens selbst zum Objekt von Voraussagen wurde und sein Weg (wie von einigen Probanden antizipiert) ziemlich abrupt endete, das ist eine Pointe seines Lebens und des Buches, die man sich kaum besser hätte ausdenken können.…
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Claire Keegan kann Männer. Das hat sie in ihren voran gegangenen Büchern bewiesen. Cathal, der Protagonist ihrer neuen, gerade einmal 60 Seiten umfassenden Erzählung „Reichlich spät“, ist allerdings kein Sympathieträger. Kein gewissenhafter Familienvater wie Bill Furlong in „Kleine Dinge wie diese“, kein barmherziger Beschützer wie Mr. Kinsella in „Das dritte Licht“. Cathal ist ein Durchschnittsmann, und das ist das Schlimme daran. Wir begleiten ihn über gerade einmal 60 Seiten hinweg durch einen Tag seines nicht sonderlich spektakulären Lebens. Ein kleingeistiger und misogyner Held Cathal ist kein ganz junger Mann mehr, Angestellter in einer Behörde in Dublin, lebt aber in der kleinen Küstenstadt Arklow, etwa 70 Kilometer südlich von Dublin. Der Tag, an dem die Erzählung einsetzt, sollte der Tag sein, an dem Cathal und seine Verlobte Sabine heiraten. Warum es nicht dazu kommt, erklärt der Erinnerungsfilm, der in Cathals Kopf abläuft. Zwei Jahre zuvor hatten Cathal und Sabine sich auf einer Tagung kennengelernt. Sabine mag das Leben auf dem Land. Sie sammelt Pilze und Nüsse, kocht für Cathal, schläft mit ihm, alles mit scheinbarer Selbstverständlichkeit. Doch in Cathals Blick auf Sabine liegt das Grundmissverständnis dieser Beziehung: Fast alles, was sie nach Hause brachte, bereitete sie mit einer Leichtigkeit und einer Geschicklichkeit zu, die Cathal für Liebe hielt. Quelle: Claire Keegan – Reichlich spät Es ist glänzend, wie Claire Keegan es gelingt, ihren Protagonisten auf subtile Art und Weise zu entblättern, zu seinem kleingeistigen und misogynen Kern vorzudringen, ohne ihn explizit anzuklagen oder zu denunzieren. Es sind wie immer bei Claire Keegan die sprechenden Details, die ihre Figuren indirekt charakterisieren; unbewusste Gesten, unkontrollierte Reaktionen. Sabine will, das ist die Schlüsselszene der Erzählung, im Supermarkt Kirschen für einen Kuchen kaufen; Cathal erklärt sich bereit, sie zu bezahlen. Mehr als sechs Euro kosten sie. Dieser vermeintlich unverschämte Preis wird noch Wochen später Thema sein zwischen den beiden. Der Heiratsantrag, den Cathal Sabine am selben Abend macht, wenn man ihn überhaupt so nennen kann, fällt dementsprechend aus: Willst du nicht mal darüber nachdenken?‘ ‚Worüber genau?‘ ‚Darüber, ein gemeinsames Leben aufzubauen, ein Zuhause zu schaffen, hier mit mir. Es gibt keinen Grund, weshalb du nicht hier wohnen solltest, statt woanders Miete zu zahlen. Dir gefällt es hier – und du weißt, dass keiner von uns beiden jünger wird.‘ Quelle: Claire Keegan – Reichlich spät Reflexion auf Frauenfeindlichkeit Claire Keegan erweist sich auch in diesem schmalen Werk als eine Meisterin in der Darstellung von Machtstrukturen. Ganz unmerklich dreht sie in „Reichlich spät“ die Verhältnisse um. Im letzten Drittel wird die Erzählung zu einer Reflexion auf vererbte Verhaltensmuster und gesellschaftlich internatlisierte Frauenfeindlichkeit. In seiner Wohnung sitzend, die für den Hochzeitsabend reservierte Champagnerflasche trinkend, ruft Cathal sich noch einmal die Gespräche ins Gedächtnis, die er mit Sabine geführt, die Vorwürfe, die sie ihm gemacht hat. Das Raffinierte daran ist, dass er in allem, wie er Sabines Vorhaltungen ihm gegenüber für sich einordnet, ihre Sichtweise bestätigt. Cathal erinnert sich an einen Vorfall aus seiner frühen Erwachsenenzeit, als er mit seinem Bruder und dem Vater am Esstisch saß. Die Mutter hatte Pfannkuchen gebacken. Als sie sich setzen wollte, zog der Bruder ihr den Stuhl weg; die Mutter fiel rücklings zu Boden und landete in den Scherben ihres Tellers. Alle drei Männer am Tisch lachten. Der Vater am lautesten. Kurz kommt Cathal, vom Champagner seiner abgesagten Hochzeit langsam beschwipst, ins Grübeln. Aber nur kurz: Falls ein Teil von ihm sich fragen wollte, wie er sich wohl entwickelt hätte, wäre sein Vater ein anderer Typ Mann gewesen und hätte nicht gelacht, so unterdrückte Cathal den Gedanken. Er sagte sich, dass der Vorfall nichts zu bedeuten habe. Quelle: Claire Keegan – Reichlich spät Kein überflüssiges Wort Über Claire Keegan wird gesagt, dass es in ihren Texten niemals auch nur ein überflüssiges Wort gibt. Und dass jedes Wort bei ihr auch von Bedeutung ist. „Reichlich spät“ ist ein brillantes Literatur-Kabinettstück, nicht so emotional mitreißend und bewegend wie die lange Erzählung „Das dritte Licht“. Der Blick ist kälter, schärfer. Er richtet sich auf einen Jedermann-Charakter, der als Prototyp einer innerlichen Verrohung gezeigt wird. Ein Mann, der in der Tristesse seiner Einsamkeit einen letzten Triumph feiert: Weder vor noch nach dem Pinkeln wird Cathal, so denkt er sich, zukünftig den Deckel der Toilette herunterklappen müssen.…
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Im April 1782 – also gut sieben Jahre vor der Französischen Revolution - beginnt die Genfer Revolution. Mit ihr beginnt auch Daniel de Roulets Roman „Die rote Mütze“. Die Menschen in den einfachen Vierteln, Natifs und Bourgeois, wollen nicht länger den Bankiers, den schmarotzenden Rentiers, den großen Patrizierfamilien unterworfen sein. König Ludwig XVI., der eine Demokratie vor den Toren seines Reiches fürchtet, nennt die Genfer «die Wütenden». Quelle: Daniel de Roulet – Die rote Mütze Die erste demokratische Revolution Europas in der Schweiz Dabei wüten sie gar nicht. Die, so schreibt Daniel de Roulet, „erste demokratische Revolution Europas“ verlief friedlich - dauerte aber nur knapp drei Monate. Durchsetzen konnten sich die neuen Ideen erst Jahre später. Denn Anfang Juli 1782 jagten die Genfer Patrizier mithilfe von konterrevolutionären Franzosen, Sarden und Schweizern die frühen Revolutionäre aus der Stadt. „Aber diese erste Revolution, die ist auch nicht in Genf bekannt“, sagt Daniel de Roulet und zeigt in der Genfer Altstadt auf die historischen Kanonen, die dort vor dem alten Zeughaus ausgestellt sind und noch heute zum Einsatz kommen - in Erinnerung an die Restauration von 1814. „die Kanonen, die Sie da sehen. Jedes Mal am 31. Dezember schießen wir diese Kanone für die Restauration. Die Patrizier, die lokale Macht von vorher ist wieder an die Macht gekommen, hat all diese revolutionäre Sachen weg. Das wird heute noch gefeiert. Die Hauptfeier von Genf ist La Restauration.“ De Roulet aber interessiert sich für die „revolutionären Sachen“. In „Die rote Mütze“ erzählt er vom Schicksal der 1782 aus Genf verjagten Revolutionäre - und von einem weiteren wenig bekannten Kapitel der Schweizer Geschichte: Samuel, einer der jungen Revolutionäre, verdingt sich als Söldner. Nur wenige im Regiment von Châteauvieux wollten Soldat werden. Manche von ihnen hatten Schulden, eine Familie zu ernähren, oder es war auf ihrem Hof das Heu gegoren, Feuer ausgebrochen und am Morgen trotz des Schnees alles verkohlt und qualmend. Der Rekrutierer hatte sie gedrängt, sein Formular zu unterschreiben. Er nennt es treffend Kapitulation. Quelle: Daniel de Roulet – Die rote Mütze „Für die Leute, die arm waren und keine Möglichkeit hatten, war der Söldnerdienst der Schweizer eine sehr wichtige Sache. Da waren mehr als 2 Millionen Schweizer als Söldner in ganz Europa gegangen und die waren berüchtigt und und teuer verkauft - also richtig als Söldner. Und du hast überhaupt keine Möglichkeit. Was? Wofür kämpfst du eigentlich? Und das ist eine richtige Geschichte.“ Revolutionäre Schweizer Söldner im Diest des Königs Und was für eine: Die revolutionären Söldner aus Genf müssen nämlich 1789 in Paris ausgerechnet den französischen König verteidigen. Aber als ihnen dann der Sold verweigert wird, meutern sie. Es ist eine fast schon absurde Geschichte, die auch mit Daniel de Roulets eigener Familiengeschichte zu tun hat. Der Besitzer des Regiments, dem sich der junge Genfer Revolutionär Samuel verkauft hat, ist einer seiner Vorfahren, der Adlige Jacques-André Lullin de Châteauvieux. „Das ist ein Sauhund. Das ist ein unglaublicher Colonel Proprietaire. Und die machten, was sie wollten mit diesen 1000 Leuten. Ein Regiment waren immer 1000 Leute. Dieser Vorfahr, der hat 300 davon getötet und andere zum Straflager gebracht. Und ich habe dann gedacht, du musst etwas schreiben, du kannst diese Geschichte nicht so lassen. Das ist ein Motor zum Schreiben, also dieser Hass zu einem Vorfahren.“ Der Gefreite André Soret wird in aller Öffentlichkeit lebendig gerädert werden. Statt vor seinen Richtern zusammenzubrechen, lässt André seine Ketten rasseln und zitiert schlagfertig einen Satz von Rousseau: „Die Reichen sind wie ausgehungerte Wölfe, die, sobald sie Menschenfleisch nur einmal gekostet haben, alle andere Nahrung verwerfen und nichts als Menschen verschlingen wollen.“ Quelle: Daniel de Roulet – Die rote Mütze Jahrelang recherchierte Daniel de Roulet in Archiven über die armen Söldner im Besitz seines Vorfahren – und machte sie zu heldenhaften Romanfiguren. Wobei das Wort „Roman“ auf dem Buchtitel in die Irre führt: „Die rote Mütze“ ist vielmehr ein langes Prosagedicht, eine Ballade in Versen. Kurz, knapp, rhythmisch, mitreißend. „Irgendwie eine Art von Lyrik. Ich nenne das auf Französisch prose coupée – geschnittene Prosa.“ Auch ein Liebesroman Und: „Die rote Mütze“ ist ein Liebesroman. In den Wirren der Pariser Revolution und den Qualen des Söldnerlebens sehnt sich der junge Samuel nach seiner großen Liebe - Virginie, einer schönen Fischerin vom Genfersee. Und wenn er ganz unglücklich ist, helfen Samuel Gedanken an den See und die Namen seiner Winde, den „Joran“ oder den „Vaudaire“. Gern denkt Samuel an den, der einfach Wind genannt wird. Wenn er am Horizont erscheint als indigoblauer oder schwarzer Streifen, dann gleicht der Genfersee dem Meer mit seinen großen Wellen, die heranrollen wie die Ringe eines Reptils. Der Wind ist die gleichmäßigste Luftströmung von allen, die sich streiten um den See, und die am wenigsten launische. Daniel de Roulet, der gerade 80 geworden ist, hat aus dem Hass für seinen Vorfahren, den Söldnerchef, ein schönes liebevolles Buch gemacht. Er nennt es sehr richtig „Geschichte von unten“. Die Mächtigen erdrücken einen mit ihrem Erfolg. Ihren Sklaven, den weniger vom Glück Begünstigten, erteilt nur die Literatur das Wort. Quelle: Daniel de Roulet – Die rote Mütze…
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1 Locken auf der Glatze drehen: zum 150. Geburtstag von Karl Kraus 12:23
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12:23In jedem Fall aber war Kraus mit seinen prägnanten Sprüchen, seiner Zeitschrift „Die Fackel“ und seinen Theaterstücken einer der wichtigsten Impulsgeber der Moderne. Ein Gespräch über seine bis heute anhaltende Strahlkraft zum 150. Geburtstag am 28. April. Ein Interview mit Katharina Prager, der stellvertretende Direktorin der Wienbibliothek im Rathaus und Mit-Herausgeberin des 2022 erschienenen Karl Kraus Handbuchs.…
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1 Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz 4:34
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4:34Abdulrazak Gurnah verschränkt die Geschichte eines Jungen aus der muslimisch-arabischen Minderheit im Sansibar der 1970 er Jahre mit der dazugehörigen nationalen Geschichte Tansanias und Sansibars - der Heimat auch des Autors Abdulrazak Gurnah. Bevor ihm die Dinge entglitten waren, hatte mein Vater jahrelang im Büro der Wasserbehörde in Gulioni gearbeitet. Jobs in der öffentlichen Verwaltung waren sicher und hoch angesehen. Ich war damals noch jung und kenne diesen Abschnitt seines Lebens nur aus Erzählungen. In meinen späteren Erinnerungen arbeitet er an einem Marktstand oder sitzt untätig in seinem Zimmer herum. Sehr lange hatte ich keine Ahnung, was schief gelaufen war, und nach einer Weile fragte ich nicht mehr nach. Es gab so vieles, was ich nicht wusste. Quelle: Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz Revolutionäre Umbrüche in Tansania Es ist ein nüchterner, dem realen Ereignis und dem Alltag folgender Ton. Mit dem Fortgang des Romans, mit dem Älterwerden seiner Figuren greifen die politischen Ordnungen immer unerbittlicher auch nach der Familie des Erzählers. Nachdem die Kolonialmächte Mitte der 1960er Jahre vertrieben sind, gerät Tansania in immer neue politische Konstellationen mit stets anderen Gewinnern oder Verlierern. Auch die Eltern des Erzählers bewegen sich in einem Kreislauf aus Täuschung und Verrat – und dort, wo einer gerettet wird, muss an anderer Stelle dafür bezahlt werden. Die revolutionären Umbrüche verwirklichen sich auch im gnadenlosen Zugriff auf Liebesbeziehungen und Familien. Die Leidenszeit ist mit dem Abzug der Kolonialmacht nicht zu Ende: Die neuen Machthaber taten sich dabei besonders hervor, stellten den Frauen, die sie begehrten, ungeniert nach und mussten kaum befürchten, irgendwen damit zu verletzen. Oder vielleicht gingen sie absichtlich indiskret vor, gerade um andere zu verletzen, so wie ein Mann den geschlagenen Rivalen demütigt, indem er dessen Mutter, Schwester oder Frau respektlos behandelt. Sie prahlten mit ihren Eroberungen und der angerichteten Verwüstung, belegten einander mit Namen aus dem Tierreich und lachten sich über die eigenen Frivolitäten kaputt. Quelle: Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz Studium in Großbritannien Nur wenn die Mutter des Erzählers sich mit einem der Machthaber einlässt, kann sie ihren in Ungnade gefallenen Bruder retten, zerstört damit aber ihre eigene Familie. Diese Tragödie, die Kindheit und Jugend des Erzählers mit der zerstörten Liebe seiner Eltern, aber auch die in die Köpfe eingepflanzten rassistischen Muster zwischen den einzelnen Communities - all das wird aus der Perspektive des nunmehr Erwachsenen zusammengetragen, erzählt und neu gedeutet. Als der Erzähler schließlich zum Studium nach Großbritannien geht - wir sind in den 1980er Jahren - steuert er zugleich auf seine intellektuelle und emotionale Befreiung zu: Er erkennt, dass an ihm wiedergutgemacht werden soll, was seinen Eltern einst angetan wurde. Gurnahs Ich-Erzähler, zumindest ein Stück weit, kann aus diesen Zwängen ausbrechen, und er bricht aus dem für ihn vorgesehenen Lebensplan aus: Schriftsteller will er werden, nicht Manager oder Politiker. Einige der Texte, die ich fürs Studium lesen musste, befremdeten mich durch ihre zur Schau gestellte Kunstfertigkeit, ihre gnadenlose Besserwisserei und ihre, wie mir damals schien, absolute Sinnlosigkeit. Andere konnte ich beim besten Willen nicht verstehen, und dann schwankte ich zwischen Bewunderung und Verachtung für diese Leute, die ihr Leben lang an Artefakten von überbordender Hässlichkeit gefeilt hatten. Als ich später selbst zu schreiben anfing, stellte ich fest, dass ich anscheinend doch etwas gelernt hatte, dass der Weg sich mir langsam offenbarte. Quelle: Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz Eine wahrhaftige Geschichte in unprätentiöser Sprache So einfach die Sprache und der Stil des Nobelpreisträgers auch erscheinen mögen - Gurnah zieht seine Leserschaft um so nachdrücklicher in seinen Roman mit hinein. Der unprätentiöse Stil beglaubigt die Wahrhaftigkeit dieser Geschichte, und mit der stilsicheren Übersetzung von Eva Bonné ist das nun auch in Deutschland nachzulesen.…
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Diese Erzählung macht sich klein. Sie kommt daher wie eine Kindergeschichte. Aber sie tarnt sich nur, denn sie erzählt vom Werden einer Schriftstellerin: ein Porträt der Autorin als Kleinkind. Im Zentrum: Marigold und Rose, Ringelblume und Rose. Sie sind Zwillinge, sie sind Babies. Von Beginn an ist klar, die eine, Rose, ist everybody`s darling, die andere, Marigold, ist introvertiert. Marigold hatte sich in ihr Buch vertieft; sie war schon beim V. Rose machte sich nichts aus Büchern von der Sorte, wie Marigold sie gerade las und in denen Tiere vorkamen statt Menschen. Rose war gesellig. Sie mochte Aktivitäten, bei denen andere eine Rolle spielten, baden beispielsweise. Quelle: Louise Glück – Marigold und Rose Reiches Innenleben zweier Babies Schlau sind beide, etwas altklug vielleicht. Im Babyhirn wird reichlich gedacht, obwohl beide noch gar nicht sprechen können, ja: Keiner der Zwillinge konnte lesen, sie waren noch Babys. Aber wir haben, dachte Rose, ein Innenleben. Quelle: Louise Glück – Marigold und Rose Ein reiches, muß man sagen. Denn da wir nicht wissen, was in ihnen vorgeht, erlaubt sich die Dichterin die Freiheit, den Babygedanken keine Grenzen zu setzen. Es wird mehr reflektiert als erzählt. Darauf muss man sich als Leserin, als Leser einlassen. Glücks Prämisse: Denken ohne Sprache ist möglich Denken ohne Sprache ist möglich, so lautet die Grundprämisse dieser Geschichte. Das erfahren wir von der allwissenden Erzählerin. Und sogar Kommunikation findet zwischen den Zwillingen ohne Worte statt, als könnten die beiden Gedanken lesen. Sie gehören zusammen und stehen doch in andauernder Konkurrenz, eine Idylle der harmonischen Zweisamkeit läßt Louise Glück gar nicht erst aufkommen, Rose stellt sich ihre Schwester als Haustier vor, Marigold träumt davon, Rose zu schlagen, ihre jeweiligen Defizite spiegeln sich im andern. Und dann sind da noch die Eltern mit ihren Vorlieben, der gutaussehende, aber in sich gekehrte Vater, die geschäftige Mutter, die eine ihrer Töchter schon mal übersieht. Aber wer ein Buch schreiben will, muß doch auch Worte lernen. Und die sind, das erfährt Marigold nach dem Tod der Großmutter, immer an Verluste gebunden. Nur was nicht mehr da ist, muß mit Worten bezeichnet werden. Erst dann beginnt Zeit, erst dann beginnt Erinnerung. "Alles wird verschwinden. Immerhin, dachte sie, kenne ich jetzt mehr Wörter. Im Kopf legte sie eine Liste aller bekannter Wörter an: Mama, Papa, Bär, Biene, Hut. Es wird, dachte sie immer so weitergehen. Alles wird verschwinden, und ich werde neue Wörter lernen. Mehr und mehr und immer mehr, und dann schreibe ich mein Buch." Und: Manchmal überlegte sie sich, das Sprechen einfach zu überspringen und aufs Schreiben zu warten. Quelle: Louise Glück – Marigold und Rose Das klingt wie das Paradies der Schriftstellerin Louise Glück, die auf die nicht nur für sie überraschende Nachricht vom Literaturnobelpreis 2020 mit Panik reagiert hat, weil sie, wenn nur möglich, Öffentlichkeit meidet. Oder zugespitzt: Schreiben ist für sie - und Marigold - Freiheit, Sprechen das Gegenteil: ein Gefängnis. Autobiographische Anklänge Ein wenig hat man den Eindruck, Louise Glück hat in diese Erzählung ihre eigene schwierige Biographie, über die sie auch offen spricht, einfließen lassen, die Probleme mit ihrer übermächtigen Mutter, Marigold ist das Vaterkind, Rose der Liebling der Mutter, die jüdische Herkunft, der Vater vererbt Marigold seine, wie es heißt, jüdischen Schuldgefühle, und nicht zuletzt der Traum einer Schwester, die die eigene Hälfte zum Ganzen ergänzt, weil im realen Leben Louise Glück ihre ältere Schwester früh verloren hat. Am Ende sind die Zwillinge eins. Und schlau und naseweis wie sie sind, wundern sie sich darüber, da sie doch immer schon eins sind und waren. Die Pointe, sie haben Geburtstag: Sie werden eins, also ein Jahr alt. Und sind damit in der Zeit angekommen. Marigold wird in der folgenden Nacht träumen, dass sie ein Buch verfasst, es ist das Buch, das wir zu lesen bekommen. Sicher kein Hauptwerk, aber ein Schlüssel für Louise Glücks Schreiben, in dem sie behutsam ihre Poetologie entfaltet. Sie legt Wert auf die Erkenntnis, dass Dichten dem Verlust entspringt und der Erinnerung, denn wie sie in einem ihrer letzten Gedichte geschrieben hat: „Worte sind keine Lösung.“…
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Der Titel von Anna Enquists neuem Roman – „Die Seilspringerin“ – hat einen kunstgeschichtlichen Bezug: 1976 schuf der niederländische Maler Co Westerik ein 18 Meter hohes Wandbild für ein Polizeirevier in Rotterdam. Es zeigt ein seilspringendes Mädchen. Zwölf Jahre später aber wurde dieses „Rope Jumping Girl“ zusammen mit der Polizeistation abgerissen. Ein Nachleben hat dieses Gemälde nun bei Anna Enquist. Ein 18 Meter großes Wandbild wird abgerissen Für ihre Protagonistin Alice Augustus wird es zum Sinnbild des eigenen Lebens: In der kunstfertigen, schwerelosen jungen Frau auf dem Gemälde, erkennt sich Alice wieder. Aber auch im Abbruch, im Abriss der Wand – das Mädchen landet auf dem Boden der Tatsachen so wie die Komponistin Alice in der Realität des Lebens. Selbst in Momenten des Erfolgs holen sie Gefühle des Zweifels, der Scham, der Unzulänglichkeit ein. Meine Mutter hat recht, ich habe einen schlechten Charakter. Das ist angeboren, unabänderlich. Zum Glück kann ich noch schöne Dinge machen. Es könnte schlimmer sein. Quelle: Anna Enquist – Die Seilspringerin Ja, es könnte schlimmer sein: Da ist zwar der Mutterkomplex, da ist die verkorkste Liebesgeschichte mit ihrem viel älteren Professor, eine Fehlgeburt in jungen Jahren, heimlich geschriebene Werbejingles als Brotjob, die Ehe mit einem wirklichkeitstüchtigen Finanzjuristen und der plötzlich aufkeimende Kinderwunsch, der sich nicht bändigen lässt. Da ist aber auch die ernste Musik, die ungeheure Klangwelt in ihrem Innern, in der sie sich verlieren kann und zu sich selbst kommt. Neurotisch-kompliziertes Leben und weltentbundene Klangkunst – zwischen diesen beiden Sphären herrscht eine unangenehme Spannung. Kunst oder Kind – Alice muss sich entscheiden Lässt sich das Streben nach neuen musikalischen Strukturen durch biographische Zufälle und Entscheidungen noch nachvollziehen, so ist die Kinderwunsch-Obsession allerdings kaum vorbereitet: Natürlich gibt es biologistische Faktoren – die sprichwörtliche Uhr tickt. Man darf auch vermuten, dass Alice mit einer Tochter – sie wünscht sich eine Tochter! – das Verhältnis zur eigenen Mutter überschreiben möchte. Weil Alice nicht schwanger wird, steigert sich das Verlangen ins Manische, obwohl sie zugleich im Muttersein eine Gefahr für ihre künstlerische Kreativität erkennt. All das ist in ihren Augen ein weiterer Beweis für ihre Unzulänglichkeit – und für die Lesenden eine durchaus enervierende Verzweiflungsspirale. Gleichwohl gibt es viel, was für Enquists „Seilspringerin“ einnimmt, etwa wie die Autorin seelische Verstimmungen mit musikalischen Motiven verknüpft. Enquist schafft für ihre Erzählerin einen teils sarkastischen, teils schonungslos ehrlichen Ton, als würde man einer langen Therapiesitzung beiwohnen – eine Stimme, in deren Timbre sich Widersprüche und Widerstreit eingeschrieben haben. Wir sind zuweilen ganz in den schwindlig machenden Denkschleifen, im Teufelskreis der Erinnerungen ihrer Alice gefangen. Die Intensität entsteht, weil die personale Erzählweise kaum Distanz zur Protagonistin zulässt. Ihre Ängste, ihre Unsicherheit, ihre Perfektionslust, ihre Verzweiflung werden spür-, wenn auch nicht immer verstehbar. Schnell zurück an den Schreibtisch! Ach ja, sie sitzen in einem Restaurant, da muss bestellt und gegessen werden. Jetzt mit dem Kopf dabeibleiben, denkt sie, gib jetzt nur nicht dieser Mutlosigkeit nach, später darf ich wieder an den Schreibtisch, ans Klavier, etwas machen, etwas, wohinter ich stehe und worüber ich mich freuen kann, etwas, das wirklich meins ist. Denk an Haydn, der konnte seinen Erfolg aufrichtig genießen und sich als wertvoller Komponist fühlen. […] Er ist ihr Vorbild. Quelle: Anna Enquist – Die Seilspringerin Die Wucht der Biologie gegen die Unbedingtheit der Kunst – das ist ein bisschen apodiktisch, antiquiert, reduktionistisch. Aber zum Glück gibt es bei Enquist genug Störmomente und Irritationen, die Eindeutigkeiten bis zum Finale im Amsterdamer Konzerthaus unterlaufen. Ein ambivalentes Urteil also: ein etwas einfach gestrickter Roman mit einer komplex tickenden Figur.…
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1 Zdena Salivarová – Ein Sommer in Prag | Buchkritik 4:00
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4:00Ein Sommer in Prag irgendwann in den frühen 1950er Jahren: Die Sonne brennt heiß vom Himmel, die Menschen im Schwimmbad haben krebsrote Rücken, die Blumen im Park verdorren und Jana Honzlová, Sängerin und Tänzerin im staatlichen Folkloreensemble Sedmikrása, sitzt tagein tagaus im Büro, bearbeitet die hin und wieder anfallende Post und hat Zeit. Sehr viel Zeit. Schon oft durfte sie nicht auf Auslandstourneen mit und auch dieses Mal, als das ganze Ensemble samt Chef nach Finnland reist, muss sie in Prag bleiben. Die Sängerin Jana darf nicht mit nach Finnland Über die Gründe kann sie nur mutmaßen. Liegt es daran, dass ihr Vater in die USA geflohen ist? Daran, dass ihre Mutter kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn sie mit den Nachbarn über die Verkommenheit von Staat und Partei spricht? Sicher ist nur, es gibt offenbar jemanden im Ensemble, der ein Interesse hat, Jana zu schaden. Aber wer? Selbst die Dokumente, die Jana im Safe ihres Chefs findet, geben darüber nur bedingt Auskunft. Die meisten Beurteilungen erinnerten an Berichte, wie sie in dunkelsten Feudalzeiten die Kreishauptmänner Seiner Kaiserlichen Hoheit erstattet hatten und überschlugen sich in Empfehlungen, wie mit mir zu verfahren sei. Die netteren gaben irgendeinem Vorgesetzten den Tipp, mich zur Umerziehung in die Schwerindustrie zu schicken. Quelle: Zdena Salivarová – Ein Sommer in Prag Die 1933 geborene Zdena Salivarová hat in ihren ersten Roman durchaus einige autobiographische Details einfließen lassen. Wie Jana war auch sie selbst einst Sängerin und Tänzerin im staatlichen tschechoslowakischen Folkloreensemble, auch ihr Vater floh in die USA und ihr Bruder verbüßte ebenfalls eine zehnjährige Haftstrafe mit Zwangsarbeit in den Uranminen von Jáchymov. Dennoch ist ›Ein Sommer in Prag‹ kein autofiktionaler Text, der sich am eigenen Erleben entlanghangelt, denn die Geschehnisse sind kunstvoll verwoben, mit einem guten Gespür für Dramatik arrangiert und zugespitzt und haben ja auch eine profunde politische und zeitdokumentarische Bedeutung. Zdena Salivarová veröffentlichte ihren Roman in Kanada Salivarová schrieb diesen Roman in den Jahren 1968 bis 1969, veröffentlicht wurde er jedoch erst 1972 und auch nicht in der Tschechoslowakei, sondern im kanadischen Exil, in das die Autorin nach der Niederschlagung des Prager Frühlings gegangen war. Zu direkt war die Kritik in ihrem Roman an den kommunistischen Zuständen: Darin wohnt Hauptfigur Jana mit ihrer Mutter, der kleinen Schwester Andula und dem Bruder Hugo in einer heruntergekommenen Wohnung in Karlín, einem eher unglamourösen Stadtteil Prags. Die baufällige Pawlatsche der Familie, eine Art Hinterhofbalkon, wird trotz mehrfacher Bitten ewig nicht repariert, bis er eines Tages herunterbricht. Die Straßenbahnen sind ständig überfüllt, weshalb Jana meist zu Fuß läuft. Die Leute aus der Partei sind allesamt Karrieristen mit einem Hang zur Kleinkriminalität. Und als ihre Kollegin Frau Pelikánová eines Tages überraschend stirbt - ausgerechnet als Jana bei ihr zu Besuch ist - versucht die Staatssicherheit, Jana einen Mord anzuhängen, um sie zu nötigen, inoffizielle Mitarbeiterin zu werden und ihre Kollegen zu bespitzeln. Leicht lesbar und doch existentiell dringlich Die studierte Dramaturgin Salivarová hat ihren Roman sehr präzise gebaut. Er ist flott zu lesen, denn die Sprache ist locker und sehr an der Mündlichkeit orientiert. Die Sprache zeigt Janas sarkastischen Blick auf die Welt. Als Andula fünfzehnjährig schwanger wird und den Kindesvater - einen Soldaten - heiraten will, kommentiert Jana das so: Das Wasser fing an zu kochen, und ich bereitete drei Tassen Tee zu. Das wär natürlich ´n Desaster. Noch ein Baby. In dieser engen Bude. Und den Landser als Dreingabe. Wo waren verflixt noch mal die Untertassen, ich konnte nirgends welche finden. Egal, so konnte er gleich mal sehen, dass Andula keine gute Partie war. Ich stellte die Tassen auf ein angeschlagenes Tablett und trug es rüber in die Stube. Quelle: Zdena Salivarová – Ein Sommer in Prag Beklemmend ist im Verlauf der Lektüre vor allem die Allgegenwart der Spitzelei. Nicht nur, weil Herr Sedláček Jana so bedrängt, sondern weil Jana sich bei ihrem Gegenüber nie sicher sein kann, ob es sie aus ehrlichen Motiven kennenlernen oder nur etwas über ihre Gesinnung in Erfahrung bringen will. Derart Beklemmendes so zu schreiben, dass es sich leicht liest und trotzdem nichts von seiner existentiellen Dringlichkeit einbüßt, das ist große Kunst. Dass dies im Deutschen ebenso gut aufgeht wie im Original, ist nicht zuletzt der hervorragenden Übersetzung zu verdanken.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
1 Guro Kulset Merakeras / Katrin Glatz Brubakk – Inside Moria. Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit 4:00
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4:00Seit 2015 sind die Flüchtlingsdramen an Europas Grenzen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geraten. In diesem und im folgenden Jahr erreicht die Anzahl der Flüchtenden in Deutschland ihren Höhepunkt: Mehr als eine Million Menschen suchen Schutz. Bundeskanzlerin Merkel steht mit ihren Worten „Wir schaffen das“ für eine Willkommenskultur. 2015 ist aber zugleich der Startschuss für rechtspopulistische und faschistische Bewegungen, die gegen diese Willkommenskultur Front machen. Im August 2015 beginnen die Aufzeichnungen von Katrin Glatz Brubakk: Die Türkei, deren Gebiet sich zu drei Prozent auf der europäischen Balkanhalbinsel befindet, bildet den Übergang zum Nahen Osten. Studiert man die Karte, dann sieht man, dass die Ägäis mit Inseln gespickt ist. Eine der größten ist wie ein Dreieck geformt und liegt unmittelbar vor der Küste zur Türkei bei der schmalen Meerenge von Mytilini. Knapp zehn Kilometer trennen die Nordspitze der Insel und das türkische Festland. Dennoch ist Lesbos eine der 2000 Inseln, die zu Griechenland gehören. Das ist Europa. Quelle: Guro Kulset Merakeras / Katrin Glatz Brubakk – Inside Moria Inhumanität mitten in Europa Ein Europa, das sich auf seine Humanität beruft. Ein Europa, das um seinen Wohlstand besorgt ist. Die deutsch-norwegische Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk hat sich acht Jahre lang als Helferin betätigt, sie hat mit Flüchtlingen gesprochen, ihre Schicksale aufgeschrieben, von ihren Erfahrungen mit rüden Beamten und Staatsorganen berichtet. Eine griechische Psychologin wird Ende 2022 mit drastischen Worten zitiert. Wir töten Kinder. Wir führen Pushbacks durch. Das sind wir, Griechenland und die EU. Nicht die Türken, sondern wir“, sagt Vicky mit Tränen in den Augen. Ihre griechischen Freunde auf dem Festland weigern sich zu glauben, was sie erzählt, sie aber ist hier auf der Insel und weiß, was sie sieht. Weiß, was geschieht. Quelle: Guro Kulset Merakeras / Katrin Glatz Brubakk – Inside Moria Pushbacks und Kriminalisierung Eine Statistik der Hilfsorganisation Aegean Boat Report gibt für die Zeit von 2017 bis 2022 eine Übersicht über die Verstöße gegen die Menschenrechte: Rund zweitausend Boote seien in diesen fünf Jahren mit insgesamt fast 50 000 Menschen an Bord über die Seegrenze zurückgestoßen, -gedrängt oder -geschleppt worden. Pushbacks, so heißt das, wenn die griechische Küstenwache unerwünschte Flüchtlinge ins Meer zurücktreibt. Gewaltsam und rücksichtslos. Und die Helfer in der Not werden kriminalisiert. Aufgrund einer verordneten Abschottungspolitik der Europäischen Union. Einer der Betroffenen ist der norwegische Fotograf Knut Bry, der für dieses Buch beklemmende Fotos zur Verfügung gestellt hat. Wegen Spionage wurde er verhaftet, gegen Kaution kam er frei, unerwünscht in Griechenland ist er geblieben. 15 Jahre in einem griechischen Gefängnis ist nicht gerade das, wovon ich geträumt habe, sagte Knut am Tag, nachdem er aus der U-Haft gekommen war, trocken zu mir. Würde er ein solches Urteil bekommen, würde er vor seiner Freilassung 90 Jahre alt werden. Er war besorgt. Er hatte viele Beispiele willkürlicher Behandlung seitens griechischer Behörden gesehen und spürte plötzlich die Furcht, dass dies auch ihn treffen könnte. Quelle: Guro Kulset Merakeras / Katrin Glatz Brubakk – Inside Moria Empörend und schwer erträglich... Heute wagt sich der Fotograf nicht mehr nach Griechenland, die juristische Verfolgung ist unkalkulierbar, die Einschüchterungen haben gefruchtet. Es ist schwer erträglich, diese menschenverachtende, kriminelle, rassistische, diskriminierende und von höchsten Stellen geduldete und geförderte Politik zur Kenntnis zu nehmen. Gut und wichtig ist es, dass der Westend-Verlag das Thema mit diesem Buch wieder ins Bewusstsein gerückt hat. „Inside Moria“ beleuchtet ergreifende Flüchtlingsschicksale, die an die Nieren gehen, Schmuggler, Korruption, Vergewaltigung auf den Routen in die versprochene Freiheit, bürokratische und gesetzliche Anordnungen, die Tür und Tor öffnen für Willkür, Drangsalierung, Not und Tod. Leider wirkt das Buch oft abstrakt, hölzern, zu wenig anschaulich. Und die Sprache ist öde und in der Übersetzung ungelenk. Ein Jammer bei einem so wichtigen Thema.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
1 Angela Krauß – Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen. 4:00
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4:00Die Bücher von Angela Krauß sind schmal, doch hochkonzentriert. Sie gehen nicht in die Breite, sondern in die Tiefe. Man muss sie mehrmals lesen; das gleicht ihre Kürze aus. „Das Weltgebäude muss errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen“, lautet der poetische Titel ihres neuen Prosawerkes, in dem sie das Universale und das Individuelle zusammenklingen lässt. Bei Angela Krauß geht es immer um die Frage, wo und wie der Mensch sich in Raum und Zeit verankern kann. Diese Verortung ereignet sich genau dort, wo sie seit langem lebt: in der oberen Etage eines Altbaus in Leipzig, der den Blick auf das Areal des Güterbahnhofs, vor allem aber in den Nachthimmel frei gibt, wo die blinkenden Frachtflugzeuge der Post den nahen Flughafen ansteuern. Delikate Dreieinigkeit: Besuch von Postbotin, Tänzerin und Fee Die Füße auf dem historischen Boden der Tatsachen, den Kopf im nach oben offenen Nachthimmel: Das ist der Ort ihrer traumhaften Existenz. Hier bekommt ihre Ich-Erzählerin Besuch von einer engelsgleichen Postbotin, von einer Tänzerin, die naturgemäß auf Bewegungen in Raum und Zeit spezialisiert ist, und von einer Fee, die ihr einen Wunsch gewähren möchte, nur einen, und auf die Nachfrage der Träumerin, wieso nicht drei? mit einem lakonischen „Zu spät“ antwortet. Sich auf nichts weniger als das Universum zu beziehen gibt Halt und Beistand. Erst recht, da dieses Universum noch kaum erforscht ist, fast zur Gänze unbekannt. Obendrein unendlich. Kann es im Unendlichen ein Zu-spät geben? Gelegentlich wird die Menschheit von Entdeckungen ihrer Teleskope überrascht. (…) Der Mensch merkt auf. Er spürt, es bleibt etwas ungesagt: Wir leben im Ungewissen. Quelle: Angela Krauß – Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen. Leipziger Haus mit Sternwarte auf dem Dach Dieses Ungewisse mag beunruhigen, ist aber zugleich erwünscht. Was wäre das Leben, wenn alle Türen und Räume geschlossen blieben? Nicht zufällig ist der Leipziger Altbau mit einem Torhaus ausgestattet und mit einer Sternwarte auf dem Dach. Tore und Türen und Ausblicke spielen in diesem Universum eine zentrale Rolle, auch eine Tapetentür, die sich leicht übersehen, hinter der sich aber auch wohnen lässt. Durchlässe, Durchgänge, Geburtsvorgänge sind miteinander zu einer architektonisch zu bestimmenden Existenz verwoben, in der das Ich immer wieder sich selbst als etwas Fremdem begegnet. Angela Krauß‘ Bücher sind Schwebe-Essayistik Angela Krauß schreibt keine Romane oder Erzählungen. Ihr Ich handelt nicht, also gibt es auch keine Handlung im engeren Sinn. Sie schreibt Gedankenpoesie, eine lyrische Prosa oder traumhaft schwebende Essayistik. Kein Wunder, dass ihre Bücher ohne Gattungsbezeichnung auskommen müssen, weil sie in keine Schublade passen. Die Welt ist unbenannt, wenn der Mensch in sie gleitet, ein Alles und ein Nichts, ein jäh aufklingender Raum der Erwartung, und alle Räume dieses Weltgebäudes sind vorerst verschlossene Orte des Wissens, das vergessen wurde. Quelle: Angela Krauß – Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen. Die Kapitelüberschriften bilden aneinandergereiht den Gang durch das Gebäude nach. Auf die „Hallen der Erwartung“ und „Tore der Verwandlung“ folgen „Küchen und Keller“ und „Kinderzimmer“. Letztere sind, wie auch andere Räume im Haus, von Erinnerungen bewohnt, so dass das Haus auch ein Gehäuse für biographische Bruchstücke ist. Die Orts- und Selbstbetrachtung endet schließlich in der Sternwarte unterm Dach. Da darf sich das erzählende, erlebende Ich schon einmal auf die Ewigkeit einstellen und an andere Dimensionen des Daseins gewöhnen. Um nicht weniger geht es der 73-jährigen Angela Krauß in ihrem kleinen, groß angelegten Versuch der Daseinsverwandlung.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
1 Kant. Vom Aufbruch der Gedanken – Graphic Novel über den Philosophen der Aufklärung 4:00
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4:00Mit einer selbstbewussten Aussage des jungen Immanuel Kant beginnt das Buch: Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen. Quelle: Immanuel Kant Die Ideen Kants im Comic Nun jährt sich der 300. Geburtstag des wichtigsten Philosophen der Aufklärung. Geboren am 22. April im Jahr 1724 in Königsberg, verstarb Immanuel Kant mit 80 Jahren ebenfalls in seiner Heimatstadt, die er nur selten verlassen hat. Aber seine Gedanken haben nicht nur weltweit Beachtung gefunden, sie sind bis heute lebendig geblieben und hochaktuell. Und jetzt gibt es sie auch in Form eines Comics. Ein schöneres Geschenk zum runden Geburtstag hätte es nicht geben können. Die Epoche der Aufklärung „Vom Aufbruch der Gedanken“ lautet der Untertitel der Graphic Novel. Sie gibt einen Überblick über das Leben und die Werke eines Philosophen, dessen Alltag zwar von einer stillen Zurückgezogenheit geprägt war, der sich aber in alle wichtigen Debatten seiner Zeit eingemischt hat. Kant lebte in einer Epoche großer Umbrüche, in der die Religion ihre gesellschaftliche Leitfunktion an die Wissenschaft verlor. Es entstand ein neues Menschenbild, das die Fähigkeit zu eigenen Urteilen betont und das Kant wie kein anderer in seiner berühmten Aufforderung zum Selbstdenken auf den Punkt gebracht hat: Sapere aude! (Habe Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen!) ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Quelle: Immanuel Kant Das revolutionäre Jahrhundert Mit seinen unaufdringlichen und doch expressiven Zeichnungen gelingt es Hülsmann, den Kontrast zwischen der betulichen Welt des Bürgertums im 18. Jahrhundert und den revolutionären Gedanken herauszustellen, die sich unaufhaltsam ihren Weg bahnten. Unter Rückgriff auf Aussagen von Wegbegleitern setzt er den Alltag des Denkers gekonnt in Szene, seinen strengen Tagesablauf mit den kleinen lustvollen Ritualen. Wir sehen Kant, der zeitlebens unverheiratet geblieben ist, beim Pfeiferauchen, als Billardspieler und in den geselligen Tischrunden, die er auch in seinem Werk immer wieder zum Thema gemacht hat: Allein zu essen ist für einen philosophierenden Gelehrten ungesund. Der genießende Mensch, der im Denken während der einsamen Mahlzeit an sich selbst zehrt, verliert allmählich die Munterkeit. Quelle: Immanuel Kant So diszipliniert Kants tägliches Leben war, so deutlich stand ihm sein berufliches Ziel schon früh vor Augen. Er arbeitete als Hauslehrer, Unterbibliothekar und Privatdozent, lehnte alle Angebote von anderen Universitäten ab, bis er erreichte, was er sich vorgenommen hatte. Im Jahr 1770 wurde er auf den Lehrstuhl für Logik und Metaphysik in Königsberg berufen. Ab dieser Zeit schrieb er an seinen Hauptwerken, die sich um nichts Geringeres als um den Entwurf eines modernen Menschen bemühten, der sich vor allem auf sich selbst verlassen muss. Denn die einzigen Quellen für das Wahre und das Gute in der Welt konnten für Kant nur der Verstand und der Wille der Menschen sein: Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. Quelle: Immanuel Kant Die vier Leitfragen der Philosophie Kants Bei der Einführung in Kants praktische und theoretische Philosophie folgt Hülsmann den vier Fragen, deren Beantwortung sich der philosophische Wegbereiter der Moderne vorgenommen hatte. Die erste Frage lautet „Was ist der Mensch?“ und bezieht sich auf die Grundlagen des Verstehens und Wollens. Die zweite Frage „Was kann ich wissen?“ geht den Fähigkeiten zur Erkenntnis nach, und die dritte Frage „Was soll ich tun?“ ist auf das moralisch richtige Handeln ausgerichtet. Die vierte und letzte Frage „Was darf ich hoffen?“ zielt auf die Problematik ab, welche Rolle dem religiösen Glauben in einer modernen Welt noch zukommen kann. Es ist eine große Leistung, diesen komplexen Stoff in einer Graphic Novel zugänglich zu machen und damit die Neugierde nicht nur auf den Menschen Immanuel Kant, sondern vor allem auf seine Gedanken zu richten.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
Der Roman „Lolita“ von Vladimir Nabokov provoziert bis heute – Männertraum oder Geschichte eines lang anhaltenden Kindesmissbrauchs? Nabokov gelingt in seinem berühmtesten Roman ein großes Kunststück: Er lässt den 40-jährigen Erzähler seine angebliche Liebesgeschichte mit der 13-jährigen Lolita erzählen – und zwischen den Zeilen und trotzdem für jeden sichtbar sich als Scheusal entlarven. ----------------------------------------------------------------------------- Guten Tag, ich bin Alexander Wasner Kulturredakteur beim SWR Vladimir Nabokov erzählt in „Lolita“ von Humbert Humbert, schon der Name ist grotesk. Er ist Literaturwissenschaftler, pädophil, zur Erreichung seiner Zwecke heiratet er Charlotte, die Mutter von Lolita, sie wird aber vom Auto überfahren, da merkt man gleich das gottähnliche Hineinregieren Nabokovs. Humbert ist plötzlich gegenüber dem Objekt seiner Gier erziehungsberechtigt nimmt Lolita aus der Schule und schleift sie unter dem Deckmantel einer Vater-Tochter-Reise durch Amerika. So weit, so einfach. Der Autor versteckt sich Spannend ist die Haltung des Autors zu diesem Helden. Angeblich wird uns der Bericht durch einen John Ray zugänglich gemacht, der nennt Hubert Humbert ein Scheusal. Anschließend folgt der Bericht Humberts aus der Ich-Perspektive. Wir schauen ihm bei seinen Verbrechen und seinem Scheitern zu. Er hat alle Zeit der Welt, seine Weltsicht dazulegen. Unerträglich ausschweifend erzählt er von der Schönheit heranwachsender Mädchen, also derer, die er widerlicherweise Nymphchen nennt, andere sagen vielleicht Backfisch dazu, das ist auch nicht nett, klingt aber nicht pädophil. Er erzählt durchaus diskret, aber deutlich, was körperlich passiert – es ist ein Täter- Roman, der alle moralischen Empfindungen herausfordert. Nicht den Film gucken, sondern den Roman lesen! Man hat Nabokov angegriffen, dass er sich nicht ausreichend distanziert und eine kranke Phantasie hätte – aber das ist ein Vorwurf, der meines Erachtens nur auf die voyeuristisch-anklagenden Verfilmungen zutrifft. Stanley Kubrick war ein Depp, als er in seiner Verfilmung die John Ray und die ganze Vorgeschichte der gemeinsamen Reise wegließ, und mehr noch als er die beiden nicht 13 und 45 sein ließ sondern gefühlt 20 und 35. Schauen sie nicht die Filme an, lesen Sie den Roman. Nabokovs „Lolita“ tut heute noch weh, und wenn am Ende auch Humbert Humbert erzählen muss, dass das Mädchen sich seit Jahren in den Schlaf weint, trifft es den Leser ins Mark. Die Reue dagegen kann man nicht mehr glauben, es ist die Reue dessen, dessen Lebensentwurf gescheitert ist – sein Opfer hat er nie im Blick. Leser werden nicht bevormundet Aber wie gesagt: Nabokov bevormundet seinen Leser nicht. Ein schlaues und oszillierendes Spiel, an dessen Ende der Protagonist furchtbarer demontiert ist, als es eine Verurteilung im Text je erreichen könnte. Kultur darf das? Klar, aber vor allem muss man hier sagen: Literatur kann das, und macht es leider viel zu selten.…
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1 Lutz Dursthoff – Nachruf aufs Paradies | Gespräch 8:18
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8:18Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich auch das Dorfleben verändert. Und so ist das Buch ein wehmütiger, aber trotziger Abgesang auf eine kleine, ländliche Idylle geworden. Der Krieg ist dort nicht zu sehen und zu hören, aber doch zu spüren.
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1 Nachruf aufs Paradies – neue Bücher von Lutz Dursthoff, Naoise Dolan und Maria José Ferrada 54:52
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54:52Lutz Dursthoff – Nachruf aufs Paradies. Meine Frau, unsere russische Datscha und ich Lutz Dursthoff hat sein Paradies gefunden. Mit seiner Frau hat er über viele Jahre eine Datscha in der russischen Provinz zu einem echten Kleinod umgebaut. Sein Buch „Nachruf aufs Paradies. Meine Frau, unsere russische Datscha und ich“ sollte eigentlich eine heitere Beschreibung des russischen Landlebens werden, doch dann kam alles anders. Im „lesenswert“-Gespräch erzählt er, wie der Angriffskrieg auf die Ukraine das Leben in seinem russischen Dörfchen verändert hat. Ein einfühlsamer Bericht über eine naturnahe Idylle, in der der Krieg Herzen und Köpfe vergiftet. Maria José Ferrada – Der Plakatwächter Der Held in Maria José Ferradas neuem Roman „Der Plakatwächter “ will dem Wahnsinn der Welt entfliehen - dazu zieht er auf das Gerüst des Coca-Cola Plakates, das er bewachen soll. Eine erfrischende Erzählung, vorgetragen von einem klugen Elfjährigen. Jahrhundertstimmen II 1945 - 2000: Deutsche Geschichte in über 400 Originalaufnahmen Der Hörbuchtipp „Jahrhundertstimmen 1945 - 2000 “ ist der zweite Teil eines Mammutprojektes. Über 400 Originaltöne erzählen die Geschichten der beiden Deutschlands, darunter bekannte Stimmen, wie die von John F. Kennedy, aber auch nie Gehörtes, wie ein Interview mit Oskar Schindler. Kommentiert und historisch eingeordnet vom Herausgeberteam, so fesselnd kann Geschichte sein. Umstrittene Klassiker und Skandalbücher Außerdem stellt die lesenswert-Redaktion umstrittene Klassiker unter dem Motto „Kultur darf das“ vor. Mit dabei sind Vladimir Nabokovs „Lolita“, Arthur Schnitzlers „Reigen“ und Bret Easton Ellis „American Psycho“. Mehr umstrittene Klassiker gibt es hier: Naoise Dolan – Das glückliche Paar Und Kristine Harthauer hat das neue Buch der irischen Autorin Naoise Dolan gelesen, „Ein glückliches Paar“ – die Kritikerin ist aber leider nicht sehr glücklich mit dem Roman. Musik: Morgan Harper-Jones – Up to the glass Label: PLAY IT AGAIN SAM…
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1 Naoise Dolan – Das glückliche Paar | Buchkritik 6:37
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6:37Es gibt viele Gründe, warum Celine ihren Verlobten Luke nicht heiraten sollte. Einer davon: Er hat sie mit mindestens einer ihrer Brautjungfern betrogen. Bei jedem anderen Paar wäre „Der Bräutigam hat die Braut wahrscheinlich vor ein paar Jahren mit der Brautjungfer betrogen“ schon die Megakatastrophe. Aber für dieses glückliche Paar an diesem glücklichen Tag lief das total unter business as usual. Quelle: Naoise Dolan – Das glückliche Paar Unsteter Herzensbrecher trifft Pianistin Das glückliche Paar, das sind Celine und Luke: Ein Millennial-Pärchen. Sie ist 26, er zwei Jahre älter und ein unsteter Herzensbrecher mit einer langen Liste an Exfreunden und -freundinnen: Luke ist groß und schlank, hat dunkles Haar und einen Job bei einer multinationalen Hi-Tech-Firma in Dublin. Celine hingegen wird als auf „geschmackvolle Weise hässlich“ beschrieben: quadratisches Gesicht, dezente Kleidung. Das auffälligste an ihr: Die schwarzen Lederhandschuhe, die sie sogar in warmen Sommernächten trägt und auch auf Partys nicht auszieht. Denn Celine ist Konzertpianistin. Ihre größte Angst ist es, sich an ihren Händen zu verletzen. Das Klavier ist ihr Leben. Ihr Kopf ist voller Musik und wenn Celine gerade nicht am Piano sitzt, übt sie auf ihrer inneren Klaviatur weiter. Diese Hingabe fand Luke zu Beginn ihrer Beziehung noch sehr anziehend. Kurz nach der Verlobung sieht das schon ganz anders aus: Celine hat echte Klavierfinger. Mit abgekauten Nägeln. Wenn sie spielt und ein Klicken hört, wird das Problem auf der Stelle gelöst. Die Haut an ihren Händen ist schwielig, dabei cremt sie sie abends ein. Jeden Abend. Versucht mal, jemandem zu glauben, der im Taxi zu euch sagt: „Ich will dich jetzt sofort“ und zu Hause geht sie immer, ohne Ausnahme, zuerst ins Bad und cremt sich die Hände ein. Und nicht, um mir einen runterzuholen, das müsst ihr mir bitte glauben. Quelle: Naoise Dolan – Das glückliche Paar Ein Brautpaar, das nicht miteinander spricht Abfällige Kommentare über seine Verlobte - nicht die einzige Macke, die Luke hat. Sein größtes Problem: Er hasst es, Entscheidungen zu treffen. Dass die beiden überhaupt verlobt sind, grenzt an ein Wunder. Luke wirft Celine vor, sie habe ihm die Pistole auf die Brust gesetzt und zur Verlobung gedrängt. Das sagt er ihr aber nicht direkt, sondern denkt es nur. Denn anstatt miteinander zu sprechen, betrügt und belügt er Celine. Und versteckt sich sogar auf seiner eigenen Verlobungsfeier. Er ist zu nervös, um sich unter die Leute zu mischen. So verkriecht er sich, bis Celines Ex-Freundin Maria ihn findet und mit ihm die Party verlässt. Bis zu ihrem Hochzeitstag wird Celine nicht wissen, wohin und mit wem Luke von ihrer Verlobungsfeier verschwunden ist. Sie möchte es im Grunde auch gar nicht erfahren. Celine ist jemand, die sich die schwierigsten Klavierstücke mit großer Lust und Hartnäckigkeit erarbeitet. Mit ähnlichem Arbeitseifer hat sie auch die Beziehung zu Luke aufgebaut. Und das möchte sie nicht einfach aufgeben: Sie hatte ihm schon viele Vertrauensvorschüsse gegeben, hatte ihre gesamte Beziehung mit dem Vorschießen von Vertrauen verbracht, war eine alte, erfahrene Vertrauensvorschießerin. Wenn sie ihm nicht mehr vertraute, wurde sie ins Straucheln geraten. Es wäre das Aus für die Wohnung in der Nr. 23, die Katze und das gesamte Leben, das Celine kannte. Das wollte sie nicht. Und deswegen würde sie ihm vertrauen. Quelle: Naoise Dolan – Das glückliche Paar Alle wissen Bescheid, nur nicht die Braut Dieses „Glückliche Paar“, wie der Titel suggeriert, begleiten wir auf zähen 300 Seiten. Vom Abend ihrer Verlobung bis zum Tag ihrer Hochzeit - wobei bis kurz vor Schluss unklar ist, ob die beiden wirklich heiraten. Dazwischen kommen allerlei Gründe ans Licht, warum Celine und Luke lieber getrennte Wege gehen sollten, sich dazu aber nicht aufraffen können. Diese Beziehung umkreist Naoise Dolan in ihrem Roman in sechs Teilen. Jeder Teil begleitet eine der zentralen Charaktere: Die Braut, den Bräutigam, die Trauzeugen. Jede dieser Figuren blickt anders auf das vermeintlich glückliche Paar . Aber allen wird klar, dass jemand wie Luke nicht für den Bund der Ehe geschaffen ist. Das weiß Celines Schwester Phoebe, die Einzige, die ihm klar ihre Meinung sagt. Das weiß auch Archie, Lukes Trauzeuge und Exfreund. Er kommt über die typische Luke-Mischung nicht hinweg: Minimale Zuneigung kombiniert mit fehlendem Bindungswillen. Das Lukespezifische ist, dass du deine Partner beschissen behandelst, nur um rauszufinden, ob sie dich hinterher immer noch lieben. Quelle: Naoise Dolan – Das glückliche Paar Ob Celine Luke immer noch liebt, das ergründet Naoise Dolan in „Das glückliche Paar“ auf ermüdende Weise: Anstatt ihre Figuren interagieren oder wenigstens ins Gespräch kommen zu lassen, ergehen sich die Protagonisten in Selbst-Analyse und Nabelschau. Und obwohl dieser Text Nähe zu seinen Figuren suggeriert, bleiben diese lediglich Archetypen. Holzschnittartige Beispiele von Millennials: Die Künstlerin, der Workaholic, der bindungsscheue Typ, die Schwarze beste Freundin. Es gibt keinen Raum für eine überraschende, moderne Liebesgeschichte. Stattdessen serviert Dolan eine Textmischung bestehend aus Rückblicken und Grübeleien garniert mit SMS-Chatverläufen in Kapiteln, die manchmal nur aus drei Wörtern bestehen. Natürlich kam Maria. Quelle: Naoise Dolan – Das glückliche Paar Dazwischen streut Dolan banale und sehr kitschige Beobachtungen ein - zum Beispiel über einen zerbrochenen Schwan aus Glaskristall: Die Brauttasche lag immer noch auf Celines Schoß. Sie hatte beide Schwanenhälften in einen Socken gesteckt, um ihre Hände zu schützen, und Satinhandschuhe angezogen, man wusste ja nie. Das Glas konnte ihr nicht wehtun. Aber Luke konnte es. Quelle: Naoise Dolan – Das glückliche Paar Müde Erkenntnis: Das Patriarchat sabotiert die Liebe Jedem in diesem Buch ist klar: „Celine, renn, so schnell du kannst“. Aber keiner spricht das aus. Und die Braut selbst blickt einfach nicht durch. Naoise Dolan verpasst die Chance, zu erzählen, warum. Die Erzählerin bleibt so blind wie ihre Figuren, ohne dass das ein Stilmittel ist, das eine neue Ebene eröffnet. In einer Liebesgeschichte voller queerer Figuren - sowohl Celine als auch Luke sind bisexuell - herrscht weiterhin das Patriarchat mit seinen engen Vorstellungen darüber, wie eine glückliche Beziehung in eine lange Ehe mündet. Und alles dreht sich um den bindungsscheuen Millennial, den weißen Cis-Mann - der Mittelpunkt Romantischer Komödien und Liebesromane. Was bei Jane Austen gespickt war mit Witz und scharfsinniger Gesellschaftsanalyse, reduziert sich bei Dolan auf diese einzige, banale Erkenntnis: In einer patriarchalen Gesellschaft können sich auch queere Paare selbst nur schwer von patriarchalen Ideen über die Liebe lösen. Celine bleibt eine Gefangene dieses Systems. Keine neue Erkenntnis, aber definitiv eine, die weh tut. Doch der Schmerz geht nicht tief, weil Naoise Dolan auch literarisch so unentschieden bleibt, wie ihre Figuren in der Liebe.…
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1 Maria Jose Ferrada – Der Plakatwächter | Buchkritik 7:25
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7:25Eines Montags kletterte Ramón auf das Gerüst mit dem Coca-Cola-Plakat an der Ausfallstraße, und als am Abend die Sonne hinter den Hügeln rings um die Häuser der Siedlung unterging, beschloss er, für immer dort oben zu bleiben. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter) Der Protagonist in Ferradas Roman „der Plakatwächter“ hat von seinem Arbeitgeber die Aufgabe bekommen das riesige Coca-Cola-Plakat am Ortseingang bewachen. Tag und Nacht. Und weil der Job so sinnlos anmutet, wie er mies bezahlt ist, zieht Ramon gleich ganz auf das Gerüst. Mit Sack und Pack. Mithilfe eines selbstgebastelten Flaschenzugs schaffte er den Umzug in Rekordzeit – er brauchte keine vier Stunden, um die Möbel von seiner Wohnung aufs Gerüst zu befördern. Als er fertig war, sprach er ein paar Worte, die nur er selbst zu hören bekam, denn von dort oben hatte er nicht nur einen weiten Blick über die ganze Stadt, er war auch allein, genau wie er wollte. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter) Von oben sieht die merkwürdige Welt unten gleich besser aus. Narren und Kinder sagen immer die Wahrheit Es ist ein berühmter Topos, den die Autorin Maria José Ferrada in leicht abgewandelter Form für Ihren Roman ausgewählt hat: „Der Eremit in den Bergen“ oder „der Narr auf dem Hügel“, der schon von den Beatles als „fool on the hill“ besungen wurde. Einer, der fern allen anderen, Tag für Tag dem verrückten Treiben der Menschheit zusieht. Und weil Narren und Kinder immer die Wahrheit sagen, lässt die in Chile geborene Wahlberlinerin Ferrada, die auch viele Kinderbücher geschrieben hat, ihre Geschichte rückblickend aus der Sicht eines Kindes erzählen. Ein Kinderbuch ist der Roman dieses Mal nicht. Aber die Form gibt dem oft ins Philosophische abgleitenden Roman eine erfrischende Leichtigkeit: Aufzeichnungen eines Elfjährigen, vorgetragen von dem allwissenden Erzähler des Romans. Detailliert weiß dieser davon zu berichten, wie es sich abspielte, als Onkel Ramón, offenbar angewidert von der lauten, modernen Welt,- in die Lüfte stieg, um misstrauisch beäugt von seinen Mitmenschen, seinen neuen Job in einer improvisierten Plakatbehausung anzutreten. Etwa um zehn ging auf dem Gerüst das Licht an, und zwar in dem Loch des großen O, das zusammen mit zwei kleinen Punkten das große Ö des weißen Schriftzugs » KÖSTLICH UND ERFRISCHEND « bildete, der sich über die Fahrertür des von einer Riesin gelenkten Coca-Cola-roten Cabrios zog. Das weiß ich noch, weil ich um diese Uhrzeit die Nachttischlampe in meinem Zimmer ausmachte. »Schlaf endlich, Miguel.« »Ja, Mama«, sagte ich. Aber statt zu tun, was Mama gesagt hatte, presste ich das Ohr an die Wand, um zu hören, wie Ramóns Geschichte weiterging. Ist es Rückzug oder Protest? Wie so oft im Roman, wo ein Außenseiter sich durch vermeintlich absurdes Verhalten an den Rand der Gesellschaft begibt, wird wie im Brennglas deutlich, dass eigentlich die moderne Welt um Ramon herum absurd ist. Stellenweise wirkt der Roman in seiner zeitlosen Ästhetik wie ein tragisch-komischer Stummfilm mit Worten ohne Bilder. Der Stil: naiv und poetisch zugleich, einfache Worte für die großen, philosophischen Fragen. Ein moderner Chaplin Der Held selbst ist eher wortkarg und beobachtet lieber. Wie in Chaplins „Moderne Zeiten“ auf lustige Weise Kapitalismuskritik betrieben wird, liest man hier, wie ein Mensch dazu genötigt wird gegen schlechte Bezahlung, völlig verrückte Dinge zu tun. Ein Werbeplakat zu bewachen zum Beispiel. Im Roman wird das Absurde herrlich auf die Spitze getrieben. Mittwoch. Ramón rief seinen neuen Chef an, um mitzuteilen, dass er beschlossen habe, sich ab sofort sieben Tage die Woche rund um die Uhr an seinem neuen Arbeitsplatz aufzuhalten. Sprach etwas dagegen? - Bei den ersten drei Versuchen landete er bei einem Anrufbeantworter, der ihn wissen ließ, dass unter dieser Nummer keine Nachrichten entgegengenommen wurden. Beim vierten Versuch meldete sich sein Chef, ein gewisser Eliseo: »Damit wir uns verstehen, Raúl …« – »Ramón…!« »Damit wir uns verstehen, Ramón: Dein Job ist es, auf das Plakat aufzupassen. Du bist dafür verantwortlich, dass niemand die Scheinwerfer klaut. Wenn du deshalb da oben schlafen willst, ist uns das, ehrlich gesagt, egal – meinetwegen kannst du dich auch auf eine Wolke legen oder im Gebüsch verstecken.« – »Okay, danke«, »Wir haben zu danken, Raúl.« (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter) Ein Säulenheiliger auf dem Gerüst Ramon, der Mann, von dem sein Chef sich noch nicht einmal den Namen richtig merken kann, wird auf dem Gerüst zum Säulenheiligen der kleinen Siedlung, die irgendwo in Lateinamerika liegen soll. Von den einen wird er bewundert, von den anderen für verrückt erklärt. Für Gesprächsstoff sorgt er allemal. Für seinen kleinen Neffen aber, der täglich heimlich zu ihm aufs Gerüst klettert, um dort oben mit ihm die Zeit totzuschlagen, ist Ramon ein wahrer Held. Durch seinen Umzug hatte Ramón, der bis vor ein paar Wochen bloß der Mann meiner Tante gewesen war, sich in ein Zwischending aus Freund, Vogel und Lehrer verwandelt, eine Mischung, wie sie mir noch nie begegnet war und auch nie wieder begegnen sollte. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter) In der Stille lernt man mehr als in der Schule Mit seinem Onkel, dem Plakatwächter, kann er schweigend die Sterne beobachten und scheint in der Stille dort oben so viel mehr zu lernen über sich und die Welt, als in der stets unruhigen Denkfabrik „Schule“. Die Schule bedeutete mir nichts, nicht das Geringste. Ich ging regelmäßig hin, das ja, setzte mich an meinen Platz, öffnete die Bücher und schrieb in die Hefte. ... Ein Lieblingsfach hatte ich nie, meine Lieblingsuhrzeit war dafür der Moment, in dem der Schultag zu Ende war. Ich war kein beispielhafter Schüler, aber ein gutes Beispiel dafür, was man unter einem Schüler versteht. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter) Es sind kleine Weisheiten wie diese, die das Buch so liebenswert machen und dem gleich am Anfang ein Motto vorangestellt ist: Gegen alles bessere Wissen wollte ich Glück. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter) Dieses Zitat aus Günter Grass‘ die Blechtrommel findet sich statt eines Vorworts auf den ersten Seiten des Romans. Eine Hommage an den berühmten deutschen Autor. Auch Ferradas Geschichte trägt wie Grass‘ Blechtrommel, deutliche Züge eines Schelmenromans. Ramon, der Held, kommt aus einer sozial schlechter gestellten Arbeiterschicht, ist vermeintlich ungebildet, aber trotzdem auf seine Art schlau und thematisiert allein durch sein Dasein, die Missstände der Gesellschaft. Von hier oben zeigte das Leben einem seine durchsichtigen Fäden. Manchmal war es schön, ihrem Hin und Her zuzusehen, manchmal war es aber auch besser, die Augen so fest zuzukneifen, dass kein einziger Lichtstrahl hindurchdrang. »Ist es nicht traurig, immer allein hier oben zu sitzen «, fragte ich irgendwann bedrückt. »Nein.« Durch seine Einsilbigkeit zwang Ramón mich, selbst eine Antwort auf meine Fragen zu finden. In diesem Fall lautete sie mehr oder weniger so: Egal, ob man ein Kind oder ein klappriger Alter war, unten war man nicht weniger allein als hier oben. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter) Ein Kind hält den Erwachsenen den Spiegel vor Wie in ihrem Vorgängerroman »Kramp« hält auch in Ferradas aktuellem Buch ein Kind den merkwürdigen Erwachsenen um sich herum einen Spiegel vor. Dieses Mal zusammen mit einem schweigsamen Plakatwächter. Der Eremit auf dem Gerüst“, oder auch „Fool on the hill“. Über den sich die Bewohner der Siedlung mehr und mehr aufregen, weil er mit seinem unkonventionellen Wohnen, angeblich die Ordnung störe. Bis am Ende wirklich etwas Schlimmes passiert. In „Der Plakatwächter“ erzählt ein kluges Kind von der Dummheit der Erwachsenenwelt – traurig, heiter, herzergreifend.…
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Ein Buch wie eine Überdosis Koks: Anfang der 90er Jahre sorgte der erst 27-jährige Amerikaner Bret Easton Ellis für einen globalen Literaturskandal. Im Mittelpunkt steht der Wallstreet-Yuppie Patrick Bates, der - stets in elegante Markenklamotten gehüllt - die abartigsten Sexualmorde begeht. Wenn er nicht gerade mordet, spielt er exzessiv Videospiele, feiert in Nachtclubs oder nimmt Drogen. In Deutschland stand das Buch mehrere Jahre auf dem Index. Erst nachdem ein Verlag dagegen klagte, darf es wieder frei verkauft werden. Gewaltverherrlichung oder brillante Gesellschaftssatire? An dieser Frage scheiden sich bis heute die Geister. ---------------------------------------------- Als „American Psycho“ 1991 erschien, war ich 20 und frisch gebackene Studentin der Germanistik und Philosophie in Heidelberg. Die Achtziger Jahre waren noch sehr präsent - und doch wirkte der Roman wie ein großer, wilder, brutaler Abgesang auf dieses merkwürdige Jahrzehnt der Neonfarben, der Barbour-Jacken, der großen Dauerwellen, der Ironie. Von Harald Schmidt promoted Wer, wie ich, in den achtziger Jahren musikalisch, ästhetisch und konsumtechnisch sozialisiert worden war, der kam an diesem Buch nicht vorbei - außerdem hatte der damals noch umjubelte Berufszyniker Harald Schmidt es mit großer Begeisterung in seiner Late-Night-Show promoted und war damit sogar auf Lesetour gegangen. Mordendes Monster im Armani-Anzug Der Held, Wallstreet Broker Patrick Bateman, ist ein mordendes Monster im perfekt geschnittenen Armani-Anzug. Seine Welt besteht praktisch nur aus schöner Oberfläche, geradezu manisch werden ständig die Luxusmarken erwähnt, mit denen sich dieser Psychopath umgibt, Frauen müssen einen „Hardbody“ haben - also einen perfekt durchtrainierten Körper. Warum heute noch lesen? Der nützt ihnen dann allerdings auch nichts mehr, wenn sie von Bateman mit der Kettensäge malträtiert werden. Ja: „American Psycho“ ist voller abartiger, sexueller Gewalt und voller Zynismus. Man sieht einem überkultivierten Dandy im Blutrausch zu, der Autor Brett Easton Ellis verzichtet auf jegliche Psychologisierung. Wir erfahren nicht, warum Bateman zur mordenden Bestie wird. Aber wir erfahren sehr viel über die Gesellschaft, in der er lebt - und tötet. Ähnlich wie bei dem Film „Pulp Fiction“ kann man lange darüber streiten, ob hier Gewalt nur zelebriert und verherrlicht wird - oder - so lese ich das Buch - ob es sich nicht doch um eine ebenso grell übertreibende wie dunkel funkelnde Gesellschaftssatire handelt, die uns allen den Spiegel vorhält.…
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1 Janne Teller – Nichts. Was im Leben wichtig ist 1:33
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1:33Ein Schüler stellt sich vor seine Klasse und behauptet, dass nichts im Leben wichtig sei. Seine Mitschüler:innen versuchen, ihm und sich selbst das Gegenteil zu beweisen und beginnen mit dem Sammeln von Dingen, die für sie Bedeutung haben. Es entsteht der „Berg der Bedeutung“. Kontroverse Schullektüre Der Jugendroman „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ der dänischen Autorin Janne Teller spaltete in den 2000ern die Gemüter. An einigen Schulen wurde er abgelehnt, erhielt aber auch den Literaturpreis des dänischen Kultusministeriums. Verstörend oder lebensbereichernd? Nimmt man Jugendlichen mit diesen nihilistischen Ansichten nicht das Positive im Leben? Oder ist das Buch eine Anregung, sich mit fundamentalen Fragen auseinanderzusetzen? Für Katrin Ackermann steht fest: nichtig ist „Nichts“ von Janne Teller jedenfalls nicht.…
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Er ist eine Seltsamkeit, dieser Apparat. In einer Strafkolonie, irgendwo in tropischen Gefilden, da steht er und verrichtet sein grausames Werk: Er ist Folter- und Vollstreckungsinstrument in einem, Teil eines sadistischen Rechtssystems. Ein Offizier, ein Forschungsreisender, ein Soldat und ein Verurteilter Die Szene einer Vollstreckung beschreibt Franz Kafka in seiner Erzählung: Ein Reisender, eingeladen vom Offizier der Strafkolonie, beobachtet wie ein nackter Verurteilter bäuchlings auf die Maschine aufgeschnallt wird. Ein komplexer Apparat, zusammengesetzt aus drei Teilen, Bett, Egge und ein Schreibgerät: Eine Nadel schreibt dem Gequälten den Richtspruch am ganzen Körper in die Haut ein. 12 Stunden soll die Folter dauern, versteht der Delinquent schließlich sein Urteil, stirbt er. Die Folter als Instrument auf dem Weg zur Erkenntnis. Der Richter wird zum Gerichteten Soll unter Leitung des neuen Kommandanten der Kolonie dieses Gerichtsverfahren bestehen bleiben? Der Forschungsreisende urteilt: Nein. Der Offizier wird nun zum Verurteilten und selbst Teil des Vollstreckungsprogramms. „Sei gerecht“, lautet das Urteil, etwas, was die Maschine nicht einschreiben kann. Sie zerstört sich selbst, aber nicht ohne den Offizier vorher blutig niederzumetzeln. Splatter mit Tiefgang Zu viel für schwache Gemüter: Bei der berühmten öffentlichen Lesung „Der Strafkolonie“ 1916 fielen Zuhörer:innen in Ohnmacht. Es ist eine splatterhafte Horrorschockergeschichte mit vielfältigen Deutungsmöglichkeiten. Eine davon zeigt, dass, wie so oft, der wahre Horror im Realen liegt: 1914 geschrieben, entstand die Geschichte im Angesicht des aufziehenden Ersten Weltkriegs, einer Zeit, in der technische Entwicklungen fatale Folgen für die Menschheit hatten – Folterapparate überall. Warum „In der Strafkolonie“ lesen? Ohnmacht durch Technik, bürokratische Überforderung, ständige Überwachung und Kriegsgewalt: Themen, die uns heute, im Jahr von Kafkas 100. Todestag und im Digitalen Zeitalter, sehr alltäglich vorkommen. Ob Kafka lesen uns über solche Krisen hinwegtröstet? Vielleicht nicht. Aber Grausiges in eine so ästhetische Erzählung zu verwandeln, verdient Hochachtung: Das kann wirklich nur Kafka.…
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In Frankreich als pornografisch beschimpft, in Deutschland ein Bestseller: Benoîte Groults Roman „Salz auf unserer Haut“ sorgte bei seiner Veröffentlichung 1988 für Schlagzeilen. Es ist die ungleiche Liebesgeschichte zwischen der Pariser Intellektuellen George und ihrem Liebhaber, einem omnipotenten bretonischen Fischer. Eindeutige Sexszenen und eine Protagonistin, die weiß, was sie vom Leben will – Salz auf unserer Haut ist eine große Liebesgeschichte und ein Klassiker feministischer Literatur, findet Theresa Hübner.…
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Es ist Arthur Schnitzlers erfolgreichstes Bühnenstück: Der Reigen . 1900 erschienen, sorgte der Autor in Wien für Aufmerksamkeit. Was konservative und völkische Kreise dazu brachte, die Theaterbühne zu stürmen: Sex. Je ein Mann und eine Frau schildern in zehn Dialogen ihr sexuelles Begehren. Es ist ein Reigen durch die sozialen Schichten: der Gatte gibt sich zuerst seiner Ehefrau hin, in der darauffolgenden Szene dem süßen Mädel, der Graf und die Dirne finden zusammen. Moralvorstellungen und Normen scheinen ausgesetzt –Theaterskandal und der „Reigen-Prozess“ folgten. Charlotte Prestel ist auch heute noch von diesem umstrittenen Klassiker begeistert. ------------------------------------------------------------------ Als Arthur Schnitzler 1896 seinen Reigen verfasst, hält er das Bühnenstück für unaufführbar. Zu anrüchig, zu wenig literarisch. 1900 im Privatdruck nur für Freunde erschienen, dauert es drei weitere Jahre, bis der Reigen ein breiteres Publikum erreicht. In nur acht Monaten folgen zehn Auflagen des Stücks, das einen Nerv der Zeit getroffen haben muss, ein Bestseller. Munterer Reigen quer durch soziale Schichten Zehn Szenen, jeweils ein Mann und eine Frau. Einer von beiden lässt sich wiederum in der nächsten Szene mit einem neuen Partner ein. Das Personal verbindet unterschiedliche soziale Schichten: den Soldaten mit dem Stubenmädchen, den Gatten mit dem „süßen Mädel“ oder den Grafen mit der Dirne. Dadurch zeigt Schnitzler: Sexualität hält sich nicht an soziale Grenzen. Vollständig klammert der Autor die Moral aber nicht aus. Auf den Liebesakt folgt zuweilen ein schlechtes Gewissen: Auszug aus dem Hörbuch Reigen : Dialog der junge Herr, die junge Frau aus CD 1, Reigen 12, 2 Min. – 2 Min. 15 Sek. Zuschauerräume werden gestürmt – vor Gericht wird wegen des Stücks prozessiert. Bei diesen Reaktionen kann der Reigen zweifellos als umstrittener Klassiker gelten. Warum das Bühnenstück heute noch lesen? Schnitzler beleuchtet nicht nur die Kultur des Fin de Siècle, sondern eröffnet Perspektiven auf unsere Gegenwart. Beziehungsformen vervielfältigen sich - von Monogamie bis Polyamorie oder Freundschaft Plus. Ob auf heutigen Datingapps oder im bunten Reigen: Wen wir warum begehren ist eine zeitlose Frage, deren Antwort wir vielleicht in einer vergangenen Epoche finden können.…
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Die zwei Hauptfiguren in Rushdies „Die satanischen Verse“ sind die einzigen Passagiere, die auf wundersame Weise die Explosion des Flugzeugs, in dem sie sitzen, überleben. Eine Art Verwandlung geschieht mit den beiden: Eine Figur wird zum Engel, die andere zum Teufel. Im Buch wird ein Traum erzählt, in dem es um die Entstehung des Korans geht – der Beginn eines von Gefahr und Verfolgung geprägten Lebens für den Autor Salman Rushdie. Der damals höchste religiöse Führer im Iran ruft die Fatwa, also das Todesurteil, gegen Rushdie aus. 2022 brachte ihn ein Anschlag fast um. Für Redaktionsleiter Frank Hertweck ist der Roman „Die satanischen Verse“ ein umstrittener Klassiker, der es sich zu lesen lohnt.…
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Das „lesenswert Quartett“ zum Anhören: In der Aufzeichnung vom 27. Februar 2024 diskutieren Denis Scheck, Insa Wilke, Ijoma Mangold mit Melanie Möller über vier Neuerscheinungen.
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„Was kann ich wissen?“ In seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk – der „Kritik der reinen Vernunft“ – hat sich Immanuel Kant auf 800 Seiten mit dieser Frage auseinandergesetzt. Kants Antwort, vereinfacht gesagt: Die „Dinge an sich“ – soll heißen: die Dinge, wie sie wirklich sind – sind für den Menschen wissenschaftlich nicht erkennbar. Objektiv erkennbar seien nur die „Erscheinungen“ der Dinge. Und diese „Erscheinungen“ würden durch die Anschauungsformen von Raum und Zeit und durch bestimmte Kategorien, die dem menschlichen Denkvermögen von Natur aus eingeschrieben sind, determiniert. Das wahre Wesen der Dinge, so der Königsberger Philosoph, sei dem Menschen unzugänglich. Zitat Kant: Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann. Quelle: Lea Ypi – Die Architektonik der Vernunft Das Ding an sich bleibt uns verborgen Mit diesem Postulat hat Immanuel Kant die erkenntnistheoretichen Grundlagen der modernen Philosophie gelegt. Für Arthur Schopenhauer war die „Kritik der reinen Vernunft“ das „wichtigste Buch, das jemals in Europa geschrieben worden ist“. Die albanisch-britische Philosophin Lea Ypi widmet sich in ihrer Studie einem kurzen, bisher wenig beachteten Abschnitt in Kants Hauptwerk – dem Kapitel „Die Architektonik der Vernunft“; längenmäßig macht dieser Abschnitt nur etwa zwei Prozent der „Kritik der reinen Vernunft“ aus. Lea Ypi schreibt dazu: „ Die ,Architektonik der reinen Vernunft‘ gehörte bis vor Kurzem zu den am wenigsten gelesenen Teilen von Kants erster Kritik (…) Traditionell scheinen die wenigen Kommentare zu diesem Abschnitt mit Schopenhauers frühem Urteil übereinzustimmen, dass seine Existenz in der Kritik der reinen Vernunft vorrangig auf Kants ,Liebe für architektonische Symmetrie‘ zurückzuführen sei und dem Rest dieses Hauptwerks nichts Wesentliches hinzufüge.“ Fokus auf die Einheit der Vernunft Das sieht Lea Ypi, profunde Kant-Kennerin, die sie ist, anders. Die „Architektonik“ sei einer der „dichtesten, rätselhaftesten und undurchdringlichsten Texte“ in Kants Gesamtwerk, ohne genaue Analyse dieses Texts ließe sich Kants berühmtestes Werk nicht verstehen: „ Im Gegensatz zur großen Mehrheit der Kommentatorinnen, die die »Architektonik« schlichtweg verworfen haben, versuche ich zu zeigen, dass ihr Fokus auf die Einheit der Vernunft entscheidend ist, um einige der wichtigsten Ideen Kants zu erhellen. Dazu gehören unter anderem der Übergang vom System der Natur zum System der Freiheit, das Verhältnis von Glauben und Wissen, die philosophische Verteidigung des historischen Fortschritts und die Rolle der Religion. Diese Fragen haben bekanntlich die nachfolgende deutsche philosophische Tradition maßgeblich geprägt.“ Lea Ypis Buch richtet sich an eine philosophisch gelehrte Klientel, an ein Publikum, das die „Kritik der reinen Vernunft“ sozusagen im kleinen Finger hat. Kant-Anfängerinnen und -Laien werden sich mit der Lektüre wohl schon nach wenigen Seiten überfordert fühlen. Harte philosophische Kost Gut denkbar, dass der Band in Kant-Seminaren und epistemologischen Kolloquien ein gewisses Entzücken hervorruft. Philosophische Normalverbraucher:innen werden allerdings gut daran tun, Kants Dreihundertsten Geburtstag mit der Lektüre eingängigerer Werke zu zelebrieren. Die Kant-Experten Otfried Höffe und Marcus Willaschek haben zum Geburtstag des Königsberger Meisterdenkers schon im letzten Jahr erhellende Neuerscheinungen vorgelegt.…
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1 Stig Dagerman – Gebranntes Kind | Buchkritik 4:00
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4:00Stig Dagermans Roman erzählt von einer existenziellen Krise: Der 20-jährige Bengt hat seine Mutter verloren. Ausgerechnet am Tag ihrer Beerdigung findet er heraus, dass sein Vater seit längerer Zeit ein Verhältnis mit einer anderen Frau unterhält. Der junge Mann ist mit seinem Kummer allein. Denn nicht nur der Vater fällt als Gesprächspartner aus, auch Bengts furchtsame und stets kränkliche Freundin ist ihm keine Stütze. Den plötzlichen Tod der Mutter, die gegenüber dem Wohnhaus der Familie in einer Metzgerei gestorben ist, muss er ohne Hilfe verarbeiten: „Da drinnen starb meine Mutter, während mein Vater in der Küche saß und sich rasierte und während ich, ihr Sohn, in meinem Zimmer saß und mit mir selbst Poker spielte. Da drinnen sank sie von einem Stuhl, ohne dass einer von uns da bei war und sie auffangen konnte. Da drinnen lag sie im Dreck und in den Sägespänen auf dem Boden, während ein Metzger mit dem Rücken zu ihr ein Lamm zerlegte.“ Um seiner Trauer Herr zu werden, beginnt Bengt, Briefe zu schreiben. Die Perspektive des Romans wechselt fortan: Der zunächst personale Erzähler wird abgelöst von Bengt, der in der Ich-Form von seinen Gedanken und Gefühlen berichtet. Das ist psychologisch hochspannend, denn gerade in Bengts Briefen sollte man als Leser stets zwischen den Zeilen lesen. Verliebt in die Frau des Vaters Einerseits ist Bengt auskunftsfreudig. Er beschreibt die Enttäuschung und den Hass, die er empfindet, weil der Vater seine Mutter betrogen hat. Andererseits ist er mit gerade einmal zwanzig Jahren auf der Suche nach Gewissheiten über die Welt, aber auch über sich selbst. Und einigen Gewissheiten will sich Bengt lange nicht stellen, zum Beispiel der Tatsache, dass der Hass auf den Vater und Gun, so der Name der Geliebten, in Wahrheit ein Zeichen der Eifersucht ist – denn Bengt hat sich in die neue Frau seines Vaters verliebt. Als alle den Sommer in einem Haus auf den Schären vor Stockholm verbringen, lassen sich die Gefühle nicht länger unterdrücken. Bengt und Gun küssen sich und beginnen ihrerseits eine Affäre. Eindringliches Seelenprotokoll „Gebranntes Kind“ ist eine brillante psychologische Studie. Denn Stig Dagerman findet immer wieder eindrückliche Bilder für Bengts widersprüchliche Emotionen. So veranschaulicht eine brennende Kerze erst die Trauer um die verstorbene Mutter, dann wiederum steht sie für die Intensität der Gefühle, die den jungen Mann mit aller Kraft in Beschlag nehmen. Und genau diese Intensität sucht Bengt: „Wer wie wir liebt, ist rein. Erst jetzt habe ich begriffen, was Reinheit ist. Sie bedeutet, so in einem Gefühl aufzugehen, dass es jeden Zweifel, jede Feigheit und jede Rücksichtnahme in einem verbrennt. Man wird ganz und stark. Man nimmt direkten Kurs auf das Ziel, ohne zu zögern. Man wird auch mutig. Rein sein heißt, alles opfern zu können außer dem Einzigen, wofür man lebt. Ich bin bereit, das zu tun. Deshalb muss ich mich nicht schämen.“ „Gebranntes Kind“ liest sich wie ein Seelenprotokoll. Es hält fest, wie ein junger Mann versucht, den Verlust seiner Mutter zu verarbeiten und seinen Platz in der Welt zu finden. Es erzählt aber auch von der Liebe in all ihren Facetten: Das meint den anfänglichen Gefühlsrausch ebenso Eifersucht, Selbstbetrug und die Nähe der Liebe zum Hass. Auch mehr als 75 Jahre nachdem es im schwedischen Original erschienen ist, ist die Lektüre dieses Seelenprotokolls eindringlich und erschütternd.…
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1 Gert Ueding – Bloch, Jens und Mayer. Die Tischgesellschaft der Julie Gastl 4:00
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4:00Auf dem Umschlagfoto sitzt der Philosoph Ernst Bloch in der Mitte, wie immer mit der Pfeife im Mund. Von links redet der Literaturwissenschaftler Hans Mayer sicherlich gewohnt druckreif auf ihn ein, rechts setzt der Rhetorikprofessor Walter Jens zu einem seiner gefürchteten Monologe an. Vielleicht hatte Blochs Frau Karola also doch recht, wenn sie mahnte: „Der Jens und der Mayer? Da wirst du wohl kaum zu Wort kommen.“ Ganz so schlimm wurde es dann aber nicht, jedenfalls nicht in den Versionen der Gespräche, die Gert Ueding nun zu Papier gebracht hat. Ueding muss es schon deshalb wissen, weil er in den 60er und 70er Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter Blochs in Tübingen gewesen ist, dann bei Walter Jens promoviert und bei Hans Mayer habilitiert hat. 1988, nach Jens‘ Emeritierung, übernahm er dessen Lehrstuhl für Rhetorik. Eine heroische Epoche des Geistes Die Tischgesellschaft, zu der sich die drei Berühmtheiten zusammenfanden, bestand in den Jahren 1974 und 1975. Sie ging auf eine Initiative der Tübinger Buchhändlerin Julie Gastl zurück, die in ihrem „Bücherhaus“ nicht einfach nur Bücher verkaufen wollte. Vor allem ein Ort des geistigen Austauschs, der produktiven Erinnerung sollte die Buchhandlung sein, im geistigen Raum Tübingens der Horizont, der über seine beschränkenden Grenzen hinausginge. Denn die gab es genug. Quelle: Gert Ueding – Bloch, Jens und Mayer Vor wenigen Monaten hat die Buchhandlung Gastl Konkurs angemeldet und musste endgültig schließen. Damit ging ein Stück Tübinger Geschichte zu Ende. Gert Uedings Buch ist also auch ein Nachruf auf diesen verschwundenen Ort, ein Rückblick auf die heroische Epoche der Intellektuellen, als Philosophen noch über die Universität hinaus und in die Gesellschaft hinein wirkten und die Tübinger ihre Professoren auf der Straße grüßten. Tischgesellschaft im Bücherhaus Das Herzstück der Buchhandlung Gastl war die sogenannte „Theologie“, ein separater Raum im ersten Stock mit bequemen Lesesesseln. Hier traf sich die „Tischgesellschaft“, deren Gesprächsrunden Ueding so rekonstruiert hat, wie sie hätten verlaufen können. Dazu zitiert er aus Büchern der Beteiligten und stellt sich Rede und Gegenrede vor. Als stummer Protokollant nimmt er an der Runde teil und mogelt sich als Erzähler dazwischen. Julie Gastl debattiert – entgegen ihres bescheidenen Naturells – auch mit; Bloch hätte sonst nicht mitgemacht. Bloch, Jens und Mayer verwandeln sich also ansatzweise in Romanfiguren. Allerdings reden sie ziemlich papieren, als müssten sie unentwegt ihre Bildung beweisen. Was sie natürlich nicht müssen – oder nur deshalb, weil Ueding sie vor seiner Leserschaft profilieren möchte. Doch in den Gesprächen über Immanuel Kant und Thomas Mann, übers Spiel oder über Kunst kommen immer wieder überraschende Ansichten zur Sprache. Sie wirken gelegentlich so aktuell, als zielten sie ganz direkt auf unsere Gegenwart. So ließe sich eine Wortmeldung Hans Mayers auch als Kritik an der Cancel-Culture verstehen: „ Wehe, einer ist nicht auf dem progressiven Stand von heute, und das schon 1700 oder 1800, er verfällt dem Bann der Progressiven, die meinen, sie wären das. In totalitären Regimen werden unliebsame Romane verboten und die Geschichtsbücher gereinigt, in demokratischen Regimen auf den Stand des sogenannten fortschrittlichen Bewusstseins gebracht. Der Furor der geschichtlichen Eiferer ist fürchterlich.“ Literarisches Spiel und freudige Fiktion Ueding liefert präzise Charakterstudien vor allem zu Walter Jens, der von Ängsten und Depressionen gefährdet war. Sein Buch über die Tischgesellschaft der Julie Gastl ist eine Hommage an seine drei Lehrer. Es ist ein literarisches Spiel, eine freundliche Fiktion und also absolut ernst zu nehmen.…
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Von Anfang an durchzieht Fabio Stassis raffiniert konstruierten Roman „Die Seele aller Zufälle“ jene melancholische Einsamkeit, die guten Detektivromanen so eigen ist: Seit einer Woche geht Vince Corso jeden Abend in eine kleine Bier-Bar in Rom, setzt sich an denselben Tisch und wartet auf jemanden. „ Ein bisschen Angst habe ich schon, um ehrlich zu sein. Ich habe Angst, dass es gar keine Aufgabe gibt, die ausgeführt werden muss. Und dass dieser Tisch ewig leer bleiben wird.“ Es wäre eine lange Geschichte, wenn ich erklären wollte, wie es so weit gekommen ist, dass ich auf ein Gespenst warte. Aber hier schaut nie jemand vorbei. Also erzähle ich mir diese Geschichte immer aufs Neue selbst, um mir einzureden, dass sie ein Ende haben wird. Bibliotherapeut hilft Mann mit Alzheimer Von Beruf ist der 45-jährige Ex-Vertretungslehrer nämlich Bibliotherapeut: Er hilft Menschen, indem er ihnen nach einem Gespräch ein Buch verschreibt, das ihre Probleme lösen, gewissermaßen ihre Seele wieder ins Gleichgewicht bringen soll. Eines Tages wendet sich Giovanna Baldini an ihn: Ihr Bruder – ein Bibliophiler – hat Alzheimer und wiederholt ständig eine scheinbar willkürliche Abfolge von Sätzen. Sie ist überzeugt, dass sie aus einem Buch stammen und es ihrem Bruder helfen würde, wenn sie ihm daraus vorläse. Ihre eigene Suche war erfolglos, also soll Corso gegen ein großzügiges Honorar das Buch für sie finden. Widerstrebend begibt er sich auf die Suche – er braucht das Geld – und ahnt schon bald, dass Giovanna Baldini eigentlich den Safe ihres Bruders finden will, in dem Millionen sein könnten. Ein Kriminalroman ohne Mord, ohne Leiche, ohne Polizei – dennoch ungemein spannend und voller Rätsel, literarischer und detektivischer. „Die Seele aller Zufälle“ steht in der Tradition des argentinischen Autors Jorge Luis Borges: Das Ermitteln ist ein kreatives, intellektuelles Suchspiel. Stassis Vince Corso entdeckt Hinweise in Büchern und einem Tango von Carlos Gardel, er interpretiert Indizien, die er in Gesprächen und auf Spaziergängen mit seinem Hund Django findet. Rom als anspielungsreicher Handlungsort Das regennasse Rom ist der perfekte Handlungsort dieses Kriminalromans, in dem nichts zufällig, sondern alles zwingend ist. Jedes Gespräch, jeder Verweis, jede literarische Anspielung hat eine Bedeutung: Sie geben Hinweise auf das Buch von Giovannas Bruder, aber nicht nur: Sie sorgen bei den Lesenden für Rätselspaß und verankern den Roman in literatur- und kulturgeschichtlichen Kontexten. Ein Beispiel: Die Straße, in der Corso wohnt, ist die Via Merulana. Sie verweist auf Carlo Emilio Gaddas italienischen Krimi-Klassiker „Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana“ aus dem Jahr 1947. Gaddas Roman ist eine Anklage gegen den italienischen Faschismus der 1920er Jahre. Es bleibt aber nicht bei dieser bloßen Referenz, die Krimi-Kenner vergnügt entdecken können: In der Gegenwart bekommt Corso Besuch von dem Vertreter einer Nachbarschaftswache, die gegen Geflüchtete vorgehen will, und gerät auf seinem Spaziergang in eine Demonstration von Immigranten, die von der Polizei brutal beendet wird. Diese Einbrüche der Realität sorgen zudem dafür, dass „Die Seele aller Zufälle“ mehr ist ein genussvoller intellektueller Rätselspaß. Diese Lektüre macht Lust auf mehr! Man muss nicht jede Anspielung erkennen, um sich von diesem Roman betören zu lassen. Ihn zeichnet die tiefe Überzeugung aus, dass Literatur etwas bedeutet: Sie ist Seelentröster und Hinweisgeber. „Sie ist der große Saboteur jeder gesetzlich vorgeschriebenen Ordnung. Kein Diktator, der sie nicht gefürchtet hätte. Denn die Literatur stellt alles in Frage, beginnend bei dem, der schreibt, und dem, der liest. Was mich betrifft, so habe ich immer die Autoren geliebt, die auf das Chaos mit Chaos, auf Ungerechtigkeit mit Wahnsinn geantwortet haben. Das fängt bei Cervantes an, Don Quijote wird uns immer und ewig daran erinnern, dass das Lesen eine subversive Tat ist, ein permanenter Protest gegen Unglück und Ungerechtigkeit.“ Und so ist Fabio Stassis hinreißend-origineller Kriminalroman auch ein Plädoyer für das Lesen.…
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1 Isabel Allende – Der Wind kennt meinen Namen | Buchkritik 6:41
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6:41Gesellschaften bestehen aus Individuen. Verwaltet werden sie aber von Regierungen, deren Gesetze im besten Fall dem Wohl des Einzelnen verpflichtet sind, im schlimmsten Fall Leben schädigen oder gar zerstören. In Isabel Allendes jüngstem Roman „Der Wind kennt meinen Namen“ sind es drei Leben, die der Willkür von Regierungen ausgeliefert waren oder sind: Samuel Adler, Leticia Cordero und Anita Durán. Jahrzehnte liegen zwischen ihren Kindheiten. Doch sie eint die Erfahrung aus politischen Gründen die Heimat verlassen zu müssen und von ihren Eltern getrennt zu werden. Mit dem Kindertransport nach England Samuel Adler ist jüdisch und fünf Jahre alt, als in Wien die Kristallnacht-Pogrome den ganzen Hass und die Zerstörungswut der Anhänger des Nationalsozialismus erkennbar machen. Obwohl seine Eltern Rudolf und Rahel geahnt haben, was kommen wird, begreifen sie nun erst das Ausmaß. Es ist zu spät für sie, aus Österreich zu fliehen. Doch es gelingt ihnen, Samuel mit einem Kindertransport nach England zu schicken. Bis zu dem Moment, in dem der musikalisch hochbegabte Samuel in Richtung England verlassen soll, schildert Allende das Chaos und die Angst unter der jüdischen Bevölkerung plastisch und drastisch. Doch im Moment des Aufbruchs, als Samuel seine Geige zurücklassen soll, er sich weigert und spielt, entgleitet dem Roman der Ton: "Sofort wurde es still rings um das Kind, das den Bahnhofsvorplatz mit den Klängen einer Serenade von Schubert füllte. Die Zeit hielt inne, und für wenige traumhafte Minuten fühlte sich die von Trennungsleid und Ungewissheit geschundene Menge getröstet. Samuel war klein für sein Alter und sah in dem übergroßen Mantel noch anrührender und zerbrechlicher aus. Mit geschlossenen Augen wiegte er sich zur Musik." Wenn der Roman Samuel so auf seiner Geige spielen lässt, sägt das gehörig an den Nerven der Leserinnen und Leser. Doch Allendes Entschiedenheit zu erzählen, ihr Kalkül, ohne Scheu auf Affekte und Effekte zu setzen haben das Geschehen an dieser Stelle schon so weit vorangetrieben, dass man wissen will, wie es mit Samuel weiter geht. Überlebende eines Massakers in El Salvador Man möchte auch wissen, wie es um Leticia steht. An ihrer Figur entspinnt sich der zweite Strang der Romanhandlung. Leticia hat 1981 in El Salvador das Massaker von El Mozote überlebt, bei dem die Armee während des Bürgerkriegs rund 900 Menschen ermordete. Mit ihrem Vater hat sie das Dorf verlassen können, in dem sie aufgewachsen ist: "Einige Kindheitserinnerungen waren Leticia geblieben: Der Geruch des Holzfeuers im Küchenofen, das üppige Grün, der Geschmack der Maiskolben, das Vogelkonzert, die Tortillas zum Frühstück, die Gebete ihrer Großmutter, das Weinen und Lachen ihrer Geschwister. Auch ihre Mutter hatte sie nicht vergessen, obwohl sie nur eine einzige Fotografie von ihr besaß." Leticia landet in den Vereinigten Staaten. Mit ihrem Heimatland kommt ihr auch der Glaube abhanden. "Leticia enttäuschte ihren Vater, weil sie die Schule abbrach und fortging, aber auch, weil sie der Religion den Rücken kehrte. »Auch wenn du Jesus verlässt, wird Er dich doch niemals verlassen«, sagte Edgar immer wieder und betete auf Knien für die Rettung seiner Tochter. Aber Religion ist eine Frage des Glaubens, und den besaß Leticia nicht, sie stellte zu viele Fragen." Ihr Weg wird sich vier Jahrzehnte und drei Ehen später mit dem Weg von Samuel überschneiden. An der US-Grenze von den Eltern getrennt An einer weiteren Figur, der jungen Anwältin Selena Durán, entspinnt Allende den dritten und letzten Handlungsstrang. Er beginnt 2019 und fokussiert einen weiteren Kontext politischer Willkür. Selena setzt sich in Arizona gegen Donald Trumps „zero tolerance“-Politik ein. Als Mitarbeiterin des Magnolia-Projekts versucht sie Kinder, die von ihren Eltern bei der Flucht in die USA getrennt worden sind, zu ihren Familien zurückzuführen. Zusammen mit dem eher technokratischen Anwalt Frank, der durch Selenas Engagement seine Borniertheit ablegen kann, setzt sie sich auch für die sehbehinderte Anita aus El Salvador ein, die mit ihrer Puppe Didi in einem Kinderheim lebt. Auch aus Anitas Perspektive wird im Roman erzählt: "Ich hab auch gehört, dass ich zu einer Psychologin soll. Ich weiß, was das ist, ich war bei einer Psychologin, als wir den Unfall hatten. Das ist so was wie eine Lehrerin, nicht wie ein Arzt, sie untersucht mich nicht und gibt mir auch keine Spritzen. Ich gehe zusammen mit Miss Selena hin, und die Didi kann ich mitnehmen. Du kommst auch mit, Claudia. Das ist kein Grund zu weinen. Wir müssen ruhig sein. Wir sind nicht verloren. Der Wind kennt meinen Namen und deinen auch. Alle wissen, wo wir sind." Ihre kindliche Erzählperspektive macht am deutlichsten klar, woran Allendes temporeicher Roman krankt. Immer wieder muss sich die Erzählstimme mit sentenziösen Bemerkungen und handlungs- oder zeitraffenden Kommentaren behelfen, um die Jahrzehnte überspannende Handlung zusammenzubringen, um die Not der kindheitstraumatisierten Figuren deutlicher herauszuarbeiten, um klar zu machen, wie drastisch die politische Willkür in Systemen Leben beeinträchtigen und lenken kann. Im Versuch, eine kindliche Stimme glaubhaft erzählen zu lassen, wirkt das besonders aufgesetzt. Leider werden die Figuren nicht lebendig Allende versucht, Parallelen zwischen drei Zeiten und Systemen zu ziehen, die, auch wenn die Motive der Willkür sich unterscheiden, schwere Traumata hinterlassen. Doch sie zwängt ihre Figuren zu sehr unter diese Konstruktion. Sie werden nicht so recht lebendig. Am Ende wirkt der Roman zu kurz geraten, weil er sich für die Bögen, die er spannt, nicht ausreichend Zeit nimmt. Andererseits wirkt er zu lang, weil seine Konstruktion immer lauter klappert, je weiter die Geschichte vorangetrieben wird, anstatt sich aus den Beziehungen der Figuren zu entwickeln. Dabei sind die Anlagen aller Figuren so anregend, ist seine Grundidee so bewegend wie politisch brisant, dass „Der Wind kennt meinen Namen“ das Zeug dazu gehabt hätte, zu gelingen. Denn es sind ja tatsächlich meistens Kinder, die als schwächste Wesen unter politischer Willkür das schlimmste Leid erfahren.…
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1 Aktuelle Entwicklungen in der Kinder- und Jugendliteratur 8:52
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8:52Das boomende Genre „Young Adult“ mit Romantasy-Büchern füllt eine Lücke für die 14 bis 16-jährigen. Die Studie wurde vom Börsenverein des deutschen Buchhandels und der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (AVJ) beauftragt. Ein Gespräch mit Barbara Müller, Geschäftsführerin des Interessenverbandes AVJ, über aktuelle Entwicklungen im Kinder-und Jugendbuchmarkt.…
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1 lesenswert Magazin u. a. mit neuem Buch von Isabel Allende 55:28
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55:28Bestseller-Autorin Isabel Allende erzählt in ihrem neuen Roman von Kindern, die Opfer politischer Willkür werden – und von einer jungen Frau, die sich für sie stark macht. In "Der Wind kennt meinen Namen" verschränkt Allende die Schicksale dreier Kinder, die im 20. Jahrhundert flüchten müssen, traumatisiert und heimatlos werden. Die Grundidee ist aktuell und brisant, die Umsetzung überzeugt leider nur in Teilen. Unter dieser Gesellschaftssatire liegen Trauer und Tabus: Die Britin Jane Gardam erzählt in "Gute Ratschläge" von einer Diplomatengattin, die sich langsam aus alten Rollen befreit und ihrem Schmerz stellt. Ein ebenso anrührender wie komischer Briefroman, voller Seitenhiebe auf die englische Mittelschicht. Mit ihrem Buch "Ein falsches Wort" hat Vigdis Hjorth in ihrer Heimat Norwegen einen Skandal ausgelöst. Der Roman beginnt mit einem Erbschaftsstreit und führt tief in familiäre Abgründe. Ein Tabubruch, ein Familiengeheimnis – und die packende Erzählung einer Frau, die um die Anerkennung ihrer Geschichte kämpft. Außerdem: Eine Streitschrift für die Freiheit der Literatur und mündige Leser. Und ein Gespräch über die aktuellen Entwicklungen in der Kinder- und Jugendliteratur und die Bedeutung des gedruckten Buchs für die digital sozialisierte Generation. Jane Gardam – Gute Ratschläge Aus dem Englischen von Monika Baark Hanser Verlag, 320 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-446-27957-5 Rezension von Julia Schröder Vigdis Hjorth – Ein falsches Wort Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs S.Fischer, 400 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-10-397513-0 Gespräch mit Anja Höfer Isabel Allende – Der Wind kennt meinen Namen Aus dem Spanischen von Svenja Becker Suhrkamp Verlag, 335 Seiten, 26 Euro ISBN 978-3-518-43200-6 Rezension von Beate Tröger Susanne M. Riedel – Lebensmitteallergie Satyr Verlag, 192 Seiten, 17 Euro ISBN 9783910775084 Lesetipp von Jakob Hein Aktuelle Entwicklungen in der Kinder- und Jugendliteratur Gespräch mit Barbara Müller, Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen Melanie Möller – Der entmündigte Leser. Für die Freiheit der Literatur Galiani Verlag, 238 Seiten, 24 Euro ISBN 978-3-86971-302-1 Rezension von Ulrich Rüdenauer Musik: Zaho de Sagazan – La symphonie des éclairs (2023) Label: Disparate Records…
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1 Melanie Möller – Der entmündigte Leser. Für die Freiheit der Literatur | Buchkritik 6:49
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6:49Zum Signum unserer Zeit gehört, dass fast jedes Thema enormes Erregungspotential besitzt und mindestens aufgeblasen wird zu einem Weltuntergangsmenetekel. Da verschiedene Diskursteilnehmer die Deutungshoheit beanspruchen, eskalieren Debatten schnell, werden regelrecht zu Battlegrounds, auf denen der Untergang des Abendlands verhindert oder befördert werden soll, je nachdem. Die Kultur bot in den letzten Jahren dafür einiges Anschauungsmaterial, und einen besonderen Kampfort bildete die Sprache. Die Stichworte dürften allen kulturell Interessierten geläufig sein: gendergerechtes Sprechen, Cancel Culture, Sensitivity Reading, Political Correctness, sogenannte „ Säuberung“ von Klassikern. Die Progressiven werfen den auf Werktreue Beharrenden auf subtile Weise Rassismus vor – etwa, wenn letztere gegen die Tilgung des N-Worts in Kinderbüchern wettern. Konservative befürchten entstellende Eingriffe oder Geschichtsklitterung. Canceln sei ein Kampfbegriff der Rechten, sagen die einen; Canceln sei reale Praxis von linken Eiferern, sagen die anderen. Ein zuspitzender Essay über die „Änderwütigen“ Inzwischen wird die Diskussion nicht mehr nur in Hochschulseminaren und im Feuilleton geführt, sondern auch in Büchern. Das jüngste schlägt sich ganz auf die Seite jener, die eine übermütige woke Gesinnungsdiktatur am Werk sehen: Melanie Möllers Band „Der entmündigte Leser“. Ihren Essay versteht sie als Plädoyer für die „Freiheit der Literatur“. Melanie Möller ist Altphilologin; sie kann ihren Blick also sehr weit zurück bis in die Antike schweifen lassen, um ihn von dort mit einer gewissen Abgeklärtheit wieder auf aktuelle Texte zu werfen. Wobei, abgeklärt ist vielleicht nicht der erste Begriff, der einem einfällt, wenn man Möllers Streitschrift liest – zuspitzend würde wohl eher passen. Gleich in der Einleitung spricht sie von den „Änderwütigen“, die sich… … an Kunst und Literatur [vergehen], (…) sie wollen (Literatur)Geschichte umschreiben, indem sie sie moralisch bereinigen, mögen die Gründe für ihr Vorgehen auch mit der Zeit wechseln. Quelle: Melanie Möller – Der entmündigte Leser Zurückgreifend auf klassische Texte von Homer bis Ovid, die sie mit modernen Klassikern etwa Louis Ferdinand Célines, Joseph Brodskys oder auch Astrid Lindgrens verknüpft, möchte sie mit ihrem Buch auf fortdauernde Versuche der Umarbeitung, Verkürzung oder Veränderung aufmerksam machen. Ambivalenzen zulassen, verharmlosende Lesarten vermeiden Sie begreift das als Zensur. Es gehe aber darum, so Möller, Ambivalenzen zuzulassen, simple, weil zugleich verharmlosende Lesarten zu vermeiden. Auch sollten nicht, wie sie es nennt, „Überempfindlichkeiten“ zum Maßstab für eine zu Einsicht und Einordnung fähige Leserin gemacht werden. Möller wendet sich nicht zu Unrecht gegen die Gleichsetzung literarischer Inhalte und Figuren mit den Positionen von Autoren, etwa wenn es um den männlichen Blick eines römischen Elegikers wie Sextus Propertius bis hin zu dem von Goethe geht: Frauen seien hier selbstverständlich künstlerische Objekte der Lust, und es gebe weder Grund für Mitleid noch Anlass zur Sorge. Diese Künstlichkeit scheine, so Möller, den Damen allerdings zum Verhängnis zu werden, zumal sofern sie der Phantasie männlicher Dichter entsprungen seien. "Denn, so fragt sich die Frau von Bildung und gesellschaftlicher Verantwortung, wie können diese frustrierten Typen (Properz, Catull, Ovid), die wider besseres Wissen zu einer Einheit aus Dichter als historischer Person und elegischem Ich verschmolzen werden, es wagen, ein erfundenes Mädchen zum Lustobjekt zu degradieren und dabei weitgehend mundtot zu machen? Damit sind sie mindestens schlechte Vorbilder für alle Einfaltspinsel unter den Lesern (und für jegliche illiteraten Gewalttäter, was wohl, mit Blick auf die Jahrhunderte, für die meisten gelten dürfte). Dies die Mutmaßungen der jüngeren, vor allem, aber nicht ausschließlich weiblich motivierten Forschung zur antiken Liebeselegie, die den male gaze enttarnen, in seine Schranken weisen und seinen armen Opfern helfen möchte.“ Möller reagiert geradezu wütend auf diese unliterarischen Mutmaßungen. Einerseits. Andererseits prangert sie unhistorische Lesarten von selbsternannten Sprachpolizisten an – also den Umstand, dass aus einer heutigen, moralisch vermeintlich überlegenen Warte über Texte der Stab gebrochen wird, die von ihrer Zeit geprägt sind oder damals sogar als fortschrittlich galten. Über Texte, die eine genauere Lektüre erforderlich machten, um über sie urteilen zu können. Auf die Vernunft und Kenntnis von Lesern vertrauen Beide Punkte sind richtig. Und Möller ist hoch anzurechnen, dass sie es nicht bei dieser pauschalen Kritik an der Wokeness-Fraktion belässt, sondern sich die Mühe tiefgehender Interpretationen macht, an vielen Beispielen Missverständnisse und historische Errungenschaften aufzeigt, mithin auf die Vernunft und Kenntnis von Leserinnen und Lesern vertraut, die eben nicht entmündigt werden sollten. Das Gute ist ja, dass auch Leser im Leben anständig, menschlich, bleiben können, selbst die, die Freude am Bösen, ›Verletzenden‹ in der Kunst haben. Das geht, sehr einfach sogar. Quelle: Melanie Möller – Der entmündigte Leser Was Melanie Möller aber doch vorgeworfen werden darf: An vielen Stellen hat man das Gefühl, dass sie einen Popanz errichtet – so, als würde es ein hegemonial gewordenes Bündnis von moralinsauren Besserwissern geben, das inzwischen dabei ist, ganze weltliterarische Bibliotheken umzuschreiben oder unwiderstehlichen Druck auf Verlage und Wissenschaftlerinnen auszuüben. Beispiele für solchen Übereifer gibt es, gewiss. Es werden auch einzelne Protagonisten aus dem akademischen Betrieb zitiert, die vielleicht über das Ziel hinausschießen, aber so ist das nun mal in einem heterogenen kulturellen Feld. Historische Texte brauchen Kommentierungen mit Blick auf heutige Sichtweisen Dass aber erstens jede Zeit neu auf ältere künstlerische Erzeugnisse blickt, diese mit der Gegenwart abgleicht, auch radikale Ablehnung zum Ausdruck bringt – das ist kein Phänomen der letzten Jahre, und es ist dagegen auch wenig einzuwenden. Dass zweitens unter dem Druck sogenannter „Gutmenschen“ tatsächlich Bücher umgeschrieben würden – das müsste erst einmal bewiesen werden. Von einzelnen, gut begründeten Fällen abgesehen, vornehmlich im Kinderbuchbereich, ist da wenig bekannt geworden. In puritanisch-reaktionären Bundesstaaten der USA landen Klassiker aufgrund ihres Inhalts zuweilen auf dem Index – in den meisten westlich-liberalen Ländern kommt das zum Glück sehr selten vor. Klassische oder historische Texte bedürfen immer wieder für ihre Zeit einer Kommentierung; diese nimmt Rücksicht auf veränderte Sichtweisen, etwa bezüglich Kolonialismus oder Ausgrenzungspraktiken der Vergangenheit. Das ist noch kein Grund zur Klage. Im Gegenteil. Es kann sogar dabei helfen, das Vergangene besser und in seiner historischen Bedingtheit zu verstehen. Alles in allem: Melanie Möllers mitunter polemisch scharfes Buch ist ohne Zweifel anregend und gelehrt – aber es ist eben auch Teil jener oft unangemessen erregten Debatte, gegen die es sich richtet.…
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1 Susanne M. Riedel – Lebensmitteallergie | Lesetipp 1:09
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1:09Der Schriftsteller Jakob Hein empfiehlt in seinem persönlichen Lesetipp die humorvollen Geschichten von Susanne M. Riedel: „Lebensmitteallergie. Mein Leben in Autokorrektur“ über ihren Alltag als Frau und Mutter in der Großstadt, erschienen im Satyr-Verlag. Lesetipp von Jakob Hein.
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1 Vigdis Hjorth – Ein falsches Wort | Gespräch 10:20
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10:20Ein psychologisch kluges und bewegendes Buch über ein tief beschädigtes Leben. Bei seinem Erscheinen 2016 in Norwegen sorgte Hjorths Roman für einen Skandal.
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1 Jane Gardam – Gute Ratschläge | Buchkritik 5:31
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5:31Diese Eliza Peabody muss wirklich der Schrecken der Nachbarschaft sein, mit den von ihr verteilten Briefchen voller guter Ratschläge – oder dem, was sie dafür hält. „Liebe Joan, ich hoffe, wir kennen uns gut genug, dass ich das sagen darf. Ich finde, du solltest versuchen, das mit deinem Bein zu vergessen. Ich glaube, es ist etwas Psychologisches, Psychosomatisches, und Charles nimmt es furchtbar schwer. Es macht sowohl ihn als auch dich zum Gespött und ihr ruiniert euch euer Leben. Bitte gib dir mal einen ordentlichen Ruck, ja?“ Kein Wunder, dass Joan von gegenüber, Elizas vermeintliche Freundin, einfach nicht antwortet. Stattdessen muss Eliza kurz nach ihrem ersten Brief erfahren, dass Joan sich tatsächlich einen Ruck gegeben und ihren Ehemann Charles sowie die beiden fast erwachsenen Kinder verlassen hat, in Richtung irgendwelcher exotischer Gegenden. Wohlgesetzte Seitenhiebe auf die britische Mittelschicht Eliza aber schreibt unverdrossen immer längere Briefe an die ferne, stumme „liebe Joan“. Briefe voller kleiner Erlebnisse einer Hausfrau Anfang fünfzig, origineller Beobachtungen aus einem nicht allzu aufregenden Alltag in einer wohlanständigen Wohngegend südlich von London, voller wohlgesetzter Seitenhiebe auf das Leben der gehobenen Mittelschicht. Zumal aufs Leben der Gattinnen, die ihre Zeit mit löblichen Dingen wie der Gärtnerei, der Vermittlung von Babys ungewollt schwangerer Mädchen, dem Schreiben von Kinderbüchern oder dem Besuch von Ehefrauen-Clubs, feministischen Arbeitsgruppen und Literaturzirkeln zubringen. Die einzige Figur, die ihr Geld selbst verdient, ist bezeichnenderweise eine Englischlehrerin, die die Literatur hasst. Eliza selbst „arbeitet“, wie sie sagt, „mit Sterbenden“. Was tatsächlich bedeutet, dass sie im nahegelegenen Hospiz die Spülmaschine einräumt und den Sterbenden ihre guten Ratschläge erteilt. Berufstätigkeit hingegen ist in diesen Kreisen eine Sache der Ehemänner. Die Männer sitzen im Herrenclub, die Frauen sind ihnen treu ergeben Von Männern wie Elizas Mann Henry und Joans Charles. Diese beiden teilen mehr als die gehobene Beamtenposition im Außenministerium, mehr als ihren Platz in der guten alten Männerwelt, wie der Briefschreiberin Eliza irgendwann aufgeht: „Deswegen gibt es diesen Typ Engländer noch, und deswegen ist er so rundum zufrieden, sitzt indifferent in seinem Londoner Herrenclub, denn immer, wenn sein Blick auf die anderen indifferenten Gestalten in ihren tiefen Armsesseln fällt, schaut er in den Spiegel. [...] Und irgendwo in den Köpfen der sinnierenden Mitglieder gibt es eine treu ergebene, müßige Frau, eine FRAU eben, Gehilfin, Versatzstück, Anhängsel, Mutterersatz. Alle würden es abstreiten, aber es ist wahr, und erst heute ist es mir aufgegangen.“ Jane Gardams Roman „Gute Ratschläge“ ist im Original 1992 erschienen und spielt in den unmittelbar vorangegangenen Jahren, während der Zeit der dritten Regierung Thatcher, der Privatisierungen, der Zeit der Wende auf dem europäischen Kontinent. Diese Verwerfungen flackern jedoch nur am Rande des Blickfelds, denn in dieser Welt ist ja scheinbar für immer alles beim Alten, auch wenn die jüngere Generation durch modische Extravaganzen auffällt. Unter der Gesellschaftssatire liegen Trauma und Trauer „Viktorianisch“ ist ein Stichwort, das mehrfach aufgerufen wird. Womit gemeint ist: Verdrängung. Unter der Oberfläche einer oft schreiend komischen, zunehmend absurden Gesellschaftssatire rumoren nämlich Trauma, Trauer und Tabu. Eliza mit ihrer exzentrischen Penetranz entpuppt sich einerseits als denkbar unzuverlässige Erzählerin voller krasser Hirngespinste, andererseits als Frau, deren tiefer Schmerz allzu lange keinen Platz einnehmen durfte: nicht in ihrer Selbstwahrnehmung, nicht in ihrer Ehe, nicht in der ihr zugedachten gesellschaftlichen Rolle der munteren und effektiven Diplomatengattin in Kairo, Washington, Damaskus, Bangkok, die nun allein in der Londoner Rathbone Road sitzt und langsam durchdreht. „Unberührt. Ich bin unberührt geblieben von alldem. Oder womöglich angerührt. Es ist mir abhandengekommen. So komplett wie mein früheres sinnliches Leben, denn ich kann mich an das Prickeln von Sex genauso wenig erinnern wie an die Arme meiner Mutter, die Stimme meiner Mutter. Es ist alles weg.“ Die Weise, wie dieser Schmerz um zwei große Verluste sich schließlich herausarbeitet ans Licht der Welt, hat etwas von einer schweren Geburt, und Elizas Wahnideen fungieren dabei als Wehen. Ein Briefroman voller pointierter Dialoge Es geht um Konzepte von Weiblichkeit, von Mütterlichkeit, um verfälschte Erinnerungen und ganz grundsätzlich um die Frage, wie Menschen sich Unerträgliches erträglich machen. Die Konstruktion des Briefromans hält Jane Gardam nicht davon ab, ausführliche Schilderungen mit pointierten Dialogen zu verbinden. Dabei arbeitet sie mit Leitmotiven wie den Glöckchen des Tamburins, das schon im Originaltitel des Buchs, „Queen of the Tambourine“, angeschlagen wird, oder leise gruseligen Schildkröten, deren Sinn sich erst gegen Ende des Buchs enthüllt. Da ist Eliza Peabody endlich so weit, dem an Aids sterbenden Barry, einem Jungen Anfang zwanzig, der ihr Sohn sein könnte, zu erzählen, was ihr vor zwanzig Jahren zugestoßen ist. Auch der zwischenzeitlich abgängige Gatte Henry kehrt zurück. Und nicht zuletzt scheint Eliza Peabody eine Aufgabe zu finden, die mit guten Ratschlägen nichts zu tun hat. Sofern wir ihr das glauben dürfen ...…
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1 Dinge des Lebens – Monika Helfer über ihren Roman "Die Jungfrau" 29:07
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29:07Monika Helfer hat einen Roman über eine schwierige Freundin geschrieben. Miriam Zeh befragt sie zu den Mühen der Jugend und der Weisheit des Alters.
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Adam Morris wirft in seinem Kriminal- und Gefängnisroman „BIRD“ einen schonungslosen Blick auf die segregierte Gesellschaft Australiens. Die hält die Vorrechte der weißen Bevölkerung noch immer für selbstverständlich, während einem jungen Aboriginal wie dem 25-jährigen Carson nur eine Knast-Karriere offensteht.…
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